Geheimnis Schiva 2 - A. Kaiden - E-Book

Geheimnis Schiva 2 E-Book

A. Kaiden

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Beschreibung

Lara fühlt sich in ihrer Welt gefangen. Ihr Leben kommt ihr wie ein Albtraum vor. Seit 4 Jahren ist Schiva nun schon versiegelt, für sie nicht mehr zugänglich. Eine Rückkehr ist unmöglich. Lara leidet sehr darunter, denn Schiva fühlte sich wie ihre Heimat an. Da sieht sie plötzlich Sidney in der Stadt... doch ist das wirklich möglich? Oder ist sie ein Opfer ihrer Wünsche und Träume? Gleichzeitig taucht ein zwiespältiger Typ auf, der ebenfalls über Schiva Bescheid weiß und sie bedroht. Was hat es damit auf sich, und befinden sich einige Bewohner von Schiva tatsächlich in ihrer Welt? Wie kann das sein? Lara setzt alles daran, die Wahrheit zu erfahren... sie ahnt nichts von der Gefahr, in der sie schwebt ... wem kann sie letztendlich vertrauen?

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Seitenzahl: 307

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Geheimnis Schiva 2

1. Auflage: August 2019

Copyright by A. Kaiden, Alexandra Kraus

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung durch Rundfunk, Internet und Fernsehen, auch einzelner Teile Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Autorin A. Kaiden

Cover-/Umschlaggestaltung: Buchgewand | www.buch-gewand.de

Verwendete Grafiken/Fotos:

Peer Marlow – shutterstock.com

Nina Buday – shutterstock.com

ararat.art – shutterstock.com

AntonMatyukha – depositphotos.com

Widmung

Für meine treuen Leser,

Kapitel 1: Donnerstag, 20:04 Uhr

Ring Ring Ring

Lara zuckte erschrocken zusammen. Wie paralysiert stand sie auf und starrte auf das Telefon. Sie betete darum, dass es aufhören würde zu klingeln – doch das tat es nicht. Hilfesuchend schaute sie sich um, allerdings waren ihre Eltern ausgegangen und ihr Bruder würde garantiert nicht an den Apparat gehen. Da konnte sie lange darauf warten. Vorsichtig trat sie näher und holte noch einmal tief Luft. Dann nahm sie ab und hob mit zitternden Fingern den Hörer an ihr Ohr.

„Hallo?“

Sie schluckte, als wie befürchtet keine Stimme erklang, sondern ein anzügliches Stöhnen. Tränen schossen ihr in die Augen und verzweifelt schrie sie in den Hörer:

„Lass mich endlich in Ruhe! Du hattest deinen Spaß. Das ist nicht witzig!“

Schnell knallte sie den Hörer auf das Telefon und hob ihre Hand auf den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Sie schloss die Augen und lehnte sich gegen die Wand, während ihr Puls unaufhörlich raste. Seit über einem Monat dauerte der Telefonterror bereits an und so langsam hatte sie das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Lara wusste nur zu gut, wer der Anrufer war. Dazu brauchte er nicht seinen Namen zu nennen. Nur eine Person kam infrage: Thomas, ihr Exfreund. Das war seine Art der Rache dafür, dass sie mit ihm Schluss gemacht hatte. Hätte sie damals gewusst, was sie erwartete, sie hätte sich nicht auf ihn eingelassen. Es war ein einziger großer Fehler gewesen. Die ganze Beziehung … er.

Lara wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und fuhr sich mit den Händen durch ihr langes Haar. Hätte sie nur auf ihr Bauchgefühl gehört – ihre innere Stimme, die ihr gesagt hatte, dass etwas nicht stimmte – etwas fehlte. Das es falsch war. Doch sie war einsam gewesen und ziellos. Abermals atmete sie tief durch. Es war mittlerweile vier ganze Jahre her, dass Schiva versiegelt worden war und sie nicht mehr dorthin zurückkehren konnte. Natürlich hatte sie es damals mehr als nur einmal versucht und war kläglich gescheitert. So oft sie es auch probiert hatte – es war ihr einfach nicht gelungen. Danach war ihr tristes Leben noch ätzender als zuvor gewesen. Der Verlust und Entzug von Schiva hatten ihr jeglichen Antrieb genommen. Ihre Eltern hatten die glorreiche Idee gehabt, sie in einen Tanzkurs zu schicken, und nur einen Monat später war sie in Landau angemeldet gewesen. Zugegebenermaßen hatte sie tatsächlich etwas Spaß daran gefunden und dann … tja, dann hatte sie dort Thomas kennengelernt. Er war ein guter Tänzer und sie hatte gern mit ihm getanzt. Zwar gefielen ihr normalerweise keine blonden Haare, aber seine braunen Augen hatten sie damals in den Bann gezogen. Und als er sie am Ende des Walzers geküsst hatte, fühlte es sich irgendwie seltsam an. Die besagten Schmetterlinge waren ausgeblieben und seine Zunge hatte sich nur glitschig und fehl am Platz angefühlt. Sie war sich unschlüssig gewesen. Wo war das Kribbeln, wo die Glücksgefühle? Ihr Unterbewusstsein hatte sie gewarnt, doch sie hatte die Schuld bei sich gesucht. Sie glaubte, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Dass sie nicht fähig war, sich komplett fallen zu lassen, und sie hatte gedacht, dass die Zeit die tiefen und ersehnten Gefühle bei ihr hervorlocken würde. Allerdings war das nicht passiert. Wahrscheinlich wusste etwas in ihr, dass es nicht funktionieren konnte …

Lara seufzte. Sie hatte ihm so eine kindische Racheaktion nicht zugetraut. Es war ihr schwergefallen, mit ihm Schluss zu machen. Trotzdem hatte sie es durchgezogen, nachdem sie eingesehen hatte, dass ihre Gefühle für ihn nicht reichten und er sich ihr nicht öffnen würde, egal wie lange sie warten würde. Abgesehen davon hatte sie erfahren, dass er den Tanzkurs schon zum fünften Mal absolviert hatte, weil er dort – wie er vor seinen Kumpeln laut einer Klassenkameradin von ihr – geprahlt hatte, immer leicht Frauen kennenlernte und klarmachte. Sein gesamter Freundeskreis bestand hauptsächlich aus seinen Ex-Freundinnen und sie hatte nie jemanden von ihm kennengelernt. Weder Familie, noch Freunde.

Trotzig stieß Lara gegen das Tischbein und fuhr zusammen, als das Telefon schon wieder zu klingeln begann. Eilig zog sie das Kabel und Stille legte sich im Raum nieder. Lara lauschte in das Zimmer hinein. Viel besser. Ihr Bruder Stan schien nichts mitbekommen zu haben. Als sie die Treppen zu ihrem Zimmer hochging, wurde ihr auch klar, warum. Er hatte die Musik mal wieder ohrenbetäubend laut aufgedreht. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr: Viertel nach acht. Genervt verdrehte sie die Augen, trat vor seine Tür und hämmerte dagegen. Es dauerte nicht lange und Stan schaltete die Musik aus.

„Was ist?“

„Wir haben nach acht Uhr.“

„Na und?“

„Mach die Musik leiser, so wie es abgemacht war!“

„Du kannst mich mal!“, schrie ihr Stan entgegen und drehte sogleich die Lautstärke wieder voll auf. Lara knallten die deutschsprachigen Strophen mit harten Beschimpfungen und erniedrigenden Reimen über Frauen entgegen. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und versuchte, seine Tür zu öffnen, doch vergebens. Natürlich hatte ihr Bruder abgeschlossen. Wütend rüttelte sie an der Klinke und schlug gegen das Holz, mit dem Resultat, dass Stan den Lärm noch verstärkte.

„Verdammt!“, schrie Lara und stapfte in ihr Zimmer, das genau neben seinem lag. Die Texte des frauenverachtenden Hip Hops knallten ihr durch die Wände hart entgegen. Entmutigt ließ sie sich aufs Bett fallen und starrte mit tränenverhangenen Augen an die Decke. Stan würde die Musik erst leise machen, wenn ihre Eltern zurück wären. Da war sie sich sicher. Es hatte sich in den letzten zwei Jahren absolut nichts geändert. Im Gegenteil: Es war noch schlimmer geworden. Sie stritt sich nur noch mit ihrem Bruder und mit ihrer Mutter. Lara wischte sich mit den Händen die Tränen aus dem Gesicht. Früher hätte sie sich nach Schiva geflüchtet, doch das war ihr nicht mehr möglich. Sie war gefangen in einer Welt, die sie nicht wollte und es schien kein Entkommen und kein Happy End für sie zu geben.

Kapitel 2: Freitag, 10:43 Uhr

Lara holte tief Luft. Nur noch siebenundsiebzig Minuten, dann würde ihre Mittagspause beginnen und sie hätte die Hälfte des Tages hinter sich gebracht. Als sie die Toilette verließ, rannte sie fast in Frau Fünder, die mit einer flinken Handbewegung ihre drahtige Brille nach oben schob und ihr einen ermahnenden Blick zuwarf. Laras Magen krampfte sich auf die Größe einer runzligen Rosine zusammen. So erging es ihr immer, wenn sie auf ihre Kollegin traf und das nicht nur, weil Frau Fünder eine nörgelnde Besserwisserin war, sondern auch der offizielle Wachhund der Firma. Nichts entging ihren Ohren oder Augen und alles landete brühwarm auf dem Tisch des Geschäftsführers.

„Tut mir leid“, nuschelte Lara und senkte schnell den Kopf.

Frau Fünder schnaufte hörbar auf.

„Für gewöhnlich prescht man nicht einfach in den Flur.“

„Ja, Sie haben recht. Es kommt nicht mehr vor.“

Eilig drückte sie sich an der hageren Frau vorbei, doch die ergriff hastig ihr Handgelenk.

„Nicht so schnell! Ich habe eine Aufgabe für dich.“

„Aber ich bin heute für den Versand eingeteilt“, gab Lara zögernd zu Bedenken und traute sich nicht, sich dem unangenehmen Griff ihrer Kollegin zu entziehen.

„Ich habe das alles schon mit deinem Ausbilder und Herrn Stanza besprochen. Beide haben zugestimmt“, erklärte ihr Frau Fünder und zog sie schnurstracks ins kleine Postzimmer, wo ein Stapel Papier und Umschläge auf sie wartete. Vor dem einzigen Tisch im Raum blieb sie stehen und deutete auf die Unterlagen. „Das sind alles Einladungen an unsere Kunden und Geschäftspartner für die Baumesse, die wir ebenfalls besuchen. Die Briefe müssen gefaltet, eingetütet und frankiert werden. Sieh zu, dass du das bis fünfzehn Uhr erledigst, da dann die Post abgeholt wird und die Einladungen noch heute raus sollen. Wir sind leider etwas spät dran, da sich das mit der Messe kurzfristig ergeben hat.“

„Mmh, ja. Okay“, murmelte Lara, die absolut keine Lust auf die stumpfsinnige Arbeit hatte. Auf der anderen Seite entkam sie damit wenigstens für ein paar Stunden Herrn Stanza, der heute mal wieder einen besonders schlechten Tag hatte.

„Ich weiß, es ist nicht die interessanteste Aufgabe, aber es muss leider gemacht werden und alle anderen haben zu tun“, meinte ihre Kollegin, die ihren desinteressierten Blick bemerkte. Sie warf Lara ein süffisantes Lächeln zu, das ihren Worten widersprach.

„Kein Problem. Ich mache das.“

„Gut. Dann an die Arbeit. Wenn du fertig bist, gehst du wieder zu Herrn Stanza.“

Lara nickte und ihre Kollegin schob sich zufrieden die viel zu große Hornbrille hoch. Sie bedachte sie nochmals mit einem selbstgefälligen Blick, bevor sie sie endlich allein ließ. Die Jugendliche atmete tief durch und begann damit, die Werbebriefe zu falten und einzutüten.

Nach circa der Hälfte fingen ihre Finger an zu schmerzen und sie fragte sich, wie sinnvoll die ihr zugeteilte Aufgabe war. Würde überhaupt jemand den ellenlangen Text durchlesen? Abgesehen davon, dass ihre Firma viel zu spät mit den Einladungen dran war, war der Text so trocken und nichtssagend geschrieben … man hatte sogar auf eine persönliche Unterschrift verzichtet.

„Ach Mist!“, fluchte Lara leise auf und betrachtete ihr Missgeschick. So konnte der Brief unmöglich verschickt werden. Sie hatte sich beim Falten vertan.

„Hallo Lara, was machst du da?“ Die helle Stimme von Frau Baumgärtner riss sie aus ihren Gedanken und ließ sie herumfahren. Die blonde Frau lächelte neugierig und nickte in Richtung der Stapel.

„Ach … ich muss die ganzen Messeeinladungen eintüten und frankieren.“

„Oh je … du Arme. Was ist mit dem Brief da auf der Seite?“

Bevor Lara antworten konnte, hatte sie ihn auch schon in der Hand und las ihn sich eilig durch.

„Ich habe mich aus Versehen verfaltet und nun passt er nicht in den Umschlag. Ich werde ihn nachher kopieren und die Kopie wegschicken“, gestand Lara und machte sich wieder an die Arbeit.

„Quatsch, das sind doch nur Serienbriefe und dazu ziemlich kurzfristige. Das wird sich eh keiner mehr durchlesen. Den kannst du noch wegschicken.“

Mit diesen Worten nahm sie das Blatt in die Hand und faltete es unordentlich zusammen. Danach schob sie es in einen Umschlag.

„Ähm, ich weiß nicht …“, stammelte Lara, aber Frau Baumgärtner winkte entschieden ab. „Glaub mir, das ist totaler Unsinn und Zeitverschwendung.“

Sie zwinkerte ihr zu und wollte gerade das Zimmer wieder verlassen, als sie sich noch einmal zu ihr umwandte. „Möchtest du nicht Mittagspause machen? Die hat nämlich seit fünf Minuten begonnen.“

Lara nickte und verließ nach ihr den Raum, um ihr Essen zu holen.

*

Direkt nach der Mittagspause wurde Lara in das Büro ihres Ausbilders gerufen. Sie ahnte Schlimmes. Zwar rief er sie meistens zu sich, wenn er Fragen hatte, aber dieses Mal hatte sie ein schlechtes Gefühl. Abgesehen davon fühlte sie sich in seiner Gegenwart unwohl. Er hatte einen seltsamen Tick, von dem sie sich nicht abwenden konnte, so sehr sie es auch wollte. Mit wackeligen Beinen und einem dicken Kloß im Hals, betrat sie das Zimmer, wo Herr Probst mit dem Rücken zu ihr saß, scheinbar vertieft in das Programm auf dem Computer. Allerdings hatte sie ihn nie richtig in Arbeit versunken gesehen, denn meistens lauschte er mit einem Ohr immer wie ein Luchs auf den Flur, damit ihm auch ja nichts entging. Lara schloss für einen flüchtigen Moment die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Allerdings würden ein paar Sekunden dafür nicht ausreichen, also gab sie es auf.

„Entschuldigung – sie wollten mich sprechen?“

„Ja, korrekt.“

Schwungvoll drehte er sich auf seinem Stuhl zu ihr um und überprüfte mit einer Hand, ob sein Reißverschluss geschlossen war. Das tat er immer. Man konnte im Drei-Minuten-Takt damit rechnen und Lara hasste es. Es war wie bei einem Unfall. Man wollte nicht hinschauen, doch abwenden konnte man sich auch nicht. In der freien Hand hielt er einen Brief und Lara wusste sofort, um welchen es sich handelte und vor allen Dingen, wer diesen gefunden hatte. Hatte Frau Fünder nichts anderes zu tun, als nach Fehlern ihrer Kollegen zu suchen?

„Wir müssen uns unterhalten.“

Er holte die unglücklich gefaltete Einladung heraus und wedelte damit vor Laras Nase.

„Als professionelles Unternehmen haben wir einen Ruf zu verlieren. So eine schlampige Arbeit können wir unter keinen Umständen liefern! In welchem Licht stehen wir denn dann da?!“

Er zog scharf die Luft ein und musterte sie mit einem prüfenden Blick. Unwohl scharrte sie mit ihrem Fuß auf dem Boden und vergrub die Hände in die Jeans. Die Hitze schoss in ihr Gesicht und sie verfluchte sich innerlich. Sie hätte es wissen müssen – auf ihr Gefühl hören sollen, das sie gewarnt hatte, als Frau Baumgärtner den Brief achtlos gefaltet und eingetütet hatte. Verdammt! Musste sie sich jetzt tatsächlich einen Anschiss abholen für etwas, was sie nicht getan hatte? Aber verpetzen konnte sie ihre Kollegin auch nicht, oder?

„Ich … ja, Sie haben vollkommen recht. Es tut mir leid.“

Sie senkte den Kopf und vermied den Blickkontakt mit ihrem Ausbilder. Der schnaufte hörbar und legte den Brief mit einer ausladenden Geste zur Seite. Zufrieden schien er allerdings noch lange nicht.

„War das der einzige, oder sind da noch mehr böse Überraschungen dabei?“

„Nein, das war der einzige. Es tut mir wirklich sehr leid.“

„Mmh, okay. Verstehst du auch das Problem?“

Lara zuckte zusammen. Was sollte die Frage? Sie war doch nicht bescheuert. Tränen der Wut brannten in ihren Augen und sie krallte die Finger fest in den Stoff ihrer Jeans, sodass sie den Schmerz spürte, den die Fingernägel auf ihrer Haut verursachten.

„Ja, natürlich. Es kommt nicht wieder vor. Versprochen.“

„Ich bin wirklich sehr enttäuscht von dir. Das wirft natürlich auch ein schlechtes Licht auf mich.“

Lara schluckte schwer und nickte verzagt. Sie wusste nicht darauf zu antworten, ohne ihre Kollegin ins offene Messer laufen zu lassen.

„Entschuldigung.“

„Okay, immerhin ist es ja noch mal gutgegangen. Jetzt geh zurück und mach weiter.“

Sie nickte stumm und beeilte sich, aus dem Zimmer zu entkommen. In ihr tobte ein zerstörerischer Sturm, den sie mit aller Gewalt zurückhielt.

*

Anspannung lag in der Luft und Lara hoffte, dass er sie in Ruhe lassen würde, wenn sie seine Frage nicht zu hören schien. Leider täuschte sie sich. Herr Stanza bestand auf eine Antwort, egal wie lange er sie dabei von der Arbeit abhielt. Dabei hatte sie gehofft, sich von der Misere am Mittag ablenken zu können, doch stattdessen wurde sie nun schon über zwei Stunden von dem Leiter der Versandabteilung gepiesackt.

„Na, wissen Sie’s? Sagen Sie? Wo liegt das?“

„Tut mir leid, ich hatte nicht zugehört“, murmelte sie genervt und versuchte, ihrer Stimme einen freundlichen Klang zu verleihen. Was war das heute wieder nur für ein blöder Tag?

„Beira, wo liegt Beira?“

„Ich weiß es nicht.“

„Sagen Sie mir, wo liegt Beira?“

Lara stöhnte innerlich auf. Er war wie eine Zecke, die einfach nicht locker ließ.

„Keine Ahnung. Vielleicht in Arabien oder Afrika?“

„Afrika ist schon mal nicht ganz verkehrt. Kommen Sie her. Zeigen Sie mir, wo genau Beira liegt.“

Mit diesen Worten stand er auf und positionierte sich vor der aufgehängten Weltkarte und suchte selbst nach dem Ort. Als Lara keine Anstalten machte, aufzustehen, drehte er sich zu ihr um und funkelte sie auffordernd an. Sie kannte das bereits. Wenn sie nicht genau wüsste, dass er diese erniedrigenden Spielchen auch mit gleichgestellten Kollegen durchführte, würde sie es Mobbing nennen. Doch da er keine Unterschiede machte, konnte sie mit dem Argument schlecht kommen. Andererseits hatten die restlichen Kollegen Glück, nicht ganze Stunden oder gar Tage und Wochen mit ihm aushalten zu müssen. Sie warf einen flüchtigen und sehnsüchtigen Blick zur Tür, aber niemand trat ein, um sie aus der peinlichen und unangenehmen Lage zu retten. Langsam stand sie auf, nachdem er wiederholt drängte, und schlurfte zögernd zur Landkarte. Ihre Augen hafteten am afrikanischen Kontinent, allerdings konnte sie den Ort nirgends entdecken. Herr Stanza wurde sichtlich ungeduldiger.

„Na, wo befindet sich jetzt Beira? Können Sie es nicht finden? Ich weiß, wo es ist.“

Lara schloss kurz die Lider. Dass der Mann dermaßen hartnäckig mit seinen Sticheleien sein musste. Es war wirklich zum Kotzen.

„Suchen Sie immer noch? Wo liegt Beira? Kommen Sie schon.“

Sie wandte sich ihm nicht zu. Sein selbstgefälliges und siegessicheres Grinsen würde sie jetzt nicht ertragen.

„Nein, ich finde die Stadt tatsächlich nicht“, gestand Lara niedergeschlagen und senkte den Kopf.

„Ha! Haben Sie überhaupt richtig geschaut? Versuchen Sie es nochmal.“

Sie seufzte und tat so, als würde sie abermals nach dem Ort suchen. Allerdings war sie zu aufgeregt und hatte bereits aufgegeben, sodass sie sich nicht wirklich auf die Landkarte konzentrieren konnte. Nach einer weiteren Minute, die sich wie Stunden anfühlte, in der Herr Stanza sie mit seinem Blick durchbohrte, schüttelte sie schließlich den Kopf.

„Nein, tut mir leid. Ich finde es nicht.“

„Hier – hier liegt Beira! Sehen Sie?“

Dabei tippte er penetrant mit dem Finger auf der Karte herum und Lara nickte. Dann ging sie ernüchtert an ihren Platz zurück, um die Arbeit an der Packliste fortzuführen. Erleichterung stellte sich allerdings keine ein. Sie hoffte nur, dass er es für heute dabei belassen und wenigstens der restliche Tag ohne weitere Probleme verlaufen würde.

*

Ihre Augen schweiften sehnsüchtig auf den rechten unteren Rand des Bildschirms. Nur noch zehn Minuten bis zum Feierabend. Unglaublich, wie sich die Zeit ziehen konnte, wenn man auf etwas wartete. Sie traute sich nicht, früher zu gehen. Frau Fünder würde das bestimmt mitbekommen – sie bekam einfach alles mit – und dann würde sie sie verpetzen. Lara blieb zwar ab und an auch ein paar Minuten länger, doch das wurde natürlich nicht gesehen und gewertet. Dummerweise besaß die Firma auch keine Stechuhren, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, als zu warten. Da Herr Stanza in einem Termin war, beschloss sie, schon einmal ihre Sachen ganz langsam zu verstauen, um dann pünktlich auf die Minute zu gehen. In dem Moment schlenderte ihr Ausbilder in ihr Büro und lehnte sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen.

„Ich bin wirklich enttäuscht von dir. So was darf nicht mehr vorkommen.“

Lara schluckte. War das jetzt sein Ernst? Kam er schon wieder mit Schuldvorwürfen? Den ganzen Tag, wenn sie sich begegnet waren, hatte er geseufzt und demonstrativ den Kopf geschüttelt. Und nun durfte sie sich die Leier erneut anhören? Sie hatte sich doch entschuldigt. Was wollte er noch? Sollte sie etwa auf Knien vor ihm rutschen? Bestimmt nicht!

Sie nickte nur stumm und tat beschäftigt. Hoffte, er würde sie in Ruhe lassen und endlich gehen. Er tat es nicht. Stattdessen starrte er sie weiterhin an und schüttelte seinen Kopf mit einem schuldzuweisenden Blick.

„Das hätte ich wirklich nicht von dir gedacht. Schlampiges Arbeiten geht hier einfach nicht. Das wirft ein schlechtes Licht auf unser Unternehmen und kann unserem Ruf immens schaden.“

Lara zuckte zusammen und ihr Körper begann zu zittern. Unterdrückte und aufgestaute Wut des gesamten Tages schoss in ihr hoch und wollte herausbrechen. Irgendwann musste doch mal wieder gut sein. Wie lange wollte er ihr den Fehler noch vorhalten? Bis zum Ende ihrer Ausbildung? Und dann war sie es nicht einmal gewesen, die etwas falsch gemacht hatte. Es reichte. Sie hatte genug. Entschlossen stand sie auf und ballte ihre Hände zu Fäusten. Ihr Blick traf den seinen und ihr Zorn wuchs mit den Vorwürfen, die sie in seinen Augen lesen konnte. Genug war genug. Dieses Theater machte sie nicht länger mit. Sie musste sich nicht alles gefallen lassen. Auszubildende hin oder her.

„Herr Probst, ich habe mich vorhin entschuldigt. Mehr kann ich nicht tun.“

„Dennoch bleibt die Tatsache, dass es gar nicht erst hätte passieren dürfen, bestehen. In meiner Ausbildung hätte ich mir solche Fehler nicht erlauben dürfen.“

Lara schluckte und Tränen schossen ihr in die Augen. Sie wollte ihre Kollegin nicht verpetzen, jedoch hatte sie auch nicht vor, sich für den Fehler in alle Ewigkeiten tagtäglich verantworten zu müssen. Eine unsichtbare Fessel legte sich um ihren Magen und zog sich zu, sodass er krampfte.

„Natürlich, aber ich habe mich schon mehr als einmal entschuldigt und ich kann es nicht rückgängig machen. Zumal nicht einmal ich den Fehler begangen habe, sondern eine Kollegin. Deshalb hören Sie bitte endlich damit auf.“

Er zog erstaunt eine Augenbraue in die Höhe und richtete sich auf.

„Du warst das nicht? Und das sagst du erst jetzt? Welche Kollegin war es dann?“

„Ist das nicht egal? Ich möchte niemanden verraten, doch ich möchte mir auch nicht die gesamte Zeit Vorwürfe anhören für etwas, das ich nicht verbrochen habe. Ja, mein Fehler war es, den Brief nicht nachher rauszunehmen und auszutauschen. Trotzdem …“ Lara stockte. Sie ahnte, dass er sich damit nicht zufriedengeben würde und sie hatte recht.

„Du musst mir schon sagen, welche Kollegin das war. Ich werde dich vorher nicht gehen lassen.“

„Aber …“

„Kein aber. Entweder du nennst mir ihren Namen oder du trägst weiterhin die Schuld.“

Lara biss sich auf die Unterlippe. Der körperliche Schmerz half etwas dabei, den seelischen abzumildern. Aus der Nummer kam sie nicht mehr raus. Sie hatte angefangen zu beichten und nun musste sie es zu Ende bringen. Auch wenn sie das nicht wollte, und sie wollte es absolut nicht.

„Ich höre. Wer war es?“

Seine Stimme war unerbittlich und resolut. Ein dicker Kloß setzte sich in ihrer Kehle fest und machte ihr das Sprechen fast unmöglich.

„Muss das wirklich sein? Ich möchte nicht, dass sie Ärger bekommt“, druckste Lara und scharrte nervös mit ihrem Fuß auf dem Boden.

„Du sagst mir jetzt augenblicklich, wer es war oder ich muss davon ausgehen, dass du lügst!“

Die Geduld ihres Ausbilders war am Ende. Lara schluckte und kämpfte mit aller Kraft die Tränen zurück. Die Unterstellung war zu gemein.

„Ich lüge nicht. Es … es war Frau“, sie stockte und sah Herr Probst flehend an, aber vergebens. Er würde nicht aufhören zu bohren. Sie saß in der Falle. „Frau Baumgärtner. Es war Frau Baumgärtner. Aber sie hat es nicht böse gemeint! Sie bekommt doch hoffentlich keinen Ärger? Bitte, sie …“

„Das überlässt du mal schön mir! Das nächste Mal rückst du gleich mit der Sprache heraus. Das ganze Theater hätten wir uns sparen können.“

Er drehte sich um und ließ sie stehen. Lara schluchzte. Ihr schlechtes Gewissen erdolchte sie von innen. Und dann hatte er sich nicht einmal bei ihr für die Vorwürfe und sein Verhalten entschuldigt. Was würde nun mit Frau Baumgärtner passieren? Sie würde sie hassen. Bestimmt … Schnell schnappte sie sich ihre Sachen und rannte regelrecht aus dem Gebäude. Die Tränen konnte sie nicht länger zurückhalten.

*

„Wieso kommt er jedes Mal mit allem durch?“

„Lara, es reicht jetzt! So hast du nicht mit mir zu reden!“

„Aber es stimmt! Stan darf immer alles. Egal was er macht, es ist okay! Es ist zum Kotzen – er hat angefangen, verdammt!“, schrie Lara ihre Mutter an, wobei sich ihre Stimme überschlug.

„Du gehst jetzt besser auf dein Zimmer, bevor ich mich vergesse!“

„Ich hab hier unten sowieso nichts mehr verloren!“

Wütend wirbelte Lara herum und rannte die Treppen hinauf in ihr Zimmer. Mit einem lauten Knall schlug sie die Tür zu und warf sich auf ihr Bett, wo sie ihr Gesicht ins Kopfkissen vergrub. Die Kirchturmuhr schräg gegenüber von ihrem Haus schlug gerade zweiundzwanzig Uhr und die Glocken hallten unangenehm in ihrem Kopf wider. Dieser blöde Tag wollte einfach nicht enden. Und andauernd wenn sie dachte, schlimmer ginge nicht, dann setzte das Schicksal noch eins drauf. Erst die Sache mit den Werbebriefen, dann die Spielchen von Herrn Stanza, nicht zu vergessen die ständigen Vorwürfe ihres Ausbilders und ihre unfreiwillige Beichte. Kaum war sie daheim gewesen, hatte ihr dämlicher Exfreund nichts Besseres zu tun gehabt, als sie mit seinen ständigen Anrufen und Gestöhne zu quälen. Und jetzt auch noch der Streit mit ihrem Bruder, bei dem ihre Mutter nur die Hälfte mitbekommen hatte, aber natürlich wieder auf der Seite von Stan war – wie immer!

Verzweifelt schluchzte Lara in ihr Kissen. Wahrscheinlich hatte sie eine falsche Entscheidung getroffen. Damals, als sie den Ausbildungsvertrag sicher in der Tasche gehabt hatte, war sie vor der Wahl gestanden, sich ein Auto zu kaufen oder eine Wohnung zu suchen. Nach langem Überlegen hatte sie sich für den fahrbaren Untersatz entschieden. Hätte sie den Auszug gewählt, hätte sie kein Geld mehr für freizeitliche Vergnügungen gehabt und wer weiß, wann sie sich dann einen Wagen hätte leisten können. Darauf hatte sie nicht verzichten wollen, aber womöglich war es ein Fehler gewesen. In diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als das Haus und diesen Ort zu verlassen. Mehr noch: Sie sehnte sich nach einer anderen Welt – sie verzehrte sich nach Schiva.

Kapitel 3: Montag, 9:30 Uhr

Sehnsüchtig wanderte ihr Blick auf die Armbanduhr. In wenigen Minuten würde endlich die erste große Pause beginnen. Natürlich war sie froh gewesen, als sie nach dem Vorfall im Betrieb nur noch eine weitere Woche ins Unternehmen gehen hatte müssen und nun der Blockunterricht in der Schule wieder begonnen hatte. Die letzten Tage waren schlimm genug gewesen. Frau Baumgärtner musste einen heftigen Anpfiff bekommen haben, sie hatte ihr nicht mehr in die Augen sehen können und war die gesamte Woche sehr geknickt gewesen. Laras schlechtes Gewissen war auf Hochtouren gelaufen und so lief es noch jetzt.

Sie hatte nicht viel geschlafen und der Unterricht war staubtrocken. Sie konnte sich nicht auf die Worte des Lehrers konzentrieren und schrieb gedankenverloren die Notizen auf der Tafel ab. Zu allem Unglück war Elena, von der sie gedacht hatte, eine Freundin gefunden zu haben, heute besonders zickig und ließ keine Gelegenheit aus, sie das spüren zu lassen. Lara fragte sich nur, was Elena dermaßen auf die Palme gebracht hatte, wo sie sich am Anfang der Ausbildung doch so gut verstanden hatten. Eigentlich hatte ihre Veränderung angefangen, als sie einen neuen Freund hatte. Seitdem war sie reizbarer gewesen und Lara hatte wohl den Fehler begangen, anderer Meinung zu sein als sie und das auch zu äußern. Nun blaffte Elena sie an, wo sie nur konnte. Sah alles als Angriff und Lara konnte einfach nicht mehr vernünftig mit ihr reden. Zum Glück war Steffi noch da und normal. Sie bremste Elena ab und an in ihrem russischen Temperament. Lara kam gut mit ihr klar. Eine richtige Freundin sah sie in Steffi jedoch nicht. Sie waren einfach zu verschieden und es gab Dinge, mit denen konnte sie sich nicht abfinden. Zum Beispiel, dass Steffi als Au Pair Mädchen gearbeitet hatte und dort mit dem Vater der zu betreuenden Kinder eine Affäre laufen hatte. Und das, obwohl sie in demselben Haus wie seine Frau übernachtet und am selben Tisch gemeinsam gegessen hatten. Lara verstand nicht, dass Steffi die gesamte Schuld dem Vater gab und keine bei sich selbst sah. Steffi war fest der Meinung, dass sie nichts falsch gemacht hatte, da sie zu dem Zeitpunkt Single gewesen war. Lara schüttelte schnell den Kopf. Sie konnte dieses Denken nicht nachvollziehen.

Als die schrille Schulglocke den Redefluss vom Lehrer unterbrach, und ihre Klassenkameraden aufgeregt aufsprangen und in den Pausenhof stürmten, streckte sie sich müde.

„Oh weh, du siehst aus, als hätte dich eine Dampfwalze erwischt. Das schreit förmlich nach einem Käffchen“, meinte Steffi und grinste sie von der Seite an. Auf Laras Gesicht breitete sich ein Lächeln aus und sie nickte dankbar.

„Kaffee klingt großartig.“

„Dann lass uns keine weitere Minute verlieren und kurz rüber zur Bäckerei springen. Was sagst du Elena, bist du dabei?“

Die Russin schaute etwas unzufrieden drein und rümpfte die Nase.

„Schon wieder? Wie viel Kaffee wollt ihr noch trinken?“

„Du musst nicht mit, wenn du nicht magst“, entgegnete Lara so freundlich wie möglich, während sie aufstand und ihre Jacke anzog.

„Pfh … klar, dass du mich nicht dabei haben möchtest!“

„Das habe ich doch gar nicht gesagt“, murmelte Lara und seufzte. Wieso war jedes Wort bei Elena zu viel? Drückte sie sich tatsächlich dermaßen missverständlich aus? Zum Glück kam ihr Steffi zur Hilfe.

„Quatsch, natürlich haben wir dich gerne dabei. Wenn du allerdings mitmöchtest, dann hüh. Wir haben nur noch 'ne knappe Viertelstunde zur Verfügung.“

Elena schien nicht ganz überzeugt und brummelte verdrossen vor sich hin, ließ es jedoch dabei gut sein und schlenderte hinter ihnen her. Lara genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut auf dem kurzen Weg zur Bäckerei auf der anderen Straßenseite. Sie quetschten sich zu dritt durch die lärmende Menschenmasse, die die Kaiserstraße füllte und beeilten sich, ihren Milchkaffee zum Mitnehmen zu besorgen. Danach bummelten sie gemütlich zurück in Richtung Berufsfachschule, blieben allerdings vor dem Gebäude stehen und betrachteten sich die Leute auf dem gegenüberliegenden Platz. Steffi und Elena fanden sofort eine Gruppe, über die sie lästern konnten. Darauf hatte Lara keine Lust. Sie kannte die Leute nicht. Wieso sollte sie sie verurteilen? Klar, manchmal entfleuchte ihr auch ein unfreundlicher Kommentar, doch eigentlich war ihr Motto, Leben und leben lassen. Warum konnten das die meisten Menschen nicht?

Gedankenversunken schaute sie sich um und versuchte, ihre Ohren auf Durchzug zu stellen. Das schöne Wetter lockte viele Leute auf die Straße. Sie schätzte, dass es sich bei den meisten um Studenten handeln musste. Warum das so war, ließ sich schlecht erklären. Allerdings hatte sie das Gefühl, dass Studenten einfach etwas anderes ausstrahlten. Ob es am hohen Selbstbewusstsein oder an manch arrogantem Blick und Lächeln lag, vermochte sie nicht zu sagen. Studierende wirkten einfach anders. Ihre Aufmerksamkeit blieb bei einem knuffigen Pärchen hängen, die angeregt über irgendwelche mathematischen Gleichungen diskutierten. Beide gestikulierten wild und trugen dicke Hornbrillen, die emsig hin und her wippten. Sie erinnerten sie an lustige Zeichentrickfiguren und sie konnte sich nicht an ihnen sattsehen, bis sich ihnen ein großer Mann näherte. Lara beschlich ein mulmiges Gefühl, als sie ihn musterte. Und das obwohl sie ihn nicht direkt von vorne sah und die grelle Sonne ihr die Sicht erschwerte. Er trug eine weite, dunkle Jeans, deren Bund für ihren Geschmack etwas zu tief saß. Wurden diese Hosen bei Männern wieder modern? Ihr Blick wanderte weiter und blieb kurz an seinem in Blautönen gehaltenen T-Shirt hängen. Ein greller Schriftzug war auf der Vorderseite, doch aus der Entfernung konnte Lara diesen nicht entziffern. Seinen rechten Arm zierte eine Fülle an Armbändern aus Stoff und Leder. Sie kniff die Augen etwas zusammen, um noch mehr erkennen zu können, während der junge Mann mit dem Pärchen sprach und ihnen ein Blatt entgegenhielt. Wenn sie es richtig erkannte, dann hatte er einen Undercut und seine restlichen schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Was faszinierte sie nur so an ihm? Ihr Herzschlag beschleunigte sich und ein aufregendes Kribbeln durchzog ihre Haut und ließ sie frösteln. Sie hatte das Gefühl, den jungen Mann zu kennen und bewegte sich automatisch auf ihn zu. Steffi hielt sie kurz am Handgelenk fest.

„He, wo willst du hin? Es wird jeden Moment läuten.“

„Ich bin sofort zurück“, murmelte Lara und wand sich aus ihrem Griff. Eine Straßenbahn ratterte vorüber und versperrte ihr für einen kurzen Moment die Sicht. Sie befürchtete schon, dass er verschwunden war, sobald das öffentliche Verkehrsmittel weg war, jedoch hatte sie Glück. Er war noch da. Sie schaute flüchtig nach links und rechts, dann überquerte sie zügig die Schienen. Der junge Mann wandte sich von dem Pärchen ab und drehte sich in ihre Richtung. Lara stockte der Atem. Ihre Beine weigerten sich, weiterzulaufen, und ihr Herz setzte für einen Schlag aus. Das konnte nicht sein. Sie blinzelte ein paarmal schnell hintereinander, aber das Bild blieb dasselbe. Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke und sie starrte geradewegs in seine tiefschwarzen Augen. Ein Schauer schüttelte sie und ließ sie zusammenzucken.

„Lara! Lara, die Glocke hat geläutet! Verdammt, was machst du denn da?“, schrie Steffi von der anderen Straßenseite.

„Wegen dir kommen wir noch zu spät!“, fügte Elena wütend hinzu.

Lara drehte sich nicht zu ihnen um, als sie ihnen antwortete: „Ich komme nach. Geht ihr schon mal vor!“

Sie wollte ihn auf keinen Fall entkommen lassen. Eilig hetzte sie hinter ihm her, als er drohte, in der Menschenmasse zu verschwinden. Er hatte einen schnellen Schritt und die vielen Leute machten es ihr nicht einfach, ihm zu folgen. Nur langsam holte sie auf. Wie konnte das sein? Wie konnte er hier sein? Er hatte seine Haare geändert, doch das Gesicht und vor allen Dingen seine Augen waren dieselben.

„Aua, kannst du nicht aufpassen!“, fuhr sie eine alte Frau an, die sie versehentlich bei ihrer Verfolgungsjagd unsanft angerempelt hatte.

„Es … ich … es tut mir wahnsinnig leid, das wollte ich nicht.“

„Das sollte es auch, junge Dame!“

„Ja, sorry“, murmelte Lara und sah sich hektisch um, doch vergebens. Sydney war weg.

Kapitel 4: Mittwoch, 7:45 Uhr

Sie fühlte sich gerädert und dem Ende nahe. Am liebsten würde sie sich ein Loch graben und dort verbuddeln, für den Rest ihres Lebens dort verharren. Die Erinnerungen an Schiva verfolgten sie hartnäckig und hatten sie keinen Schlaf finden lassen. Sie war sich ganz sicher, Sydney gesehen zu haben. Hier, in ihrer Welt! Wie war das nur möglich? Natürlich hatte sie versucht, nach Schiva zu gelangen, doch ihre Bemühungen und Hoffnungen waren umsonst gewesen. Die Versiegelung schien noch immer intakt zu sein. Es war ihr nicht gelungen, so oft und so sehr sie es auch versucht hatte. Letztendlich hatte sie nach Stunden aufgegeben, allerdings konnte sie die Begegnung in der Stadt nicht vergessen.

Die Bahn hielt quietschend an und Lara stand kurzentschlossen auf und stieg aus. Sie war ein paar Haltestellen zu früh dran, aber sie hatte nicht vor, pünktlich zur Schule zu kommen. Sie hatte keine Lust und außerdem fühlte sie sich nicht in der Lage, die erste Stunde AWL zu überstehen. Es würde sicherlich nicht groß auffallen, wenn sie diese verpasste. Herr Raab kontrollierte abgesehen davon nie die Anwesenheit. Einen besseren Freifahrtschein gab es also nicht. Was sie jetzt brauchte war erst einmal eine schöne heiße Tasse Milchkaffee und einen warmen Schokomuffin. Bei dem bloßen Gedanken lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie hoffte nur, dass sie keiner ihrer Mitschüler sah und verpetzte. Schnell nahm sie die nächste Seitenstraße und flüchtete in das Café. Sie hatte es damals per Zufall mit Elena gefunden, als sie eine Abkürzung zum Bahnhof gesucht hatten. Es war nicht sehr groß, jedoch gemütlich und urig eingerichtet. Der Kaffee und die Kuchen schmeckten einfach traumhaft und trotz, dass es immer gut besucht war, konnte man ungestört reden und sich verständigen, ohne sich dabei anschreien zu müssen. Leider war das in den meisten Lokalen nicht der Fall. Das Café war eine wahre Goldgrube und genau das brauchte Lara jetzt.

Sie hatte Glück, denn es war nur noch ein Tisch frei, obwohl der Laden gerade erst geöffnet hatte. Erleichtert nahm sie Platz und gab ihre Bestellung auf, als die Kellnerin an ihrem Tisch erschien. Lara schloss für einige Sekunden die Augen und lauschte den Geräuschen um sie herum. Das Zischen und Blubbern der Kaffeemaschine. Das Klappern von Geschirr. Freudiges und erwartungsvolles Stimmengewirr. Sie atmete den Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee und heißer Backware tief ein. Ein Grummeln ihres Magens machte ihr bewusst, dass sie hungriger war, als sie gedacht hatte. Als ein Klirren direkt vor ihr erklang, öffnete sie träge die Augen und lächelte die Bedienung dankbar an. Genüsslich machte sie sich über ihr Frühstück her und betrachtete dabei die am Geschäft vorbeiziehenden Leute. Lange konnte sie sich auf sie allerdings nicht konzentrieren. Schon nach wenigen Minuten verselbstständigten sich ihre Gedanken wieder und trugen sie nach Schiva. Wie es Grandma wohl ging? Was war aus Mark und den anderen geworden? Hatte Sydney alles im Griff? Was hatte er hier zu suchen? Hatte sie sich womöglich geirrt und er war es nicht gewesen? Nein, unmöglich. Diese Augen waren einfach unverkennbar. Er musste es gewesen sein! Doch wie kam er hierher? Was war mit der Sperre?

„Sag mal, ist hier noch frei?“

Lara fuhr erschrocken zusammen und bevor sie antworten konnte, setzte sich der junge Mann ihr auch schon gegenüber. Er war einen halben Kopf größer als sie und trug ein Kopftuch, das seine schulterlangen, rotbraunen Haare nur zu einem Drittel verbarg. Er hatte einen leicht braunen Teint und seine moosgrünen Augen funkelten sie belustigt an. Irgendwie erinnerte er sie an jemanden, doch sie wusste nicht, an wen. Er bestellte einen Kaffee und ein Stück Käsekuchen. Danach lehnte er sich lässig in die Lehne zurück und bedachte sie mit einem breiten Grinsen. Sein Blick gefiel ihr nicht. Unsicher rückte sie auf ihrem Stuhl hin und her.

„Was … was ist?“