Marienblut - A. Kaiden - E-Book

Marienblut E-Book

A. Kaiden

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Beschreibung

Seit über einem Jahr ist Leetha nun auf der Flucht vor dem gefallenen Engel Zavebe. Ihr Ziel, die Dämonen Schritt für Schritt von der Erde zu tilgen, läuft schleppend. Und dann ist da noch dieser Dämon, der stets zu wissen scheint, wo sie sich befindet und ihr ein verlockendes Angebot unterbreitet. Hat sie damals einen unwiderruflichen Fehler begangen und das Schicksal der Menschheit besiegelt? Oder gibt es noch einen Weg über das Böse zu siegen?

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Seitenzahl: 315

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Marienblut

When Angels Begin To Die

von A. Kaiden

1. Auflage: Oktober 2023

Copyright by A. Kaiden

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, des Internets, auch einzelner Teile Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der

Autorin A. Kaiden

Impressum

Texte: © Copyright by A. Kaiden Cover-/Umschlag: © Copyright by BUCHGEWAND Coverdesign |www.buch-gewand.de

unter Verwendung von Motiven von

Fotos/ Grafiken: stock.adobe.com: Krit

depositphotos.com: frenky362,

cherayut000, liqwer20.gmail.com, artkozyr,

[email protected]

Verlag: A. Kaiden

[email protected]

www.a-kaiden.de

Druck: epubli ein Service der

neopubli GmbH, Berlin

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Die Handlung und die handelnden Personen dieser Geschichte sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

Inhaltswarnung mit Details:

Dieses Werk enthält Inhalte, die einige Menschen triggern oder für anstößig halten könnten. Die Inhalte beziehen sich auf folgende Themen:

Achtung, mögliche Spoiler!

- Ausführliche Schilderungen von Brutalität, körperlichen und seelischen Grausamkeiten, Folter und Morden

- Beinhaltet Sekten, Satanismus und religiösen Fanatismus

- Monster, Hexen, Schattenwesen und Dämonen im Detail

Widmung

Für meine treue Lesegemeinschaft, die nicht müde wurde, nach einer Fortsetzung zu „Marienblut – When Angels Deserve To Die“ zu fragen.

Prolog

Deine Augen starren ins Leere.

Müde ist dein Blick.

Was ist nur geschehen?

Wie konnte das passieren?

Du bist Deinem Ziel so nah.

Es ist nur noch ein letzter Schritt.

Und dennoch scheinst du entfernter denn je

Von der Glückseligkeit.

Könnte der endgültige Sieg das ändern?

Die Aussicht auf Erfolg kümmert Dich nicht mehr.

Ein Schauer lässt mich erzittern.

Du bist nur noch ein Schatten Deiner selbst.

Mein Innerstes reißt entzwei.

Wann ist das nur passiert?

Wo ist dein Antrieb?

Mein Herz blutet.

Dass Du mich nicht siehst, kümmert mich nicht.

Du folterst und erniedrigst mich.

Ich lasse Dich gewähren,

doch meine Hoffnung zerbricht – glücklich macht Dich nichts.

Ich würde alles tun, alles dafür geben,

doch nichts holt Dich zu mir zurück.

Auch wenn Du gewinnst,

so hast Du längst verloren.

Finsternis umhüllt und füllt mich aus.

Ist das unser Schicksal?

Verdammt bis in alle Ewigkeit?

Das kann ich nicht akzeptieren!

Ich werde Dich retten.

Koste es, was es wolle.

Denn Du bist alles für mich.

Ich liebe Dich.

Kapitel I – Die Flucht

Wo man Gefahren nicht besiegen kann,

ist Flucht der Sieg.

(Johann Gottfried Seume)

Kapitel 01

Müde schweifte ihr Blick über die Straßen. Sie hatte auch diese Nacht kaum geschlafen. Sollte sie es wagen und ihre schweren Lider für ein paar Minuten schließen? Shinjou bezweifelte, dass sie finden würde. Und falls es ihr gelänge, so wäre es keine friedliche Nachtruhe. Die erhoffte Erholung würde nicht kommen.

Träge blinzelte sie in das Sonnenlicht und ihre Augen, die durch die Kontaktlinsen in einem farbenfrohen Orange schimmerten, blieben an dem gepflegten Park hängen, auf der eine Gruppe kleiner Jungs Fußball spielte. Ausgelassen sprangen sie dem Ball hinterher. Ob sie es wussten? Oder ahnten sie noch nichts von der Gefahr, in der sie sich und in der ihre Familien sich befanden? Diese trügerische Stille und Idylle …

Shinjou schluckte die aufkommenden Tränen hinunter. Auf den ersten Blick wirkte Bingen wie ein kleines Paradies, umgeben und geschützt von den Wäldern drum herum. Keinerlei Schmutz lag auf den Straßen, es fuhren nur wenige Autos und die Leute ließen einander in Ruhe. Urlauber würden diesen schönen Ort gerne für ihr nächstes Reiseziel buchen, mit dem fatalen Haken, dass sie nie wieder herauskommen würden. Keiner konnte das.

Vorsichtig richtete sie sich auf und streckte ihre steifen Glieder. Vor einem Jahr war alles noch ganz anders gewesen. Das Leben war normal und richtig erschienen. Doch dann hatte sich die Situation schlagartig geändert. Es war an einem Sonntag passiert. Ein ohrenbetäubender Knall gleich Donnerhall hatte die Luft durchschnitten und den Horizont in ein Unheil verkündendes Blutrot gefärbt. Wie eine Flutwelle waren die Schlangenmenschen oder wie sie sich selbst nannten – Naga – über sie hereingebrochen, und hatten alle getötet, die Widerstand leisteten. An ihrer Spitze war Manasa gelaufen. Eine wunderschöne Dämonin mit Augen schwärzer als die stockfinsterste Nacht. Zuerst hatten Shinjou und ihre Freunde es für eine Art Show gehalten, doch dafür war das darauf folgende Grauen zu real gewesen. Die Todesschreie, der Geruch nach Tod und Blut …

Sie schauderte und rieb sich über ihre dünnen Arme. Seitdem hatte sich viel geändert. Sie waren gefangen in Bingen wie in einem Käfig. Von der Außenwelt abgeschnitten. Die Naga hausten in den umliegenden Wäldern und sorgten dafür, dass jeder Fluchtversuch mit dem Tod bestraft wurde. Die Bewohner wurden immer weniger. Auch ihre Eltern und die ihrer Freunde waren dem neuen System zum Opfer gefallen. An und für sich lebte es sich hier nicht schlecht, doch niemand wusste, wen es als Nächstes treffen würde und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie an der Reihe war. Ihr Magen knurrte und sie legte sich schnell die Hand auf den Bauch. Zögernd wanderte ihr Blick zu dem Geldautomaten der Dämonin Manasa. Sie hatte sich alle angeeignet und jeder, der Geld benötigte, kam nicht drum herum, die Apparate zu benutzen und damit automatisch an der Verlosung teilzunehmen. Je höher dabei der ausbezahlte Betrag, desto höher die Chance auf den Gewinn. Familien wurden somit meist schneller ausgelöscht, da sie mehr Geld benötigten. Auch ihre Eltern hatten gewonnen und sie hatte sie nie wiedergesehen. Was genau mit den Gewinnern geschah, wusste niemand von ihnen, doch keiner hegte den geringsten Zweifel daran, dass sie tot waren.

Shinjou schreckte aus ihren trübsinnigen Gedanken auf und strich sich ihren lila gefärbten Pony aus dem Gesicht, während sie einen Mann beobachtete, der unsicher zum Geldautomaten lief und seinen gewünschten Betrag abhob. Unschlüssig knabberte sie auf ihrer Unterlippe. Sie hatte Hunger und nur noch ein paar Restmünzen übrig, die kaum noch für einen Kaffee reichten. Ihr blieb keine Wahl als ihr Glück zu versuchen. Dennoch: Sie war erst 23 Jahre alt und viel zu jung, um zu sterben.

Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und drehte sich entschlossen um. Yui und die anderen hatten Recht. Es wurde Zeit, dass es jemand schaffte, von hier auszubrechen. Und sie würde eine davon sein!

*

„Vergesst nicht, nur das Nötigste einzupacken! Alles was nicht unbedingt gebraucht wird, ist nur unnötiger Ballast und ein Hindernis beim Rennen!“, ermahnte Yui ihre Freunde, die zustimmend murmelten und weiter ihre Sachen aussortierten. Sie selbst hatte ihren kleinen Rucksack bereits vor Tagen fertig gepackt. Die Flucht war schon seit Wochen geplant und nun war es endlich soweit. Die junge Frau konnte es kaum erwarten. Jedoch beschlichen sie immer wieder Zweifel. Würden es alle schaffen? Mitnichten. Wen würde es treffen? Belinda? Possibal? Michail? David? Wer würde die Flucht nicht überstehen? Yui zwirbelte nervös an einer ihrer langen, pekanussbraunen Haarsträhnen. Über so etwas durfte sie sich jetzt keine Gedanken machen. Was passieren würde, würde passieren. Doch alles war besser, als hierzubleiben und auf den sicheren Tod zu warten. Sie trat zur Tür, als sich diese auftat. Erstaunt schaute sie Shinjou an, die zielstrebig den Raum betrat.

„Ich komme mit.“

Yui öffnete den Mund, um nachzuhaken, ob sie sich sicher war. Immerhin war ihre Freundin diejenige gewesen, die sich mit dem Plan am wenigsten hatte anfreunden können. Der entschlossene Blick Shinjous beantwortete ihre Frage jedoch, bevor sie sie gestellt hatte. Sie legte ihr die Hand auf die Schulter und nickte ihr aufmunternd zu.

„Es freut mich, dass du mit dabei bist. Pack deine Sachen. In ein paar Stunden geht es los.“

*

Sey holte tief Luft. Ihr Herz schlug bis zum Anschlag. Eigentlich hatte sie nie wieder hierher kommen wollen. Und nun stand sie vor der Absperrung, hinter der die Treppe nach unten führte und der Vandik hauste. Bestimmt war er noch dort, oder?

„Hey, alles in Ordnung?“ Miaka trat an ihre Seite und strich ihr mitfühlend über die Schulter. Sie konnte sich vorstellen, wie schwer es ihrer Freundin fallen musste, an diesen Ort zurückzukehren, wo das Grauen für sie zur Wirklichkeit geworden war.

„Ja, ich … ich denke schon.“ Sey versuchte zu lächeln, was ihr gründlich misslang. Als Miaka den Kopf schüttelte, gab sie es auf. „Ich sehe immer wieder Nicoles blutverkrusteten Schuh vor mir … blöd, ich weiß.“

„Nein, gar nicht blöd. An anderen Orten wird es jedem einzelnen von uns genauso ergehen.“

„Macht euch keine Sorgen“, meinte Lexington und trat selbstbewusst an ihre Seite. „Mit den Räucherdingern von Konstantin machen wir dem Vieh in wenigen Minuten den Garaus!“

„Hört, hört, da ist aber einer zuversichtlich.“ Phekos gähnte und schnappte sich eins der Geräte, die für jeden von ihnen bereitstanden. „Etwas handlicher wäre auch nicht schlecht gewesen.“

„Die Dinger erinnern mich eher an einen Staubsauger“, sprach Leetha ihre Gedanken laut aus und John lachte leise.

„Vermutlich waren sie das vorher auch.“

„Egal, Hauptsache es funktioniert. Räuchern wir das Biest aus!“ Lexington trat voller Tatendrang nach vorne und rüstete sich aus. Der Rest tat es ihm gleich. Gemeinsam schritten sie die Treppe hinunter.

„Wir teilen uns auf wie besprochen. Die Mädels gehen rechts entlang und wir nehmen den linken Gang. So schnell wie möglich ausräuchern und dann sofort raus. Falls der Vandik flüchten sollte, steht Konstantin oben auf der Treppe und fängt ihn ab. Es kann nichts schiefgehen. Seid ihr soweit?“ Auffordernd blickte John in die Gruppe und erntete von allen Seiten Nicken. „Super, dann lasst uns loslegen!“

Sie stülpten sich die Gasmasken über, schalteten die Werkzeuge ein und schlichen durch die Gänge wie Kammerjäger. Weißer, dichter Rauch gleich Nebel drang aus den umgebauten Haushaltsgeräten und flutete die Korridore. Zwar war auf der Stirnhöhe ihrer Schutzmasken ein Licht angebracht, doch sie vermochten kaum, die Dunkelheit, die sich nun mit dem geweihten Gift des Mönches mischte, mehr als auf einen Meter zu durchdringen.

Leetha fühlte sich mechanisch. Sie wollte, ja sie musste funktionieren, um den Vandik dorthin zu schicken, wo er hingehörte und ihre Freunde zu beschützen. Sie durfte sich keinen Fehlschlag und keinen Augenblick der Unaufmerksamkeit erlauben. Schwer, wenn man bedachte, dass sie sich seit damals mit jedem weiter verstreichenden Tag wie eine leere Hülle fühlte. Hart, kalt und erstarrt. Der Schmerz der Schuld saß tief in ihr drin und sie versteckte ihn, so gut es ihr möglich war.

Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Sie verlangsamte ihre Geschwindigkeit und ihre Freundinnen taten es ihr gleich. Sie konnten unter den Gasmasken kaum sprechen und versuchten, sich deshalb mehr mit Gebärden zu verständigen. Die Frauen lauschten in die Finsternis, doch außer den röhrenden Apparaten in ihren Händen, hörten sie nichts. Leetha wollte gerade andeuten, dass sie sich geirrt hatte, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Noch bevor sie reagieren konnte, sprang das fuchsähnliche Wesen aus seinem Versteck hervor, direkt auf sie zu. Seine Fratze war seltsam verzerrt und wirkte surreal. Die hypnotisierenden Augen funkelten mordlüstern, während seine scharfen Zähne unaufhaltsam auf sie zurasten.

Miaka versuchte zu schreien, doch die Maske erstickte den Laut im Keim. Ihre Freundin schien erstarrt. Sie musste reagieren. Blitzschnell sprang sie vor Leetha und schlug mit dem Räucherapparat aus. Ein Knacken durchdrang die Luft. Gleichzeitig taumelte Miaka von der Wucht des Aufpralls rückwärts. Der Vandik sprang unverzüglich auf seine sechs Pfoten. Ein riesiges Loch klaffte auf seinem Kopf und schwarzes Blut besudelte den staubbedeckten Boden. Ein kehliges Knurren gleich Donnergrollen drang aus seinen gefletschten Zähnen hervor und sein gespaltener Schwanz zuckte. Nun erwachte auch Sey aus ihrer Starre. In Windeseile war sie vor ihren Freundinnen und nebelte das Biest ein. Das Knurren wich einem Husten, aber der Vandik war nicht gewillt, sich seinem Schicksal geschlagen zu geben. Sie sahen es kommen, doch verhindern konnten sie es nicht. Mit flinken Sprüngen wetzte der kleine Dämon an ihnen vorbei in Richtung Ausgang. Die Frauen setzten ihm hinterher, aber sie konnten nicht mit ihm Schritt halten.

Leetha fluchte innerlich. Das hätte nicht passieren dürfen! Um ein Haar hätte sie es vermasselt. Miaka hatte eindeutig etwas bei ihr gut. Ein Schrei, dicht gefolgt von einem markerschütternden Jaulen zerfetzte die faulige Luft. Miaka, Sey und Leetha hielten schnaufend vor der Treppe an und sprangen sofort zurück, als der abgetrennte Kopf des Vandik direkt vor ihre Füße kullerte.

Wie gebannt starrte Sey in die weit aufgerissenen und blutunterlaufenen Augen des Monsters, das schon so viel Unheil angerichtet hatte. Sie konnte nicht fassen, dass die Legende des Vandik ein für alle Mal beendet war. Ein Dämon weniger auf der Erde, der die Menschen in Schrecken und Grauen versetzte.

„Ih… ist ja ekelhaft“, beschwerte sich Miaka und deutete auf die Blutspur, die sich über die ganze Treppe hinauf zu Konstantin zog, der triumphierend den Rest des Vandikkörpers durch die Luft schwenkte.

„Ich hab ihn erwischt. Erledigt. Ha ha.“

„Da freut sich aber einer.“ Über Leethas Gesicht huschte ein schiefes Lächeln. Das Bild war einfach zu makaber.

„Hier unten aufräumen müssen wir aber nicht, oder?“ Miaka rümpfte bei der Vorstellung die Nase, während sie bereits die Stufen nach oben erklomm und sich die Gasmaske vom Gesicht riss. „Ich habe keine Lust die ganzen Kadaver zu entsorgen, geschweige denn, diese anzuschauen.“

„Falls der Vandik überhaupt etwas von seinen Speisen übrig gelassen hat“, mutmaßte Leetha und folgte ihr hinauf.

„Damals war da leider genug übrig“, meinte Sey düster und schüttelte sich bei der Erinnerung, wie sie nichts ahnend in der Dunkelheit in den aufgerissenen Brustkorb eines der Opfer gegriffen hatte. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken und sie versuchte, den Gedanken zu verdrängen. Vorbei. Es war vorbei. Sie hatten das Biest ein für alle Mal vernichtet. Sie atmete tief durch, doch die Erleichterung wollte sich nicht einstellen.

Konstantin griente sie breit an, sammelte endlich die Überreste ihres Gegners ein und stopfte sie in einen großen Sack.

„Gut gemacht! Wir haben ihn erwischt.“ Strahlend fischte er sein Walki Talki aus der Tasche und gab der zweiten Gruppe Bescheid, dass die Sache erledigt war und sie zurückkommen konnten. Dann blickte er strahlend in die Runde. „Das muss gefeiert werden. Wie wäre es mit Pizza und Wein auf unseren heutigen Sieg?“

Die Frauen nickten, jedoch weniger begeistert als der Mönch, der von seinem direkten Eingriff noch komplett berauscht schien.

Sey wurde von der Vergangenheit geplagt und es gelang ihr nicht, abzuschalten. Miaka schaute Phekos entgegen, der irgendetwas vor ihnen verheimlichte. Sein sorgenvolles Gesicht verriet es ihr schon seit Wochen, doch sie bekam ihn nicht zum Sprechen. Frustriert wandte sie sich ab.

Leethas Miene verdüsterte sich für einen Moment. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Den heutigen Sieg feiern … gab es überhaupt etwas zu feiern? Was nützte ein vom Bösen gereinigter Bahnhof, wo doch die gesamte Welt befallen war?

*

Sie entzündete zum letzten Mal eine Kerze und stellte sie auf das Grab. Langsam kniete sie sich nieder und starrte auf das lodernde Licht, während sie die aufkommenden Tränen zurückkämpfte. Ein beunruhigender Gedanke kreuzte ihre Sinne und ein trauriges Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Kerzenflammen waren todgeweihte Flammen … war dies ein Zeichen? Würde sie wohl bald Hinagiku im Reich der Toten Gesellschaft leisten?

„Wie geht es dir, Liebste?“ Andächtig strich sie mit den Fingerspitzen über den kalten Stein. „Ich komme, um mich zu verabschieden. Heute ist das letzte Mal, dass ich dich besuchen werde. Bei Sonnenaufgang brechen David, Belinda, Shinjou, Possibal, Michail und ich auf. Drück uns die Daumen, obwohl …“

Sie hielt kurz inne, während ihre Gedanken sich überschlugen. Ihre Freundin war eine der vielen Leute gewesen, die bei der Losung des Geldautomaten gewonnen hatten. Yui hatte nicht einmal Zeit gehabt, sich von ihr zu verabschieden … Ein schmerzlicher Stich durchfuhr ihr Herz. Sie hätten vorher fliehen sollen, dann wäre Hinagiku vielleicht noch am Leben und sie wären noch zusammen. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und hauchte einen Kuss auf den Grabstein.

„Leb wohl Liebste, doch ich verspreche Dir, auch wenn ich nicht mehr in Bingen bin, werde ich jeden einzelnen Tag an Dich denken. Mach Dir keine Sorgen. Wir werden es schaffen zu fliehen und wir werden diesem Spuk auf den Grund gehen!“

Sie legte eine gepflückte Blume auf das Grab und stand auf. Yui wandte sich bereits ab, als sie noch ein letztes Mal innehielt und über ihre Schulter auf die Gedenkstätte schielte.

„Und Hinagiku … ich liebe Dich.“

*

Kalter Wind wehte durch die grauen und nassen Gassen. Der Alex war wie immer um diese Uhrzeit überfüllt und es wurde so langsam richtig ungemütlich. Oder lag das am Entzug? War es wieder soweit? Zeit für den nächsten Schuss? Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Ihm war auf einmal furchtbar heiß. Hektisch wühlte Phekos in seinen Taschen, doch er fand nichts. Er war blank. Hatte keinen einzigen Cent mehr.

„Scheiße, verfluchte!“ Wütend trat er gegen eine Bank, dann beschlich ihn die Angst. Die Wut verwandelte sich in Verzweiflung. Geld. Er brauchte dringend Moneten.

„He, Punk. Wir verdrücken uns ins Lager, kommste mit oder was?“ Koda grinste ihm müde entgegen. Phekos biss die Zähne zusammen. Der konnte leicht reden. Sein Schuss konnte nicht lange her sein. Koda hatte nie Geldprobleme, weil er sich für alles hergab. Könnte er das auch? Sollte er es ihm gleichtun? Gab es überhaupt noch einen anderen Weg? Ein Schauer des Ekels überzog seine Haut und ließ ihn erzittern. Er brauchte den Stoff …

„He, Alter. Du siehst echt kacke aus, Mann. Isʼ wohl schon ne Weile bei dir her, ne? Komm erst mal mit.“ Sven war plötzlich aufgetaucht. Seit wann war der schon hier? Er wurde am Arm ergriffen und mitgezogen. Wortlos ließ er es geschehen. Er war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Alles drehte sich um die Frage, wie er an Geld kommen konnte, um so den erlösenden Schuss zu bekommen. Eine Sache, etliche Antworten, und doch keine einzige ersichtlich.

In einer ruhigen Bahnhofsecke hielten sie an und Phekos sah verwirrt von einem zum anderen. Sie waren Freunde, fast wie Brüder … sie kannten seine Lage – sie würden ihm helfen, oder nicht? Vielleicht brauchte er kein Geld. Zumindest nicht für den Moment. Er öffnete seinen trockenen Mund. Zitternd kamen die Worte über seine rissigen Lippen, aber niemand beachtete ihn. Plötzlich änderte sich die Stimmung. Die vorher so weggetretenen Gesichter und ausdruckslosen Augen wurden wach und fixierten etwas. Was passierte hier? Langsam wandte sich Phekos um. Er wollte es nicht, aus Angst, was diesen Wandel herbeigeführt hatte zu blicken, doch er konnte nicht anders. Das, was hinter ihm wartete, würde seine Zukunft verändern. Er spürte es klar und deutlich.

„Seht euch an. Da streunt ihr herum wie verwilderte Hunde. Von allen vergessen. Von allen gemieden. Die Ratten der Gosse von allen gehasst.“

Eine zierliche Gestalt stand vor ihnen, eingehüllt in einen langen dunklen Mantel mit tiefgezogener Kapuze. Von der Figur und Größe hätte man ihr Gegenüber leicht für eine Frau halten können, doch die Stimme verriet, dass es sich um einen Mann handelte. Unsicher starrte Phekos zu den anderen, die den Fremden noch immer hypnotisiert anstarrten.

„Ihr seid der Abschaum der Straße, eine Last für die Gesellschaft. Seid ihr es nicht leid? Jeden Tag nur mit dem Gedanken zu verbringen, wie ihr an euren nächsten Schuss kommt? Die Ungewissheit zu ertragen? Die Demütigung? Angst? Ihr armen, verlorenen Maden.“

Die Gestalt kam ein paar Schritte auf sie zu, elegant wie ein Raubtier. Phekos wollte instinktiv zurückweichen, aber seine Beine weigerten sich. Von dem Fremden ging etwas Gefährliches aus und dennoch auch ein gewisses Versprechen, das er unbedingt hören musste. Seine Worte waren beleidigend und gleichzeitig so melodisch und verheißungsvoll.

„Was würdet ihr sagen, wenn ich euch eine Arbeit anbiete? Eine, die Spaß macht. Wo ihr die Überlegenen seid und die anderen das tun müssen, was ihr sagt? Eine, bei der ihr nicht mehr übersehen und wie Abschaum behandelt werdet, sondern Respekt bekommt? Und das Beste: ihr bekommt so viel Stoff wie ihr möchtet.“

Die Augen seiner Freunde weiteten sich und er war sich nicht sicher, ob es bei ihm anders war. Seine Kinnlade klappte nach unten und bei der Vorstellung durchzog ein erwartungsvolles Kribbeln seinen Körper, der zum bedingungslosen Drang wurde. So unreal und falsch der Vorschlag klang, es war zu verlockend. Ein Fünkchen Vernunft kreiste in seinen Gedanken umher, nur um widerstandslos unterzugehen.

„Na, was sagt ihr, ihr unsichtbaren Maden? Alles was ich im Gegenzug verlange, ist euer erbärmliches Leben. Einverstanden?“

Ein einstimmiges Nicken war die stumme Antwort der Junkies. Unter der Kapuze der Gestalt blitzten zwei türkisfarbene Augen hervor, umgeben von einem Goldschimmer, und zogen ihn in den Bann. Er drohte darin zu ertrinken, schnappte nach Luft und bekam doch nicht genug. In Sekundenschnelle wurde alles um ihn herum schwarz.

„Dein erbärmliches Leben gehört mir, du Made! Du kannst mir nicht entkommen!“

Schweißgebadet wachte Phekos auf und rang nach Atem. Als er erkannte, dass er wieder nur geträumt hatte, beruhigte sich sein Puls und er schloss für einen Moment die Augen. Tief durchatmend fuhr er sich durch sein nasses Haar. Er war in Sicherheit. Es war vorbei. Das alles gehörte der Vergangenheit an, doch warum fühlte er sich, als würde diese ihn unaufhaltsam einholen?

Kapitel 02

Das Rot brach den dunklen Himmel langsam in zwei Hälften und kündigte den beginnenden Tag an. Ganz Bingen lag noch im Bett – ganz Bingen bis auf Yui und ihre Freunde. Mit vollgepackten Rucksäcken standen sie aufbruchbereit am Stadtrand.

„Kann es losgehen?“ Michail versuchte, aufmunternd zu lächeln, doch seine Unsicherheit war deutlich zu erkennen. Seinen Kameraden erging es nicht anders. Die Flucht würde kein Zuckerschlecken werden. Das war ihnen allen klar. Dennoch gab es kein zurück.

„Lasst es uns angehen“, antwortete Yui und nickte in die Runde. „Wenn nicht jetzt, dann wahrscheinlich nie.“

Sie holte tief Luft und trat über die von den Naga markierte Grenze. Ihr Herz pochte wie wild. Wie konnte ein kleiner Schritt nur so viel Aufruhr verursachen? Vor einem Jahr in ihrem alten Leben undenkbar. Als sie merkte, dass die anderen zögerten, wandte sie sich um.

„Was ist los? Ihr werdet doch jetzt nicht kneifen?“

Ihre Freunde schauten sich kurz an und ein entschlossener Ausdruck breitete sich auf ihren Gesichtern aus.

„Auf gar keinen Fall“, entgegnete Belinda und trat neben sie. „Auf gehtʼs!“

Der Wald war dicht und unübersichtlich. Überall knackte und zirpte es. Die Richtung der einzelnen Geräusche war schwer auszumachen. Ein Jahr in Gefangenschaft hatte die Freunde unaufmerksam und ängstlich werden lassen. Die Furcht saß ihnen im Nacken.

Yui biss sich auf die Zunge. Es waren nicht nur die ungewohnten Laute und die Angst, die ihr zu schaffen machten. Der Wald schien Augen zu haben. Sie hatte das Gefühl, dass jeder ihrer Schritte beobachtet wurde. Im nächsten Moment blitzte in den Büschen etwas Metallisches auf. Sie wollte die anderen warnen, doch es war zu spät. Ein lärmendes Zischen breitete sich zwischen den Bäumen aus und wurde rasend schnell laut wie Donnergrollen. Mit einem Schlag wurde ihr eiskalt. Sie hatten sie entdeckt. Ein Blick über ihre Schulter in die Gesichter ihrer Freunde genügte, um festzustellen, dass auch sie dasselbe dachten.

„Lauft! Lauft so schnell ihr könnt!“, schrie sie ihnen zu und rannte voraus. Sie durften sie nicht kriegen, dann wäre es vorbei. Ihre einzige Chance bestand in der Flucht. Die Jagd hatte begonnen und sie waren das Schlachtvieh.

*

„Egal welche Richtung wir einschlagen, Bad Bergzabern sollten wir meiden“, schlussfolgerte Konstantin.

„Och nö, könnten wir nicht endlich mal wieder in eine schöne Stadt?“, beschwerte sich Lexington und trommelte mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte.

„Schön?“ Miaka lachte gehässig auf. „Was ist hier bitteschön noch schön? Alle Orte sind von den Dämonen und dem Bösen befallen.“

„Richtig. Besonders die Städte sind übel dran“, stimmte Leetha ihrer Freundin mit einem traurigen Lächeln zu. Der Mönch nickte eifrig.

„Und in Bad Bergzabern soll Lamashta herrschen. Die ist ein paar Nummern zu groß für uns. Eins nach dem anderen. Erst die kleinen Fische, an denen wir wachsen und dann die großen Gegner.“

Leetha nippte stumm an ihrer heißen Schokolade. Die einfacheren Gegner oder die kleinen Fische, wie Konstantin sie nannte, waren bereits schwierig genug für sie. Wem machten sie etwas vor? Gegen stärkere, gewichtigere Dämonen hatten sie keine Chance. Doch wer versprach ihnen, dass die leichten Übel nicht unzählig und x-beliebig von den Großen gerufen und heraufbeschworen werden konnten? Ein zähes Ziehen machte sich in ihrem Magen breit. Hätte sie damals die Konsequenzen bedacht, dann hätte sie anders entschieden. Sie hätte das Opfer dargebracht, welches von ihr verlangt worden war. Was war sie doch egoistisch gewesen …

Ihr Blick schweifte über ihre Freunde und blieb an Phekos hängen, der mit leeren Augen ein Loch in die Wand starrte. Sie war wohl nicht die Einzige, die nicht ganz bei der Sache war.

„Das Problem ist, dass wir noch immer keinen Anhaltspunkt haben, wo Gesa und der Rest der verfluchten Sippe ist“, meinte John und strich sich nachdenklich durch sein braunes Haar.

Sey schüttelte den Kopf.

„Wir könnten uns offensichtlich zeigen. Wenn unsere Gegner die letzte Maria wittern, werden sie aus ihren Löchern kriechen, aber wir haben unmöglich eine Chance gegen alle auf einmal.“

„Der Meinung bin ich auch. Das verbiete ich euch. Da können wir die Welt auch gleich untergehen lassen“, entgegnete der Mönch und wurde bei dem Gedanken bleich. Er schaute abwartend in die Runde, doch keiner der Anwesenden machte Anstalten das Wort zu ergreifen. Stattdessen legte sich ein wachsender Pessimismus auf sie nieder wie eine schwere nasse Wolldecke. Erstaunt zog der Mönch eine Braue in die Höhe.

„Na, na, na. Wer wird denn gleich so negativ sein? Wir haben es bis hierhin geschafft und ich bin davon überzeugt, dass wir es auch noch weiter schaffen werden! Lasst mal sehen.“ Er zog die ausgebreitete Landkarte näher zu sich heran und nickte zufrieden. „Ich würde sagen, wir fahren als nächstes in Richtung Loreley und probieren da unser Glück. Auf der Strecke liegen gesicherte Tankstellen, sodass dies auch kein Problem ist und ich hole am besten gleich mal Erkundigungen über die Gegenden und die Gefahren ein. Ruht euch aus, morgen geht es weiter!“

Zufrieden und mit überschwänglichem Optimismus rollte er die Karte zusammen und begab sich in sein Zimmer. Leetha und ihre Freunde saßen noch eine ganze Weile beisammen. Die positive Einstellung Konstantins wollte jedoch nicht so recht auf sie überspringen.

*

Yuis Puls rauschte mit ihrem Herz um die Wette. Das Atmen fiel ihr von Minute zu Minute schwerer. Lange würde sie die Flucht nicht mehr durchhalten und ihren Freunden erging es gleich. Sie hatten die Naga bis jetzt nicht abschütteln können. Noch immer waren sie ihnen dicht auf den Fersen und schienen ihren nahenden Sieg zu wittern. Der furchtbare Gedanke des Aufgebens schob sich in ihren Kopf, doch sie verdrängte ihn schnell wieder. Das war keine Option. Hinter ihr ertönte plötzlich ein Schrei. Yui wollte sich umdrehen, als unter ihr die Falle zuschnappte. Mit einem kräftigen Ruck wurde sie nach oben gerissen und baumelte in einem Netz wie ein gefangener Hering.

„Nein …“ Ein Schluchzen entrann ihrer Kehle, als sie sah, dass alle ihre Freunde in gleichartige Fallen gerannt waren. Verzweifelt versuchten sie, sich zu befreien, doch vergebens. Die Gebüsche ringsherum raschelten gefährlich und im nächsten Moment trat eine ganze Horde der Schlangenmenschen hervor. Gelbe Augen funkelten sie mordlüstern an und ihre dünnen Zungen schoben sich zischelnd zwischen ihren Lippen hervor, die als solches gar nicht zu erkennen waren. Der muskulöseste von ihnen trat nach vorne und auf seinem Gesicht zeichnete sich ein diabolisches Grinsen ab.

„Das hättet ihr nicht tun sollen, ihr einfältigen Menschlein. Ihr habt soeben euer Todesurteil besiegelt.“

Die umstehenden Biester begannen zustimmend zu Grölen und ihr grausiges Zischen füllte den Himmel aus, sodass sogar die Sonne sich weigerte, pünktlich aufzugehen, aus Angst, entdeckt zu werden.

*

„Es ist frustrierend!“ Miaka klopfte ihr Kissen zurecht und warf es auf das Bett. „Ich sehe deutlich, dass ihn etwas beschäftigt, doch der Dummkopf rückt einfach nicht mit der Sprache raus!“

Leetha warf ihr einen mitleidigen Blick zu. Sie konnte den Frust ihrer Freundin nur allzu gut nachempfinden. Phekos war definitiv nicht leicht zu verstehen.

„Also hat er noch immer nicht mit dir gesprochen? Ich hatte gehofft, dass er sich dir anvertrauen würde.“

„Ja, ich auch. Wieso kann er nicht so einfach gestrickt sein wie Lexington und John?“, beschwerte Miaka sich und ließ sich auf die Matratze fallen. Sey konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Du würdest also mit Lex besser auskommen?“

Die Gesichtszüge ihrer Freundin entgleisten und sie rollte bei der Vorstellung mit den Augen.

„Ihr wisst genau, was ich meine! Den Möchtegern-Macho hast du an der Backe. Versuch den ja nicht mir anzudrehen!“

Sie konnte nicht verstehen, was Sey an Lexington fand. Jedoch waren die beiden seit fast einem halben Jahr glücklich zusammen und sie gönnte es ihnen von ganzem Herzen. Zumindest ihrer Freundin. Lex brachte sie noch immer zur Weißglut. Und Phekos? Sie hatte gedacht, dass da etwas wäre, das sie verbindet, doch nun war sie sich nicht mehr so sicher. Hatte sie sich geirrt? Anstatt sich zu öffnen, zog sich der Kerl immer stärker zurück.

„Ich versteh nicht, wo sein verdammtes Problem liegt!“

„Er wird schon seine Gründe haben“, versuchte Leetha sie zu beschwichtigen. „Gib ihm noch etwas Zeit und …“

„Wie viel Zeit denn noch?“ Miaka schnaufte. „Ich bin ja kein ungeduldiger Mensch, aber auch ich habe meine Grenzen und so langsam sind diese erreicht. Apropos Frust und nicht verstehen …“ Sie schielte zu ihren Freundinnen, die ihre Matratzen für die Abreise abzogen. „Wann versteht Konstantin endlich, dass wir nicht mehr im tiefsten Mittelalter leben und es okay ist, wenn Frauen und Männer sich ein Bett teilen, zumindest solange sie ein Liebespaar sind?“

Die zwei anderen begannen zu prusten.

„An diese Wende glaubst du doch selbst nicht, oder?“ Leetha wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und dankte ihrer Freundin im Stillen für die fröhliche Ablenkung. Für einen kurzen Moment konnte sie ihre Sorgen und Schuldgefühle vergessen. In diesen Minuten fühlte sie sich befreit, fast so, als wäre die Welt nicht aus den Fugen geraten.

*

Unruhig tigerte Yui in dem Loch umher, das ihr letztes Gefängnis darstellen sollte. Die Naga hatten sie wie Beute in den Netzen hinter sich hergeschleift und dann in ein tiefes Erdloch geworfen. Vermutlich hatten sie es für genau diesen Zweck konzipiert und wahrscheinlich gab es davon noch mehr im Wald. Löcher, in denen sie die gescheiterten Flüchtlinge schmoren ließen, bevor sie sie hinrichteten.

„Was glaubt ihr, werden sie mit uns machen?“, wimmerte Belinda und rieb sich über ihre vom Sturz aufgeschürften Arme. Yui wirbelte aufgebracht herum. Obwohl sie ihre Freundin nicht anfahren wollte, konnte sie es nicht verhindern. Es war die übermächtige Ohnmacht der Angst, die aus ihr sprach.

„Das ist doch völlig egal! Anstatt hier rumzuflennen sollten wir lieber nach einem Fluchtweg Ausschau halten!“

Belinda schluckte hart, wandte sich von Yui ab und kämpfte gegen ihre Tränen. David ließ sich von der Heftigkeit des Tons jedoch nicht beirren.

„Es gibt nur einen Weg hier heraus und das ist das Loch über uns. Also keine Chance oder kannst du oder jemand anderes so gut klettern?“, gab er tonlos zurück. Es war nicht zu übersehen, dass er bereits mit seinem Schicksal abgeschlossen hatte.

„Verdammter Mist!“, fluchte Yui und wirbelte herum, doch ihr Kumpel hatte Recht. Der einzige Weg aus der Misere lag scheinbar unerreichbar über ihnen. Wie ein gejagtes Tier lief sie von einer Ecke in die andere und suchte nach Möglichkeiten, den Aufstieg zu schaffen.

Shinjou kauerte sich an der Wand zusammen. Hatte sie einen Fehler gemacht? Hätte sie in Bingen bleiben sollen und versuchen, solange normal zu leben bis auch sie als Gewinnerin aus der Lotterie hervorgegangen wäre? Sie wusste es nicht, doch was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Die Sache war gelaufen. Ihr Leben war vorbei. Stumm schluchzend vergrub sie das Gesicht in ihren Händen.

Die Zwillinge beobachteten die Situation und machten sich ihre eigenen Gedanken. Schließlich fasste Michail einen Entschluss und ergriff das Wort.

„Well, ich sehe eigentlich nur eine einzige Möglichkeit, um hier wieder rauszukommen.“

Alle sahen auf und wandten sich ihm zu. Sogar Yui unterbrach ihren Lauf und wartete gespannt darauf, dass er fortfuhr. Seine kokosnussfarbenen Augen leuchteten honigfarben auf.

„Okay, um uns zu töten müssen sie ja auch runterkommen, oder nicht? Ich vermute, dass wir ihrer Göttin oder wie sie diese Bitch nennen, zum Fraß vorgeworfen werden sollen. Sie wird wohl kaum selbst hier herunterkommen, um uns zu holen und das ist unsere Chance.“

„Ich … ich verstehe nicht ganz. Angenommen, du hast mit deinen Mutmaßungen Recht, wo genau siehst du denn da unsere Chance?“, hakte Yui verdrossen nach.

Michail schnalzte mit der Zunge und strich sich durch seine braunen Haare.

„Ganz einfach. Auch wenn die Naga keine Menschen sind kann ich mir nicht vorstellen, dass sie ohne Hilfsmittel wie einer Leiter oder ein Seil hier herunterkommen. Wir müssen die Viecher überlisten, die sich herunter trauen und versuchen, zu fliehen.“

Yui dachte über seine Worte nach und ihre Gesichtszüge erhellten sich. Das könnte tatsächlich klappen. Michail schien ihre Gedanken zu erraten und ein breites Grinsen legte sich auf sein Gesicht.

„All right. Dann lasst uns mal schnellstens planen.“ Er nickte den anderen zu und gemeinsam begannen sie, die verschiedenen Situationen durchzugehen.

Nach fast zwei Stunden flog ein festgebundenes Seil zu ihnen hinab. Das Ende kreiste ein paar Zentimeter über die Erde, als wollte sie diese mit einem Tanz warnen. Die Freunde warfen sich vielsagende Blicke zu und machten sich bereit. Jetzt galt es keinen Fehler mehr zu machen und zu hoffen, dass nicht allzu viele Schlangenmenschen hinabsteigen würden.

Shinjous Herz schlug so laut, dass sie glaubte, es wäre für jeden zu hören. Ihr Körper war bis in die Zehenspitzen angespannt und obwohl es ihr schwer fiel, blieb sie wie besprochen in ihrer Ecke sitzen und schielte das Seil hinauf. Sie betete im Stillen, falls es so etwas wie einen Gott geben sollte, dass höchstens zwei der Monster hinabsteigen würden. Und sie hatten Glück. Tatsächlich bequemte sich nur ein einziger Naga das Seil hinunter. Er zischte erwartungsvoll und beschaute sich jeden von ihnen nochmals genauer. Dass seine Beute erstarrt und allem Anschein nach ergeben auf ihren Tod wartete, berauschte ihn. Spielerisch hob er den Finger und zählte das erste Opfer anhand eines Reimes ab. Bei Belinda endete sein Reim. Er stieß ein keckerndes Lachen aus und winkte sie zu sich heran. Jedoch rührte sich die junge Frau keinen Meter. Die Miene des Naga verzog sich erbost.

„Was ist, du Drecksstück? Unsere großartige Göttin verlangt nach dir. Steh gefälligst auf, wenn du nicht willst, dass ich dich hole!“

Noch immer erfolgte keine Reaktion. Der Schlangenmensch zischte wütend auf und stapfte ihr entgegen. Das war der Moment, auf den sie gewartet hatten. Fast zeitgleich sprangen sie auf und stürmten auf ihn zu. Damit hatte ihr Gegner nicht gerechnet. Er packte David, der als Erstes bei ihm war und stieß ihn hart gegen die Wand, sodass dieser keuchte. Voller Wucht schlug er um sich und traf Possibal in der Magengegend. Mit einem erstickten Aufschrei ging der zu Boden und musste sich übergeben. Yui sprang dem Naga auf den Rücken und versuchte, ihn zu würden. Der Schlangenmensch erkannte, dass er in Schwierigkeiten war. Für einen Moment hinderte ihn sein Stolz daran, zum Horn zu greifen und zur Verstärkung zu blasen – so verlor er gegen schwächliche Menschlein. Doch dann siegte seine Vernunft. Zu spät jedoch. Shinjou erahnte seine Absicht und biss ihm in die Hand. Michail würgte ihn inzwischen von vorne und Belinda schlug auf seinen Schädel ein, bis er schlaff am Boden lag.

Schnaufend umringten ihn die Freunde und starrten auf ihren Gegner herab. Sie konnten ihr Glück kaum fassen. Sie hatten es tatsächlich geschafft!

„Well, wir sollten jetzt zusehen, dass wir schnellstens von hier verschwinden, bevor seine Kollegen kommen“, meinte Michail und nickte auffordernd Richtung Seil. Die Flucht konnte weitergehen.

*

Tapfer kämpfte er gegen die Müdigkeit an, die ihn niederzwingen wollte. Immer wieder klopfte sein Kopf an die Autoscheibe und ließ ihn aufschrecken. Phekos spürte von der Seite Lexingtons spöttischen Blick, doch er ignorierte ihn. Für Streitereien und Diskussionen war er zu müde. Er starrte aus dem Fenster und beobachtete, wie die Landschaft sich zu einem verschwommenen Bild verzerrte und an ihm vorbei zog. Bäume vermischten sich mit dem Himmel und er sah nur noch die verschiedenen Farben. Das war anstrengend. Nur für einen kurzen Moment wollte er seine Augen schließen. Etwas entspannen. Einfach nichts mehr sehen und die Geräusche um sich herum ausblenden. Doch nun war die Müdigkeit stärker. Er konnte sich dem Schleier und den Fäden des Schlafes nicht weiter entziehen.

Phekos befand sich in einem leeren Bahnhof. Zögernd sah er sich um. Er war sich sicher, dass es sich um den Berliner Hauptbahnhof handelte, aber wo waren all die Leute? Das Gebäude war wie ausgestorben. Außer seinen Schritten war kein einziges Geräusch zu hören. Verwirrt drehte er sich um die eigene Achse.

„Suchst du deine Drogenbrüder?“

Phekos zuckte beim Klang der bekannten Stimme zusammen und wirbelte herum. Reflexartig setzte er einen Schritt zurück, verharrte dann jedoch in seiner Position wie ein verschrecktes Kaninchen in der Falle. Vor ihm stand die vermummte Gestalt aus seinem Traum.

„Ich träume …“, murmelte er mehr zu sich selbst, doch der Fremde verstand ihn.

„So kannst du es gerne sehen.“

„Du bist nicht real. Das alles ist nicht echt.“

Die Gestalt lachte.

„Die Umgebung wo du dich jetzt befindest mag zwar nicht real sein, doch ich bin es durchaus.“

„Was willst du von mir?!“

Abermals lachte der Fremde amüsiert.

„So so, also gleich zur Sache. Gut, soll mir recht sein, Wurm. Du musst mir einen Gefallen tun.“

Phekos schloss die Hände zu Fäusten. Ein ungutes Gefühl ließ seinen Magen krampfen.

„Welchen?“

„Ich möchte mit der letzten Maria reden.“

Ein schriller Ton fuhr ihm durch Mark und Bein. Ihm wurde heiß und kalt. Im nächsten Moment schüttelte er den Kopf. Wie dumm war er eigentlich? Er konnte darauf schwören, dass er träumte. Worüber machte er sich Sorgen? Und dennoch: Es erschien ihm alles so real.

„Arrangiere ein Treffen mit der Maria für mich. Bereite sie vor, sodass sie sich nicht fürchtet. Dann werde ich kommen.“

„W… Wer bist du?“, stotterte Phekos und seine Stimme war nicht mehr als ein kraftloses Flüstern.