Verlockender Traum - A. Kaiden - E-Book

Verlockender Traum E-Book

A. Kaiden

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Beschreibung

Die vier Freunde Kyros, Nakata, Rinoa und Rose sind täglich häuslicher Gewalt ausgeliefert. Gemeinsam laufen sie davon, um ein neues Leben in Freiheit zu beginnen. Als sie im Wald eine Pause einlegen, entdecken sie eine geheimnisvoll schimmernde Lichterwand, die ihnen einen Blick in eine andere, verheißungsvolle Welt ermöglicht. Ein mysteriöser Mann erscheint und bietet ihnen die Einkehr in die idyllische Welt an. Allerdings müssen sich die Freunde dafür einer gefährlichen Prüfung unterziehen.

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Verlockender Traum

Von A. Kaiden

Erschienen im Januar 2016

3. Auflage: Oktober 2020

Copyright by A. Kaiden, Alexandra Kraus

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, Internet, auch einzelner Teile Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Autorin A. Kaiden

Umschlagsillustration: Torsten Sohrmann von Buchgewand

Besuchen Sie mich in Facebook, Instagram, YouTube oder auf meiner Homepage www.a-kaiden.de

Widmung

Für meine Familie und Freunde,

Die mich durch die schwere Zeit vor, während und nach der Operation begleitet haben. Vielen Dank für eure Unterstützung, euren Zuspruch und eure Geduld. Durch euch konnte ich Kraft schöpfen und fand die Energie, weiter zu machen. Ohne euch wäre die Novelle noch nicht erschienen.

Ich danke euch von ganzem Herzen.

Kapitel 1: Genug ist genug!

In der ganzen Wohnung roch es nach Schimmel. Die üppigen und billigen Möbelstücke, sofern man sie noch als solche bezeichnen konnte, waren übersät mit etlichen Kratzern, Schmier- und Verfallsspuren. Auf dem Fußboden türmten sich riesige Abfallberge und er konnte nicht einen einzigen Schritt tun, ohne auf einen der Müllberge zu treten. In dem Raum, der das Wohnzimmer in der kleinen schäbigen Zweizimmerwohnung darstellen sollte, und in der Küche stapelte sich dreckiges Geschirr der letzten Monate. Alte Essensreste bezeugten mit einem beißenden Gestank ihre Ungenießbarkeit. Besucher würden es hier nicht lange aushalten, jedoch kamen für gewöhnlich keine Gäste, sodass sich dieses Problem nicht ergab.

Er hingegen hatte sich bereits an den Chaoszustand gewöhnt und abgesehen davon war er nie länger zu Hause als unbedingt notwendig. Er hasste diese billige Mietwohnung und er verabscheute sein kleines Zimmer, das eher einer Abstellkammer glich, weshalb er nicht selten lieber auf einer Parkbank schlief.

Hastig kramte er ein paar halbwegs saubere Unterhosen und, bisher nicht allzu oft getragene Kleidungsstücke, zu denen ausgeleierte T-Shirts und viel zu weite Stoffhosen gehörten, zusammen. Er, das war Kyros Loire, ein siebzehnjähriger, normal proportionierter Jugendlicher mit aschblonden, hüftlangen Haaren, die er immer zu einem Pferdeschwanz zusammenband und diesen dann wiederum in drei geflochtene Zöpfe unterteilte. Er hatte so große, hellblaue Augen, dass man meinen konnte, den Himmel darin zu sehen. Kyros kam ganz nach seiner Mutter und wäre trotz des schlechten Rufes ein absoluter Mädchenschwarm gewesen, wenn er eine annähernd anständige Frisur und nicht den mickrigen Schnurrbart hätte, der ihn nur allzu sehr nach einem Kiffer aussehen ließ. Jedoch legte er darauf keinen Wert und würde er seinen Stil ändern, so würde er nicht mehr gegen den Strom schwimmen, sondern die Ansprüche der Gesellschaft erfüllen. Dann wäre er wie alle anderen in dem mickrigen und voreingenommenen Dorf. Er verfluchte diese Art Stereotyp – bloß nicht auffallen und aus der Reihe tanzen. Nein, so wollte er auf keinen Fall werden. Außerdem mochte er sich wie er war. Und da die Leute ihn wegen seines heruntergekommenen Äußeren für einen absoluten und hoffnungslosen Versager hielten, genau wie seinen nichtsnutzigen Vater, machte es ihm immer wieder Freude, ihre Annahmen mehr und mehr zu zerstören, indem er zuerst die Hauptschule und danach die Berufsfachschule als einer der Klassenbesten gemeistert und es jetzt sogar auf das Wirtschaftsgymnasium geschafft hatte. Kyros würde ihre dummen und selbstgefälligen Erwartungen stückweise zerstören, sodass sie an ihrem gehässigen Dorfgeschwätz ersticken sollten. Er würde nicht als abtrünniger Loser enden und schon gar nicht wie sein trunksüchtiger Vater werden – niemals!

Mit diesen Gedanken, die er jeden Tag mindestens einmal hegte und von denen er sogar nachts in seinen Träumen heimgesucht wurde, stopfte er alles Mögliche durcheinander in den zerrissenen und gänzlich speckigen Rucksack. Dabei fiel ihm ein kleines Messer mit rot-blauem Griff in die Hände. Lange betrachtete Kyros nachdenklich die scharfe Klinge. Wie oft schon hatte er den Gedanken gehegt, seinen Vater damit endgültig zum Schweigen zu bringen, wenn dieser über den Durst trank und ihn dann als Folge grün und blau schlug? Jedoch hatte er es nie getan, sondern den erfrischenden Gedanken immer schnell beiseitegeschoben. Wieso sollte er es auch tun? Für einen kleinen Anflug von Erleichterung oder Genugtuung? Nur um dann umso tiefer in die dunkle, alles fressende Verzweiflung und Ausweglosigkeit zu stürzen? Um als Folge seiner Gegenwehr in das Gefängnis zu wandern? So würde er doch nur die Vorurteile und Wünsche der sensationssüchtigen Dorfbewohner schüren, die sich, nach so einem sensationellen Ereignis sehnend, ihre schmutzigen Finger leckten.

Auch dieses Mal, als sein Blick auf seinen braun gebrannten Arm mit den blauen Flecken fiel, stellte er sich vor, wie es wäre, endlich einmal zurückzuschlagen und sich nicht alles gefallen zu lassen. Ein berauschendes Prickeln durchlief seinen Körper und lies ihn für einen kurzen Moment schweben, jedoch verwarf er den Gedanken schnell wieder und steckte das Taschenmesser stattdessen in seinen alten Rucksack. Danach riss er eilig an dem klemmenden Verschluss. Er wollte nur noch so schnell wie möglich weg von hier und dieses Drecksloch, das ihm die Luft zum Atmen nahm, hinter sich lassen.

In diesem Moment wurde die Wohnzimmertür polternd aufgeschlagen. Kyros zuckte zusammen und verharrte in seiner Bewegung. Er war zu langsam gewesen und verfluchte sich dafür. Reglos stand er da und hörte, wie Möbel umgeworfen wurden und zerbrechliche Gegenstände klirrend zu Boden fielen. Schwere, schleppende Schritte bewegten sich Unheil verkündend auf sein Zimmer zu und Übelkeit stieg in ihm auf, denn er wusste, was jetzt folgen würde.

„Kyros …?! Bisch… bischte da? Du fauler Nischnutsch du! Kyros! Verlucht! Isch hab disch wasch gefragt! Nur Bockmischt verstaptsche!“

Noch bevor der Jugendliche antworten konnte, wurde die Zimmertür krachend aufgestoßen. Langsam richtete er seinen Blick auf die offene Tür, wo sein Vater sich drohend aufgebaut hatte – unrasiert, verschwitzt und dreckig wie ein Schwein, völlig besoffen und stinkend, sodass er Tote mit seinem Gestank hätte aufwecken können. Mit einem Gürtel in der Hand blickte er seinen Sohn mit zusammengekniffenen Augen herausfordernd an. Dieses Spielchen kannte Kyros zu Genüge. Er würde sich nicht angsterfüllt in eine Ecke zurückziehen. Sollte er ihn doch schlagen. Das machte ihm nicht das Geringste aus, denn er fühlte ohnehin nichts mehr, auch keine Schmerzen, denn er war stark. Zumindest versuchte er, sich das einzureden, während er seinem Vater provokant ein paar Schritte entgegentrat. Er durfte sich jetzt keine Schwäche anmerken lassen. Den Gefallen tat er ihm nicht.

„Na, was ist? Haben sie dich wieder aus dem Wirtshaus rausgeschmissen, du besoffener, alter Sack?“

Die verschleierten Augen seines gleichgroßen Vaters wurden für einen Moment glasklar und blitzten vor Zorn gefährlich auf. Wütend näherte er sich taumelnd seinem Sohn, der in seinen Augen einer Made glich, klein und schmierig.

„Du Baschtard! Isch habs satt! Undankbarer Nischnutsch!“

Der Jugendliche blieb stumm und äußerlich gefasst, auch als sein Vater nun mit dem Ledergürtel immer wieder brutal und ungezügelt auf ihn einschlug und seinen ganzen aufgestauten Frust abließ. Kyros hob sofort die Hände vor das Gesicht und versuchte das Schlimmste abzuwehren, hielt sich tapfer aufrecht und kämpfte gegen den Drang an, sich zu verteidigen. Stattdessen biss er sich auf die Lippen und spürte, wie sein ganzer Körper langsam taub vor Schmerzen wurde und seine Füße viel zu schnell den Dienst versagten. Er prallte hart auf einen der vielen Müllberge auf.

„Wertlos – datt bischte! Wie deine olle Mudder. Zu nischts zu gebrauche! Du Schmarotzer, du!“

Das Geschrei seines Vaters vermischte sich mit dem Geräusch des niedersausenden Gürtels zu einer rauschenden und ohrenbetäubenden Einheit. Und als Kyros auf dem Boden lag und es um ihn herum immer dunkler wurde, dachte er nur daran, dass er heute schon wieder zu spät zu den verabredeten Treffen im Jugendklub kommen würde, wenn er es überhaupt dorthin schaffen sollte …

*

„Ach Mensch, wo bleibt der denn nur?“

Rinoa hüpfte in dem überschaubaren Jugendklub, besorgt und beunruhigt zugleich, von einem Bein auf das andere, wie ein auf den Boden geworfener Gummiball. Es war nichts Neues, dass ihr Kumpel Kyros zu spät kam, jedoch waren meist unerfreuliche Zwischenfälle mit seinem Vater die Ursache. Eine schlechte Vorahnung hatte sich über die Sechzehnjährige erdrückend niedergelegt wie eine mit Wasser vollgesogene Wolldecke.

Rose betrachtete sie schweigend und hing ihren Gedanken nach. Ihrer Meinung nach hatte Rinoa außer ihrer elfenhaften Figur nichts Besonderes, aber dennoch wirkte sie irgendwie anziehend und sehr attraktiv auf andere Leute, insbesondere auf Jungs in ihrem Alter. Was fanden nur alle an ihr? Wieso war jeder so verrückt nach ihrer Freundin? Es konnte doch nicht sein, dass ein Mensch allein die Gunst aller anderen auf sich zog, während der Rest einfach nur als simple Dekoration wirkte.

Sie konnte nicht leugnen, dass sie eifersüchtig war. Wie gern würde sie ihre kurzen blonden Haare und ihre hellen Augen, dessen Farbe keiner so richtig zu deuten wusste, gegen die hellbraunen schulterlangen Haare und die mandelförmigen, nougatbraunen Augen von Rinoa eintauschen. Natürlich durfte der braune Teint ihrer Freundin nicht fehlen, denn sie selbst sah wie ein blasses Leinentuch aus, da halfen ihr ihre wohlgeformten Rundungen auch nicht.

Es war einfach nicht fair! Das männliche Geschlecht schien auf alles zu stehen, was einen ausländischen Touch hatte. Rinoa konnte jeden haben, wollte jedoch keinen einzigen von ihnen. Sie selbst schien nur auf hässliche und perverse Männer eine gewisse Anziehungskraft auszuüben. Auf diese konnte sie gerne verzichten. Trotzdem mochte sie Rinoa sehr. Sie war ihre beste Freundin. Rose hasste sich selbst für ihre negativen Gefühle, die sie nicht immer zu verbergen mochte. Was war sie nur für ein Mensch? Sie wollte diese Emotionen nicht haben, wollte nicht so denken, jedoch vertreiben ließen sie sich nicht. Sie waren wie ekelhaftes, großes Ungeziefer, das in Scharen über sie herfiel und ihren Verstand vollständig zu verschlingen drohte. Schnell versuchte sie, ihre fiesen Gedanken beiseitezuschieben, wenigstens für ein paar flüchtige Augenblicke, und versuchte sich auf Rinoa zu konzentrieren, die immer noch ununterbrochen vor sich hin brabbelte wie ein hyperaktives Kleinkind.

„Wenn er bloß nicht wieder mit seinem Vater zusammen gestoßen ist …“

Rinoas Augen weiteten sich angsterfüllt bei ihren eigenen Worten, dann blickte sie hoffnungsvoll und gleichzeitig sehnsüchtig bittend in Richtung der Eingangstür und ihr Gesicht erhellte sich augenblicklich, als diese aufgezogen wurde. Jedoch handelte es sich bei dem Besucher nicht um ihren Kumpel.

„Nakata!“, rief sie erfreut und eilte auf das zarte, ebenfalls sechzehnjährige Mädchen zu, die gerade mit leicht gesenktem Kopf durch die Tür schlurfte. Stürmisch wurde sie von Rinoa zur Begrüßung in die Arme genommen. Doch als ihre Freundin merkte, wie sie dabei zusammenzuckte, ließ sie sie sofort wieder los. Sowohl Rose als auch Rinoa beschlich ein ungutes Gefühl. Irgendetwas war geschehen, etwas Schlimmes, denn so verängstigt hatten sie die Gleichaltrige noch nie zuvor gesehen.

„Was ist passiert?“, schockiert starrte Rinoa in Nakatas bleiches Gesicht. Langsam hob die zierliche Jugendliche den Kopf und ihre zu Fäusten geballten Hände zitterten bei dem Versuch, ihre Tränen zurückzuhalten. Sie öffnete den Mund, doch aus ihrer Kehle drang nur ein erbärmliches Krächzen. Rinoa biss sich auf die Lippen und nahm ihre Freundin behutsam in die Arme. Das genügte für Nakata, den Kampf gegen ihre Tränen endgültig aufzugeben. Nun ließ sie all ihrer zurückgehaltenen und aufgestauten Verzweiflung, Angst und ihrem Schmerz freien Lauf.

*

Rose wartete ungeduldig am Eingang des Jugendklubs, als Kyros endlich mit seinem alten Fahrrad ankam. Unsicher stieg er von dem klapprigen Drahtesel ab und schwankte auf Rose zu. Sie erschrak, denn er sah übel aus. Sein rechtes Auge war blau geschlagen und genau wie seine blutige Lippe dick angeschwollen. Sein Blick war trüb und er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Wie er es geschafft hatte, mit seinem Fahrrad hierher zu gelangen, blieb ihr ein Rätsel. Rose betrachtete ihn einen Augenblick lang betrübt und tiefes Mitgefühl überströmte sie, doch sie wusste, dass er Mitleid hasste. Deswegen versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen, und eilte sofort zu ihm, um ihn gegen seinen Willen zu stützen. Kyros hatte noch nie gerne Hilfe angenommen – er lehnte grundsätzlich jede Hilfestellung ab, wenn es um ihn ging. Allerdings konnte ihn selbst nichts und niemand aufhalten anderen zu helfen.

Er taumelte von ihr weg, als er ihre Absicht erkannte, aber es war schon zu spät und Rose war an seiner Seite. Da er nur zu gut wusste, welchen unüberwindbaren Dickkopf sie besaß, wehrte er sich diesmal nicht weiter. Dazu war er viel zu müde.

„Erwarte bloß kein ‚Dankeschön’ von mir!“, brachte er deshalb fast tonlos und resigniert hervor.

„Dachte ich mir schon. Kein Ding“, gab sie mit einem traurigen Lächeln zurück, was er allerdings nicht bemerkte. Jedoch verharrte sie mit ihm vor dem Clubhaus und ging nicht gleich mit ihm hinein. Ungeduldig blickte er sie an und sie ließ nicht länger mit der Erklärung auf sich warten.

„Du hör mal: Anscheinend hat es uns heute alle etwas übel erwischt … besonders dich und … Nakata. Wenn wir jetzt reingehen – versprich mir, sie nicht darauf anzusprechen, nicht nachzubohren und zu löchern, sondern dich ganz ruhig zu verhalten. Und vor allen Dingen, werde nicht wütend.“

Seine Augen wurden etwas schmaler und er besah sie sich misstrauisch. Das Ganze widerstrebte ihm, doch er musste einsehen, dass Rose vermutlich recht hatte. Deshalb ergab er sich ihrer Predigt und nickte nur stumm. Sie atmete erleichtert auf, denn sie hatte mit Widerstand gerechnet.

„Sie hat vorhin viel geweint und sich etwas ausgesprochen … nicht alles, aber das, was ich gehört habe, hat gereicht, um meinen Magen umzudrehen. Bitte hilf uns sie abzulenken und erinnere sie nicht wieder an diesen schrecklichen Vorfall mit ihrem Stiefvater, bitte!“

Sie blickte ihn eindringlich und beschwörend in die Augen. Dieses viele Flehen war nicht ihre Art, doch Rose wusste von seinem ausgeprägten Schutzinstinkt gegenüber Schwächeren, dazu gehörten vor allem weibliche Personen und Kinder. Wenn sie ihn nicht eindringlich darum bitten würde, dann wäre das Chaos vorprogrammiert. Da war sie sich völlig sicher, denn immerhin kannte sie ihn jetzt fast drei Jahre lang, wobei sie ihn schon oft in Rage erlebt hatte und gerade das konnte Nakata nun nicht gebrauchen. Kyros verdrehte leicht die Augen, denn Diskussionen standen ebenso hoch oben auf seiner „Nicht-Mögen-Liste“ wie Vorschriften und Mitleid.

„Ja, verdammt. Ich hab’s kapiert“, zischte er etwas ungehalten, worauf ihm Rose einen strafenden Blick zu warf. Dann traten beide ein.

*

Rinoas Augen weiteten sich an dem Tag zum dritten Mal vor Entsetzen. Dieses Mal als Rose und Kyros gemeinsam eintraten. Beim Anblick ihres brutal zugerichteten Freundes setzte ihr Herz einen Schlag lang aus. Sie fasste sich im nächsten Moment gleich wieder, wollte sie doch Rücksicht auf Nakata nehmen und Stärke ausstrahlen, aber ihre Freundin schien von seinem Anblick ebenso erschrocken zu sein.

Kyros stand nicht gern im Mittelpunkt, hatte er noch nie, auch als kleines Kind nicht, und als er nun die entsetzten Blicke auf sich ruhen spürte, wurde er sichtlich nervös. Um von sich abzulenken – zum Glück erblickte er in diesem Moment Rinoas vollgestopfte Koffer –, fragte er schnell und so deutlich, wie es ihm zu diesem Zeitpunkt möglich war:

„Was hast du denn vor? Willst du etwa hier einziehen?“

Er deutete auf die zwei großen modischen Trolleys, die neben der alten, teils zerfetzten Couch standen und nur darauf zu warten schienen, endlich beachtet zu werden. Alle Blicke richteten sich automatisch darauf – er hatte es geschafft. Er war nicht mehr länger der Mittelpunkt, um den alles kreiste.

„Mmh … wieso eigentlich nicht? Wir haben hart um das Jugendklubhaus gekämpft, weil es keiner wollte und immer noch keiner will“, gab Rinoa eifrig und überzeugt zu bedenken. „Außerdem würde es eh keiner bei mir daheim merken, wenn ich plötzlich nicht mehr da bin!“

In dieser Hinsicht konnte niemand von ihnen Rinoa widersprechen. Zwar hatten ihre Eltern Geld, sehr viel Geld wohlgemerkt, aber sie lebten ausschließlich, um zu arbeiten, was bedeutete, dass sie nie zu Hause, sondern immer auf Geschäftsreise waren. Eine Ehe konnte man das „Zusammenleben“ ihrer Eltern ebenso wenig nennen, denn öfter als ihre Tochter sahen sie sich gegenseitig auch nicht.

Rinoa bekam ihre Eltern höchstens zweimal im Jahr zu Gesicht. Anfangs hatte sie wenigstens regelmäßig Briefe bekommen, doch mit der Zeit waren es immer weniger geworden, bis der Briefverkehr schließlich vor drei Jahren ganz abgebrochen war. Rinoa konnte sich nicht erinnern, ob sie jemals so etwas wie ein „normales“ Familienleben geführt hatten, doch hätte sie jemand danach gefragt, so hätte sie ihm lachend ins Gesicht „Nein“ geantwortet. Jedenfalls hatte sich die Jugendliche an dieses Leben gewöhnt, aber sie mochte es nicht. Ihre Unzufriedenheit versuchte sie zu verbergen und mit Frohsinn zu überspielen. Doch obwohl sie von Natur aus optimistisch, fröhlich und unbesorgt war, fühlte sie sich manchmal einsam und verlassen. Dann stiegen ihr Tränen in die Augen, ohne dass sie es verhindern konnte. Jedes Mal, wenn sie solch einen Augenblick verspürte, rief sie Rose an oder traf sich mit ihrer Clique – so wie jetzt –, um sich nicht ihrer Trauer hinzugeben.

Kyros bewunderte Rinoa für ihre aufgeweckte und liebevolle Art. Obwohl sie so hübsch und allein war, warf sie sich nicht in die Arme irgendwelcher Typen, um sich abzulenken. Sie war für ihn das Musterbeispiel einer selbstständigen, starken jungen Frau und er respektierte sie sehr. Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Clique nur aus weiblichen Personen bestand, abgesehen von ihm natürlich. Untypisch, aber trotzdem war das seiner Meinung nach unwichtig. Immerhin passten sie perfekt zusammen, da jeder von ihnen regelmäßig dem lästigen Geschwätz der Dorfbewohner zum Opfer fiel und sie eines gemeinsam hatten: eine zerrüttete Familie. Sie entsprachen eben nicht dem Standardbild und waren anders als die anderen.