Geheimnis Schiva 3 - A. Kaiden - E-Book

Geheimnis Schiva 3 E-Book

A. Kaiden

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Beschreibung

Ein knapper Abschiedsbrief und Laras Tagebuch sind alles, was Stan von seiner Schwester geblieben sind, die vor vier Jahren spurlos verschwand. Während die Polizei die Suche bereits eingestellt hat und seine Eltern unter der Ungewissheit leiden, gibt Stan nicht auf. Fest entschlossen macht er sich mit seinem besten Freund Alexei auf die Suche, nicht ahnend, dass sein Weg ihn nach Schiva führen wird …

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Seitenzahl: 288

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Geheimnis Schiva 3

Von A. Kaiden

Impressum

Texte: © Copyright by A. Kaiden Cover-/Umschlag: © Copyright by BUCHGEWAND Coverdesign |www.buch-gewand.de

Fotos/ Grafiken: © robin.ph – shutterstock.comMisha –

stock.adobe.comMonica Cavalletti –

stock.adobe.comtai11 – depositphotos.com

Verlag: A. Kaiden

[email protected]

www.a-kaiden.de

Druck: epubli ein Service der

neopubli GmbH, Berlin

1. Auflage: Dezember 2020

Copyright by A. Kaiden

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, des Internets, auch einzelner Teile Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der

Autorin A. Kaiden

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Die Handlung und die handelnden Personen dieser Geschichte sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

Widmung

Für meine gute Freundin Marina, die ich hoffentlich mit Laras Entwicklung zufriedenstellen kann ;)

und

für Lyly, die sich für Lara ein richtiges Happy End wünscht.

Kapitel 1, Freitag: 8.50 Uhr

„Mist, verfluchter!“ Stan eilte hektisch aus dem Bus und lief mit großen Schritten die Anhöhe hinauf. Warum musste die Schule auch ausgerechnet auf einem Berg liegen? Konnte man es noch unangenehmer gestalten? Wieso hielten die öffentlichen Verkehrsmittel nicht direkt vor dem Schulgebäude, sodass man sich den lästigen Aufstieg sparte? Wer immer auf diese Idee gekommen war, musste nicht mehr ganz bei Trost gewesen sein! Als ob die Anfahrt nicht bereits nervig genug war. Er musste zuerst mit dem Bus nach Landau, dort in einen anderen umsteigen und weiterfahren nach Bad Bergzabern. Eine ewige Fahrt und das, um die Schulbank für die IT-Ausbildung zu drücken. Und dafür hatte er das Abi gemacht.

Auf der Hälfte der Strecke blieb er kurz stehen, um zu verschnaufen, und warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

„Ph … das lohnt sich jetzt auch nicht mehr“, murmelte er vor sich hin und entschleunigte sein Tempo. Die erste Stunde hatte er ohnehin verpasst und zur zweiten würde er es nur noch zur Hälfte schaffen, wenn er sich beeilte. Da konnte er doch gleich langsamer machen. Bei der Hitze war es ohnehin nicht gut, sich bereits morgens vollkommen zu verausgaben. Abgesehen davon konnte er zwei Stunden locker nachholen. Also kein Problem. Lust hatte er sowieso keine.

Er erreichte das klobige Gebäude nach fast einer halben Stunde und schlenderte zum Kiosk, um sich erst mal einen gekühlten Energy Drink zu gönnen. Stan nahm einen großen Schluck und setzte sich auf den im Schatten gelegenen Mauervorsprung. Gelangweilt checkte er die Nachrichten auf seinem Handy und sah sich auf dem leeren Pausenhof um. Die Sonne schien in vollen Zügen und die Wärme hüllte ihn schläfrig ein. Viel zu früh, um aufzustehen. Viel zu früh für Unterricht. Stan war noch nie ein Morgenmensch gewesen. Er bezeichnete sich selbst eher als Nachtmensch.

Er schloss die Augen und ließ seine Gedanken auf Wanderschaft gehen. Hatte er alle Hausaufgaben erledigt? So richtig erinnern konnte er sich nicht. Auf jeden Fall hatte er sich die Party am Wochenende notiert. Elias und Paul hatten groß damit geprahlt, russische Mädels einzuladen, die wiederum Freundinnen von Stefanie, Pauls Schwester, waren. Die war zwar nicht so heiß, aber man musste Kompromisse eingehen.

Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Das versprach ein richtig gutes Wochenende zu werden. Doch zuvor musste er den nervigen Tag überstehen. Immerhin konnte er den Abend bei einem Kinobesuch und einem Gang in die Shisha Bar ruhig ausklingen lassen. Stan seufzte. Wenn doch nur schon achtzehn Uhr wäre.

Sein Magen meldete sich grummelnd zu Wort und machte ihm bewusst, dass er nicht gefrühstückt hatte. Er ließ die Hände suchend in seinen Rucksack gleiten und fischte nach den belegten Brötchen.

„Oh Mann, muss das jetzt?!“, fluchte er leise vor sich hin, als ein paar seiner Schulbücher auf den Boden fielen. Genervt hob er sie auf und hielt für einen Moment inne, als er das Tagebuch seiner Schwester darunter erblickte. Wie lange war es nun her, dass sie spurlos verschwunden war? Seine Finger trommelten nachdenklich auf den Einband. Vier verfluchte Jahre. Es hatte nicht lange gedauert, bis die Polizei den Fall als ungelöst abgehakt hatte. Zumal seine Schwester einen Abschiedsbrief geschrieben hatte, in dem sie erklärte, dass sie fortginge. Die Beamten schlossen zwar ein Verbrechen nicht aus, denn man hatte in Sternenfels das verlassene Auto seiner Schwester gefunden, aber auf Grund des Briefes war es ebenso wahrscheinlich, dass Lara zu Fuß und mit öffentlichen Verkehrsmitteln weitergereist war.

Die Ungewissheit war frustrierend, nicht nur für seine Eltern, die seitdem nicht mehr dieselben waren. Noch immer hofften sie, dass Lara wieder auftauchen und zurückkommen würde. Ihr Kinderzimmer war bis heute erhalten und wurde von seiner Mutter jede Woche geputzt. Unheimlich und absolut ärgerlich für ihn. Denn das Zimmer seiner Schwester war um einiges größer als seines und er konnte den Platz gut gebrauchen. Gefrustet schlug er mit der geballten Faust auf das Tagebuch. Irgendwie glaubte er nicht daran, dass Lara tot war. Eine Entführung erschien ihm ebenfalls unwahrscheinlich. Er konnte sich nicht helfen, doch seit damals ließ ihn das Gefühl nicht los, dass sie tatsächlich nur davon gelaufen war. Wahrscheinlich hatte ihr wieder irgendetwas nicht gefallen. Wenn er so daran zurückdachte, hatte ihr ständig etwas nicht in den Kram gepasst. Nervig. Selbst jetzt, wo sie weg war: stressig. Stets musste sich alles um sie drehen. Seine Eltern, die noch immer jeden Abend darum beteten, ihre Tochter lebend wiederzubekommen, und das Zimmer nicht freigaben. Die Nachbarn, die ihn ständig mit diesem mitleidigen Blick beäugten. Und selbst seine eigenen Gedanken, die andauernd um ihr Verschwinden kreisten. Echt idiotisch. Er konnte nicht sagen, wie oft er ihr verdammtes Tagebuch durchgelesen hatte, um Hinweise zu finden. Vergebens. Das meiste, was da drin stand, mussten Hirngespinste sein. Lara hatte schon immer zu viel Fantasie besessen und sich in ihre Bücher und Träume geflüchtet.

„Langweilige Sumpfkuh …“

„Ich hoffe, du meinst damit nicht mich.“

Stan sah irritiert auf und direkt in Alexeis Gesicht. Wo kam der denn auf einmal her? Verdattert schaute er sich um. Der Pausenhof hatte sich mittlerweile gefüllt und schallender Lärm umgab ihn.

„Wieviel Uhr … haben wir …?“

„Mann, hast du getrunken oder dir irgendetwas reingepfiffen? Du siehst total verballert aus. Und ja: wir haben Pause. Wo warst du die ersten zwei Stunden?“

„War 'ne lange Nacht. Wird Zeit fürs Wochenende. Hab das Klingeln echt nicht gehört. Der Bus war zu spät. Hätte es ohnehin nicht rechtzeitig geschafft.“

„Du kannst meine Notizen haben.“ Alexei setzte sich neben ihn und biss in seine Laugenstange.

„Was?“

„Na für die verpassten Stunden.“

„Ach so, ja klar. Danke.“

Alexeis kastanienbraune Augen scannten seinen Kumpel und blieben an dem Tagebuch in dessen Händen hängen. Er seufzte lautlos und schlang den Rest seines Frühstücks hinunter. Da drückte also der Schuh. Klar, Stan war ein geborener Morgenmuffel, doch das eigentliche Problem hielt er in den Händen.

„Machst du dir wieder Gedanken um deine Schwester? War was mit deinen Eltern?“

„Pfh… das Übliche.“

Alexei strich sich durch seinen schwarzgefärbten Pony und suchte nach den richtigen Worten.

„Das klingt vielleicht etwas hart, aber willst du das Thema nicht lieber abhaken?“

Stans Miene versteinerte sich für einen Moment, bevor er seinen Freund wütend ansah.

„Abhaken?“

„Ja, ich meine, es ist bereits so lange her und die Polizei hat auch nichts gefunden …“

„Wie soll ich das Thema einfach abhaken?!“, ranzte er ihn verständnislos an. „Hast du Eltern, die völlig durchdrehen vor Sorge um ihre Tochter? Die jedes Mal, wenn ihr Name fällt, in trübsinniges Schweigen verfallen? Eine Mutter, die ihr Zimmer hütet, wie eine heilige Stätte und jedes Mal anfängt zu weinen, wenn sie alte Fotos durchsieht?“ Stans Stimme überschlug sich und er schnappte nach Luft.

„Nein … nein, habe ich nicht.“

„Dann sag mir nicht, dass ich es einfach vergessen soll!“

„Sorry, Mann. So war das echt nicht gemeint“, entschuldigte sich Alexei und senkte leicht den Kopf. Er hätte seine Worte anders wählen müssen. Stan winkte ab.

„Passt. War etwas zu impulsiv. Es ist nur … selbst jetzt, wo sie weg ist, macht sie nur Probleme. Das kotzt mich an!“ Stan kickte wütend gegen einen Stein, der polternd davon kullerte.

Sprachlos blickte sein Kumpel ihn an und fragte sich im Stillen, warum Stan seine Schwester eigentlich finden wollte. Klar nagte die Ungewissheit an ihm. Die Situation mit seinen Eltern setzte ihm zu, aber diese aufgestaute Wut … diese Aggressivität ...

„Wenn ich sie noch einmal treffen könnte, um ihr meine Meinung zu sagen … ich werde das Gefühl nicht los, dass ich irgendetwas wichtiges in ihren Kritzeleien übersehe.“

Alexei strich sich durch sein Haar und starrte nachdenklich auf das geschlossene Tagebuch. Stans Verhalten war ihm ein Rätsel. Er konnte sich nicht in ihn hinein versetzen, so sehr er es auch versuchte. Vielleicht lag es daran, dass er ein Einzelkind war.

„Wie alt wäre deine Schwester jetzt?“

„Mmh? Ich denke vierundzwanzig.“

„Ob sie sich äußerlich arg verändert hat?“

„Pfh, die langweilige Visage würde ich jederzeit wiedererkennen.“

„Um was drehen sich denn die letzten Einträge? Hat sie erwähnt, dass sie irgendwo hin möchte? Oder irgendwelche Leute und Freunde?“

Stan lachte verbittert auf.

„Lara und Freunde? Klar, in ihrem kleinen Büchlein hat sie 'ne Menge Fantasiefreunde, die nicht existieren. Im richtigen Leben gammelte sie nur in ihrem Zimmer und hat gelesen.“

„Und die letzten Einträge?“, wagte Alexei einen weiteren Versuch, doch sein Kumpel zuckte mit den Schultern.

„Sie schreibt darin, dass sie mit ihren nicht existierenden Freunden Kralle, Allen, Mark und Lycastus nach Bayern möchte. Zum Schloss Neuschwanstein, um nach 'nem komischen Typ zu suchen, der ein Amulett gestohlen hat. Hieronymus oder so. Was sind das schon für Namen? Das schreit doch nach Hirngespinsten und Träumerei. Die Olle hat einen Schuss!“ Mit einem gereizten Ächzen stopfte er das Buch unachtsam in seine Tasche zurück.

„Mh … möglich. Ist echt 'ne seltsame Namenskombi, aber das mit dem Schloss – vielleicht war sie ja wirklich dort?“

„Ph … lass mal. Ich war bereits an den Orten und habe nach Spuren gesucht.“

„Nichts?“

„Nein, weniger als nichts. Ich glaube nicht, dass sie dort war. Ich habe die gesamte Umgebung abgesucht und nichts gefunden.“

„Sie ist ein paar Tage später verschwunden?“

„Ja, ich glaube vier oder fünf. Ich bin mir ehrlich gesagt nicht mehr sicher.“

„Mh … das heißt, sie hat ihre Reise nicht dokumentiert, auch nicht, als sie wieder zurück war.“

„Nein und wie gesagt: ich bezweifle stark, dass sie wirklich dort war.“

„Du glaubst auch nicht an eine Entführung?“

„Irgendwie nicht. Keine Ahnung. Sie fuhr morgens zur Arbeit und kam nicht zurück. Ihr Auto hat man in Sternenfels gefunden. Auch ein paar Spuren von ihr und irgendwelchen unbekannten Leuten, die in einem Haus dort wohl 'ne Party gefeiert haben. Dort war ich bereits auch, jedoch Sackgasse. Ach ... wahrscheinlich ist sie mit denen weggerannt. Keine Ahnung. Das ist meine Theorie.“

Alexei runzelte die Stirn. Er wusste, dass seinem Kumpel das jetzt nicht schmecken würde, trotzdem äußerte er seine Gedanken.

„Aber dann hatte sie ja doch Freunde.“

Stans Gesichtszüge entgleisten. Er setzte zum Widerspruch an, als die schrille Pausenglocke zum Unterricht läutete. Während sich Alexei schwungvoll abstieß, hievte er sich schwerfällig hoch. Er konnte seine Lustlosigkeit nicht in Worte fassen. Sein Kumpel gab ihm einen aufmunternden Stoß.

„Na, dann auf in den Kampf.“

„Oh ja … ich hab so Bock drauf.“

„Man sieht's. Sind bloß noch ein paar Stunden und dann ist schon Wochenende. Hast was vor?“

Sie betraten das Schulgebäude und liefen mit dem Schülerstrom in Richtung des Klassensaals.

„Joar, klar. Heute gediegen ins Kino und danach in die Shisha Bar. Morgen geht dann die fette Party. He, hast du nicht Bock, heute auch mitzukommen?“ Er ahnte die Antwort bereits, bevor sein Freund sie aussprach.

„Nein, ich kann nicht. Ich muss heute wieder ins Bistro.“

Stan verdrehte genervt die Augen. Immer dasselbe.

„Kann nicht mal einer deiner Kellnerfreunde einspringen?“

„Nein, und das weißt du. Abgesehen davon brauche ich das Geld für die Schule.“

„Mensch, Alter. Du bist jetzt jung! Du solltest chillen und dein Leben mal genießen.“

Alexei lachte leise auf und schüttelte leicht seinen Kopf.

„Das tue ich, doch die Schule und Ausbildung bezahlen sich nicht von selbst.“

„Dann hol deine Eltern ran.“

„Du weißt genau, dass mein Vater nicht gut verdient. Außerdem bin ich stolz darauf, ihnen nicht auf der Tasche zu liegen.“

„Jetzt kommt wieder die Tour mit russischem Stolz und so weiter“, meinte Stan, als sie ihre Plätze im Klassenzimmer einnahmen. Den Rest kannte Alexei schon. Deswegen hielt er es nicht für notwendig, weiterhin zuzuhören. Wozu auch? Wenn Stan sich erstmal in Rage redete, war er nicht mehr zu bremsen. Spätestens das Erscheinen des Lehrers würde ihn stoppen. Also ließ er ihn einfach gewähren. Seine Sticheleien waren ohnehin immer dasselbe. Alexei konnte nicht genau sagen warum, aber er nahm es ihm nicht übel. Sein Kumpel war eben so. Er war nicht gerade der einfachste Umgang, allerdings hatte er auch seine guten Seiten. Leider zeigte er diese nur selten, was im Übrigen eine Ursache dafür war, dass er nicht greifbar viele Freunde hatte. Vielleicht blieb er aus diesem Grund bei ihm. Er wünschte ihm wirklich von ganzem Herzen, dass er mit dem Verschwinden seiner Schwester fertig werden würde und die Vergangenheit abhaken konnte. Auf jeden Fall hatte er sich an die Macken seines Kumpels gewöhnt und wusste, dass Stan es nicht böse meinte. Er war und blieb sein Freund.

Kapitel 2, Samstag: 15.00 Uhr

Suchend kreisten seine Augen umher. Er hatte die Adresse extra vorher gegoogelt. Das Bistro musste hier irgendwo sein. Stan war den gesamten Weg nach Landau gefahren, um seinen Kumpel bei der Arbeit aufzusuchen. Er hatte ihn gestern nicht mehr zum Kino und der Bar bequatschen können, doch war er davon ausgegangen, dass er zur Party mit am Start war. Als ihm Paul allerdings heute Morgen geschrieben hatte, dass ihm Alexei abgesagt hatte, war er fast vom Glauben abgefallen. Was tat der Kerl nur die ganze Zeit? Arbeiten und Pauken war kein Leben. Klar, bei seinen Eltern sah es mit dem Geld wohl nicht ganz so gut aus. Wenn er es richtig in Erinnerung hatte, war Alexeis Vater damals als Leiharbeiter öfter nach Deutschland gekommen. Als er dann die Chance auf eine Festanstellung bekam, hatte er sie sofort ergriffen und seine Familie mitgebracht. Jedoch schien es nicht wirklich der geldbringende Job zu sein, obwohl sein Vater viel und hart schuftete. Seine Mutter arbeitete in einer Leihfirma als Putzfrau, auch nicht das Wahre. Stan runzelte die Stirn. Wahrscheinlich war das der Grund, warum sein Freund so verbissen büffelte. Doch waren die ganzen Nebenjobs tatsächlich nötig? Klar die weiterbildende Schule zur Extraqualifikation zum ITler kostete einiges. Im Gegensatz zu anderen Azubis bekamen sie kein Geld, sondern mussten zu diesem Zweck zahlen, doch dafür würden sie später umso bessere Chancen auf einen gut bezahlten Job haben.

„Na also, wer sagt's denn?!“

Zielstrebig lief er über den großen Marktplatz auf das Bistro zu und setzte sich an einen der freien Tische. Seltsam, dass er den Laden bisher immer übersehen hatte. Er war zentral und nicht gerade klein, aber was störte ihn daran? Irgendetwas passte nicht. Ein kurzer Blick zu den anderen Gästen lieferte ihm sofort die Antwort: die Stammkundschaft. Das meiste Publikum bestand aus blassen Leuten in Schwarz. Nicht die Art von Menschen, mit denen er sich für gewöhnlich umgab. Die dürren Kerle und die matronenhaften Frauen … nicht sein Ding. Und erst diese furchtbaren Frisuren zum geschmacklosen Outfit.

„Wenn du sie noch weiter angaffst, fallen dir gleich die Augen raus oder du wirst verprügelt und deinem Blick nach zu urteilen, hast du es auch verdient.“

Stan lachte leise auf.

„Begrüßt du alle deine Kunden so herzzerreißend freundlich? Ich schätze, dein Trinkgeld ist nicht unbedingt hoch.“

„Lass das mal meine Sorge sein“, erwiderte Alexei gelassen und zückte seinen Block. „Was kann ich dir bringen?“

„Eigentlich wollte ich nur mit dir reden.“

„Ich arbeite.“ Sein Kumpel seufzte. „Du musst was bestellen.“

„Wann hast du Pause?“

„Ich krieg dich vorher nicht los, oder?“

„Nope.“

Er seufzte und trommelte mit dem Kugelschreiber auf den Notizblock ein.

„Vorschlag: Ich hab in 'ner Stunde eine Minipause von zehn Minuten. Du trinkst einen Kaffee oder isst ein Eis und dann quatschen wir, okay?“

„Geht klar. Dann nehme ich einen Schokoeisbecher.“

Alexei notierte seine Bestellung, nickte ihm zu und begab sich wieder an die Arbeit.

Über eine Stunde später setzte er sich zu seinem Kumpel an den Tisch.

„Was gibt’s denn so dringendes, dass du sogar hier auftauchst? Ist was passiert?“

Stan überlegte kurz, ob er einen Spruch drücken sollte, beschloss dann allerdings, es lieber sein zu lassen. Zehn Minuten waren nicht wirklich lang und er wusste, dass Alexei wieder pünktlich weitermachen würde. Keine Zeit, um sie mit Sticheln zu vergeuden.

„Du kommst heute Abend zur Party?“

„Nein, dieses Mal nicht.“

Stan löffelte den Rest seiner Eiscreme aus und legte den Löffel nieder. Er hatte mit der Antwort gerechnet, aber er akzeptierte sie nicht.

„Weiß heißt, dieses Mal nicht? Gestern warst du auch nicht dabei. Du bist momentan fast nie mit von der Partie.“

Alexei seufzte, während sein Kumpel ihn weiterhin beschwörend ansah. Er hatte es sich schon fast gedacht, dass Stan mit der Fete und seiner Absage ankommen würde. Trotzdem musste er sich eingestehen, dass Stan nicht mal unrecht hatte. In letzter Zeit hatte er wahrlich fast nichts mit den anderen unternommen.

„Ich kann heute nicht …“

„Was hast du denn so Dringendes vor, dass du die Party sausen lassen möchtest?

„Ich muss noch für den Test nächste Woche lernen.“

Stans Gesichtszüge entgleisten.

„Ist das dein Ernst? Du lässt 'ne geile Sause ausfallen, um zu büffeln?“

„Ich kam noch nicht dazu …“

„Ich auch nicht. Und weiter?“

„Mensch, Stan, das ist die letzte Arbeit vor den Sommerferien und ich stehe gerade zwischen zwei Noten in dem Fach.“

„Ich würde ja nachgeben, wenn ich wüsste, dass du wenigstens in den Ferien am Start bist, doch da wirst du wahrscheinlich mit Nebenjobs voll sein.“

Er warf ihm einen fragenden Blick zu und Alexei zuckte mit den Schultern und murmelte ein „Kann sein.“

„Hey, Alter. Du weißt nicht, was du verpasst. Pauls Schwester bringt zwei heiße, russische Freundinnen mit.“ Stan stockt kurz und musterte seinen Kumpel prüfend.

„Was?“ Alexei gefiel sein Blick nicht. Nicht gerade verhöhnend, aber dennoch definitiv abwertend.

„Mir fiel gerade ein, dass du ohnehin nicht viel Chancen hättest.“

„Und wieso das? Immerhin habe ich einen großen Vorteil: ich habe ebenfalls russische Wurzeln und bin der Sprache mächtig.“

„Das schon …“

Alexei trommelte genervt mit den Fingern auf die Tischplatte.

„Aber?“

„Na ja, ich würde an deiner Stelle mal endlich was an deinem Emo-Stil ändern.“

„Ich bin kein Emo. Das weißt du. Die Leier geht mir echt auf den Sack.“

„Ja, aber der schwarzgefärbte, lange Pony. Wieso lässt du ihn nicht aschblond, wie den Rest deiner Haare und überhaupt …“

„Wieso schneidest du ihn nicht ab“, ergänzte Alexei seinen Satz gereizt und wollte wieder aufstehen, um zu gehen. Wie oft hatten sie diese alberne Diskussion bereits geführt? Er wusste, dass Stan Probleme mit Leuten hatten, die sich von dem Einheitsbrei abhoben. Sei es Gothics, Punks, Emos oder was auch immer. Er selber sah sich in keiner der Gruppen. Er hatte seinen eigenen Style und er gefiel sich, so wie er war. Was war schlimm daran, anders als der Rest zu sein? Wieso musste der größte Teil der Menschen derart engstirnig und intolerant sein. Leben und leben lassen, was war daran schwer? Wahrscheinlich meinte es Stan nicht mal böse, er sah eben wie der Rest der Masse aus. Sein Äußeres passte nicht in das Standardbild seines Freundes.

„He, jetzt sei doch nicht gleich sauer. Ich mein doch nur, dass du mit einer anständigen Frisur mehr Chancen bei den Mädels hättest. Wie lange bist du denn jetzt schon Single?“

„Dass ich Single bin hat wohl eher damit zu tun, dass ich keine Zeit für eine Beziehung habe.“

Stan lachte auf.

„Das ist ja wohl kein Wunder, wobei wir beim alten Thema wären: du brauchst mal eine Auszeit von der Schule, Büffeln, den ganzen Jobs und deiner Familie. Heute Abend wäre die ideale Gelegenheit dafür. Komm schon, gib dir einen Ruck!“

Alexei suchte nach einer Ausrede, aber er fand keine. So ungern er es zugab, Stans Worte ergaben irgendwie einen Sinn. Er seufzte leise. Das Lernen würde er wohl auf den nächsten Tag verschieben müssen.

„Okay, ich werde kommen.“

Kapitel 3, Samstag: 21.00 Uhr

Stan schüttelte den Kopf. Sein Kumpel sah aus, als käme er direkt von seinem Nebenjob als Kellner: schwarze Leinenhose und ein weißes, weit aufgeknöpftes Hemd. Hätten sie sich vorher noch bei ihm getroffen, hätte er ihn wenigstens umstylen können. Jetzt jedoch standen sie direkt vor der Party Location. Keine Chance.

„Sag mal, hast du dich überhaupt umgezogen?“

„Was hast du gegen mein Outfit?“

„Weil du aussiehst, als wärst du noch arbeiten. Wie wär's mal mit Jeans und einem Shirt?“

„Ich fühl mich wohl.“

„Oh Mann …“

„Sieh's mal so: dann hast du eine Konkurrenz weniger.“

Stan zog eine Augenbraue in die Höhe und sein Mund formte sich zu einem breiten Grinsen.

„Konkurrenz? Ein Fremdwort für mich.“

„War ja klar“, gab Alexei lachend zurück und versetzte ihm einen leichten Stoß.

Sie klingelten und ein paar Sekunden später öffnete ihnen Elias die Tür. Es war nicht zu übersehen, dass er bereits einiges getankt hatte.

„Hey, hey, hey! Da seiiied ihr ja e-endlich. Kommt rein!“, lallte er und zog sie stürmisch in das Innere von Pauls Haus. Rhythmische Beats begrüßten sie lautstark und verbreiteten sofort gute Laune. Elias brachte sie schwankend in das volle Wohnzimmer und drückte ihnen zwei Bier in die Hand, bevor er sich nuschelnd zu einer Gruppe Mädels verabschiedete.

„Scheint so, als hätten wir etwas früher kommen sollen. Siehst du Paul irgendwo?“

„Ach was, das Beste kommt zum Schluss“, meinte Stan und nahm einen großen Schluck aus der Flasche, während seine Augen die Umgebung und die anwesenden Gäste scannten, besonders die weiblichen. „Paul sehe ich nicht, dafür aber Stefanie mit zwei verdammt heißen Chicks. Das müssen die Russinnen sein. Alter, schau dir mal die Brünette an – ein Hammer Gerät. Du kannst die Blonde haben.“

„Meinetwegen“, antwortete Alexei und folgte seinem Kumpel zu der Mädchenclique. Typisch Stan. Nun ja, das Angebot war reichlich attraktiv und er wusste, dass sein Freund eine Vorliebe für Frauen aus dem Ostblock hatte. Nur zweifelte er daran, dass er ihre Anforderungen erfüllte. Was nämlich viele seiner Freunde nicht zu begreifen schienen, war, dass russische Frauen das Verhalten eines Gentleman voraussetzten. Und sowohl Stan als auch die anderen waren dafür einfach zu bequem. Nun denn, er beschloss, dass dies nicht sein Schaden sein sollte.

„Hey, Steff. Möchtest du uns deine Freundinnen nicht vorstellen?“, begrüßte Stan sie und zwinkerte sogleich der aufreizenden Brünetten zu.

„Stan, Alexei! Schön, dass ihr da seid.“ Pauls jüngere Schwester sprang freudig auf sie zu und nahm sie kurz in die Arme. Alexei tat sie leid, denn es war offensichtlich, dass sie bereits länger ein Auge auf Stan geworfen hatte. Allerdings entsprach sie ganz und gar nicht seinem Typ.

„Seid ihr schon lange hier?“

„Grade erst angekommen“, antwortete er und schob sie vorsichtig, aber bestimmt auf die Seite. „Hey, ich bin Stan.“ Er streckte ihren Freundinnen die Hand entgegen, die sich nacheinander mit einem dezenten Lächeln vorstellten.

„Olga.“

„Irene.“

„Freut mich. Ihr seht aus, als würdet ihr auf dem Trockenen sitzen. Das sollten wir dringend ändern. Was mögt ihr trinken?“

Stan sprach zwar beide an, sein Blick ruhte allerdings auf der Brünetten, die seinen dargebotenen Arm nur allzu gerne ergriff und sich einhackte.

„Wodka.“

Gemeinsam liefen sie zur Bar und ließen die anderen zurück. Stefanie schmachtete Stan bedauernd hinterher.

Alexei unterbrach die unangenehme Stille, die sich über sie legte wie eine schwere Decke.

„Privet Ol'ga, menya zovut Alexej. Priyatno poznakomit'sya.“

Die Russin blickte ihn überrascht an.

„Du sprichst russisch? Kommst du aus Russland?“

Er nickte und sie strahlte über das ganze Gesicht.

„Aus welchem Teil Russlands kommst du? Wie lange lebst du bereits in Deutschland?“

Stefanie seufzte und ließ die beiden allein. Offensichtlich war sie überflüssig.

*

Stan leerte mittlerweile den dritten Wodka mit Irene. Ein guter Fang. Sie war richtig heiß. Trotzdem wollte der Funke nicht so recht überspringen. Sie war ein harter Brocken. Jedoch blieb er dran. Er würde sie schon noch von seinen Qualitäten überzeugen. Ein paar weitere Drinks würden ihn dabei unterstützen. Als sie kurz auf die Toilette verschwand, um sich frisch zu machen, sah er sich suchend nach seinem Kumpel um. Er fand ihn in einer Ecke mit der Blondine sitzen. Stan nickte zufrieden. Die zwei schienen sich angeregt miteinander zu unterhalten. Es wurde auch mal Zeit, dass Alexei aus sich rauskam und amüsierte. Vielleicht hatte die Russin einen positiven Einfluss auf ihn oder die Party überhaupt und er würde endlich mal etwas lockerer werden. War er von Anfang an so gewesen? Er versuchte, sich zu erinnern, doch er kam nicht drauf. Nichtsdestotrotz: Alexei war ein prima Kerl, nur etwas zu steif und pflichtbewusst. Er war froh, dass sie zusammen in dieselbe Klasse gingen und befreundet waren. Als Irene zurückkam, widmete er ihr seine gesamte Aufmerksamkeit. Immerhin wollte er sie heute Nacht erobern.

Sein Kopf begann zu dröhnen. Alexei war sich nicht sicher, ob es vom Alkohol kam. Viel getrunken hatte er eigentlich nicht, jedoch hatte er sich bereits den gesamten Tag nicht ganz wohl gefühlt. Die laute Musik pochte unangenehm in seinem Schädel wider und es fiel ihm immer schwerer, sich auf Olga zu konzentrieren. Ohnehin hatte er das Gefühl, dass alles gesagt war. Sie war nett, aber mehr war da nicht. Trotzdem wollte er nicht unhöflich sein und sie einfach sitzen lassen. Fast dankbar lächelte er daher Stefanie an, als diese sich wieder zu ihnen gesellte.

„Stör ich?“

„Nein, natürlich nicht“, entgegnete Alexei und bot ihr schnell seinen Stuhl an. „Ich muss ohnehin kurz austreten.“

„Aber du kommst doch wieder, oder?“ Olga schenkte ihm ein charmantes Lächeln.

„Klar, aber ich werde wahrscheinlich nicht mehr allzu lange bleiben.“

„Schade …“, murmelte Stefanie und wirkte deprimiert, allerdings glaubte er nicht, dass dies nur mit ihm zusammenhing.

„Vielleicht können wir dich mit ein paar Kurzen überzeugen.“ Die Blondine wedelte mit ein paar kleinen Fläschchen in seine Richtung.

„Oh, ähm … ich muss passen. Ich habe Kopfschmerzen.“

„Das ist eine schlechte Ausrede“, meinte Olga schmollend und er lächelte ihr besänftigend zu.

„Leider nein. Es ist wahr. Ich werde mir jetzt erstmal eine Tablette reinschmeißen.“

„Oh … brauchst du eine? Oder soll ich bei uns im Schrank nachschauen?“, bot ihm Stefanie an, doch Alexei winkte ab.

„Das ist nett. Ich komme drauf zurück, falls ich in Stans Rucksack nichts finde. Meistens hat er was dabei.“

„Okay, gib Bescheid.“

„Mach ich“, bestätigte er, nickte den beiden nochmal zu und schlängelte sich dann seinen Weg durch die vielen taumelnden Gäste. Stans Backpack lag neben der Eingangstür auf dem Fußboden. Alexei holte tief Luft und ließ sich auf die Knie sinken. Er wusste, wo er suchen musste und wurde sogleich fündig. Mit einem Schluck Wasser nahm er eine Schmerztablette zu sich und packte den Rest wieder ein. Da er keine Lust hatte, sofort aufzustehen, blieb er sitzen und blickte sich müde um. Sein Körper fühlte sich irgendwie schwer an. Er beschloss zu warten, bis die Tablette wirkte und sich dann in einem kurzen Rundlauf von den anderen zu verabschieden. Mittlerweile schien fast keiner mehr nüchtern zu sein. Viele hatten sich zu Paaren zusammengefunden und klebten regelrecht aneinander. Andere tanzten, oder versuchten es zumindest. Und der Rest war damit beschäftigt, noch mehr Alkohol in sich rein zu pumpen und sich durch die laute Musik hindurch anzubrüllen. Alexei fühlte sich fehl am Platz. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Mit dem Lernen würde es knapp werden. Er fuhr sich mit der Hand über den Nacken. Das hatte er versiebt. Er suchte Stan, konnte ihn jedoch nicht ausfindig machen. Ein seltsamer Einfall kreuzte seine Gedanken. Ob sein Kumpel das Tagebuch seiner Schwester wohl überall mitschleppte? Seine Augen nagelten sich an dem Reißverschluss des Rucksacks fest. Nur wenige Sekunden später hielt er es nicht mehr aus und wühlte darin herum. Er wurde tatsächlich fündig und zog den Einband kopfschüttelnd heraus. Das grenzte schon fast an Besessenheit. Alexei seufzte. Er machte sich ernsthafte Sorgen um Stan. Wenn er ihm nur irgendwie helfen könnte. Gedankenverloren begann er, darin zu blättern. Lara hatte regelmäßig ihre Einträge verfasst. Und Stan hatte nicht übertrieben: Sie schien eine blühende Fantasy zu besitzen oder besessen zu haben. Eine parallele Welt namens Schiva. Bewohner von dort, die in die reale Welt überwechseln möchten. Zwei magische Amulette, die das möglich machten. Lucie und Amboss, die Drahtzieher der Bewohner und offensichtlich die böse Seite, die Jahre später in Karlsruhe auftauchten ... Alexei musste leicht schmunzeln. Doch war wirklich alles erfunden? Fakt blieb, dass Lara seit vier Jahren spurlos verschwunden war. Ob sie überhaupt noch am Leben war? Er biss sich auf die Unterlippe und wollte das Tagebuch gerade zuschlagen, als seine Augen an einer Seite hängen blieben. Konzentriert las er den Eintrag durch und runzelte die Stirn. Auch dieser war ziemlich abgedreht. Lucie und Amboss hätten Allen – ihren Freund – entführt und sie nach Bad Münster auf die Burgruine gelockt, damit sie in den Brunnen kletterte, um das fehlende Amulett zu bergen. Da sie das Erste aus der heiligen Stätte entwendet hatte, konnte nur sie das passende Gegenstück dazu finden. Er strich sich grübelnd über die Stirn und las den Text abermals durch. Alexei konnte sich nicht helfen, doch irgendwas stimmte mit dem Eintrag nicht. Oder war er zu korrekt? Stan hatte zwar erwähnt, dass er in Neuschwanstein und Sternenfels gewesen war, doch wie sah es mit Bad Münster aus? Seine innere Stimme beschwor ihn mit einer unheimlichen Gewissheit, dass dieser Ort mehr Antworten lieferte, als alle anderen.

Alexei schaute sich suchend im Raum um, doch konnte er seinen Kumpel in der torkelnden Masse nicht ausfindig machen. Er seufzte leise auf, denn selbst wenn er ihn finden würde, war er sich nicht sicher, ob Stan noch nüchtern genug war, um mit ihm darüber zu reden. Doch aufgeschoben war nicht aufgehoben und er würde ihn gleich nächste Woche in der Schule darauf ansprechen.

Kapitel 4, Montag: 16.00 Uhr

„Endlich, frei! Der Tag hat sich übelst gezogen“, meinte Stan und streckte sich genüsslich, sodass seine verspannten Glieder knackten. Alexei zuckte mit den Schultern.

„Es war doch ganz gechillt. Selbst die Lehrer nehmen die letzte Woche alle locker. Nur noch der Test am Mittwoch und dann macht eh keiner mehr etwas.“

„Ja, ja … wenn sie es alle nicht ernst nehmen, warum können wir dann nicht ausschlafen?“ Stan gähnte. Sobald er daheim war, würde er sich erst mal eine ordentliche Mütze Schlaf gönnen. Sein Kumpel grinste ihn wissend an.

„Was?“

„War ein langes Wochenende, wie?“

„Ich bin ja auch nicht schon um Mitternacht wie Aschenputtel verschwunden.“

Alexei überhörte den leicht vorwurfsvollen Ton in seiner Stimme und entgegnete: „Hat es sich denn wenigstens gelohnt? Was ist mit Irene?“

„Pfh ...ist doch nicht mein Typ.“

„So? Aber du warst doch auf der Party total begeistert und bist gleich mit ihr abgehauen.“

„Ja, auf den ersten Blick fand ich sie heiß, aber bei genauerem Hinsehen … und unterhalten konnte man sich mit der auch nicht richtig. Ich will eine, die nicht nur hübsch ist, sondern ebenfalls etwas in der Birne hat.“

„Ah, klar. Verstehe.“ Er verkniff sich weitere Kommentare. Hatte Stan also nicht bei ihr landen können. Er kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass dieser keine Zurückweisung zugeben würde. „Mal ein anderes Thema. Als ich auf der Fete in deinem Rucksack nach Schmerztabletten gekramt habe, fiel mir das Tagebuch deiner Schwester in die Hände.“

Stan rollte genervt mit den Augen. Fing Alexei schon wieder damit an? Darauf hatte er jetzt absolut keinen Bock.

„Ja, ja, ich weiß. Ich sollte es abhacken und so weiter und so fort. Erspar mir heute die Leier.“

„Nein, nein, das meine ich nicht. Mir sind ein, zwei Einträge ins Auge gesprungen, die mir wichtig erscheinen.“

Zuerst stutzte Stan und runzelte verärgert die Stirn. Was fiel ihm ein, einfach in seinen Sachen zu stöbern, doch dann siegte im nächsten Moment die Neugier.

„Welche?“

„Die, in denen von Idar Oberstein und Bad Münster die Rede ist.“

„Das ist die Sache mit dem zweiten Schlüssel, richtig?“

„Ja, genau.“ Alexei nickte und blickte Stan erwartungsvoll an. Der schaute jedoch nur verständnislos zurück.

„Und?“

„Was und?“

Alexei schnaufte. Er hatte sich das Gespräch nicht derart anstrengend vorgestellt. Tat sein Kumpel nur so doof oder stand er tatsächlich auf dem Schlauch? Vielleicht wollte er ihn nur provozieren. Wäre schließlich nicht das erste Mal. Allerdings bezeugte ihn ein zweiter Blick, dass er tatsächlich ahnungslos war.

„Du warst doch in Bayern wegen ihrer letzten Einträge?“

„Ja …“

„Aber warst du auch in Idar Oberstein oder Bad Münster?“

„Nein, wieso? Sie kehrte ja schließlich davon zurück. Zu dem Zeitpunkt ist sie noch nicht verschwunden.“

„Aber … es ist eine wichtige Stelle!“

Stan zog argwöhnisch eine Braue in die Höhe.

„Wichtig? Ich halte es eher für ein weiteres, abgefahrenes Hirngespinst meiner Schwester.“

„Was ist an dem Eintrag verrückter als dem mit dem Schloss Neuschwanstein?“

„Sie wird in einen Hinterhalt gelockt und wird gezwungen, in einen Brunnen einer Burgruine zu steigen.“

„Zugegeben: Ja, das klingt verrückt, doch auch nicht seltsamer, als eine Verfolgungsjagd um den Alpsee mit einer Schießerei und Toten, die laut der Polizei und der Presse nie gefunden wurden.“

„Es wurden Blutspuren gefunden …“

„Die nicht zugewiesen werden konnten. Laut Medien und Behörden ist nicht sicher, ob tatsächlich etwas Derartiges passiert ist.“

Stan seufzte. Punkt für seinen Kumpel.

„Gut, Sieg für dich. Und nun?“

Alexeis Gesichtszüge entgleisten.

„Sag mal, verarschst du mich? Hinfahren sollst du natürlich!“

„Nein, lieber nicht.“

„Wieso?“ Sein Verhalten gab ihm Rätsel auf.

„Hach …“ Stan seufzte, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und starrte in den bedeckten Himmel. Trotz der vielen Wolken war es schwül warm. Auf einen kühlen Lufthauch wartete man vergebens. Er gähnte laut. Das warme Wetter war einfach nichts für ihn. „Es wird nichts bringen.“

„Aber du hast es doch nicht einmal versucht? Ich versteh dich nicht! Du redest ständig davon, dass du deine Schwester finden und ihr Verschwinden aufklären möchtest und jetzt hast du keine Lust, oder was?“

Verärgert blickte Stan seinen Kumpel an. Wieso regte er sich derart auf? Klar, er hatte auf der einen Seite recht. Tatsächlich verspürte er kein großes Bedürfnis, jetzt auch noch nach Idar Oberstein zu fahren, doch warum war Alexei auf einmal so dahinter? Im nächsten Moment begann er zu grinsen.

„Joar, kann man wohl sagen.“

„Du bist echt … dann nerv mich damit gefälligst nicht mehr!“ Alexei wollte sich gerade wutentbrannt von ihm abwenden, als ihn Stan zurückhielt.