Texte gegen die Todesstrafe - Leo N. Tolstoi - E-Book

Texte gegen die Todesstrafe E-Book

Leo N. Tolstoi

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Beschreibung

Der vorliegende Sammelband "Texte gegen die Todesstrafe: Über die Unmöglichkeit des Gerichtes und der Bestrafung der Menschen untereinander" eröffnet die Reihe B der Tolstoi-Friedensbibliothek und ist als Lesebuch konzipiert. In seinem Geleitwort schreibt Eugen Drewermann: "... Der Protestantismus Luthers verblieb in der Schizophrenie der Zwei-Reiche-Lehre, mit welcher Augustinus in der Zeit nach Konstantin das Christentum in eine staatstragende Religion verwandelte: die Menschen, weil sie böse sind, benötigen den Staat als Notverordnung Gottes; deshalb kann man nicht nur, man muß als Christ Soldat und Richter sein. So etwas sagen bis hinein in unsere Tage alle Kirchen. Die aufgeklärten Geister aber glauben, ganz ohne Gott und Christus auskommen zu können; sie glauben an die Wissenschaft und an den Fortschritt der geschichtlichen Vernunft und weigern sich, das Anwachsen der staatlich und gesellschaftlich verordneten militärischen, juridischen und sozialen Grausamkeiten anzuerkennen und anzugehen. Kirche und Staat bilden gemeinsam ein unmenschliches System der Lüge, der Gewalt und einer selbstgerechten Ungerechtigkeit. Diese Evidenz gewann Tolstoi aus der Botschaft Jesu und richtete sie aufrüttelnd und befreiend in der Sprache eines Dichters und in dem Anspruch eines Propheten an jeden Einzelnen nicht anders als auch an die Allgemeinheit." Tolstoi-Friedensbibliothek. Reihe B, Band 1 (Signatur TFb_B001) Herausgegeben von Peter Bürger

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Inhalt

Zum Geleit

Von Eugen Drewermann

I.

LEO TOLSTOI ALS ZEUGE EINER PARISER HINRICHTUNG IM FRÜHJAHR 1857

Tagebucheintrag – Auszüge aus den Schriften ‚Meine Beichte‘ und ‚Was sollen wir tun‘

II.

DIE HINRICHTUNG DES SOLDATEN SCHIBUNIN 1866

Charakteristik des Verurteilten – Tolstois Rede vor Gericht – Das Urteil – Urteil des Volkes – Nachtrag: Tolstois Rückblick im Jahr 1908

Dokumentation von Pavel Birjukov

III.

GOTT SIEHT DIE WAHRHEIT, ABER OFFENBART SIE NICHT GLEICH

Eine Erzählung, zuerst 1872 in der in der Moskauer Zeitschrift ‚Besseda‘ erschienen – übersetzt von Hanny Brentano

Leo N. Tolstoi

IV. DAS EREIGNIS VOM 1. MÄRZ 1881

Aufruf des Exekutivkomitees – Tolstois Verhältnis zur Todesstrafe überhaupt – Sein Verhältnis zu dem Ereignis des 1. März und zu dessen Folgen – Brief an Zar Alexander III. – Der Versuch, den Brief mit Hilfe Pobedonoszefs zu überreichen – Die Absage – Überreichung des Briefes durch den Großfürsten Sergej Alexandrowitsch – Erfolglosigkeit des Briefes

Dokumentation von Pavel Birjukov

V.

NIKOLAI PALKIN

Der Zar als Peitschenmann – Nachbetrachtungen zum Gespräch mit einem betagten Soldaten im Jahr 1886

Leo N. Tolstoi

VI.

EINE SCHANDE

Über das Verbrechen der Leibesstrafe

Leo N. Tolstoi

(1895)

VII.

PRIESTERLITURGIE IN DER GEFÄNGNISKIRCHE

Auszug aus einer ungekürzten Version von Leo Tolstois Roman „Auferstehung“ (1899)

Übersetzung von Wladimir Czumikow

VIII.

„BRÜDERCHEN, HABT ERBARMEN!“

Die Schilderung eines Spießrutenlaufs in L. Tolstois Novelle „Nach dem Ball“ (1903)

IX.

,,

DARF MAN DENN IN EINEM CHRISTLICHEN LANDE MENSCHEN TÖTEN?“

Aus L. Tolstois unvollendeter Novelle „Der gefälschte Coupon“ (1903-1904)

X.

ICH KANN NICHT SCHWEIGEN!

Über die Hinrichtungen in Rußland – Anhang: Die Verfolgung meiner Leser (Übersetzung von Edmund Rot)

Leo N. Tolstoi

(1908)

XI.

TOLSTOIS 80. GEBURTSTAG UND EIN AUFRUF ZUR ABSCHAFFUNG DER TODESSTRAFE

Berichterstattung:

Neue Freie Presse

(Wien), 10.09.1908

XII.

DIE TODESSTRAFE UND DAS CHRISTENTUM

Über einen Artikel in der Zeitung ,Nowoje Wremja‘ vom 18./31. Dezember 1908

Leo N. Tolstoi

(1909)

XIII.

„ÜBER DAS RECHT“

Brief an einen Jurastudenten, 27. April 1909

Leo N. Tolstoi

XIV.

„STRAFE ERREICHT NIEMALS DAS GEWÜNSCHTE ZIEL“

Texte aus Leo Tolstois Lesebuch „Der Weg des Lebens“ (abgeschlossen 1910)

XV.

DAS RECHT AUF LEBEN: VORTRAG GEGEN DIE TODESSTRAFE,

gehalten in dem von der „Gesellschaft der wahren Freiheit zum Gedächtnis Leo N. Tolstojs“ veranstalteten Abend am 5. Januar 1919 im Auditorium maximum des Politechnischen Museums zu Moskau

Valentin Bulgakov

ANHANG

Gesamtübersicht und Anmerkungen zu einzelnen Übersetzungstexten

Leo N. Tolstoi (1828-1910) Fotografie aus dem Jahr 1908: В.Г. Чертков (commons.wikimedia.org | http://vm1.culture.ru)

Zum Geleit

Von Eugen Drewermann

Wie kann man als Mensch zu sich selber finden und wahrhaftig leben? Das kann man nur, wenn man ein Einzelner wird im Gegenüber Gottes, meinte der Däne SÖREN KIERKEGARD und kritisierte das bestehende Kirchenchristentum als einen Verrat an der Person und Botschaft Jesu. Das kann man nur, wenn man als Christ dem Staat an all den Stellen den Gehorsam aufkündigt, an denen er den Worten Jesu widerspricht, meinte der Russe LEO TOLSTOI und warf der Kirche vor, die christliche Lehre von der Erlösung nur auf den Einzelnen und nicht auch und gerade auf die Staatsangelegenheiten zu beziehen. Historisch sind der Däne und der Russe einander nie begegnet, doch geistig gehören sie zusammen, und beide braucht man, um den Krankheitszustand der Normalität des Bürgerdaseins zu erkennen und zu überwinden. Das Christentum ist keine Lehre, sondern eine Existenzmitteilung, sagte KIERKEGAARD.1 Das Christentum ist das Ende der entsetzlichen Lüge, es könne kirchliche und staatliche Gesetze geben, die über dem „Gesetz“ der Liebe für den Nächsten stünden, sagte TOLSTOI.2

Der Katholizismus, gleich ob römisch oder orthodox, erklärt die kirchliche Institution selbst für den fortlebenden Christus und entfremdet damit das Leben der Christen zu einem bloßen Nachsprechen kontrollierbarer Konzilsentscheidungen kirchlicher Glaubenssätze. Dagegen richteten sich die Reformbewegungen des Protestantismus und der Aufklärung. Beide beeinflußten das zaristische Rußland kaum und hätten seine Probleme auch nicht zu lösen vermocht: Der Protestantismus LUTHERS verblieb in der Schizophrenie der Zwei-Reiche-Lehre3, mit welcher AUGUSTINUS in der Zeit nach Konstantin das Christentum in eine staatstragende Religion verwandelte4: die Menschen, weil sie böse sind, benötigen den Staat als Notverordnung Gottes; deshalb kann man nicht nur, man muß als Christ Soldat und Richter sein. So etwas sagen bis hinein in unsere Tage alle Kirchen. Die aufgeklärten Geister aber glauben, ganz ohne Gott und Christus auskommen zu können; sie glauben an die Wissenschaft und an den Fortschritt der geschichtlichen Vernunft und weigern sich, das Anwachsen der staatlich und gesellschaftlich verordneten militärischen, juridischen und sozialen Grausamkeiten anzuerkennen und anzugehen. Kirche und Staat bilden gemeinsam ein unmenschliches System der Lüge, der Gewalt und einer selbstgerechten Ungerechtigkeit. Diese Evidenz gewann TOLSTOI aus der Botschaft Jesu und richtete sie aufrüttelnd und befreiend in der Sprache eines Dichters und in dem Anspruch eines Propheten an jeden Einzelnen nicht anders als auch an die Allgemeinheit.

Drei Punkte der Erfahrung sind es, die auf Grund ihrer unerträglichen Alltäglichkeit förmlich dazu nötigen, die Welt zu sehen mit den Augen Jesu und zu begreifen, daß nicht nur der Einzelne, sondern die Staatenwelt der Völker insgesamt vom Wahnsinn der Gewalt erlöst werden will, – das ist die unheilvolle Dreieinigkeit aus Kriegsrecht, Strafrecht und Besitzrecht. Alle drei hängen zusammen und bedingen einander; alle drei widersprechen diametral der Botschaft Jesu, die eigentlich im Herzen eines jeden eingeschrieben ist. Jeder der einen Menschen zu Tode peitscht, ersticht oder erschießt, vernimmt in seinem Inneren die leise Stimme Gottes, die ihm gebietet: Liebet eure Feinde (Mt 6,44) und: Du sollst nicht töten. Ein Staat, der junge Menschen, Zwanzigjährige, darin trainiert und unter Eidesleistung schwören läßt, sie würden auf Befehl hin jeden Mord begehen, und der behauptet, all das sei ein wohlgefällig Werk, gesegnet auch von Kirchentheologen in maßgebenden Positionen, verdient Verachtung, nicht Gehorsam; wer Menschen leiden macht und kein Mitleid empfindet, der kann sein Schuldgefühl in Ewigkeit nicht abgeben mit der Entschuldigung, sein Tun sei ihm befohlen worden. Er weiß und wußte nur zu gut: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ (Apg 5, 20)

Desgleichen kann ein jeder lesen, wie die Bergpredigt hinleitet zu dem Schluß: „Verurteilt niemanden!“ (Mt 7, 1-3) Selbst wenn er schon mit Steinen in den Händen auf dem Tempelplatz bereitsteht, eine Ehebrecherin nach dem Gesetz des Moses (Lev 20, 10) und nach dem Strafgesetz des Staates hinzurichten (Joh 8, 1-12), so könnte er doch aus dem Munde Jesu lernen, daß er nicht just der rechte Mann ist, zu Gericht zu sitzen über andere, vielmehr: er sollte ins Gericht gehen mit seiner eignen Schuld, die ihn mitschuldig macht auch an der Schuld des einer Straftat Überführten. Ist nicht, was wir Schuld und Verbrechen nennen, im letzten lediglich ein Suchen nach einer Liebe, die wir, als es darauf ankam, jemandem verweigert haben?

Und das Besitzrecht! Ja, gewiß, dafür, meinte schon CICERO5, hat man die Staaten eingerichtet, daß sie das Eigentum hablicher Bürger schützen vor den Habenichtsen, und ihre Gesetze sind derart gerecht und allgemeingültig, daß sie den Reichen wie den Armen gleichermaßen verbieten, unter einer Seine-Brücke zu schlafen.6 Ordnung muß sein! Nach staatlichem Recht begeht der reiche Prasser in Jesu Gleichnis kein Unrecht, wenn er sein Leben genießt und sich dabei nicht stören läßt von dem Anblick des armen Lazarus, der vor seiner Türe liegt und dessen Geschwüre die Hunde lecken (Lk 16, 19-31). Doch spürt nicht jeder, daß die Härte herzloser Gier kein Glück bringt, sondern nur das Symptom des Unglücks eines Süchtigen darstellt?

Was also sollten wir tun? Den zentralen Konflikt in allem, in Kriegsrecht wie in Strafrecht, sieht TOLSTOI darin, daß wir vermeinen, mit den Mitteln staatlicher Gewalt gegen das Böse vorgehen zu müssen. Dagegen gilt, daß „Christus sagt einfach und klar: Jenes Gesetz des gewaltsamen Widerstrebens, das ihr zur Grundlage eures Lebens gemacht habt, ist falsch und widernatürlich … er gibt eine andere Grundlage, die des Nichtwiderstrebens (sc. Mt 5, 39, d. V.), die, wie er lehrt, allein die Menschheit vom Übel befreien kann. Er sagt: Ihr glaubt, eure Gesetze der Gewalt vermindern das Übel; nein, sie vergrößern es nur. Ihr habt Tausende von Jahren euch bemüht, das Übel durch das Übel zu vernichten und habt es nicht vernichtet, sondern vergrößert. Tut das, was ich sage und tue, und ihr werdet erkennen, ob das die Wahrheit ist … Die Gläubigen (indessen) hören das alles, lesen es in den Kirchen und nennen diese Worte göttlich; ihn nennen sie Gott, sagen aber: Das alles ist sehr schön, aber in unserer Lebensordnung unausführbar; es würde unser ganzes Leben zerstören, wir aber sind an dieses gewöhnt und hängen an ihm. Und deshalb glauben wir an alles das nur in dem Sinne, daß es ein Ideal ist, nach welchem die Menschheit leben soll,“ – nur eben gerade nicht wir selber auf der Höhe unserer Zivilisation! Dabei ist es gerade umgekehrt: „Der Grundsatz des Nichtwiderstrebens ist ein Grundsatz, der die gesamte Lehre (sc. Jesu, d. V.) zu einem Ganzen verbindet, aber nur dann, wenn er nicht ein Ausspruch, sondern eine zwingende Vorschrift, ein Gesetz ist.“7 Und dieses „Gesetz“ ändert alles. Es ist wie das Erdbeben, welches den Tempelvorhang aufriß und die Gräber öffnete, als Jesus am Kreuz sein Leben für uns hingab (Mk 15, 33; Mt 27, 51-53): es erschütterte den Boden von Gesetz und ritualisierter Religiösität und schuf den Raum für eine neue Form der Güte.

Und nun: wenn Jesus uns sagt, richtet nicht, bekämpft nicht mit Gewalt das Böse, ertragt das Übel, tuet Gutes allen, ist's dann nicht klar, „daß es, nach Christi Lehre, einen christlichen strafenden Richter nicht geben kann“8? Schon wenn wir beten: „und vergib uns unsere Schuld“ (Mt 6, 12), ist die Erfüllung dieser Bitte daran gebunden, daß wir selbst vergeben (Mt 6, 14-15). Dazu ist unbedingt erforderlich, daß wir das Bild von Gott als einem in gerechter Strenge strafenden Richter im Sinne Jesu ändern in das Portrait, das Jesus in dem Gleichnis vom verlorenen Schaf seinen Anklägern entgegenhält, um zu begründen, warum er zu den „Zöllnern und Sündern“ geht, wie ein Arzt zu den Kranken (Mk 2, 15-17): Gott verurteilt die „Verlorenen“ nicht, er geht ihnen nach, er trägt sie zurück (Lk 15, 1-7). Er bekämpft nicht die Symptome menschlicher Verzweiflung, er sucht ihre Gründe zu verstehen und durchzuarbeiten. Die Art, wie Gott uns „straft“, besteht darin, daß er uns lehrt, in seiner Güte nachzureifen. Er überliebt das Böse, er zwingt es nicht mit Strafurteilen nieder.

Was aber erlaubt sich dann die Strafjustiz des Staates, wenn sie Gerechtigkeit mit Grausamkeit verwechselt und sich dabei noch selber vormacht, mit all „den Qualen und dem Bösen, das die menschlichen Strafgesetze in das Leben des Menschen bringen,“ bessern zu wollen? „Keinem Menschen, der ein Herz hat,“ schreibt TOLSTOI, „kann jener Anblick des Grauens und des Zweifels am Guten fremd geblieben sein, beim Erzählen allein – ich spreche schon gar nicht vom Anblick der Strafen, die ein Mensch an einem anderen Menschen vollzieht: das Spießrutenlaufen bis zum Tode, die Guillotine, der Galgen.“9 Man muß die Geschichten, die TOLSTOI in diesem Buch gegen die Todesstrafe erzählt, nur aufmerksam lesen und weiß: so ist es nicht christlich, so ist es nicht menschlich, so darf es nicht sein!

Deswegen sagt Jesus im Evangelium „deutlich und klar: Ihr hattet ein Strafgesetz: Zahn um Zahn, ich aber gebe euch ein neues Gesetz: Widerstrebt nicht dem Übel; erfüllet alle dies Gebot: Vergeltet nicht Böses mit Bösem, sondern tut stets und allen Gutes und vergebet alles … Mein Herz sagt klar und vernehmlich: Straft nicht … Und ich lese die ganze Lehre, lese die Worte: Richtet nicht und ihr werdet (sc. von Gott, d. V.) nicht gerichtet werden.“10

Es geht dabei nicht um die Abschaffung allein der Todesstrafe, es geht um die Beseitigung des Aburteilens und des Richtens nach den Verordnungen staatlicher Strafgesetze überhaupt. Begütigen kann nur die Güte, – Druck erzeugt Gegendruck. Selbst bei dem Kampf gegen die antizaristischen Aufständischen sah man die Regel sich bestätigen: an die Stelle von einem getöteten Terroristen treten zehn weitere Terroristen. Gewalt erzeugt Gewalt, und böse Mittel schaffen Bosheit, aber keinen Frieden.

Mit dieser Auffassung der eigentlichen Botschaft Jesu freilich wird es unvermeidlich, das Schicksal Jesu selber zu erleiden. Das muß nicht schrecken, es bestätigt nur, daß es anders gar nicht sein kann: wer Staat und Kirche jedes Recht abspricht, gegen das sogenannte Böse mit Gewaltmaßnahmen vorzugehen, der nimmt ihnen die Macht, – im Kampf nach innen wie nach außen: in der Justiz beim Abstrafen der Delinquenten und der Devianten und militärisch in der zynischen Bereitschaft zum Töten unzähliger Menschenleben. Wer Jesus konsequent zu folgen sucht, der wird sich Staat und Kirche zu Todfeinden machen (Mt 10, 1722).

In dieser Lage aber braucht es die Ergänzung KIERKEGAARDS. Was uns selbst hindert, das erkannte Richtige zu tun, ist allemale Angst. Sie ist es, die hinter dem steht, was in der Bibel als der „Sündenfall“ beschrieben wird (Gen 3, 1-7)11 und was bis in den Aufbau der Persönlichkeit hinein unseren Charakter verformen kann12. Die heilende Kraft, mit welcher Jesus das Böse überwindet, ist wesentlich sein unbedingtes Vertrauen in die Güte Gottes. Sie allein verleiht die Angstfreiheit und Ich-Identität, die es ermöglichen, auf fremde Gewalt nicht mehr mit eigener Gewalt zu antworten und Vergebung zu üben statt Vergeltung. Vor allem aber: es bedarf des Vertrauens, mit unserer Person inmitten der Endlichkeit unseres irdischen Daseins getragen zu sein von Gottes Ewigkeit. Der Glaube an die Unsterblichkeit unseres persönlichen Lebens in den Händen Gottes ist nicht, wie TOLSTOI meinte, ein Ausdruck bloßer Selbstverliebtheit, er ist, mit SÖREN KIERKEGAARD gesprochen13, der Grund, die Unverbrüchlichkeit der Liebe trotz aller Dreinreden, Enttäuschungen und Ungerechtigkeiten von Gott her in die Welt zu tragen.

1 Sören KIERKEGAARD: Tagebücher, 5 Bde., ausgew., neu geordnet u. übers. v. Hayo Gerdes, Düsseldorf-Köln, Bd. 3, 1968, S. 50.

2 Leo N. TOLSTOI: Mein Glaube, aus dem Russischen v. Raphael Löwenfeld, in: Sämtliche Werke, I. Serie, Sozial-ethische Schriften, Leipzig 1901, Bd. 2; München 1990, S. 41-42.

3 E. DREWERMANN: Richtet nicht! Strafrecht und Christentum, Bd. 2: Gerichtsvorstellungen vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Ostfildern 2021, S. 342-363: Lehre und Ausbreitung des Protestantismus.

4 E. DREWERMANN: Richtet nicht! Strafrecht und Christentum, Bd. 1: Vergangene Gegenwart, Ostfildern 2020, S. 418-434: Das Christentum und das Kreuz oder: Das Kreuz mit dem Christentum – Augustinus und die konstantinische Wende.

5 MARCUS TULLIUS CICERO: Vom pflichtgemäßen Handeln (De officiis), II 73, übers., eingel. u. erläutert von Karl Atzert, München (GG Tb. 534) 1972, S. 109.

6 E. DREWERMANN: Richtet nicht! Strafrecht und Christentum, Bd. 3: Von der Gegenwart zur Zukunft, Ostfildern 2023, S. 568-572: Die Strafgesellschaft von Vater Staat. Es war ANATOLE FRANCE, der sagte: „Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit, verbietet den Reichen wie den Armen, unter Brücken zu schlafen, zu betteln und Brot zu stehlen.“ A.a.O., S. 570.

7 Leo N. TOLSTOI: Mein Glaube (s. o. Anm. 2), S. 36.

8 A.a.O., S. 48.

9 A.a.O., S. 60-61.

10 A.a.O., S. 61.

11 E. DREWERMANN: Strukturen des Bösen. Die jahwistische Urgeschichte in exegetischer, psychoanalytischer und philosophischer Sicht, 3 Bde., Paderborn 19761978, Bd. 1, S. 53-74: Im Getriebe der Angst; Bd. 3, S. 436-562: Angst, Verzweiflung und Glaube – die Kierkegaardsche Trias.

12 A.a.O., Bd. 3, S. 460-479: Die Neurosenlehre der Psychoanalyse und „Die Krankheit zum Tode“. Sören KIERKEGAARD: Die Krankheit zum Tode. Eine christliche psychologische Entwicklung zur Erbauung und Erweckung, von Anti-Climacus, Kopenhagen 1849, übertr. u. komm. v. Liselotte Richter, Hamburg (rk 113) 1962.

13 Sören KIERKEGAARD: An einem Grabe, in: Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten, Kopenhagen 1845; Gesammelte Werke und Tagebücher, Bd. 8: Vier erbauliche Reden 1844. Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten 1845, 13. u. 14. Abteilung, übers. v. Emanuel Hirsch, Simmerath 2004, S. 121-205; S. 180: „Denn wer ohne Gott in der Welt ist, er wird wohl bald seiner selbst leid …; wer aber in der Gesellschaft Gottes lebt, er lebt ja mit dem zusammen, dessen Gegenwart selbst dem Unbedeutendsten unendliche Bedeutung verleiht.“

I. Leo Tolstoi als Zeuge einer Pariser Hinrichtung im Frühjahr 1857

Tagebucheintrag – Auszüge aus den Schriften ‚Meine Beichte‘ und ‚Was sollen wir tun‘

Gegen Ende seines Lebens war Leo N. Tolstoi (1828-1910) vermutlich in ganz Europa der prominenteste Gegner der Todesstrafe.14 Im Jahr vor seinem Tod schrieb er in kompromissloser Diktion:

„Todesstrafen sind in unserer Zeit insofern gut, als sie offenkundig machen, daß die Herrschenden schlechte, verirrte Menschen sind und daß ihnen zu gehorchen daher ebenso schädlich und schändlich ist, wie wenn man dem Häuptling einer Räuberbande gehorchte.“15

Der jahrzehntelange Kampf des Dichters gegen die Ermordung von Menschen im Namen einer sogenannten ‚Gerechtigkeit‘ hat jedoch eine lange Vorgeschichte. „Schon 1847 kritisierte er die Zarin Katharina II dafür, dass sie zwar die Folter verurteilt, aber die Todesstrafe nicht angetastet hatte.“16 Zehn Jahre später führt auf einer Auslandsreise die – von ihm gesuchte – Augenzeugenschaft bei einer öffentlichen Hinrichtung durch Fallbeil zu einem „unauslöschlichen Eindruck“ (Pawel Birjukov).

1. „PARISER TAGEBUCH“ 1857

Ende Januar 1857 tritt Tolstoi seine erste Auslandsreise an und wird in Paris am Bahnhof von Iwan Turgenjew (1818-1883) empfangen. Im März verbringen Tolstoi und Turgenjew einige Tage in Dijon, wo die von Mitgefühl zeugende Erzählung vom Musikanten Albert entstanden ist. Zurückgekehrt nach Paris macht Tolstoi eine folgenschwere Erfahrung. Auf der Place de la Roquette soll vor tausenden Schaulustigen ein arbeitsloser Koch getötet werden, den das Gericht für schuldig befunden hat, einen Raubmord begangen zu haben. In seinem Tagebuch hält der Dichter fest:

„6. April 1857. – Ich stand vor sieben Uhr auf und wohnte einer Hinrichtung bei. Ein kräftiger, weißer, gesunder Hals und Nacken; er küßte die Bibel und dann – tot. Wie sinnlos! Es hinterließ mir einen tiefen Eindruck, der nicht verloren war. Ich bin kein Politiker. Moral und Kunst liebe ich und weiß, daß ich es darf. … Die Guillotine raubte mir für geraume Zeit den Schlaf: ich hatte sie fortwährend vor Augen.“17

In einem Brief vom gleichen Tag gesteht er dem befreundeten Kritiker W. P. Botkin, er habe am Morgen die Dummheit und Grausamkeit besessen, zum Schauspiel einer öffentlichen Hinrichtung zu fahren, von dem er sich so bald wohl nicht erholen werde:

„Ich habe im [Krim-]Krieg und im Kaukasus[-krieg] viel Schreckliches gesehen, aber hätte man in meiner Gegenwart einen Menschen in Stücke gerissen, wäre das nicht so abstoßend gewesen wie diese kunstvolle und elegante Maschine, die einen kräftigen, blühenden und gesunden Menschen in einem winzigen Augenblick tötet. Dort [auf dem Schlachtfeld] herrscht nicht vernünftiger Wille, sondern menschliche Leidenschaft, hier aber handelt es sich um raffinierte Gelassenheit und Zweckmäßigkeit beim Töten ohne auch nur eine Spur von Erhabenheit.“18

Die grundsätzliche Kritik am staatlichen Rechtssystem ist in den Ausführungen gegenüber Botkin bereits enthalten:

„Recht fürwahr, gesprochen von Juristen – von Menschen, die über Wahrheit, Ehre und Religion schwätzen, und gegen alles drei handeln! Auf diese Weise haben sie ihren König umgebracht, André Chénier, die Republikaner, die Aristokraten, zu schweigen von jenem Mann (ich habe seinen Namen vergessen), dessen Unschuld an dem Verbrechen, für das er hingerichtet worden war, erst vor zwei Jahren bekanntgemacht wurde … Menschliche Gesetze – welch ein Unsinn! Wahrhaftig, der Staat ist eine Verschwörung mit dem Ziel, nicht nur die Bürger auszubeuten, sondern ebenso sie zu demoralisieren.“19

Die nachfolgenden Textauszüge aus zwei Schriften Tolstois zeigen, wie dieser nach Jahrzehnten auf die Hinrichtung des Jahres 1857 zurückblickt.

2. AUSZUG AUS LEO N. TOLSTOIS „BEKENNTNISSEN“7(1879-1882)

„So enthüllte mir, während meines Aufenthaltes in Paris, der Anblick einer Hinrichtung die Hinfälligkeit meines Fortschritt-Aberglaubens.“

[…] Mit sechsundzwanzig Jahren kam ich nach dem Kriege nach Petersburg und wurde mit Schriftstellern bekannt. Man nahm mich als ebenbürtigen Genossen auf und schmeichelte mir. Und ich hatte noch nicht Zeit gehabt, mich umzusehen, als ich die zünftigen Lebensanschauungen dieser Menschen, mit denen ich verkehrte, mir zu eigen gemacht hatte, die alle meine früheren Versuche der Veredelung vollends vernichteten. Diese Anschauungen boten meinem ausschweifenden Leben die Stütze einer Theorie, die es rechtfertigte.

Die Lebensanschauung dieser Menschen, meiner Kameraden im Schriftstellerberuf, bestand darin, daß das Leben im allgemeinen sich fortschreitend entwickele, daß an dieser Entwickelung wir, die Männer der Gedankenarbeit, den größten Anteil hätten, und unter den Männern der Gedankenarbeit den größten Einfluß wir – die Künstler, die Poeten. Unser Beruf sei es, die Menschen zu belehren. Damit sich uns aber nicht die natürliche Frage aufdrängte: Was weiß ich, und was kann ich also lehren? legte diese Theorie dar, daß man dies nicht zu wissen brauche, und daß der Künstler und der Poet unbewußt lehre. Ich hielt mich für einen wunderbaren Künstler und Poeten, und darum war es für mich selbstverständlich, daß ich mir diese Theorie aneignete. Ich, der Künstler, der Poet, schrieb und lehrte, ohne zu wissen was. Ich erhielt dafür Geld, ich hatte vortreffliches Essen, eine schöne Wohnung, Weiber, Verkehr; ich war berühmt. So mußte also das, was ich lehrte, sehr gut sein. […]

Und so legten wir uns die Sache folgendermaßen zurecht: Alles, was ist, ist vernünftig. Und alles was ist, entwickelt sich beständig. Es entwickelt sich aber das alles vermittelst der Bildung. Die Bildung wiederum wird bestimmt durch das Maß der Verbreitung von Büchern, Zeitungen. Uns aber zahlt man mit Geld und Ehren dafür, daß wir Bücher und Zeitungen schreiben. Demnach sind wir die nützlichsten und besten Menschen. Diese Theorie wäre sehr schön gewesen, wenn wir alle einig gewesen wären; daß aber auf jeden Gedanken, den der eine aussprach, stets ein diametral entgegengesetzter kam, den der andere aussprach, hätte uns stutzig machen müssen. Das bemerkten wir aber nicht; man zahlte uns Geld, und Leute unserer Partei lobten uns, und so wähnten wir uns, und jeder einzelne sich, im Recht.

Jetzt ist es mir klar, es war ganz und gar wie in einem Irrenhause; damals aber ahnte ich das nur dunkel und hielt, wie alle Irrsinnigen, alle außer mir für irrsinnig.

_____

So lebte ich dahin, noch sechs Jahre dieser Unvernunft hingegeben, bis zu meiner Verheiratung. Um diese Zeit reiste ich in's Ausland. Der Aufenthalt in Europa und mein Verkehr mit hervorragenden und gelehrten Männern europäischer Bildung bestärkte mich noch mehr in meinem Glauben an die allgemeine Vervollkommnung, in dem ich gelebt hatte; denn ich fand denselben Glauben auch bei ihnen. Dieser Glaube nahm bei mir die gewohnte Form an, die er bei der Mehrzahl der Gebildeten unserer Zeit hat. Er wurde durchs das Wort „Fortschritt“ bezeichnet. Damals meinte ich, es sei mit diesem Worte etwas gesagt. Ich hatte damals noch nicht begriffen, daß ich, der wie jeder lebendige Mensch, bedrängt von den Fragen, wie ich besser lebe, mit der Antwort: Lebe dem Fortschritt gemäß! – ganz so antworte, wie ein Mensch, der in einem Kahne sitzt und von Wellen und Wind getrieben wird, auf die wichtigste, für ihn einzige Frage: Wohin steuern? ohne auf die Frage zu antworten, sagen würde: Es führt uns irgendwohin.

Damals merkte ich das nicht. Von Zeit zu Zeit empörte sich – nicht die Vernunft, sondern die Empfindung gegen diesen in unserer Zeit allgemein verbreiteten Aberglauben, durch den die Menschen die mangelnde Kenntnis des Lebens sich selbst verschleiern. So enthüllte mir, während meines Aufenthaltes in Paris, der Anblick einer Hinrichtung die Hinfälligkeit meines Fortschritt-Aberglaubens. Als ich sah, wie das Haupt sich vom Rumpfe trennte, und wie eines nach dem anderen auf den Boden der Kiste aufschlug, begriff ich, nicht mit dem Verstand, sondern mit meinem ganzen Wesen, daß keinerlei Theorie von der Vernünftigkeit des Seienden und des Fortschritts dieses Verbrechen rechtfertigen könne, und daß ich, wenn auch alle Menschen in der Welt, gleichviel nach welchen Theorien, von Erschaffung der Welt an gerechnet, je gefunden hätten: Dies sei notwendig – daß ich weiß: Es ist nicht notwendig, es ist schlecht. Und der Richter über das, was gut und notwendig ist, sind nicht die Worte und die Thaten der Menschen, auch nicht der Fortschritt, sondern ich mit meinem Herzen.

Ein zweiter Fall, der mir die Unzulänglichkeit des Fortschritt-Aberglaubens für unser Leben zum Bewußtsein brachte, war der Tod meines Bruders. Er war ein guter, kluger, ernst strebender Mensch. Er erkrankte in jungen Jahren, litt über ein Jahr und starb in Qualen, ohne je begriffen zu haben, warum er gelebt, und noch weniger, warum er sterbe. Keine Theorie konnte ihm oder mir während seines langsamen und qualvollen Siechtums auf diese Frage eine Antwort geben. Aber das waren nur zerstreute Fälle von Zweifeln. Im Grunde setzte ich das alte Leben fort und bekannte mich stets zu dem Glauben an den Fortschritt „Alles entwickelt sich und auch ich entwickele mich, wozu ich mich mit allen zusammen entwickele, das wird sich schon zeigen.“ So hätte ich damals meinen Glauben formulieren müssen.

3. AUSZUG AUS TOLSTOIS SCHRIFT „WAS SOLLEN WIR DENN TUN?“8(1882-1886)

„Mord bleibt doch Mord.“

Dreissig Jahre sind es her, da habe ich es gesehen, wie man vor tausend Zuschauern einem Menschen mit der Guillotine den Kopf abhieb. Ich wusste es, dass dieser Mensch ein entsetzlicher Missethäter war. Ich kannte alle die Raisonnements, welche seit so vielen Jahrhunderten geschrieben worden, um Maassregeln dieser Art zu rechtfertigen; ich wusste, dass man es absichtlich, bewusst gethan hatte; aber in dem Augenblicke, da der Kopf sich vom Körper trennte und beide in die Kiste fielen, da seufzte ich auf, und ich habe, nicht mit dem Verstande, sondern mit dem Herzen, mit meinem ganzen Wesen es begriffen, dass alle die Raisonnements, die ich zu Gunsten der Todesstrafe gehört hatte, nichts anderes sind, als bösartiger Unsinn; und wie viel Menschen man auch zusammenbringen mag, um einen Mord zu verüben, und wie sie auch heissen mögen, Mord bleibt doch Mord, die schlimmste Sünde in der Welt, und ich hatte mich daran betheiligt. So auch jetzt, beim Anblicke des Hungers, Frierens und der Erniedrigung tausender von Menschen22, habe ich nicht mit dem Verstande, aber mit dem Herzen und mit meinem ganzen Wesen es begriffen, dass die Existenz von zehntausend solcher Menschen in Moskau, während ich und andere tausend Menschen Filet und Sterlet speisen, ihre Pferde und Fussböden mit Tuch bekleiden, – was auch die Gelehrten der Welt darüber sagen mögen, es sei unvermeidlich – dass es ein Verbrechen ist, welches nicht einmal, sondern beständig begangen wird, und dass ich, mit meinem Luxus, nicht nur das Verbrechen zulasse, sondern mich geradezu daran betheilige. Für mich bestand der Unterschied zwischen diesen beiden Eindrücken23 nur darin, dass dort alles was ich hätte thun können, nichts anderes gewesen wäre, als den Mördern, welche bei der Guillotine standen und mit dem Morden sich beschäftigten, zuzurufen, dass sie Böses thun, und mit allen Mitteln sie daran zu hindern. Aber wenn ich es that, so konnte ich im voraus wissen, dass mein Auftreten den Mord nicht hindern werde. Hier aber konnte ich nicht nur Sbítenj und das geringfügige Geld, das ich bei mir hatte, spenden, sondern ich konnte den Paletot vom Leibe hergeben und alles was ich zu Hause besitze. Aber das hatte ich nicht gethan, und darum empfand ich und empfinde es noch, und werde nie aufhören es zu empfinden, dass ich Theilhaber bin an dem beständig verübten Verbrechen, so lange als ich noch überflüssige Speise habe, ein anderer gar keine hat, so lange ich zwei Anzüge besitze, ein anderer aber gar keinen.

14 Zu bekannten Literaten unter den Kritikern liegt ein kleines Lesebuch vor: Der Weg zum Schafott. Dichter gegen die Todesstrafe. Victor Hugo – Charles Dickens – William Thackeray – Cesare Beccaria – Fjdor Dostojewski – Leo Tolstoi. Berlin: Rippberger & Kremers Verlag 2016.

15 Hier zitiert nach Geir KJETSAA: Lew Tolstoj. Dichter und Religionsphilosoph. Gernsbach: Casimir Katz Verlag 2001, S. 102.

16 Dirk FALKNER: Straftheorie von Leo Tolstoi. (= Juristische Zeitgeschichte – Abteilung 6, Band 57). Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2021, S. 85.

17 Hier zitiert nach: Leo N. Tolstois Biographie und Memoiren. Autobiographische Memoiren, Briefe und biographisches Material. Herausgegeben von Paul Birukof und durchgesehen von Leo Tolstoi. I. Band: Kindheit und frühes Mannesalter. Wien/Leipzig: Moritz Perthes (k. u. k. Buchhandlung) 1906, S. 323-324.

18 Zitiert nach D. FALKNER: Straftheorie von Leo Tolstoi. Berlin/Boston 2021, S. 85.

19 Zitiert nach Janko LAVRIN: Lev Tolstoj – mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 111991, S. 54-55.

20 Übersetzung | Leo N. TOLSTOJ: Meine Beichte. Von dem Verfasser genehmigte Ausgabe von Raphael Löwenfeld [1901]. 8.-10. Tausend. Jena: Eugen Diederichs 1922, S. 17-18 und 22-24.

21 Übersetzung | Leo TOLSTOI: Bekenntnisse – Was sollen wir denn thun? Aus dem russischen Manuskript übersetzt von H[ermann]. von Samson-Himmelsjerna. Leipzig: Verlag Duncker & Humblot 1886, S. 119-121.

22 [Tolstoi spricht hier von seinen Einblicken in die Welt der Armen von Moskau.]

23 [Bezüge: Hinrichtung Paris 1857 und zwei Jahrzehnte später ein Ausflug in die Welt der Elenden Moskaus mit anschließender Rückkehr in den Luxus des gräflichen Hauses.]

II. Die Hinrichtung des Soldaten Schibunin 1866

Charakteristik des Verurteilten – Leo Tolstois Rede vor Gericht – Das Urteil – Urteil des Volkes – Tolstois Rückblick im Jahr 190824

Dokumentation von Pavel Birjukov

Der Sommer 1866 brachte ein Ereignis, an dem Tolstoi beteiligt war und bei dem wir länger verweilen müssen. Es war die Verurteilung eines Infanteriesoldaten, dessen Regiment damals in der Nähe von Jasnaja Poljana lag. Natürlich trat Tolstoi in diesem Falle als Verteidiger des Verurteilten auf.

Wir fügen eine kurze Charakteristik des Unglücklichen nach der Beschreibung eines Augenzeugen dieses Verbrechens bei.

Kompagnieschreiber in der zweiten Kompagnie war damals der eben erst hinversetzte und in den Listen der Vorbestraften geführte Wasilij Schibunin, der als „Freiwilliger“ in den Kriegsdienst getreten war, d. h. er hatte sich für einen andern Rekruten mieten lassen. Er war 24 Jahre alt. Er war nicht groß, stämmig, hatte einen dicken roten Hals und etwas rötliches Haar, überhaupt machte sein Äußeres keinen besonders angenehmen Eindruck. Man erzählte von ihm, er sei der uneheliche Sohn eines ziemlich bedeutenden Herrn, seine eigenen Erinnerungen führten ihn in ein Dorf in einem der Zentralgouvernements zurück, wohin er als 2jähriges Kind in Kost gegeben worden war. Im November 1862 war er als Freiwilliger, d. h. als Mietling irgend eines Städters zum Regiment gekommen. Wenn er eine freie Minute hatte, bestand Schibunins Lieblingsbeschäftigung darin, daß er sich aufs Bett warf, ordinären Dorffusel aus einem Topf schlürfte und „vom Vater träumte“. Abends las er ein Erbauungsbuch oder das Evangelium, das er auswendig kannte. Der Kompagniekommandant, ein Pole mit akademischer Bildung, sperrte Schibunin wegen einer Nachlässigkeit im Dienst und wegen Trunksucht in den Karzer. Als er ihn kaum verlassen hatte, bekam Schibunin vom Kommandanten den Befehl, ein wichtiges Papier für den Bataillonskommandanten anzufertigen. Um sich Mut zu machen, trank er wieder ein ordentliches Quantum Branntwein, und als der Kommandant um den Rapport kam und ihn fragte: „Hast Du den Rapport für den Bataillonskommandanten gemacht“, reichte er ihm wortlos, blaß und mit zitternden Händen das verlangte, ins reine geschriebene Papier. Der Kompagniekommandant sah ihn an, bemerkte aber offenbar nichts besonderes an ihm und begann den Rapport zu lesen. Schibunin benützte diesen Moment, verließ das Zimmer und goß im Korridor direkt aus dem Faß diesmal ein neues Maß Branntwein hinunter. Dann ging er in die Kanzlei zurück. Der Rapport gefiel dem Kompagniekommandanten nicht, er ballte das Papier zusammen und warf es dem Schreiber ins Gesicht. Durch den Alkohol erregt und aufgebracht, sagte Schibunin seinem Vorgesetzten Grobheiten, worauf dieser sich zu dem Feldwebel wandte und sagte:

„Feldwebel, er ist wieder betrunken, sperr’ ihn sofort in den Karzer und nach dem Unterricht bereit’ die Ruten vor.“

Der Kommandant zog ruhig seinen weißen Handschuhe aus sämischen Leder an, drehte sich um und verließ das Zimmer. Schibunin rannte ihm nach, holte ihn ein und sagte mit wutverzerrtem Gesicht: „Warum, warum quälen Sie mich?“

Der Kommandant würdigte ihn natürlich keiner Antwort.

„Sie schweigen“, rief ihm Schibunin heiser zu. „Mich peitschen? Also da hast Du’s, polnische Fratze …,“ das Klatschen einer mächtigen Ohrfeige hallte über die Straße.

Der Kapitän N. reichte an diesem Tage zwei Rapports ein, einen über Schibunins Vergehen, den zweiten über seine Krankheit, und der Kommandant des Regiments gab die Sache weiter. Fünf Tage später kam ein Befehl des General-Adjutanten Gildenstub, Kommandierenden aller Regimenter des Moskowsker Militärkreises, dahingehend, Schibunin sei nach Art. 604 der Militärvorschriften dem Kriegsgericht zu übergeben. Einer der Offiziere, namens Stasuljewitsch, nahm sich die Angelegenheit des Angeklagten zu Herzen und begab sich eiligst mit dem Unterleutnant Kolokolzof nach Jasnaja Poljana zu dem Grafen Tolstoi.

Nachdem die beiden jungen Offiziere Tolstoi den ganzen Hergang erzählt hatten, baten sie ihn, die Verteidigung des unglücklichen Schibunin zu übernehmen.

Der Graf hörte sie aufmerksam an und erklärte sich sofort bereit, alle menschenmöglichen Maßnahmen zu ergreifen, um dem Angeklagten doch wenigstens sein Los zu erleichtern, wenn vielleicht eine Verteidigung nicht möglich war.

Das Kriegsgericht gibt bekanntlich keine Fristen. Jede Angelegenheit wird rasch erledigt. Als der Graf am nächsten Tage zum Kommandanten des Regiments fuhr, war der Anklageakt Schibunins schon fertig, doch noch nicht dem Angeklagten eingehändigt. Natürlich willigte der Oberst mit größtem Vergnügen in den Vorschlag des Grafen ein, die Verteidigung Schibunins zu übernehmen.

Tolstoi war selbst Artillerist gewesen, er hatte an der langen qualvollen Verteidigung von Sebastopol teilgenommen und erkannte klar, in welcher verzweifelten Lage Schibunin als Soldat war. Aber er hoffte, ihn als Menschen verteidigen zu können und wenigstens eine Erleichterung der Strafe für ihn zu erlangen. Die Sitzung des Gerichts war für 11 Uhr vormittags einberufen. Aber Tolstoi kam um eine Stunde früher. Er brauchte diese Stunde. Er wollte den Angeklagten trösten und aufrichten. Der vergleichsweise große Saal des riesigen Gutshofes, wo der Regimentskommandant in Quartier war, wurde rasch in den Sitzungssaal eines Gerichtshofes verwandelt und hier sollte Schibunins Prozeß erledigt werden. Zum Vorsitzenden des Kriegsgerichts wurde der Kommandant des Regiments, Oberst Junoscha ernannt, die übrigen Richter waren Regimentsoffiziere. Der Prokurator war aus Moskau gekommen. Nur wenige der Gutsbesitzer aus der Umgegend wußten den Tag, an welchem das Kriegsgericht zusammentreten sollte, ebenso war es nicht sehr bekannt geworden, daß Tolstoi als Verteidiger des Angeklagten auftreten würde. Überdies war es eine heiße Zeit für den Landwirt, die wichtigste Arbeitszeit, doch wer es wußte, benützte die Gelegenheit und kam hin. Einige Leute waren aus Tula gekommen, aber im allgemeinen war das „Publikum“ nicht zahlreich. Der Vorsitzende eröffnete die Sitzung und befahl, den Angeklagten hereinzuführen. Dann wurde der Bericht über die Übergabe Schibunins an ein Kriegsgericht verlesen und der Anklageakt, in dem ausgeführt wurde, daß der Angeklagte den Kompagniekommandanten haßte und den Entschluß zu seiner Tat schon längst gefaßt hatte. Er habe ihn an jenem verhängnisvollen 6. Juni nur ausgeführt, zu welchem Zwecke er absichtlich auf nüchternen Magen anderthalb Maß Branntwein getrunken hatte.

Die Untersuchung war bald beendigt. Das Wort erhielt der Vertreter des Angeklagten. Der Prokurator hielt eine trockene formale Rede, ganz gespickt mit Gesetzesparagraphen, Berufungen auf sie u.s.w.

Dann vergingen einige Minuten voll gespannter Aufmerksamkeit und Graf Tolstoi erhob sich.

Seine sichere, ruhige, klare Rede erregte das allgemeine Interesse sofort so stark, daß die hinteren Reihen aufstanden und sich nahe zu den ersten drängten.

Tolstoi sprach folgendermaßen:

„Der Soldat Wasilij Schibunin, der angeklagt ist, seinen Kompagniekommandanten vorsätzlich und bewußt ins Gesicht geschlagen zu haben, hat mich zu seinem Verteidiger erwählt und ich habe diese Aufgabe übernommen, obgleich das Vergehen, dessen Schibunin angeklagt wird, zu denen gehört, welche das Band der militärischen Disziplin lockern und daher nicht vom Standpunkt des Verhältnisses von Schuld und Strafe betrachtet werden kann, sondern stets bestraft werden muß. Ich habe diese Aufgabe übernommen, obgleich der Angeklagte selbst sein Geständnis niederschrieb und die Tatsache zugab, die seine Schuld festlegt, also nichts mehr geleugnet werden kann und obgleich er Art. 604 des militärischen Strafgesetzes unterliegt, das nur eine Strafe für das Verbrechen kennt, das Schibunin begangen hat.

Diese Strafe ist der Tod, und es scheint daher, daß das Schicksal des Angeklagten in nichts erleichtert werden kann. Aber ich habe diese Verteidigung übernommen, weil unser Gesetz von einem Geist getragen ist, der die Begnadigung von zehn Schuldigen lieber sieht, als die Verurteilung eines Unschuldigen. Dieser Geist verlangt alles, was die Gnade gewähren kann, und darum ist es keine leere Formel, wenn unser Gesetz bestimmt, daß kein Angeklagter ohne Verteidiger vor Gericht erscheinen soll, d. h. ohne die Möglichkeit, wenn nicht der Verteidigung, so doch der Erleichterung seines Schicksals. In der Überzeugung, daß diese Formalität etwas bedeutet, trete ich an die Verteidigung heran. Meiner Überzeugung nach ist auf den Angeklagten Art. 109 und 116 anzuwenden, wonach eine geringere Strafe einzutreten hat im Falle von Stumpfheit und Dummheit des Angeklagten und Unzurechnungsfähigkeit infolge nachgewiesener Sinnesverwirrung.