THE ART OF THE STRAIGHT LINE - Lou Reed - E-Book

THE ART OF THE STRAIGHT LINE E-Book

Lou Reed

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Beschreibung

Lou Reed ist eine musikalische Legende, eine wahre Ikone des Rock 'n' Roll. Weniger bekannt ist, dass Reed neben der Musik noch eine zweite große Leidenschaft hatte: über 30 Jahre praktizierte er Tai Chi. Dieser Kampfsport war eine treibende Kraft in seinem Leben, gerne teilte er seine Erfahrungen mit Fans und Freunden. Tai Chi hat sein Leben verändert – und vermutlich gerettet. In diesem Buch, herausgegeben von seiner Ehefrau Laurie Anderson, selbst stilbildende Musikerin und Künstlerin, finden sich Originaltexte von Lou Reed sowie Stimmen seiner Freunde und Weggefährten, darunter Iggy Pop, Julian Schnabel, Tony Visconti, Black-Swan-Regisseur Darren Aronofsky, A.M. Homes, und Tai-Chi-Meister Ren Guangyi sowie bisher unveröffentlichtes Bildmaterial.

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Seitenzahl: 423

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Der Gründer des Tai Chi, Chen Wangting (sitzend), mit seinem Freund und Schüler Jiang Fa, spätes 15., frühes 16. Jahrhundert

Aus Chen Xins Illustrated Explanations of Chen Family Tai Chi Chuan, 1933

Zum Buch

»The Art of the Straight Line« lässt uns teilhaben an der Energie von Lou Reeds Welt des Tai Chi, der Musik und der Meditation. Herausgegeben wurde es von seiner Frau, der Künstlerin Laurie Anderson, zusammen mit Stephan Berwick, Bob Currie und Scott Richman.

Lou Reed war Musiker, Sänger, Songschreiber, Dichter und Gründungsmitglied der legendären Rockband The Velvet Underground. Er arbeitete mit zahlreichen Künstlern zusammen: von Andy Warhol und John Cale bis zu Robert Wilson und Metallica. Auch als Solokünstler war Reed wegweisend, seine Karriere erstreckte sich über fünf Jahrzehnte bis zu seinem Tod im Jahr 2013.

Reed war auch ein versierter Kampfkünstler, der seit den 80er Jahren Tai Chi praktizierte. Er war Schüler von Chen-Tai-Chi-Pionier Meister Ren GuangYi. »The Art of the Straight Line« bietet eine umfassende Sammlung von Reeds Schriften über Tai Chi sowie Gespräche mit Reeds Musikerkollegen, Künstlern, Freunden und Tai-Chi-Praktizierenden, darunter Julian Schnabel, A.M. Homes, Hal Willner, Yongey Mingyur Rinpoche, Eddie Stern, Tony Visconti und Iggy Pop.

Zu den Autoren

LOU REED war ein Musiker, Sänger, Songschreiber und Dichter. Er war Gitarrist, Leadsänger und Songschreiber der Band The Velvet Underground und hatte eine legendäre Solokarriere, die sich über fünf Jahrzehnte erstreckte. Er starb im Jahr 2013.

LAURIE ANDERSON ist eine weltweit gefeierte Musikerin, bildende Künstlerin, Komponistin, Dichterin, Filmemacherin und Sängerin. Sie lebt in New York City.

Lou Reeds schriftlicher Nachlass befindet sich in der New York Public Library for the Performing Arts.

NYPL.ORG/LOUREED

Lou praktiziert Tai Chi im Jenseits

© Ramuntcho Matta, Aquarell, 2016

THE ART OF THE STRAIGHT LINE

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel»The Art of the Straight Line« bei HarperOne, An Imprint of HarperCollinsPublishers, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2023 by Lou Reed und Laurie Anderson

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München,

nach einem Entwurf von Stephen Brayda

Coverfoto: © Jean-Baptiste Mondino

Buchgestaltung von Yolanda Cuomo

unter Mitarbeit von Bobbie Richardson

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29675-9V001www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Beim täglichen Training auf dem Dach mit Blick über den Hudson River

© Ren GuangYi

INHALT

MEINTAICHI

VORWORT

EINBUCHSCHREIBEN

KAPITEL 1 –WASISTTAICHI?

The Chinese say you meet the hard with the soft, the yin with the yang,the down with the up

KAPITEL 2 –ANFÄNGE

Doin’ the things we want to

KAPITEL 3 –TRAINING

I’m beginning to see the light

KAPITEL 4 –DASDORFDERCHENS

The earth has changed its course

KAPITEL 5 –RENGUANGYI

The power of the heart

KAPITEL 6 –MEDITATION

Life’s like Sanskrit read to a pony

KAPITEL 7 –TAICHIUNDKUNST

Caught between the twisted stars, the plotted lines the faulty map

KAPITEL 8 –TAICHIAUFTOUR

Hey man, what’s your style?

KAPITEL 9 –TAICHIINDERÖFFENTLICHKEIT

You just say »go« and that is that, I’m a New York City man

KAPITEL 10 –MEISTERSCHAFT

I accept the new found man, and set the twilight reeling

DIEHERAUSGEBER

NACHWORT

NACHWEISE

BILDTEIL

Lou am Telefon

© Ren GuangYi

MEIN TAI CHI

Im Laufe der Jahre wurde ich immer wieder gefragt: Wie bleibst du nur so gut in Form? Was tust du für deinen Rücken? Die Knie? Diverse Gelenke, die im Alter die Elastizität verlieren? Die Antwort? Die vier Wahrheiten des geistig Edlen: das Leiden, die Ursache des Leidens, das Ende des Leidens und der Pfad des Ausübens, der zum Ende des Leidens führt.

Leben ist also leiden. Wir alle altern. Wir alle wissen das. Wir sehen, wie unsere Eltern, unsere Freunde welken, von der Zeit niedergestreckt. Ich habe miterlebt, wie meine Cousine Shirley das im Alter von 102 Jahren erduldete. Sie sagte, es war zu viel. Sie wünschte, es wäre vorbei gewesen. Ich fragte sie nach ihrem Geheimnis, die endlosen Schmerzen auszuhalten, die Krankenhäuser, dass sie nichts mehr sehen konnte – Makula-Degeneration. Mit scharfem Verstand antwortete sie: »Was kann man denn schon tun?« So ihre spezielle Lebensweisheit.

Leute fragen mich nach dem Altern, weil sie wissen, ich sollte eigentlich nicht mehr hier sein – ein Musterbeispiel für leichtfertigen Exzess. Trotzdem bin ich da und achtundsechzig Jahre alt.

Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren lerne ich Tai Chi. Die ersten fünfzehn Jahre als Vorbereitung auf die darauffolgenden Abenteuer mit meinem Lehrmeister Ren GuangYi.

Ich hatte ein Video von Meister Ren gesehen. Also machte ich mich auf, um ihn kennenzulernen, in seinem gemieteten Studio gegenüber vom Public Theatre. Jeder, der ihn traf und sich für diese Kunst interessierte, wurde sein Schüler. Wir alle. Ich wollte seine Technik explosiver innerer Kraft erlernen: Fajin. Wenn ich nicht auf Tour bin, übe ich sechs-, siebenmal die Woche für jeweils zwei Stunden. Gemeinsam mit Meister Ren habe ich an allen möglichen Orten Tai Chi gezeigt, von der Carnegie Hall bis zu den Stufen des Opernhauses von Sydney, wo wir vergangenen Frühling ein Seminar gaben.

Tai-Chi-Übungen und -Demonstrationen bei dem von Lou und Laurie kuratierten Vivid Festival in Sidney, 2010

© Mark McGauley

Wenn ich auf Tour bin, begleitet mich mein Tai Chi. Ich möchte hier nicht allzu blumig werden, aber ich erwarte vom Leben mehr als ein Goldenes Album und Ruhm. Ich will reifen wie ein Krieger. Ich will die Kraft und die Anmut, die ich nie zu lernen imstande war. Meister Rens Lehrer Chen Xiaowang erklärte mir, Tai Chi würde mich beschützen. Aber wie?

Weil uns Tai Chi mit der unsichtbaren Kraft – ja, wirklich – der unsichtbaren Kraft des Universums verbindet. Das Beste aller Energien wird verfügbar, und Körper und Geist werden zu einer unsichtbaren Macht. Mein Tai Chi hat meinen Körper beschützt. Verändere deine Energie; verändere deinen Geist. Man besitzt mehr Fähigkeiten, als man ahnt. Das unerforschte Leben und all das.

Man braucht keine Ausrüstung. Mein Lehrer hat Formen (eine Abfolge einstudierter Bewegungen) erschaffen, die man auch in einem Apartment mit wenig Platz ausführen kann. Diese Übungen nennen sich Compact Tai Chi.

Ich möchte nicht allmählich in die Fett-und-senil-Lethargie hinübergleiten. Das geht besser, auch wenn unsere Kultur es uns nicht leicht macht. (In anderen Ländern wird Kampfkunst oder Meditation in der Schule unterrichtet. Wir lehren Werken. Das Leben der Uninspirierten.) Tai Chi ist darüber hinaus eine Kampfkunst beispielloser Raffinesse. Eine Methode zur Erhaltung von Gesundheit und physischer Tüchtigkeit. Meister Ren war in Tai Chi Chuan (chinesisches Schattenboxen) Schwergewicht-Champion. Er ist ein großer Künstler und Lehrmeister. Sein Tai Chi sollte an Universitäten, öffentlichen Schulen und Krankenhäusern gelehrt werden. Um die Haltung zu korrigieren und Knie und Rücken zu schonen und zu stärken. Die Geschichte von Meister Ren ist eines Spielfilms würdig. Vielleicht ein andermal.

Ich würde mir wünschen, möglichst viele davon zu überzeugen, ihr Leben zu ändern und ihren Körper und die Seele zu retten. Ich weiß, das klingt zu gut, um wahr zu sein. Aber mal ganz ernst: Tai Chi – warum nicht?

— LOU REED, AUS DEM ORIGINALBRIEF, VERÖFFENTLICHT IN DER NEW YORK TIMES AM 26.OKTOBER 2010

Lous Notizen für das Buch, 2009

© Lou Reed

VORWORT

Der Titel The Art of the Straight Line ist typisch Lou. Tai Chi besteht aus Kreisen, Kreisen innerhalb von Kreisen. Was also ist da gerade? Tja, das ist die Kunst daran! Wie man sich in Kreisen bewegt, ohne die eigene Richtung und das übergeordnete Ziel zu verlieren.

Lou liebte es, über Tai Chi zu sprechen, und er war ein begeisterter Lehrer. Er freute sich darauf, dieses Buch zu schreiben, und er hatte eine Menge Ideen und schmiedete eine Menge Pläne. Doch es kam zu viel dazwischen, und das Buch, mit dem er 2009 angefangen hatte, blieb als verstreute Notizen zurück, als er 2013 starb.

Zu Beginn des Projekts nannten wir uns »die Herausgeber«. Wir stammen aus sehr unterschiedlichen Welten. Scott Richman hat mit Lou gearbeitet und tourte mit ihm, Bob Currie verbrachte seine Zeit mit ihm als Freund, Stephan Berwick – Kampfkünstler chinesischen Stils und Schriftsteller – war ebenfalls Lous Freund, und ich war einundzwanzig Jahre seine Partnerin. Gemeinsam machten wir uns daran, dieses Buch zusammenzustellen.

Glücklicherweise hatte Lou viele Tai-Chi-Mitschüler und Freunde. Lous eigene Worte ergänzend, tragen ihre Stimmen und Ansichten zur Vielfalt und Tiefe dieses Buches bei. Ich selbst habe sehr viel aus den Interviews gelernt, die wir geführt haben. Uns Herausgebern verschlug es geradezu die Sprache, wie viele Menschen sich Lou besonders nahe fühlten. Er war der beste Freund vieler Menschen. Einer von Lous überragenden Songs heißt »I’ll Be Your Mirror«. Beobachten, Verstehen und Mitfühlen gehörten zu seinen größten Gaben.

I’ll be your mirror. Reflect what you are.

in case you don’t know.

I’ll be the wind, the rain and the sunset.

The light on your door to show that you’re home.

Anfangs hatten wir nicht vor, für dieses Projekt mit vielen Menschen zu sprechen, aber jedes Interview fügte dem immer facettenreicheren Porträt eine weitere Note hinzu. Trotzdem ist Lou der eigentliche Autor dieses Buchs. Wir betrachten es sowohl als eine hilfreiche und konkrete Anleitung nach dem Motto »How to …« als auch als ein spannendes Bild einer Seite von Lou, die viele nicht kennen.

Lou wollte ein Buch schreiben, das die Menschen inspiriert, Tai Chi zu lernen und zu praktizieren. Er zeigte den Leuten häufig Bewegungen, korrigierte ihre Haltung und gab Ratschläge, wie sie sich bewegen sollten. Uns allen fehlt seine Stimme – urkomisch und todernst zugleich. Als Autor dieses Buches wendet er sich so unmittelbar wie möglich an seine Leserschaft. Wir hoffen, dass diese Zusammenstellung die Dringlichkeit, die Verbindlichkeit und den Sinn für Humor in seiner Stimme wiedergibt, und alle Leser im Laufe des Buches einen Zugang zur Tiefe von Tai Chi finden.

LAURIE ANDERSON

Lou macht sich Notizen zu Tai-Chi-Formen

© Ren GuangYi

EIN BUCH SCHREIBEN

A. M. HOMES

Autorin und Professorin für Creative Writing an der Princeton University

SCOTT RICHMAN: Die Arbeit an diesem Buch begann 2009. Lou fiel es damals nicht leicht, es auf den Weg zu bringen, und darum bat er um deine Hilfe. Wir kennen diese E-Mail.

STEPHAN BERWICK: Deine E-Mail hat uns tatsächlich sehr geholfen.

A. M. HOMES: Lou und ich haben häufig über kreative Prozesse gesprochen – wie macht man etwas, beziehungsweise wie schafft man etwas. Aber ich habe keine Ahnung, was ich zu ihm gesagt habe. Wenn ich mich an etwas erinnere, dann an seine Fragen, wie man Themen strukturiert, ausgestaltet und womit anfangen. Er sprach mit mir über Tai Chi, und oh, das klang kolossal. Tai Chi hatte ihn gerettet. Es war wirklich zentral für sein Wohlempfinden, seine Selbstkontrolle, das Bewusstsein für einen Ort, den es zu entdecken galt. Ich glaube, er fand Stärke und Energie und Ruhe in Tai Chi. Darüber hinaus gefiel es ihm, andere Menschen dafür zu gewinnen. Einfach wenn jemand das spannend fand, bedeutete ihm ungeheuer viel. Und er liebte es, zum Unterricht zu gehen, und ihm gefiel die Bandbreite der Leute, die ebenfalls dabei waren. Das war letztlich der Kern seines persönlichen Engagements. Und er fragte mich um Rat, wie man das in einem Buch formulieren könnte.

LAURIE ANDERSON: Könntest du uns bitte deine E-Mail an Lou vorlesen?

A. M.: Okay. »Anmerkungen für Lou. Lehrer, denk an Fragen. Mach ein ganzes, detailliertes Interview. Betr.: Wie er gesundheitlich zurechtkommt, mit seinen Gefühlen, seinen Kräften. Andere Lernende, was bedeutet ihnen das Training, ihre Lebensläufe, wie sie an diesen Punkt gekommen sind. Schreib davon, frag das ab. Lehrer ist Mentor. Schwachstellen. Warum lehren? Was bedeutet es, das weiterzugeben? Konzentration, die Beherrschung der Energie, wie man beim Training lernt, sich zu öffnen und dann anzuspannen, wie das ebenfalls für Entscheidungsfindung, den Umgang mit Ärger, die Gewohnheiten der Lernenden, die Entwicklung im Laufe der Zeit, die persönliche Veränderung und die Veränderung des Trainings gilt.«

LAURIE:Wir halten uns so weit wie möglich an deine Gliederung.

A. M.: [Liest weiter aus der Mail vor.] »Lou, schreib es in deinen eigenen Worten. Sei wie eine Kamera in Zeitlupe. Verwende deine Sprache, um das Lernen zu beschreiben. Geh gedanklich damit um wie mit einem langen Gedicht oder einem langen Songtext. Ich hab dir das schon eine Million Mal gesagt, hör heute einfach auf mich. Körperlich und ästhetisch aufregend, das könnte dein Leben verändern. Wie? Mach eine Liste mit zwanzig Punkten, ohne darüber nachzudenken. Und wenn du das immer wiederholst, passiert es nach einer Weile wie von selbst. Was bedeutet es, kampfbereit zu sein? Große Kraft in Reserve zu haben? Sitzen, so kann man nicht sitzen, so ist man nicht bereit.« Lou hat auch viel über Positionen gesprochen. Und manchmal griff er einfach rüber und schubste einen. Nur um dich umzuwerfen! Um dir zu beweisen, dass du einfach noch nicht bereit warst. Ich meine … wirklich? Darum geht es in dieser Mail.

[Liest weiter aus der Mail vor.] »Lou, deine Biografie, deine persönliche Geschichte rund um Tai Chi. Wann hast du damit angefangen? Wo standest du zu der Zeit? Wie sah dein Leben zu der Zeit aus? Wo hast du zum ersten Mal trainiert? Die frühen Lehrer. Was hast du gelernt? Gab es Unterbrechungen im Training? Was vom Training hast du mit auf Tour genommen? Wie sich dein Leben verändert hat. Wie du dich verändert hast.« Und hier ist ein Zitat [aus Lous Antwort-Mail]: »Ich mag Kampfkunst-Leute. Die sind gradlinig. Man weiß, sie haben das auch durchgemacht. Du musst dich vor den Klugscheißern in Acht nehmen – sobald die dir etwas gezeigt haben, tun sie dir weh.«

Er war sich eben dessen genau bewusst: Dass Menschen einander körperlich verletzen können, und was für eine Dummheit das ist. Die Dummheit, eine Bewegung zu machen, um zu zeigen, dass man seine eigenen Grenzen überschreitet. Und er sah einen an und lachte. »Ich könnte dich umbringen. Aber ich entscheide mich, es jetzt nicht zu tun.«

Lou besaß einen unglaublichen Sinn für Humor. Mitten in einem sehr ernsten Thema brach er in schallendes Gelächter aus. Was ihn meiner Meinung nach von einer Menge anderer Tai-Chi-Schüler unterscheidet, weil die nicht immer lachen. Er nahm sich schon ernst, aber da war immer eine Lücke, die für einen guten Witz aufgerissen werden konnte. Lou antwortete [in seiner Mail]: »Praktisch umsetzen, aufgrund von Stärke und Selbstvertrauen. Leute, die das spüren, können mich nicht umhauen.«

[Liest weiter vor] »Abschnitte deiner Geschichte, der Geschichte deines Lehrers. Überleg dir zehn oder fünfzehn Fragen, die du jeder Person stellen möchtest. Frag: ›Welches Geheimnis willst du mir nicht verraten? Wovor hast du am meisten Angst? Was treibt dich an?‹ Offene Fragen über das Leben, das Ziel, Sehnsüchte, Können. Wie sie bekommen, was sie sich vornehmen. Lernen zu handeln und der eigenen Intuition zu vertrauen.« Und dann: »Schau dir Lou Reed an, der jetzt nicht mehr zittert. Der Gegensatz zwischen dem, der du warst, und dem, der du geworden bist. Deine eigene persönliche Reise.« Und dann ist da noch diese große leere Seite, die Lou nicht ausgefüllt hat [in seiner Antwort].

Wenn wir über Tai Chi sprachen, sprachen wir über das Gefühl von Beherrschung und Kontrolle, und wenn Lou darüber redete, hatte ich immer den Eindruck, dass es sich um etwas handelte, bei dem er sich selbst sehr nah kam. Und das ermöglichte ihm, andere Dinge zu steuern, die er ansonsten nicht so geschickt gesteuert hätte.

Er sagte immer: »Versuch doch mal, mit zum Training zu kommen. Begleite mich. Komm mit mir und Ren. Mach das. Du musst. Du wirst sterben, wenn du es nicht tust.« Es hieß bei ihm immer sofort. Nie später.

Und dann waren da unsere abenteuerlichen Pizza-Ausflüge. Für Pizza musste man bekanntlich weit gehen. Oder zu dieser Pizzeria im East Village, die nur so lange offen hat, bis alles verkauft ist.

LAURIE: Eine der Bewegungen im Chen Tai Chi, die 19er-Form – so eine wunderschöne Bewegung – nannte Lou »Delivering the Pizza«, Pizza-Austragen, und es sah wirklich so aus, einen Arm ausgestreckt, Handfläche nach oben, wie bei einem Koch in einem Cartoon, der einen heißen Kuchen trägt. Und dank des eingängigen Namens konnten sich die Leute die Bewegung leichter merken.

A. M.: Lustigerweise wurde Lou im Alter ein Foodie. Und als ich ihn kennenlernte, ging er mit dem Schriftsteller Oscar Hijuelos in Barolo-Bars. Mein Eindruck von Oscar war stets, dass er irgendwie kompliziert war, sehr spaßig und genauso melancholisch. Und ich glaube, er und Lou verstanden sich auf der Ebene. Die lustige, sich gegenseitig herausfordernde Seite, und dann diese andere Schicht.

LAURIE: Und sie liebten es, gemeinsam Boxen anzuschauen und Zigarren zu rauchen und letztendlich dazu überzugehen, langsame und traurige Stücke auf ihren Gitarren zu spielen.

Warum, glaubst du, hat er das Buch nicht fertiggeschrieben?

A. M.: Ich denke, das liegt an der Komplexität. Und das ist interessant, weil er es in seinen Songs immer hingekriegt hat. Aber es lag daran, dass es schwierig war, diese unglaublich tiefgreifenden und sehr persönlichen Anschauungen in Worte zu fassen. Nicht nur persönlich im körperlichen Sinn, sondern in einem größeren, philosophisch spirituellen Kontext. Und das in Sprache mit Struktur zu übersetzen, war schwer. Ich glaube, das erschien ihm so schwierig, weil es sich um etwas wahrhaft Empfundenes handelte.

LAURIE: Erkennst du in seinen Aufzeichnungen Tai Chi?

A. M.: Manchmal, was seinen Sinn für Bewegungen oder Rhythmus und die Fähigkeit anbelangt, beides gleichzeitig zu sein: schroff und nicht schroff.

STEPHAN: Wir sagten immer zu ihm: »Warum verwendest du nicht einfach die Diktierapp auf dem Handy und fängst einfach an reinzusprechen?« Und sogar das war schwer.

A. M.: Es geht nicht um diese Form von Sprache. Wir erschafft man die richtige Sprache, um über dieses Thema zu reden, und wie könnte Lou seine ganz eigene Sprache über Tai Chi erschaffen, ohne nur die rein physischen Bewegungen zu schildern, sondern sozusagen eine Sprache, die das in Worte fasst? Das ist etwas, das ich ihn gern fragen würde.

SCOTT(über Lous Stimme bei einer Veranstaltung, die Scott am Abend vor dem Interview gehört hatte): Lou formulierte ein paar Tai-Chi-Prinzipien, die wir den Unterlagen entnommen haben. Doch das gehörte zur Diskussion, dazu, etwas als Gruppe gemeinsam auszuarbeiten.

A. M.: Und ich muss sagen, als ich zugehört habe, wollte ich nicht aufschauen. Ich will einfach nur Lou hören. Ich möchte hier einfach nur stehen, während er da drüben spricht. So ungefähr. Er klang jung und kraftvoll und, so, ihr wisst schon.

LAURIE: Man vergisst, dass er in seiner letzten Lebensphase viele Höhen und Tiefen hatte, und dann Zeiten, in denen er wieder sehr stark war. Und er spricht zu uns aus dem Jenseits.

A. M.: Ich hasse es, wenn das passiert, aber ich glaube, er ist empfänglich für …

LAURIE: Lou hat früher ständig das Ouija-Brett benutzt. Also, was würdet ihr fragen, wenn wir jetzt ein Ouija-Brett hätten?

A. M.: Ich glaube, ich könnte mir einen ganz neuen Sound von Lou vorstellen. Wie ist der gesprochene Sound von Tai Chi? Was die Sprache?

LAURIE: Das hat er mit Musik umgesetzt. Und Ren und Lou haben gemeinsam eine Menge Zeichnungen gemacht – Diagramme, wie Tai Chi funktioniert. Das kam wahrscheinlich der Sprache am nächsten.

Doch noch einmal zurück zum Ouija-Brett. Was würdest du Lou fragen? Er ist mittlerweile schon fast fünf Jahre tot.

A. M.: Ich würde ihn fragen, woran er gearbeitet hat. Als du mir gerade die Zeichnungen gezeigt hast, die Darstellungsformen und die Art, wie Choreografen ihre Tänze markieren – ihre spezielle Ausdrucksweise. Es war die Choreografin Doris Humphrey, die dieses System erfunden hat. Aber was für eine Sprache ist Tai Chi? Wie zeigt man den Flow?

BOB CURRIE: Das war allerdings eine misslungene Sprache. Denn gezeigt wurde nur Fassade.

LAURIE: Nun, wenn man sich im Tai-Chi-Training Push Hands anschaut, erkennt man beinahe den Flow des Chi. Führt man sich das vor Augen, kann man sehen, wie es die Schulter hinunter und dann den Arm hinauf fließt und dann in den Arm des anderen und zurück. Man beginnt zu sehen, wie Energie fließt. Und Lou sagte gestern Abend im letzten Teil der Aufnahme etwas darüber, dass sein Kopf immer wieder die Konzentration verliert. Und er sprach darüber, dass jeder Mensch sehr individuell ist. Das macht er wirklich deutlich.

PUSHHANDSoder Tui Shou ist eine Partnerübung im Tai Chi.

SCOTT: Jeder Mensch drückt seine Energie anders aus.

LAURIE: So ungefähr. Ja, genau. Das ist mir wirklich aufgefallen, weil nicht irgendwer über das Chi doziert hat.

SCOTT: Er hat es wirklich mit Worten ausgedrückt, wenn er mit anderen Leuten sprach. Und sein Gitarrensound ließ mich das Chi spüren. Wenn er so etwas machte, konnte man es wirklich spüren.

A. M.: Aber liegt das daran, dass er manche Übergänge artikuliert hat?

LAURIE: Jede einzelne Note forderte irgendwie ihre eigene Aufmerksamkeit. Yeah. Es hatte seine Tücken. Oder, wie du meintest, sie waren nicht freundlich.

STEPHAN: Es hatte etwas leicht Provokantes an sich. Und dann hat es irgendwie etwas in den Leuten ausgelöst.

A. M.: Lou hat total verstanden, dass jeder seine eigene Energie besitzt. Und da waren Menschen, die andere Leute nicht mochten, aber Lou mochte sie. Und er mochte sie, auch wenn ihre Energie superkompliziert war. Er mochte sie so, wie sie waren. Und sogar, mir fällt kein besseres Wort ein, für ihre Hingabe an sich selbst.

LAURIE: Und dann war da seine unmittelbare Großzügigkeit. Wir gingen fast jeden Abend zu Shows, Filmen und Konzerten, und er fand immer etwas Gutes daran, während ich häufig nur Negatives sagen konnte.

A. M.: Stimmt. Stimmt. Für mich war das immer sehr spannend, denn er konnte so verschroben sein. Doch dann auch ein unglaublicher Optimist.

Aber zurück zum Tai Chi: Das Physische des Tai Chi vermittelte ihm sowohl körperliche Kraft als auch spirituelle, beziehungsweise kreative Weiterentwicklung. Ich kann mich daran erinnern, dass ich Lou oft in kurzen Hosen und mit ausgestreckten Armen gesehen habe! Es gab den öffentlichen Lou mit Sonnenbrille, aber für mich war Lou meistens, keine Ahnung, einfach der vollkommen normale Lou.

Als meine Tochter Juliet noch ganz klein war, sagte sie immer: »Lou, ich will hier lang.« Und Lou tat alles, was Juliet sagte. Und wenn wir in ein Restaurant gingen, sagte sie: »Ich wünschte, Lou wäre hier, denn dann hätte er uns …« Ihr versteht schon, oder? Aber lustig war, als sie ein Stück über den Tod von Lincoln geschrieben hatte. Und eines der Kinder, das Lincoln spielen sollte, wollte nicht mehr mitmachen, weil das Mädchen Angst hatte, dass die Kinder es nach seinem Tod wegtragen müssten und es fallen lassen könnten. Und Lou sagte: »Tja, ich komme und spiele Lincoln.« Und ich weiß noch, dass wir alle dachten: Das wäre wirklich lustig. Lou Reed – nur einen Abend – als Abe Lincoln in der vierten Klasse! Das war sehr Lou-typisch. »Ich werde da sein und für eine Stunde Lincoln sein!« Das wäre großartig gewesen. Besonders nachdem eine der anderen Schauspielerinnen, Mrs Lincoln, weinend davonlief, und ich für sie einspringen musste. Ja, ich vermisse ihn einfach.

LAURIE: Ist das nicht seltsam? Er ist schon seit so vielen Jahren tot.

A. M.: Das kommt mir gar nicht so vor. Ehrlich gesagt, habe ich das Gefühl, dass wir nur warten. Darauf warten, dass Lou zurückkommt. Ich höre oft und gern seine Stimme. Ich habe immer noch ein paar Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter.

STEPHAN: Als er zum ersten Mal die Idee für das Buch hatte, sagte er, Zen in der Kunst des Bogenschießens habe ihn inspiriert.

A. M.: Das ist ein Buch über kreative und spirituelle Risikobereitschaft.

LAURIE: Und über Ziele. Denn Lou hatte ein Ziel. Wie man in dieser tatsächlich kreisförmigen Struktur von hier nach da kommt!

SCOTT: Diese gerade Linie sieht bei jedem anders aus.

Lou beim Training zu Hause

© Ren GuangYi

KAPITEL 1 WAS IST TAI CHI?

The Chinese say you meet the hard with the soft, the yin with the yang,the down with the up

Ich habe mir Tai Chi oft als eine Art von körperlichem Einssein mit dem Universum selbst vorgestellt, eine eigenartige uralte Methode, die uns mit der grundlegenden Energiewelle unserer Existenz verbinden kann. Ich möchte nicht allzu mystisch rüberkommen, aber es passiert tatsächlich etwas mit einem, wenn man diese alte Kunst praktiziert. Wenn man es genauer wissen will, gibt es Geschichtsbücher über die Familien, die Schöpfer von all dem. Mir geht es eher darum, wie sich Tai Chi auf mich und meine Mitschüler auswirkt, die wir den Schmerz und die Praxis der Annäherung an diese Kunst durchlitten haben. Und es ist eine Kunst, wenn auch hier in den USA nur selten zu sehen. Martial-Arts-Filme anzuschauen, bringt nicht viel, denn die zeigen kein Tai Chi. Hier aber ist die Rede von der Kunst und der inneren Kraft des Tai Chi. Viele Leute reden von innerer Kraft, aber sie erreichen sie nie wirklich. Es geht immer um irgendeine Form äußerer Kraft, wie Bruce Lees One-Inch-Punch.Ich meine aber einen Null-Inch-Punch. Und nicht als Hieb mit dem Arm, sondern des gesamten Körpers – der Brust, des Ellbogens, des Hinterns, des ganzen Körpers zu jeder Zeit und überall.

Tai Chi befreit von Voreingenommenheit – Musik oder Tempo, diesem, jenem oder irgendetwas anderem. Ich finde, eine ziemlich ermächtigende Sache. Ich verwende das Wort »ermächtigen« nur ungern, aber es ist wirklich so. Denn es ist sehr, sehr hilfreich, um sich zu zentrieren, um die unterschiedlichen Formen von Disziplin zu erfahren, sei es Meditation, Körperarbeit, Tai Chi, Yoga, was auch immer. Beziehungsweise es gefällt mir, mich einfach die ganze Zeit treiben zu lassen, weil es die Außengeräusche in eine musikalischere Umgebung verwandelt.

— AUS LOUS NOTIZEN ZU TAI CHI

TONY VISCONTI

Rockmusik-Producer und langjähriger Tai-Chi-Schüler

Kampfkunst hat mir schon immer gefallen. Ich wollte lernen, mich selbst zu verteidigen. In der sechsten Klasse hatte ich einen tollen Lehrer, Mr Flanagan. Er erzählte uns vom Zweiten Weltkrieg und sagte: »In Asien habe ich einen Mann gesehen, der mit seinen bloßen Händen Baumstämme durchschlagen konnte.« Ich bin zwölf Jahre alt und sagte zu mir: »Ich muss unbedingt lernen, wie man mit bloßen Händen Baumstämme durchschlägt.« Mein Vater war Zimmermann, also hatte er Holz! Sofort fing ich damit an.

In den 1980er Jahren begann ich bei einem Lehrer namens John Kells Tai Chi zu lernen. Er hatte in Taiwan bei einem Dr. Chi Chiang-tao studiert, der dort Tai-Chi-Meister und Topstudent von Zheng Manqing (in New York lebender Experte für den Yang-Stil) war. Bei ihm drehte sich alles um Sanftmut. Man konnte ihn schubsen, man konnte versuchen, ihn zu schlagen, und so weiter. Er berührte einen kaum und man flog dennoch durch die Luft, bis man auf den Boden krachte. Das war ungeheure Kraft. Seine Lektionen in Sanftmut und Loslassen für Push Hands waren einfach herausragend. Bis zum heutigen Tag denke ich immer daran, was er mir beibrachte, wenn ich zu verspannt bin. Das war meine Einführung in Tai Chi, ich studierte fünf Jahre Yang-Stil mit Großmeister John Kells.

Lou habe ich kennengelernt, damals, als er mit David Bowie Transformer aufnahm, und auf dem Fußboden fast eingeschlafen war. David war in vollem Ziggy-Outfit. Lou hatte ich noch gar nicht entdeckt, da meinte David: »Oh, Tony, du musst Lou kennenlernen. Da ist er.« Also ging ich zu ihm rüber. »Hi, Lou.« Er blickte auf. »Hi, Tony.« Und dann schlief er weiter. Danach traf ich Lou immer wieder mit David, aber wir unterhielten uns nie.

Ich war auf einer Menge Veranstaltungen, wo Lou den total harten Hund gab. Aber er hat mich nicht beachtet. Oder er hat sich nicht mehr an mich erinnert. Das war, bevor wir gemeinsam Tai Chi lernten. All diese Schranken verschwanden mit Tai Chi. Ich glaube, in seiner ersten Zeit mit Tai Chi hat Lou den Großteil seiner Wut abgebaut. Bei Kampfkunst kann man nicht wirklich wütend sein. Den Luxus kann man sich nicht leisten. Und das ist etwas, das man je nach Lehrer schnell lernt.

Lou und Tony beim Pushing Hands

© Mark McGauley

2003 hatte ich wieder mit Lou zu tun. Ich produzierte gerade mit Bowie ein Album namens Reality. Er fragte: »Machst du immer noch Tai Chi?« Ich antwortete: »Ja, aber ich habe in New York bisher noch keinen Lehrer gefunden.« Ich war in Downtown bei ein paar Schulen gewesen, aber die wirkten irgendwie wenig einladend. Ich konnte erkennen, dass die Lehrer Meister waren, aber ich konnte auch erkennen, dass die Schüler, besonders die Nicht-Chinesen, nicht gut aussahen. Keine Ahnung, ob sie nicht richtig unterrichtet wurden oder ob sie einfach keine guten Schüler waren.

In London hörte ich von Chen-Tai-Chi, konnte aber kein Buch darüber finden. Später sah ich ein Tai-Chi-Buch, das ein nicht näher beschriebenes Bild eines Chen-Meisters enthielt. Das Buch beschrieb knapp den Chen-Stil. Alles, was ich davon gehört hatte, war, dass man dabei sprang, man machte Jump Kicks, was laut meinem Yang-Tai-Chi-Lehrer Kells falsch war – die Füße sollten niemals den Boden verlassen; springen ist nicht erlaubt. Laut Großmeister Kells war das kein Tai Chi. Er hatte eine ganz eigene Auffassung davon, was Tai Chi sein sollte. Es sollte meditativ sein; es sollte friedlich sein; man kämpft nur, um sich zu verteidigen – so in etwa.

Bowie meinte: »Warum sprichst du nicht mit Lou. Er scheint sich mit Tai Chi ziemlich gut auszukennen.« Lou sagte: »Yeah, Tony, du musst mal zu ’nem Kurs mitkommen.« Und weiter: »Der Typ ist echt gut.« Und ich ging da hin, denn ich fand Großmeister war auch echt gut, aber eben eine andere Schule. Ich habe mir den Kurs angeschaut. Ich habe Ren gesehen und mich sofort in ihn verliebt. Ich glaube nicht mal, dass Lou an diesem Abend dort war. Ren ist dermaßen selbstsicher, und er besitzt eine gute innere Haltung. Er hat einen guten Sinn für Humor.

Meister Ren sagte zu mir: »Oh, du bist ein Freund von Lou?« Und ich sagte: »Ja, das stimmt.« Er hatte mich schon erwartet, und ich habe mich sofort für den Kurs angemeldet. Ich erkannte, Chen war, was mir gefehlt hatte. Bei meinem Background mit anderen Kampfsportarten brauchte ich ein bisschen mehr Action als das Yang-Tai-Chi, das ich gelernt hatte. Die Bewegungen und die explosive Energie ergaben Sinn, als ich Meister Ren die Formen ausführen sah. Die Yang-Lektionen werde ich niemals vergessen, aber mir gefällt der Chen-Stil, weil das wie ein Workout ist. Und ich besser verstehe, wie Tai Chi funktioniert. Die niedrige Haltung ist wirklich gut für mich. Ich war sofort begeistert. Und dann war es schön zu sehen, wie fortgeschritten Lou war. Er hatte vor mir angefangen. Lou erzählte, dass sein Eagle-Claw-Lehrer, Leung Shum, auch ein Tai-Chi-Meister im Wu-Stil war. Irgendwann warf er Lou mühelos um und Lou fragte ihn: »Was war das?« Leung Shum antwortete: »Tai Chi.«

In Rens Gruppe zu sein, hat mein Leben verändert – das Ende von über zehn Jahren Suche nach dem richtigen Kurs. Ich hatte mehr oder weniger aufgegeben. Nach etwa einem Jahr Training wurden meine Beine unglaublich stark. Ren sagte immer: »Du hast zwei Herzen. Eines in deiner Brust und das andere ist in deinen Beinen.« Doch ich fühlte manchmal seltsam, weil ich einen anderen Tai-Chi-Stil gelernt hatte. Wenn ich die beiden Stile verglich, war ich hin- und hergerissen. Während meines ersten Jahrs mit Ren musste ich eine Menge meiner Einstellungen ändern, meiner Vorstellungen – im Grunde war ich ununterbrochen gereizt. Kells meinte, es gibt immer einen Ausweg. Doch als mich Ren das erste Mal packte, dachte ich, wo zur Hölle ist bloß der Ausweg, von dem Kells sprach? Es schmerzte furchtbar. Aber das war der Initiationsritus, durch den alle Studenten durchmussten – man musste die Kraft von Chen Tai Chi erleben. Wenn Meister Ren nach Freiwilligen fragte, um eine Demonstration dieser Kraft zu geben, konnte man sehen, wie manche der Schüler ein oder zwei Schritte nach hinten machten.

Die Tai-Chi-Hand ist gewölbt, das ist die natürliche Haltung. Außerdem habe ich gelernt, dass Tai Chi nicht durch einen angespannten Körper fließt. Körper und Geist müssen entspannt sein, aber nicht schlaff, sondern im Yin-Modus. Die Muskeln müssen entspannt sein, damit das Chi durch den Körper fließen kann. Darin liegt der Beginn des Erkennens der inneren Stärke. Du lernst, die verschiedenen Schichten der Spannung zu lösen und Kraft von einer tieferen Quelle zu finden.

Ich habe auch die Alexander-Technik erlernt. Tai Chi und die Alexander-Technik – ein von Frederick Matthias Alexander (1869 – 1955) entwickeltes Haltungstraining – sind sich vom Prinzip her sehr ähnlich. Man bewegt sich nicht gegen den Strich. Der Körper ist auf eine bestimmte Weise gebaut. Folgt man Energielinien im Körper, kann man alles tun. In meinen frühen Erwachsenenjahren litt ich unter Ischiasschmerz. Körperlich besaß ich zwei Leben. Das eine, wenn ich Tai Chi machte. Ich war entspannt. Ich war in Harmonie. Ich machte alles richtig. Und in dem anderen machte ich eine falsche Bewegung und hatte monatelang Schmerzen. Ich ging zu Chiropraktikern, Osteopathen und so weiter. Eines Tages, auf dem Weg der Genesung, war ich in der Buchhandlung Foyles in London. Vom Wühltisch flog ein Buch direkt auf meinen Fuß! Es handelte von der Alexander-Technik. Auf den ersten Seiten las ich, dass man nicht von Natur aus einen schwachen Rücken hat. Aber durch täglich unbewusst falsch ausgeführte Bewegungen schadet man sich selbst. Das Erste, was ich bei der Alexander-Technik lernte, war, dass man nie weiß, wie man richtig sitzt oder steht. Nach einer Weile führen dein gequälter Körper und der Schmerz dich zu einem Arzt, um Medikamente zu bekommen. Das leuchtete mir komplett ein, denn das letzte Mal, als mir der Rücken lange weh tat, hatte mir meine Frau in einem Restaurant unseren Säugling über den Tisch gereicht, und ich hatte mich weit vorgebeugt, um ihn entgegenzunehmen. Er wog ungefähr zwölf Pfund. Und mein Rücken machte »ping«, dieses Gefühl im Ischiasnerv. Ich hatte ziemlich oft schlechte Phasen, dann brauchte ich zwanzig Minuten, um aus dem Bett zu kommen.

Ich benutzte Tai Chi nicht in meinem Alltag und war nicht sehr verantwortungsvoll und wenig bewusst. Ich ging zu meinen ersten fünf Alexander-Technik-Stunden und kapierte. Heureka! Es war die ganze Zeit da, aber ich hatte es nicht richtig angewandt. Das gleiche Prinzip wie beim Tai Chi. (Du bewegst den Kopf gen Himmel, und die Füße sind fest am Boden verwurzelt.) Alexander entdeckte Tai-Chi-Prinzipien im frühen 20. Jahrhundert für sich allein im abgelegenen Tasmanien, ein Schauspieler, der oft unter Schmerzen litt. Als ich mein Tai Chi und meine Alexander-Technik miteinander verknüpfte, verbesserte sich meine Gesundheit.

Tai Chi ist wunderbar, denn es bietet drei Wohltaten. Die Wohltaten der Gesundheit. Die erste offensichtliche Wohltat: Man praktiziert die Formen langsam, um den Körper zu kräftigen und den inneren Organen eine Massage zu geben. Die zweite, mindestens ebenso wichtige, liegt darin, dass es eine Art der Meditation ist. Lou und ich waren davon fasziniert. Der Geist wird sehr ruhig, sehr entspannt. Die Standing-Mountain-Position hilft dir, Spannungen im Körper zu spüren und zu minimieren. Nummer drei ist, man lernt, sich selbst zu verteidigen. Das ist möglicherweise nicht für jeden wichtig, aber es ist da, es ist sozusagen eingebaut. Diese Formen sind schwerer zu erlernen als Karate und ähnliche Kampfsportarten. So ist vielen Menschen, die mit Tai Chi anfangen, gar nicht bewusst, dass es sich um eine Kampfsportart handelt, weil es so langsam ausgeführt wird. Natürlich könnten sich Experten wie Meister Ren mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, wenn sie sich verteidigen müssten. Aber es ist nicht erforderlich, die Selbstverteidigungselemente des Tai Chi zu erlernen, um von den Gesundheits- und meditativen Aspekten zu profitieren.

STANDINGMOUNTAINoder Standing Post ist die grundlegende Übung im Stehen, um die richtige Stärke in der Struktur aufzubauen und den Energiefluss zu optimieren.

In Meister Rens Kurs trainierten wir zu traditioneller chinesischer Musik. Eines Tages kam Ren mit einer Kassette herein und sagte: »Lou hat etwas für uns geschrieben.« Ich dachte, o mein Gott. Was wird das? Es war ein stundenlanges auf dem Synthesizer gespieltes tiefes Brummen, mit wellenartigen Tönen darüber. Als ich es zum ersten Mal hörte, wusste ich nicht so recht etwas damit anzufangen. Tatsächlich verschwand jemand aus dem Kurs, nachdem er das Stück gehört hatte! Das war nicht das traditionelle Ding! Schließlich erkannte ich, dass es aus Lous Herzen kam. Es rührte von seinen intensiven Tai-Chi-Studien. Und ich hätte es besser wissen müssen. Wir praktizieren nun seit einigen Jahren zu Lous Musik.

Tony Visconti

© Mark McGauley

Meister Ren und Lou gemeinsam auf der Bühne zu erleben, war eine Offenbarung. Ren performte die Tai-Chi-Übung Broadsword zu The Raven. Ich bin sicher, nicht wenige Leute haben mit Tai Chi angefangen, nachdem sie das auf der Bühne gesehen haben.

Lou und ich haben sehr viel gemeinsam trainiert. Wir haben intensive Seminare bei Großmeister Chen Xiaowang und Meister Chen Ziqiang besucht. Lou war oft mein Trainingspartner, und wir haben über alles gesprochen. Im Unterricht haben wir uns gegenseitig korrigiert. Lou wollte immer gern unterrichten, und Meister Ren erkannte das.

In den Fortgeschrittenenkursen bat Ren Lou oft, mir den Stoff beizubringen, den ich verpasst hatte. Und er war derart geduldig, weil er in diesen Kursen viel Privatunterricht mit Ren gehabt hatte. Ren unterrichtete Lou eine halbe Stunde lang vor dem Unterricht. Lou zeigte mir genau, was ich verpasst hatte, und hörte nicht auf, bis ich es verstanden hatte. Lou war immer da. Er war ein wahrer Mitschüler, und sogar beim Mittagessen war er einfach einer von uns Schülern.

Wir beide wohnten nur ein paar Blocks voneinander entfernt und häufig, wenn ich auf meinem Dach Tai Chi übte, befand er sich mit Meister Ren auf seinem. Dann rief Ren an und sagte: »Lou und ich sind hier. Wink mal«, und das tat ich dann. Ren winkte mit seiner Jacke. Lou schaute rüber und sagte: »Ich kann Tony sehen!« Wir trainierten synchron. Ich habe Lou nie dafür gedankt, dass er mich in den Kurs geholt hat. Aber wir wurden Tai-Chi-Brüder.

Lou und ich lebten das wilde Rock’n’Roll-Leben der 60er und 70er Jahre. Dass wir später im Leben Tai Chi entdeckten, half uns beiden, zu heilen und länger zu leben, es hat uns einige Extrajahre geschenkt.

Viele Menschen dieser Generation starben vor der Zeit. Die Kampfkünste haben mir körperlich und geistig das Leben gerettet. Tai Chi ist ein Lebensretter. Wenn man Tai Chi regelmäßig praktiziert, beschert es einem gute Gesundheit und tägliche Heureka-Erlebnisse, das plötzliche Verständnis für eine Form. Meine Arbeit als Plattenproduzent und Musiker war dank meiner täglichen Übungen nie besser. Tai Chi ist das beste High, das ich je erlebt habe.

RAMUNTCHO MATTA

Musiker, Künstler, Tai-Chi-Anhänger und Gründer des französischen Kulturzentrums Lizières

Lou erinnerte sich nicht daran, aber ich bin ihm erstmals 1979 in New York zusammen mit William Burroughs begegnet. Das war in einem Restaurant am Union Square, unterhalb vom Warhol Studio auf der rechten Seite, gegenüber vom Warhol Building. Wir saßen in dem Restaurant, schauten aus dem Fenster, und William sagte: »Merkt ihr das? Man kann die Energie der Leute erkennen.« Und Lou meinte: »Natürlich.«

Das war eine ziemlich magische Erfahrung, denn William lernte das in Mexiko und in Marokko, doch Lou empfand genau das Gleiche. Sie waren sich ebenbürtig. Daran habe ich Lou später erinnert, als er ein Konzert in Lyon gab, und wir viel Zeit in den Fitnessräumen von Hotels verbrachten. Und ich denke, um diesen Aspekt von Lou herauszuarbeiten, muss man echt Detektivarbeit in der Vergangenheit leisten. Aber auch Detektivarbeit in der Zukunft.

Bei einem unserer letzten Gespräche weinte Lou, weil er meinte, wie dumm es von ihm gewesen war, so viel Zeit seines Lebens damit zu verbringen, sich selbst zu zerstören, anstatt zu entdecken, was er entdeckte und was er berührte.

Ramuntcho Matta und Lou

© Ramuntcho Matta

Das war 2011 in Paris. Er wollte nach Lizières kommen. Und wir gingen zu Jean-François Masson, einem Homöopathen. Ich wollte Lou mit dem Motorrad mitnehmen, doch er lehnte ab. Er sagte, er sei selbst Motorradfahrer und würde niemals hinten mitfahren. Er hatte zu viel Angst. Wir kamen zu dem Arzt. Lou fühlte sich sehr krank. Ich übersetzte alles für ihn.

Masson war eigentlich Krebsarzt. Dann entdeckte er, wie die Medizin der späten 1970er Jahre den Körper zerstörte. Darum verbrachte er zwei Jahre im mexikanischen Hochland, um schamanische Heilmethoden zu erlernen. Danach studierte er fünf Jahre in China. Er praktiziert noch heute und pflegt seltsame Fragen zu stellen, wie etwa welche Farbe hat Kälte für dich? Wie riecht Traurigkeit?

Mit Lou war ich dreimal bei Masson, jeweils bei verschiedenen Frankreich-Reisen. Und hier berichte ich vom letzten Mal. Lou war sehr krank. Normalerweise erstellte Masson ein ganzes Paket für Lou, mit einer Menge Heilkräutern und unterschiedlichen Dingen und so weiter. Diesmal gab er ihm nur eine kleine homöopathische Sache und das funktionierte. Lou rief mich einen Tag später an und meinte: »Wow, Ramuntcho, das ist großartig. Keine Ahnung, was in diesem blöden kleinen weißen Ding ist, aber ich fühle mich hundert Prozent besser.«

Und er weinte viel. Er wusste, hätte er weniger Zeit damit zugebracht, sich selbst zu zerstören, könnte er ganz anders drauf sein. Und wir stritten ein wenig, weil wir nicht die gleichen Ansichten zu Tai Chi teilten. Er betrachtete immer noch eher die Kampfebene. Und ich mehr die medizinische.

Beim Training hat er natürlich gekämpft, denn er liebt es zu kämpfen. Aber eine der letzten Tai-Chi-Sessions, die wir hatten, war eine Meditation, und das war erstaunlich, weil er in nur drei Sekunden wahrhaftig innerhalb dieser Energie war. Ich habe immer versucht, ihn an einen anderen Ort als den des Kampfes zu führen. Ich habe versucht, ihn zum inneren Chi zu führen statt zum äußeren.

[Laurie und Ramuntcho fahren mit dem Auto nach Liziéres außerhalb von Paris.]

Ich habe zwölf Jahre Karate gemacht. Und danach zehn Jahre Aikido. Und dann, nach einer langen Krankheit, war ich drei Jahre gelähmt. Deshalb betreibe ich Tai Chi etwas anders. Ich behaupte nicht, Bioniker zu sein. Meine beiden Tai-Chi-Meister meinten zu mir, dass ich sehr langsam, aber sehr, sehr umfassend lerne. Und Lou interessierte das.

KARATEUNDAIKIDO sind japanische Kampsportarten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden und auf älteren chinesischen Kampfstilen basieren.

Eines Tages trainierte ich mit einem großen, großen, großen Meister, und er kam zu mir – wir waren fünfzig Leute – und sagte: »Ramuntcho, du weißt, dass du Tai Chi nicht wie die anderen machen musst«, und ich sagte: »Ja, aber warum?« Er antwortete: »Weil du Künstler bist. Das heißt, wenn du Künstler bist, machst du etwas mit deinem Chi und du überträgst dein Chi in deine Arbeit, nicht durch Training. Du machst mehr Tai Chi bei deiner Arbeit als die meisten Leute, die Tai Chi machen.« Für mich ist das die eigentliche Lektion. Denn das bedeutet, dass wir arbeiten müssen.

Kennst du Ramon Llull? Er war ein spanischer Mystiker und Mathematiker des Mittelalters. Lull entwickelte ein Lebensrad-Modell.

Für alles im Leben braucht man ein spezielles Rad. A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K. Jedes Mal, wenn man im Leben etwas will, muss eine Beziehung zu zwei weiteren Dingen bestehen. Sonst wird das nicht klappen. Und es ist für Menschen sehr wichtig zu verstehen, dass sie, wenn sie ein Ziel haben, von unten nach oben arbeiten müssen, um es zu erreichen. Man muss zum Beispiel an seinem Körper arbeiten, denn Musik ohne Körper funktioniert nicht. Und was wäre das Dritte?

LAURIE:Also, wenn der Körper die zweite Komponente ist … dann ist das Herz die dritte, glaube ich. Könnte alles Mögliche sein?

RAMUNTCHO:Natürlich, aber verschiedene Dinge zu verschiedenen Zeitpunkten. Doch man sollte die ganze Zeit an dieses Rad denken, denn man muss mit ihm im Einklang sein. Sonst verliert man sich im Warum. Lou war ebenfalls ein Tai-Chi-Typ, aber nicht nur. Er war darauf aus, das Wesentliche zu vermitteln. Und das Wesentliche liegt nicht im Ausüben von Tai Chi. Sondern in der Erleuchtung des Chi, die in etwas Alltäglichem zu finden ist. [Sie kommen im Zentrum an und laufen dort herum.]

Wir müssen uns also wirklich bemühen, daran zu denken. Es ist schwer, nur eine einzige Saite zu finden, weil alles miteinander verbunden ist. Ich erinnere mich an ein Konzert von Velvet Underground in Paris. Ich saß in der Loge und sah, wie sich Lou einspielte. Innerhalb von Sekunden änderte sich alles. In einem Moment war Lou da und im nächsten war es Tai Chi. [Ramuntcho zeigt die Veränderung der Körperhaltung.]

LAURIE:Was du uns da zeigst, ist jemand mit gesenktem Kopf und Schultern, der sich plötzlich konzentriert und aufrecht dasteht.

RAMUNTCHO: Das ist nicht aufrecht, sondern entspannt und verbunden. Verbunden ist sehr wichtig, denn damit stimmt man sich auf eine andere Musik ein. Das hat damit zu tun. Ich habe versucht, Tai Chi zu verehren. Leute, die Tai Chi praktizieren, sagen: »Du musst Tai Chi praktizieren.« Und für mich besteht da ein kleines Problem. Es kann dazu führen, dass man in einen neuen Zwang gerät. Fünf Stunden am Tag zu üben. Alle Waffen zu üben. Das kann auch eine Sucht sein.

Was Lou mit dem Chi gemacht hat, ist sehr interessant. Er meinte mehrmals zu mir, dass Tai Chi für ihn wichtiger sei als Musik, und ich sagte: »Ja, denn mit Tai Chi kannst du jetzt eine andere Musik machen.« Und er sagte: »O ja, du hast recht.« Was ich bei Lou und Tai Chi für wichtig halte, ist zu erkennen, dass Tai Chi dem Leben hilft. Auf allen Bildern, die ich von dir bekommen habe, macht Lou Tai Chi. Nicht Lou, der kocht, der spazieren geht, der schreibt. Lou ganz normal.

Für mich war er wirklich die Inkarnation des Chi. Und es ist interessant, dass er ein großer Meister des Tai Chi war. Und wenn wir übten, trafen wir uns in Hotels. Wir übten, und er versuchte die ganze Zeit zu kämpfen, weil er dieses Ding mit dem Kämpfen hatte. Und es war seltsam, dass ein Mensch auf diesem Tai-Chi-Niveau immer noch kämpfte.

Aber ich erkannte, er mochte den Kampf. Er liebte es. Ich nutzte mein Tai Chi, um Kampf zu vermeiden. Manchmal, wenn wir trainierten, war er bereit, mich zu töten, und dann verschwand ich einfach, und er wurde wütend. Er sagte: »Wir müssen Kontakt halten!«, und ich sagte: »Warum? Warum müssen wir Kontakt halten, wenn wir bereits Kontakt haben?«

Ich denke, die Formen sind ein Tanz, sie sind cool, aber um sich zu verbinden, muss man keine Formen ausführen. Man braucht die drei offenbarenden Abfolgen: erstens die Füße, zweitens die Hände und drittens den Kopf. Ich kann’s dir zeigen. Ich werde mir damit keine Freunde machen, denn normalerweise macht man das nicht. Möchtest du das sehen?

LAURIE: Na klar!

RAMUNTCHO: Die Quintessenz von meinem Tai Chi, um das Thema aufzugreifen, ist keine Spannung mehr, wir dürfen alles fließen lassen. Wenn du also kämpfen willst, was ist der Schlüssel zum Kampf? Es ist Zeit. Wenn du also ermöglicht bekommst, die richtige Zeit zu finden, noch vor deinem Instinkt, musst du langsamer werden. Der einzige Weg, schnell zu sein, ist, langsamer zu werden, darüber haben Lou und ich oft gesprochen. Je intensiver der Kampf ist, um so langsamer musst du werden. Also ist das Schiff da, du kannst es ein Schiff nennen oder ein Licht. Und dann wandert es deine Beine hinauf, zu deinen Knien, zu deinen … Wo die Beine mit dem Körper verbunden sind? Kannst du es mir zeigen? [Laurie zeigt auf ihre Hüften.] Okay, alle machen denselben Fehler. Wo die Beine verbunden sind. Hier. [Er zeigt auf seinen Unterbauch.] Wenn du dich drehst, ist dort die Verbindung. Das ist die erste Sache. Wenn du nach unten gehst, tust du es in alle Richtungen. Die echte Bewegung im Tai Chi ist, wenn du von innen nach außen drehst, du wirst dabei leer. Das ist die Bewegung. Danach machst du die umgekehrte Bewegung, aber am Anfang mit Stacking. Stacking am Anfang, das kleine Boot mit den Füßen, und dann muss man warten, bis das Boot oder das Licht dir die Empfindung gibt, die physiologische Empfindung oder etwas, das dann passiert. Aber man muss das für Jahre üben. Auch nicht mehr, man erreicht nicht mehr, wenn man 10 Stunden statt 10 Minuten täglich trainiert. Das ist sehr wichtig, denn einige Leute behaupten: »Du musst üben, du musst üben.«

Porträt Lou von Ramuntcho Matta, Aquarell, 2016

© Ramuntcho Matta

Dann musst du deine Füße so hinstellen, dass du einen Teil davon versteckst. Du erinnerst dich an Lous Füße? Er hasste diese Übung. Er sagte dann: »Okay, lass uns kämpfen.« Und ich erwiderte: »Warte mal, wo ist dein Gewicht?« Wo lagerst du dein Gewicht? Vorne auf den Füßen oder hinten? Wenn du dein Gewicht zu stark auf die Zehen verlagerst, fällst du nach vorn. Also geh zurück und schaue, wo das Gewicht normalerweise liegt. Das war die erste Wahrnehmung, an der ich arbeiten musste, als ich nach meiner Lähmung wieder versuchte, auf die Beine zu kommen. Wenn du diese Übung einen Monat lang fünf Minuten am Tag machst, verstehst du den Unterschied, den das macht.

Du hast diesen Song geschrieben »people are in their bodies the way they drive in their cars«. Erinnerst du dich? Die Leute wissen weniger über ihren Körper als über ihr Auto.

Nun also zu den Händen. [Er zeigt auf die Handgelenke.] Wie heißt das auf Englisch? Was ist das zwischen deiner Hand und dem Handgelenk?

LAURIE: Dafür haben wir keinen Namen.

RAMUNTCHO:Aber es gibt ihn, oder? Also, zuerst machst du so. [Er führt seine Handflächen zusammen, lässt aber anderthalb Zentimeter Abstand zwischen ihnen.] Die Idee ist, nicht sehr weit zu gehen. Ein bisschen Licht zwischen ihnen zu haben.

LAURIE: Ja.

RAMUNTCHO:Was kommt von der Erde? Und was kommt vom Himmel? Es kann interessant sein, damit zu arbeiten. Und dann, wenn du das das nächste Mal machst, richtest du dich auf und machst es mit dem kleinen Finger, du hebst das Universum. Und du spürst nach, ob da irgendeine Art von Spannung im Körper ist. Und nun, um Spannung zu vermeiden, bewegst du alle Finger und den ganzen Körper. Und je weicher du das machst, desto besser funktioniert es.