The Beautiful Fall - Die vollkommen irritierende Kettenreaktion der Liebe - Hugh Breakey - E-Book
SONDERANGEBOT

The Beautiful Fall - Die vollkommen irritierende Kettenreaktion der Liebe E-Book

Hugh Breakey

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwei Menschen. Eine Liebesgeschichte. Zwölf Tage, bevor das Vergessen einsetzt – diese Love-Story wird Ihnen nicht mehr aus dem Kopf gehen!

Alle 179 Tage verliert Robert Penfold sein Gedächtnis. Robert weiß das, weil ihm sein altes Ich vor dem letzten Vergessen einen Brief zurückgelassen hat. Um seine wiederkehrende Amnesie in den Griff zu bekommen, führt Robert deshalb ein zurückgezogenes, streng geordnetes Leben. Das Haus zu verlassen und sich nicht mehr zu erinnern, wo – geschweige denn wer – man ist, wäre zu gefährlich! Doch zwölf Tage vor dem nächsten Vergessen stolpert Julie vor seine Tür: Clever. Cool. Chaotisch. Und genau das, was Robert gerade nicht brauchen kann. Aber Julie hat ihre ganz eigenen Pläne und Geheimnisse. Ohne recht zu verstehen, wie ihm geschieht, bringt sie Roberts Welt ins Schwanken und zeigt ihm, dass es manchmal besser ist, auf sein Herz zu hören – vor allem dann, wenn man sich nicht auf seinen Verstand verlassen kann!

»Ein wunderbarer Roman – bewegend, intelligent und unterhaltsam!« Graeme Simsion

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 360

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Alle 179 Tage verliert Robert Penfold sein Gedächtnis. Robert weiß das, weil ihm sein altes Ich vor dem letzten Vergessen einen Brief zurückgelassen hat. Um seine wiederkehrende Amnesie in den Griff zu bekommen, führt Robert deshalb ein zurückgezogenes, streng geordnetes Leben. Das Haus zu verlassen und sich nicht mehr zu erinnern, wo – geschweige denn wer – man ist, wäre zu gefährlich! Doch zwölf Tage vor dem nächsten Vergessen stolpert Julie vor seine Tür: Clever. Cool. Chaotisch. Und genau das, was Robert gerade nicht brauchen kann. Aber Julie hat ihre ganz eigenen Pläne und Geheimnisse. Ohne recht zu verstehen, wie ihm geschieht, bringt sie Roberts Welt ins Schwanken und zeigt ihm, dass es manchmal besser ist, auf sein Herz zu hören – vor allem dann, wenn man sich nicht auf seinen Verstand verlassen kann!

Autor

Hugh Breakey ist hauptberuflich Philosoph und Ethiker. Wenn er nicht gerade an der Griffith University in Brisbane unterrichtet, schreibt er Geschichten, in denen es um tiefschürfende Gedanken, aber auch um große Emotionen geht. Auch in seinem Debütroman »The Beautiful Fall« treffen Kopf und Herz aufeinander. Der Autor lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern im ländlichen Australien, wo er laut Schlagzeug spielen kann, wann immer er will, und ausreichend Platz für seinen Lieblingssport Karate hat – er hat sogar den schwarzen Gürtel!

HUGH BREAKEY

Die vollkommen irritierende Kettenreaktion der Liebe

Roman

Deutsch von Astrid Finke

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The Beautiful Fall« bei Text Publishing, Melbourne.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2021 by Hugh Breakey

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Lisa Caroline Wolf

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

DK · Herstellung: DiMo

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27210-4V002

www.limes-verlag.de

Für Kylie

Lies das. Jetzt sofort. Halt dich bloß fern von dieser Tür, solange du nicht weißt, was los ist.

Dein Name ist Robert Penfold. Du bist einunddreißig Jahre alt. Die Wohnung, in der du stehst, ist deine eigene: 116 Dornoch Terrace, Brisbane, Australien.

(Falls du nicht in der Wohnung bist, gehe sofort dorthin. Sprich mit niemandem. Das dient nur deiner eigenen Sicherheit. Suche nach einem Straßenschild, um dich zu orientieren. In deiner Hosentasche ist ein Stadtplan. Damit findest du den Weg nach Hause. Deine Wohnung liegt im fünften Stock, Nummer 509. Was auch immer du tust, bitte nicht um Hilfe.)

Du erinnerst dich an nichts, weil du an periodischer Amnesie leidest. Ich nenne es: das Vergessen, also nennst du es auch so.

Es passiert in regelmäßigen Abständen, das letzte Mal vor knapp sechs Monaten, und da war ich in genau der Situation, in der du dich jetzt befindest. Also glaub mir, ich weiß, dass du Angst hast.

Aber es ist okay. Hier bist du in Sicherheit. In deiner Wohnung gibt es alles, was du brauchst. Im Kühlschrank ist Essen. Im Schrank Kleidung. Und überall findest du Informationen, wer du bist und was du getan hast.

Wenn du so weit bist, geh in die Küche. Dort steht ein Karton mit deinen ganzen Papieren und Unterlagen. Der braune Umschlag enthält einen Brief wie den, den du gerade liest. Es ist der, den ich gelesen habe, als ich aufwachte, und der geschrieben wurde, als wir damals in diese Wohnung gezogen sind.

Außerdem liegt darin ein Ordner mit dem Befund unserer Ärztin Dr. Varna. Er ist ziemlich komplex mit dem ganzen Geschreibsel von Arteriolen, limbischem System und episodischem Gedächtnis. Die Kurzfassung lautet: Unseren ersten Anfall hatten wir vor ungefähr zwei Jahren. Abgesehen von einigen Fragmenten aus unserer frühen Kindheit haben wir all unsere Erinnerungen verloren. Alle dachten, es wäre ein einmaliges Ereignis, ein Schlaganfall vielleicht. Dann, hundertneunundsiebzig Tage später, schlug das Vergessen erneut zu. Und nach weiteren hundertneunundsiebzig Tagen passierte es wieder.

Periodisch nennt Dr. Varna es. Eine Art Migräne, die (zumindest bisher) mit einer überraschenden Regelmäßigkeit auftritt. Ich weiß, was du denkst (weil ich dasselbe dachte): Migräne, sind das nicht schreckliche Kopfschmerzen? Aber der Schmerz ist nur ein Symptom. Ein Migräneanfall wird vermutlich ausgelöst, wenn sich Blutgefäße im Gehirn verkrampfen und die Blutzirkulation unterbrechen. Wird der Blutfluss zum Sehzentrum blockiert, nimmt man seltsame Blitze und Lichter wahr. Ist das motorische Zentrum betroffen, können halbseitige Lähmungserscheinungen auftreten. Aber ich – und du – leiden unter etwas Ungewöhnlicherem. Mitten im Kopf befinden sich einige kleine Blutgefäße oder vielleicht auch nur ein einziges, das zum Gedächtniszentrum führt. Und gelegentlich – periodisch eben – zittert es, verkrampft sich: nur eine Winzigkeit. Und alles bricht zusammen.

Die Ärztin meinte, wir sollten uns nicht wundern. Das Gedächtnis ist viel fragiler, als die meisten Leute glauben.

Die schlechte Nachricht ist, es gibt keine Therapie dagegen. Die gute Nachricht ist, solche Sachen kommen und gehen. Ich hatte neunundzwanzig Jahre lang keinen Anfall. Es könnte durchaus sein, dass es von nun an nie wieder passiert. Oder aber es geht noch zehn Jahre so weiter.

Da du das hier liest, hat sich die Lage wohl noch nicht verbessert. Wenn der Zeitablauf derselbe ist wie bei den vorherigen Anfällen, dann wird das nächste Vergessen genau hundertfünfundachtzig Tage, nachdem ich diesen Brief geschrieben habe, stattfinden, also am Sonntag, dem 25. September.

Dir stehen ein paar sehr schlimme Tage bevor. Ohne Erinnerung kann einem alles sinnlos vorkommen. Du wirst verzweifelt sein. Ich war es.

Aber eigentlich haben wir Glück. Den meisten Menschen mit periodischer Amnesie bleibt nicht so viel Zeit zwischen den Anfällen. Manchmal nur ein paar Stunden oder Minuten. Wir haben fast sechs Monate von einem Vergessen zum nächsten. Genug Zeit, um Pläne zu schmieden und sie umzusetzen. Wie ein normaler Mensch.

Wenn du dich ein wenig in der Wohnung umsiehst, entdeckst du gleich, was ich für dich vorbereitet habe. Als ich zum ersten Mal aufwachte und den Brief las, fühlte ich mich wie ein Mann ohne Vergangenheit. Doch du hast nun die Möglichkeit, etwas Besonderes zu erschaffen. Ein Projekt, das von meinem vergangenen Ich geplant, von meinem jetzigen Ich verwirklicht und an dich, mein künftiges Ich, weitergegeben wurde. Deshalb kann ich von »uns« sprechen – weil wir ein und dieselbe Person sind. Durch unser Werk bestehen wir fort. Wir halten durch, egal was das Vergessen uns antut.

In dem Brief, den ich damals bekam, stand, ich hätte etwas vor, das niemand sonst je getan hätte. Man kann wohl von einer Art Rekord sprechen. Wenn ich ehrlich bin, interessieren mich Rekorde nicht sonderlich. Aber ich hoffe, du weißt es zu schätzen und erkennst, dass es aus deinen Händen stammt: unseren Händen.

Okay, nun zum Praktischen: Bleib die ersten Tage zu Hause – am besten eine Woche oder länger. Finde dich zurecht. Gehe die Unterlagen durch. Es gibt auch eine Schachtel mit Andenken, voller Schätze aus unserer fernen Vergangenheit.

Geh erst raus, wenn du bereit dazu bist. Vor einem Jahr, nach dem dritten Vergessen, hat die Polizei uns aufgegriffen, als wir verwirrt durch die Straßen wanderten. Dr. Varna meint, falls sich das wiederholt, müssen die Behörden uns in ein Heim einweisen – weil sie eine »Fürsorgepflicht« haben –, und wenn das passiert, lässt man uns womöglich nie wieder raus. Also bleib zu Hause, in Sicherheit. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Jeden Dienstag kommt eine Lebensmittellieferung. Alles ist organisiert und wird zusammen mit der Miete und den Nebenkosten aus unserer Rente bezahlt. Einfach lächeln und nicken und die Quittung unterschreiben. Mach dir keinen Kopf.

Was auch immer du tust, niemand darf von deiner Krankheit erfahren. Bleib für dich, um du selbst zu bleiben. Das stand in meinem Brief, und du wirst sehen, dass es stimmt. Erinnerungen sind wie eine Rüstung – ohne sie hast du keine Kontrolle, nichts, um dich zusammenzuhalten. Du wirst so, wie andere dich haben wollen. Deshalb musst du vom ersten Augenblick an auf der Hut sein.

Unser Leben mag einsam sein, aber zumindest ist es unser Leben und kein fremdes. Mehr hat niemand. Es zu behalten – das ist der wahre Kampf.

Robert Penfold, 24. März

TAG zwölf

Noch zwölf Tage. So viel zu tun – vor allem jetzt. Ich hatte mir den Wecker auf sechs Uhr gestellt, aber der Anlass für das frühe Aufstehen, der Unfall gestern, war gleichzeitig der Grund, warum ich am liebsten im Bett geblieben wäre. Ich hatte Angst, mich dem ganzen Ausmaß zu stellen. Schritt für Schritt, sagte ich mir. Du musst dich nicht sofort damit auseinandersetzen. Starte einfach mit deiner Morgenroutine.

Ich rappelte mich auf. Mein Morgensport verlief wie jeden Tag, nur dass ich den Blick zum Türbogen zwischen Küche und Wohnzimmer – und dem Trümmerhaufen dort – mied. Ich konzentrierte mich auf die Übungen und strengte mich stärker an als sonst. Das Brennen in meinen Muskeln lenkte mich von allem anderen ab.

Aber als ich mit dem Dehnen begann und der Puls nicht mehr in meinen Ohren hämmerte, kehrten meine Gedanken zu dem Unfall zurück. Wie viele Stunden habe ich verloren? Bleibt mir genug Zeit zum Reparieren?

Trotz des Drucks, den ich empfand, konnte ich mich noch nicht damit befassen. Ich trödelte beim Duschen und Frühstücken. Dann räumte ich auf und putzte die Toilette. Es zählt nicht als Hinauszögern, wenn man mit etwas anderem beschäftigt ist.

Schließlich hatte ich alles erledigt und sackte am Küchentisch zusammen. Okay. Jetzt zögerte ich es eindeutig hinaus.

Ich spürte die Minuten verrinnen. Zwölf Tage. Die Gesamtsumme, die mir noch blieb. Ungefähr zweihundert wache Stunden, das entsprach – eine kurze Rechnung auf dem Notizblock – circa zwölftausend Minuten. Minus die drei, die ich gerade mit meinem Gekritzel verplempert hatte.

»Lieferdienst«, rief jemand an der Wohnungstür, begleitet von lautem Klopfen.

Ich setzte mich auf. Dienstag: die wöchentliche Lebensmittellieferung. Perfekt. Ich musste durch das Wohnzimmer gehen, um die Tür zu öffnen. Die Entscheidung, ob ich mich mit dem Trümmerhaufen befassen wollte, war mir abgenommen worden.

Als ich aufstand, wurde mir auf einmal bewusst, dass es eine andere Stimme war: nicht die von Mr. Lester, der normalerweise die Lebensmittel brachte. Dann erinnerte ich mich, dass er Urlaub hatte und zum Sechzigsten seiner Frau eine Kreuzfahrt gebucht hatte. Schon seit Wochen sprach er davon, aber wegen des Unfalls gestern hatte ich es nicht mehr auf dem Schirm gehabt. Aus unerfindlichen Gründen hatte Mr. Lester nicht erwähnt, dass eine junge Frau ihn vertreten würde.

Es war Monate her, dass ein Fremder meine Wohnung betreten hatte. Als ich mir durch die Haare fuhr, bemerkte ich, wie lang und zottelig sie geworden waren. Ich straffte die Schultern, ging mitten durchs Wohnzimmer zur Tür und versuchte, das Chaos zu meiner Linken zu ignorieren.

»Lieferdienst«, ertönte die Stimme erneut. Bumm, bumm, bumm.

Tief durchatmen. Brust raus. Einfach möglichst normal verhalten. Und das Atmen nicht vergessen. Ich löste die Sicherheitskette, schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie wenigstens nicht hübsch war, und zog die Tür auf.

Ich spähte in den schwach beleuchteten Flur. Grüne Augen leuchteten im Halbdunkel, passend zum Glitzern zweier Ohrringe und eines Piercings über der Oberlippe. Die pechschwarzen Haare waren kurz, und ein Pony fiel ihr seitlich über die Stirn.

Mist. Sie hätte selbst in einem Sack gut ausgesehen.

Das wusste ich, weil sie so etwas wie einen Sack trug. Die Uniformbluse in dem vertrauten Blau des Lieferdiensts war mindestens drei Nummern zu groß. Vielleicht hatte die Firma keine passende Uniform für jemanden, der so schlank war.

Ein weißer Stöpsel steckte in dem einen Ohr, der andere hing auf ihrer Schulter. Blecherne Musik war zu hören. Mein Herz klopfte. Seit Monaten war ich keiner Frau unter fünfzig mehr so nahe gekommen, und schon gar keiner attraktiven.

»Robert, richtig?«

Ich starrte sie an.

»Robert Penfold?« Sie sah mit großen Augen zu mir auf, zog ihre dunklen schmalen Brauen hoch und schenkte mir ein höfliches, knappes Lächeln.

Ich versuchte zu nicken, und einen verrückten Augenblick lang hatte ich das Gefühl, ich hätte sogar das verlernt – wie ein Amateurpuppenspieler, dem es nicht einmal gelang, den Kopf vernünftig nach vorn zu kippen.

Aber sie schien zufrieden. »Julie.« Sie streckte ihre Hand aus. »Hallo.«

Ich ergriff die Hand, und ihre zarten Finger umschlossen meine. Konnte ich mich daran erinnern, je eine junge Frau angefasst zu haben? Vielleicht damals, als die Finger einer Verkäuferin meine Handfläche gestreift hatten, um mein Geld entgegenzunehmen.

Ich schluckte. Augen zu und durch, das war der Trick. Sie wurde garantiert nicht gut genug bezahlt, um sich mit meinem peinlichen Benehmen herumärgern zu müssen.

»Kommen Sie doch rein, ähm …« Verflucht. Ich war so mit allem anderen beschäftigt gewesen, dass ich ihren Namen schon wieder vergessen hatte.

»Julie.«

»Julie, klar. Sorry.« Julie-Julie-Julie. Ich prägte mir den Namen ein. Wenn ich ihn im Kopf behalten konnte, bis sie gegangen war, konnte ich ihn mir aufschreiben. Dann war er gesichert, bereit fürs nächste Mal.

Julie zog den Holzkeil hervor, den die Lieferanten immer dabeihatten, und klemmte die Tür fest. Sie lud sich Lebensmittel von dem Rollwagen auf den Arm. Ich trat zurück, um ihr Platz zu machen.

»Vorsicht mit den, ähm …« Ich lächelte schwach. »Na ja, Sie werden schon sehen.«

Abrupt blieb Julie stehen. Mitten durch das Zimmer führte ein freier Weg, als würde sich ein eigenartiges Meer teilen. Zu beiden Seiten davon überzog ein Ozean von Dominosteinen den gesamten Fußboden und breitete sich über mehrere schmale Brücken bis zu erhöhten Podesten aus, rechteckigen, mit Metallwinkeln an der Wand befestigten Brettern.

»Hm.« Julie ließ den Blick über die Dominos schweifen, von oben nach unten, von rechts nach links.

Widerwillig folgte ich ihrem Blick. Es war genauso schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Auf einer Seite des Zimmers standen die Steinchen aufrecht da, wo sie so sorgsam platziert worden waren. Auf der anderen lagen sie flach, Tausende, wie ein Wald, der bei einem Meteoriteneinschlag niedergemäht worden war. Wenn ich hätte schätzen müssen – was ich wirklich nicht wollte –, hätte ich auf fünfzehntausend umgefallene Steine getippt.

Wenigstens waren all meine Podeste unversehrt. Die stufigen Rampen nach oben waren gerade breit genug für eine einzige Reihe Dominos. Eine Handvoll dieser verbindenden Steine hatte ich herausziehen und so die Ausbreitung des Schadens aufhalten können, aber nicht auf dem Boden. Dort hatte sich der Einsturz spiralförmig in alle Richtungen ausgebreitet. Die Arbeit von Tagen zerstört. Tage, die ich nicht mehr hatte.

Julie sah von einer Seite zur anderen. »Toll.« Ihr Blick fand meinen, und es fühlte sich an, als nähme sie mich zum ersten Mal wahr. Und interessierte sich für mich.

Ein Anflug von Stolz wärmte meine Brust. Dann spürte ich einen Stich des Bedauerns, dass sie mein Werk nicht am Vortag gesehen hatte, als all die Steine noch aufrecht gestanden und voller Leben und Energie darauf gewartet hatten, angestoßen zu werden.

Julie zeigte auf eine Ansammlung von Dominos in der Mitte des Trümmerfelds. »Mir gefallen die Wirbelmuster.«

»Danke«, sagte ich. »Aber das hat die ganze Zerstörung ausgelöst. Als der Teil gefallen ist, konnte ich es nicht mehr stoppen.«

»Aha.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ups.«

»Ja. Ups.«

»Die Taschen da rein?« Julie wandte sich um und zeigte zur Küche. Ich nickte, und sie ließ mich mit einem Hoffnungsschimmer im Herzen allein. Gestern hatte ich nur sehen können, wie viel zerstört war. Aber die Lieferantin schien beeindruckt von dem, was noch übrig war. Vielleicht war die Lage doch nicht so aussichtslos.

»Die Kühltaschen auf den Tisch?«, drang Julies Stimme aus der Küche.

»Danke. Ich hol den Rest.«

Auf dem Weg zur Küche musste ich an ihr vorbeigehen. Einen Moment lang trafen sich unsere Blicke. Sie war wirklich eine Schönheit.

Ihr höfliches Lächeln kehrte zurück, und sie machte einen Schritt zur Seite, um mich durchzulassen.

Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, stand Julie da und betrachtete erneut die Dominos. In einer Hand hielt sie ein paar Zettel, mit der anderen wickelte sie sich das Kabel der Ohrhörer um den Finger. »Sie haben sie also aus Versehen angestupst, und sie sind einfach …?«

»Genau.« Ich nickte. »Die Spiralen sind am schlimmsten. Der Schaden breitet sich in alle Richtungen aus. Unmöglich zu stoppen.«

»Hm.« Sie hörte auf, mit dem Kabel zu spielen. »Sie brauchen eine Methode, um den Schaden zu begrenzen. So was wie eine Feuerschneise. Eine Art Schranke, die so schmal ist, dass sie in die Lücken passt.«

»Das würde das Muster stören.«

»Hm.« Sie zuckte mit den Achseln. »Hier müssen Sie bitte unterschreiben.« Sie reichte mir die Zettel und einen Stift. Als ich die Papiere zurückgab, drückte sie mir eine glänzende blaue Karte in die Hand. »Unsere Kontaktdaten mit der Telefonnummer, falls es irgendwelche Probleme gibt.« Unter das Firmenlogo war in dunkelblauer Schrift Julies Name geprägt. Zufrieden strich ich mit dem Daumen über die glatte Oberfläche. Eine handfeste Dokumentation. Das wanderte direkt in den Karton. Und jetzt musste ich mir ihren Namen doch nicht aufschreiben.

»Falls es irgendwelche Probleme gibt, meine Nummer steht auf der Rückseite«, sagte Julie. »Bitte nicht die alte Nummer anrufen, der andere ist im Urlaub.« Sie steckte sich den herabhängenden Stöpsel ins freie Ohr. »Bis zum nächsten Mal.« Ihre Stimme war lauter, weil sie die Musik in ihren Ohren übertönte.

»Bis Dienstag.« Ich nickte.

Schon in der Tür blieb sie noch einmal stehen, als wäre ihr plötzlich ein Gedanke gekommen. »Darf ich Sie was fragen?« Mit einem Fingerschnipsen zeigte sie auf mein Werk. »Warum Dominos?«

»Also«, stotterte ich, »weil sie da sind, nehme ich an.« Blöde Antwort.

Aber Julie schien zufrieden. »Klar«, sagte sie. »Wie der Everest.« Ein kurzes Nicken, und sie war weg.

Ich machte die Tür zu. Nachdem die Sicherheitskette vorgelegt war und das Schloss eingerastet, fühlte ich mich endlich sicher vor schönen Frauen und verstörenden Fragen.

Warum Dominos?

Wenn man inmitten der zerstörten Arbeit von mehreren Tagen stand, schien es eine nachvollziehbare Frage. Die Antwort, die ich gegeben hatte, entsprach zum Teil der Wahrheit, aber normalerweise, wenn Leute über das Besteigen von Bergen sprachen, meinten sie damit, dass sie sich irgendwo am Horizont befanden, meist außerhalb ihrer Reichweite. Mein ganz eigener Berg – ein Stapel schwerer Kartons voller Dominosteine – war für mich mitten in meinem Wohnzimmer hinterlassen worden. Das war ein bisschen schwerer zu ignorieren.

Begonnen hatte ich mit dem Projekt aus dem Grund, der mir in dem Brief genannt worden war: als eine Art Mission, die das Vergessen überdauerte. Mein vergangenes Ich hatte mir die Aufgabe zusammen mit dem erforderlichen Material und Werkzeug bereitgestellt und mir die Gestaltung und den Aufbau überlassen. Und wenn dann die letzte Stunde kam, wäre es mein künftiges Ich, das sah, was wir geleistet hatten, und die wunderbare Ausführung miterlebte.

Das Vergessen mochte uns die Erinnerung rauben, aber unsere Entscheidungen, Pläne und Werke konnten trotzdem unser Leben bestimmen.

Warum genau mein vergangenes Ich zu diesem Zweck Dominos ausgewählt hatte, wusste ich nicht. Es leuchtete ein, sich etwas auszudenken, woran man allein und in seinen eigenen vier Wänden arbeiten konnte. Diese Lektion hatte der Brief mir eingebläut: Für jemanden mit deiner Krankheit ist Einsamkeit die beste Verteidigung. Bleib für dich, um du selbst zu bleiben. Dennoch … warum keine Kartenhäuser oder ein maßstabgetreues Modell des Taj Mahal aus Streichhölzern? Oder Gedichte? Und warum nichts Produktiveres oder weniger Kostspieliges? Diese Tausende von Dominos – 83 790 nach meiner Zählung – waren bestimmt nicht billig gewesen. Ich wusste es nicht. Vielleicht würde ich es eines Tages erfahren.

Wie dem auch sei, nichts davon erklärte, warum mir bei dem Gedanken, nicht rechtzeitig fertig zu werden, übel wurde. Oder den Erwartungsdruck, den der Everest in meinem Wohnzimmer hervorrief. Oder das Bedürfnis nach Projekten, die die Attacken des Vergessens auf meinen Geist überdauerten. Nicht einmal, dass ich so viel von meiner knapp bemessenen Zeit in mein bisheriges Werk investiert hatte.

Meine Sorge hatte andere Gründe. Ich hatte nicht lange mit den Steinchen herumspielen müssen, um zu erkennen, mit was für einer außergewöhnlichen Schönheit sie fielen. Mit einiger Voraussicht konnte man sie so choreografieren, dass die gestaffelten Dominos gleichzeitig kippten oder sich verspielt jagten oder aufeinander zurasten. Der Brief hatte die Schönheit, die in dieser Arbeit lag, nicht erwähnt, aber es war das Gefühl, etwas Kreatives, ja, beinahe Künstlerisches zu erschaffen, das mich jeden Tag antrieb.

Doch jetzt wurde ich vielleicht nicht rechtzeitig fertig, und diese Vorstellung war unerträglich. Wenn die Steine so fallen sollten, wie ich es geplant hatte, musste jeder Teil vollständig stehen. Alles. Sonst war es wie eine klassische Skulptur mit lauter rauen, ungeschliffenen Stellen. Wie ein Tanz, bei dem die Musik immer wieder abbrach.

Das würde ich nicht zulassen. Komme, was da wolle, ich musste diese Sache zu Ende bringen, um meinem zukünftigen Ich alles so präsentieren zu können, wie ich es geplant hatte.

Es wurde Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen. Aber eins nach dem anderen. In der Küche standen immer noch ungeöffnete Dominokartons an der Wand. Oben auf dem Stapel befanden sich die beiden Kartons, in denen ich meine Unterlagen und Erinnerungsstücke verstaute. Ich schrieb das Datum auf die Visitenkarte, die Julie mir gegeben hatte – Dienstag, 13. September, Tag zwölf –, und legte sie in die Schachtel.

Dann räumte ich die Lebensmittel auf, drückte den Rücken durch und ging mit zusammengebissenen Zähnen ins Wohnzimmer. Mir waren schon immer mal wieder kleinere Unfälle passiert, aus denen ich gelernt hatte, der Versuchung zu widerstehen, mit den einfachsten Steinen anzufangen, um so schnell wie möglich so viel wie möglich auszubessern. Die schlauere Strategie war, mit den schwierigsten Stellen, also den Ecken, zu beginnen.

Aus diesem Grund hatte ich Trittsteine, flache, schwere Holzscheiben von der Größe meiner Füße, zwischen den Dominoreihen platziert. Trotzdem erforderte es einen guten Gleichgewichtssinn und Beweglichkeit, um die Ecken zu erreichen, und die morgendlichen Dehnübungen zahlten sich aus, als ich über meinem empfindlichen Werk herumturnte.

Nach ungefähr zwanzig Minuten sah ich mich um. Vor dem Unfall gestern Abend war ich enthusiastisch gewesen, weil ich dem Zeitplan voraus war und mich der Marke von fünfzigtausend näherte.

Jetzt lag ich zurück. Mit Höchstgeschwindigkeit schaffte ich ungefähr tausend Dominos in anderthalb Stunden. Grob geschätzt hatte der Unfall mich über drei Tage gekostet, Zeit, die ich nur aufholen konnte, wenn ich meine Arbeitstage verlängerte. Aber ich hatte sowieso schon siebeneinhalb Stunden pro Tag eingeplant, also fiel ich durch das Missgeschick …

Ich schob den Gedanken beiseite. Besser abwarten, wie die Lage am Abend aussah.

Mittags saß ich im Schneidersitz mitten im Wohnzimmer, aß ein Sandwich und dachte über das weitere Vorgehen nach. Zum Glück ging der Wiederaufbau schneller als der Erstaufbau. Wenn ich einen Schnitt von tausend Steinen pro Stunde erreichen könnte, wäre es vielleicht bald geschafft.

Mit Bedauern musste ich an Mr. Lester denken. In der vergangenen Woche war mir nicht klar gewesen, dass ich ihn zum letzten Mal sah. Er war fast so etwas wie ein Freund geworden, der einzige Mensch in meinem Leben, der mir sagen konnte, dass ich zu blass aussah und mal wieder an die frische Luft musste. Wenn er aus dem Urlaub zurückkehrte, war meine Erinnerung an ihn wahrscheinlich ausgelöscht und nur mein künftiges Ich hier, um ihn zu empfangen. Es war wirklich schade.

Dabei hätte ich eigentlich froh sein sollen, dass er weg war. Bleib für dich, um du selbst zu bleiben. Mein vergangenes Ich hatte so darauf gepocht, wie wichtig das Alleinsein war, dass in dem Brief sogar positiv hervorgehoben wurde, dass ich keine Familienangehörigen mehr hatte. Offenbar waren meine Eltern vor vielen Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Da die einzigen Erinnerungen, die vom Vergessen verschont geblieben waren, ein paar glückliche aus der Kindheit waren, hatte mich die Nachricht hart getroffen.

Aber der Brief betonte, dass das gut sei. In den ersten Momenten nach dem Vergessen konnte man nicht einmal seinen Eltern trauen – oder vielleicht gerade seinen Eltern nicht. Garantiert würden sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, einige Verbesserungen vorzunehmen. Die Probleme und früheren Fehler zu verschweigen, die mich geprägt hatten. Und am Schluss würden sie einen neuen Menschen aus mir formen. Ohne dass ich irgendeinen Einfluss darauf hatte. Einsamkeit war meine beste Verteidigung. Deswegen war mir vermutlich auch weder ein Fernseher noch ein Radio noch ein Internetanschluss hinterlassen worden.

Wenn das alles für Eltern galt, dann galt es wahrscheinlich auch in gewissem Maß für Mr. Lester. Vielleicht war es gar nicht schlecht, dass er mitten auf dem Meer herumtuckerte, wenn das Vergessen zuschlug. Aber mich darüber zu freuen, fiel mir schwer. Er hatte den ganzen Domino-Prozess von seinen bescheidenen Anfängen an miterlebt. Er hätte mich wegen der gestrigen Katastrophe bedauert; im Gegensatz zu Julie hätte er erkennen können, was ich verloren hatte. Seufzend kaute ich den letzten Bissen meines Sandwichs. Es gab keine Ausrede mehr, mich nicht wieder an die Arbeit zu machen.

Es ging frustrierend langsam voran. Als die späte Nachmittagssonne durch das Küchenfenster schien, spürte ich, wie meine Konzentration nachließ. Rücken und Oberschenkel schmerzten, und ich wusste, dass in diesem Zustand häufig Fehler passierten. Aber ich ließ nicht locker und machte mich an eine weitere Reihe umgestürzter Dominos.

Verbitterung nagte an mir. Wiederaufzubauen war nicht so befriedigend, wie neu aufzubauen. Es fehlte jedes Gefühl von Innovation. Eigentlich war es sogar noch schlimmer, denn sobald es geschafft war, wurde die Arbeit dahinter unsichtbar. Niemand, der das fertige Produkt betrachtete, sah ihm seine Geschichte an, den Schweiß und die Mühe behobener Fehlschläge. Man musste es wissen, um das Wesen dahinter zu erkennen. Doch immerhin die Lieferantin wusste, was hier passiert war; vielleicht würde Julie, wenn sie das nächste Mal hier auftauchte, erwähnen, wie weit ich mit dem Wiederaufbau gekommen war. In zwölf Tagen würde sie dann die Einzige sein, die davon wusste, nachdem selbst ich es vergessen hatte. Sie – eine völlig Fremde.

Der ganze Sinn der Dominos lag darin, meine Geschichte zu erzählen. Meine Geschichte zu sein. Ein Staffelstab, der mir von meinem früheren Ich entgegengestreckt und letzten Endes an die wartende Hand der Zukunft weitergereicht wurde.

Wiederaufbau – Arbeit, die einen Riss in der Geschichte übertünchte, als hätte er sich nie ereignet – kam mir falsch vor. Die Dominos kippten oder sie kippten nicht. So oder so konnten sie nicht die ganze Geschichte erzählen von dem, was passiert war und was ich getan hatte. Um die Widrigkeiten und Fallstricke in die Zukunft zu übermitteln, brauchte man genau das, was mir fehlte. Erinnerung.

Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ich könnte es aufschreiben. Eine Chronik. Nicht nur den Notfallbrief, den ich immer mit mir herumtrug. Es ging mir um die Erinnerung: ein Tagebuch, in dem meine letzten zwölf Tage geschildert wurden.

Die Idee ließ mein Herz schneller schlagen. Ich würde ein neues Notizbuch kaufen müssen. Mein Blöckchen reichte nicht. In dem kleinen Laden an der Ecke gab es ein Schreibwarenregal mit guten Kugelschreibern und, da war ich mir sicher, gebundenen Notizbüchern. Vielleicht ein bisschen schicker als nötig, aber wahrscheinlich noch innerhalb meines Budgets.

Nachdem die Idee einmal Gestalt angenommen hatte, ließ sie mich nicht mehr los. Mit den Dominos war ich für heute sowieso fertig. Wenn ich mir zu viel abverlangte, machte ich nur wieder einen Fehler und landete genau da, wo ich heute angefangen hatte.

Von neu gewonnener Energie gepackt, rieb ich mir die Hände. Jeder Ausflug nach draußen, egal, wie kurz er auch sein mochte, musste gut vorbereitet werden. Obwohl vieles dafürsprach, dass das Vergessen weiterhin in regelmäßigen Abständen und damit in exakt zwölf Tagen auftrat, war das nicht garantiert. In einem Telefonat, das ich in meiner ersten Woche mit Dr. Varna führte, hatte sie betont, wie unklug es sei, mich darauf zu verlassen, dass meine Krankheit strikt einem Zeitplan folgte. Deshalb musste ich alles dabeihaben, um im Notfall nach Hause zurückfinden zu können. Ich sammelte die nötige Ausrüstung zusammen und packte sie in meinem Rucksack. Schlüssel, Geldbeutel, Karte, Brief.

Meine Wohnungstür war mit zwei Schlössern ausgestattet, einem normalen alten und einem nagelneuen Zusatzschloss. Wahrscheinlich hatte mein letztes Ich das neue Schloss angebracht. Den Schlüssel hatte er in den Umschlag mit dem Brief gesteckt und so sichergestellt, dass ich mich nicht hinauswagen konnte, ohne ihn zu lesen und zu erfahren, warum ich das besser nicht tun sollte.

Tief durchatmen. Es musste ein paar Wochen her sein, dass ich das letzte Mal draußen gewesen war. Ich schluckte, drehte den Schlüssel und trat aus der Tür.

Im Freien verdeckten hohe Gebäude und Hügel die untergehende Sonne. In der Dämmerung leuchteten nach und nach die gelben Straßenlaternen auf. Die Abendluft roch frisch und lebendig, eine milde Brise wehte durch die breiten Straßen. Es fühlte sich wärmer an, als ich es in Erinnerung hatte. In meiner Wohnung hatte ich Klimaanlage und Zentralheizung, sodass ich den Wechsel der Jahreszeiten kaum mitbekam. Bei meinem letzten Ausgang hatte ein Hauch von Kälte in der Luft gehangen, jetzt aber nicht mehr. Die Welt hatte sich verändert.

Der Laden an der Ecke bot geeignete Notizbücher zu einem sehr vernünftigen Preis an; nur 4,95 Dollar plus einen Dollar für den Stift. Ich gönnte mir noch eine Fleischpastete und eine Limo und setzte mich an einen der kleinen Tische vor dem Geschäft. Auf Passanten musste ich einen völlig normalen Eindruck machen. Einfach ein Mann, der sich einen kleinen Imbiss im Laden an der Ecke holte.

Die meisten, die vorbeikamen, waren Pendler auf dem Heimweg. Auf gewisse Weise hatte ich eine Verbindung zu ihnen, auch wenn sie das nicht wissen konnten. Als ich Dr. Varna am Telefon fragte, woher das Geld für meine Rente kam, schwang ein Achselzucken in ihrer Stimme. »Vom Staat«, sagte sie. »Steuerzahler.« Sie wirkte amüsiert. »Wollen Sie den Steuerzahlern etwas Gutes tun? Dann sorgen Sie dafür, dass Sie nicht in einer Einrichtung landen. Ein Krankenhausbett kostet am Tag mehr als Ihre Rente im ganzen Monat.« Trotzdem war ich der gesichtslosen Menge dankbar. Sie bezahlten so lange für meine Krankheit, bis sie schließlich abklang, was nach Ansicht der Ärztin Jahre dauern konnte.

Als ich nach Hause kam, war es kurz vor sieben, aber das letzte Licht färbte den Himmel im Westen immer noch goldgelb. Die Tage waren nicht nur wärmer, sondern auch länger geworden. Kaum in der Wohnung, setzte ich mich an den Küchentisch, nahm den Stift und schlug die erste Seite des Notizbuchs auf. Sauberes weißes Papier. Dünne blaue Linien.

Ich wollte für jeden meiner letzten zwölf Tage einen Eintrag schreiben.

Eine Erinnerung glomm in meinem Gedächtnis auf. Wie all meine verbliebenen Erinnerungen war sie so tief in der Kindheit vergraben, dass meine Krankheit sie nicht vertreiben konnte. In der vierten Klasse hatte ein Lehrer, der mir damals unglaublich alt erschien, uns alle gefragt, welches Buch wir auf eine einsame Insel mitnehmen würden. Unzählige Hände in der Luft; alle möglichen Titel wurden gerufen. Die beste Antwort kam von einem schlagfertigen Mädchen, das einen Ratgeber vorschlug, wie man auf einer einsamen Insel überlebte.

Ich aber hatte all die Jahre gebraucht, um zu begreifen, dass es nur eine Antwort gab.

Was für ein Buch nimmst du auf eine einsame Insel mit?

Ein leeres. Und einen Stift.

Um 18.38 Uhr am 13. September schrieb ich drei kleine Wörter – und die Erinnerung begann.

TAG elf

Der Wecker warf mich aus dem Bett. Mittwoch. Für einen Außenstehenden war der heutige Tag nichts Besonderes, aber bei jedem Atemzug, jedem vorsichtigen Schritt durch die Dominosteine hatte ich das Tagebuch im Hinterkopf. Jetzt, da ich eine Methode hatte, das Vergessen durch Erinnerungen auszuspielen, schien jeder Augenblick eine neue Bedeutung zu bekommen.

Heute konnte ich etwas dazulernen.

Nur in Pyjama-Shorts stürzte ich mich in meinen Frühsport und wärmte meine Muskeln in der klimatisierten Luft auf. Bis gestern schienen die Übungen die beste Möglichkeit, mein künftiges Ich zu prägen. Das Vergessen mochte ja meine Erinnerungen zerstören, aber Fleisch und Knochen, Muskeln und Sehnen konnte es nichts anhaben. Und Sehnen konnten gedehnt werden. Muskeln aufgebaut. Die Übungen von heute reichten über das Vergessen hinaus zu meinem künftigen Ich.

Das Programm auszuarbeiten hatte eine Menge Spaß gemacht. In dem Brief war nur kurz die Rede von »Frühsport« gewesen. Ohne jegliche Ausrüstung in meiner Wohnung blieb mir nur, aus meinem Körper selbst genauere Informationen herauszuholen. In den ersten zwei Wochen tastete ich mich durch immer neue Kräftigungsübungen: Liegestütz (auf Handflächen und Knöcheln), Unterarmstütz (seitlich und normal), Kniebeugen, Crunches, Ausfallschritte. Dann das Kardioprogramm: Hampelmänner, Burpees. Und weiter. Irgendwie wusste mein Körper, was als Nächstes kam und wie es ausgeführt werden sollte. Jeden Tag kitzelte ich ein neues Element heraus, wie ein Musiker, dessen Finger sich an eine Melodie erinnerten, die der bewusste Verstand längst vergessen hatte. Dessen Finger sich erinnern wollten – ein Bewegungsdrang, der in Fleisch und Nerven eingebrannt war.

Klimmzüge waren die letzte Übung, die ich entdeckte, fast einen Monat später als die anderen. An jenem Morgen war ich nach meinen Übungen auf dem Weg ins Schlafzimmer, als ich nach der Oberkante des Türrahmens griff. Ohne jedes Nachdenken, als zupfte ein Puppenspieler an den unsichtbaren Schnüren an meinen Handgelenken. Meine Bizeps spannten sich, und schon ging es aufwärts – bis ich handfeste Beweise für das Training meines vergangenen Ichs vor Augen hatte. Staub und Schmutz bedeckten die Oberkante des Türrahmens. Aber zwei Stellen waren nur leicht verdreckt: genau die, auf denen meine Hände lagen. Die Vergangenheit mochte ja vor meinem Bewusstsein versteckt sein, aber die Spuren waren überall, wenn man nur wusste, wo man danach suchen musste.

Diese Vergangenheit konnte ich jetzt spüren, während meine Muskeln durch die Bewegung aufgewärmt wurden, sich ein vertrautes Gefühl ausbreitete und mein Körper allmählich seinen Rhythmus fand. Ich zog mein Programm durch und dann noch ein zweites Mal, bevor ich mich atemlos und schwitzend den Dehnübungen zuwandte. Bezüglich dessen, was er konnte und was nicht, wies mein Körper so viele Indizien auf wie ein Tatort. Und nicht nur der Körper, auch der Geist. Die Wörter, die ich wählte, enthielten Hinweise auf die Vergangenheit. Beim Dehnen konnte ich jede Muskelgruppe benennen, eine nach der anderen: Quadrizeps, Trapezmuskel, Gluteus Maximus, Latissimus, Kniebeuger, Adduktoren und so weiter. Wer kannte solche Begriffe? Jeder? Niemand? Nur Menschen wie ich?

Und wer könnte das sein?

Schließlich sprang ich unter die Dusche. Meine Haut prickelte von den Übungen und dem Dehnen und dem heißen Wasser, und ich fühlte mich bereit für die Herausforderung, vor der ich mich gestern erfolgreich gedrückt hatte: zu berechnen, wie weit mich der Unfall am Montag zurückgeworfen hatte. Vielleicht war das Ergebnis furchtbar. Aber zumindest hatte ich heute das Tagebuch. Indem ich alles aufschrieb und an mein künftiges Ich weitergab, hatte ich das Gefühl, es könnte etwas Positives dabei herauskommen. Als hätte ich ausnahmsweise einmal die Chance, aus meinen Fehlern zu lernen.

Während ich am Küchentisch meine Cornflakes aß, wappnete ich mich innerlich und begann die Berechnung.

Montag: Tag dreizehn. Früher Abend, und alles lief planmäßig. Circa siebenundvierzigtausend Dominos – weit über die Hälfte der Gesamtmenge – standen an ihrem Platz. Acht der siebzehn Podeste waren aufgebaut, zusammen mit den Verbindungsbrücken. Das war eine echte Leistung: Die Arbeit an den Podesten brauchte Zeit.

Dann der Unfall. Fast die Hälfte der Dominos am Fußboden waren umgekippt: um die fünfzehntausend. Tagelange Arbeit in Sekunden zerstört. Irgendwie musste ich den Zusatzaufwand in meine verbliebenen Stunden quetschen. Gestern hatte sich erwiesen, dass der Wiederaufbau schneller ging als der ursprüngliche, trotzdem musste ich an den nächsten elf Tagen jeweils neun Stunden daran arbeiten. Ich wusste nicht, ob ein Neun-Stunden-Tag möglich war. Wenn meine Konzentration gegen Ende nachließ – so wie am Montag –, waren die letzten Stunden nicht nur ineffektiv, sondern gefährlich.

Aber mehr als es zu versuchen, konnte ich nicht. Demoralisiert herumzusitzen half mir nicht weiter. Ich straffte die Schultern und ging ins Wohnzimmer. Die Kunst war, das Mammutprojekt in kleinere, überschaubarere Abschnitte aufzuteilen.

Im Nachhinein erkannte ich, dass ich mehr Spielraum für die unvermeidlichen Rückschläge gehabt hätte, wenn ich früher in Vollzeit zu arbeiten begonnen hätte. Aber das Aufstellen der Dominos zu lernen und den Aufbau vernünftig zu planen, hatte eine Menge Zeit in Anspruch genommen.

Andererseits war es auch aufregend, dass das Projekt erst in letzter Minute fertig wurde. Die Vorstellung, an Tag null noch fieberhaft zu arbeiten und im Wettlauf mit der Zeit die letzten Steine aufzustellen. Was sonst sollte ich an diesem Tag tun, außer mir die dahinschwindenden Stunden zu vertreiben und auf das Ende zu warten? Die Aussicht, an meinem einzigen Auftrag zu scheitern, würde mich vielleicht deprimiert und wütend machen, aber zumindest hätte ich in den letzten Momenten keine freie Zeit für mich und meine Gedanken.

Ich stellte eine weitere Dominoreihe auf, meine Hände wurden immer schneller, die Steine sprangen fast allein in Position.

Die Ecke war fertig: perfekt. Ich nahm einen mittigeren Bereich in Angriff. Stockte.

Hier lag die Ursache für das Desaster vom Montag: Das komplizierte Muster mit den Windungen, bei dem sich ein Kompletteinsturz nicht verhindern ließ, sobald ein einziger Domino fiel. Ich hätte den ganzen Bereich neu gestalten können, aber das Spiralmuster war das Kernstück – es steuerte das Timing der gesamten Kettenreaktion. Es zu entfernen war, als risse man das Herz heraus. Mit zusammengebissenen Zähnen streckte ich den Arm aus, um einen der Spiralarme aufzustellen.

Und stieß mit den Fingern gegen einen stehenden Domino.

Mir stockte der Atem. Wie in Zeitlupe neigte sich der Stein, wackelte. Da ich die Hände voller Dominos hatte, konnte ich nichts unternehmen, als er schließlich umkippte und gegen seinen Nachbarn stieß und …

Nichts passierte.

Wie durch ein Wunder blieb der Nachbarstein stehen. In der Mitte der Spirale waren die Kurven am engsten. Durch den Winkel und den zögerlichen Fall des ersten Steins war der zweite unversehrt geblieben. Mit angehaltenem Atem und so vorsichtig, als wäre es Kristallglas, griff ich nach dem umgefallenen Stein und brachte ihn in Sicherheit.

Okay.

Ich holte tief Luft und zog mich in den freien Mittelgang zurück, wo ich die Hände nach den Zehen streckte und mit den Fingern, Knöcheln und schließlich den Handflächen den Boden berührte. Nach und nach linderten die Dehnübungen den Anflug von Panik. Katastrophe vermieden.

Trotzdem, es war eine Warnung: Es mussten Zugeständnisse gemacht werden. Ich konnte nicht so schnell an komplexen Mustern arbeiten, ohne ein Risiko einzugehen, und Risiken konnte ich mir nicht leisten. Julies Worte gingen mir durch den Kopf: Sie brauchen eine Methode, um den Schaden zu begrenzen. Eine Art Schranke. Sie hatte nur einen kurzen Blick auf den Trümmerhaufen werfen müssen, um den Nagel auf den Kopf zu treffen. Auf der Suche nach Ideen sah ich mich um. Wenn man ein so spartanisches Leben führte, lagen nicht viele überflüssige Dinge in der Wohnung herum, nur die gesammelten Plastiktüten von meinen Lieferungen und die Verpackung der Dominosteine: ein Dutzend leere Kartons.

Ich betrachtete sie prüfend.

Ja. Die Pappe war stabil, aber dünn genug, um in die Lücken zwischen den Dominos zu passen. Mit einem Teppichmesser machte ich mich an die Arbeit, bis ich einen Haufen rechteckiger Sperren hatte, die ich, eine nach der anderen, einsetzte. Langsam, vorsichtig, bis eine Art Pappkartongitter in den Windungen und Kurven der Steine steckte. Dann widmete ich mich wieder der eigentlichen Arbeit. Als ich beschloss, Mittagspause zu machen, ging der Wiederaufbau schneller voran als je zuvor, und es zeigte sich, dass das Einfügen der Sperren gut investierte Zeit gewesen war.

Ich holte Tomaten, Käse und Schinken aus dem Kühlschrank, griff nach einer Packung Mehrkorntoast – und stellte fest, dass es sich um Rosinenbrot handelte. Und zwar bei allen drei Broten, die Julie geliefert hatte, Vorrat für die ganze Woche.

Solche Fehler waren besonders ärgerlich, da sich meine Bestellung nie änderte. Wie alles andere in meinem Leben – Miete, Strom, Postzustellung – waren die Lebensmittelbestellungen von meinem Vorgänger eingerichtet worden und wurden automatisch von meinem Konto abgebucht. Soweit möglich, hatte ich alles so belassen, um ein Gefühl von Kontinuität zu haben. Es war nur eine Kleinigkeit. Aber Kleinigkeiten waren alles, was ich hatte.

In jedem Fall kam Rosinenbrot zum Mittagessen nicht in Frage. Ich holte Julies Visitenkarte aus dem Karton, wählte die Nummer und erklärte das Problem. Sie schien nicht gerade begeistert über eine zusätzliche Lieferung und schaffte es heute ohnehin nicht mehr. Schließlich einigten wir uns auf morgen Vormittag, und ich machte mir ein Sandwich ohne Brot, was ungefähr so gut schmeckte, wie es klingt.

Am Nachmittag ging die Arbeit gut voran, aber gegen drei fing ich an, auf die Uhr zu sehen. Trotz meiner nachlassenden Konzentration fuhr ich fort, weil ich darauf vertraute, dass die Sperren die Folgen einer Unachtsamkeit begrenzen würden. Vier Uhr schlich vorbei, dann war es endlich halb fünf, und mein erster Neun-Stunden-Tag war geschafft.

Ich hockte mich hin und betrachtete mein Tagwerk. Die Katastrophe von Montag war größtenteils behoben, es sah aus, als hätte ich über drei Viertel der umgefallenen Steine wieder aufgestellt. Nur zwei- oder dreitausend fehlten noch, die mussten bis morgen warten.

Ich machte mir ein einfaches Abendessen und ging damit auf den Balkon. Es war schon eine Weile her, dass ich mich dort draußen aufgehalten hatte. Nach einem harten Arbeitstag, in der Hocke und verdreht, fühlte sich das Sitzen so gut an, dass mir fast schwindelig wurde.

Nach dem Essen blieb ich noch lange auf dem Balkon und sah zu, wie die Sonne über den Bergen hinter der Stadt verschwand. Eine sanfte Brise ließ mein Hemd flattern und zerzauste mir die Haare, während der Abend hereinbrach und die Lichter der Stadt aufleuchteten.

Morgen wären die letzten Spuren der Katastrophe beseitigt; an sie erinnern würde nur noch der Eintrag in meinem Tagebuch. Das war doch was.

TAG zehn

Wecker um sechs Uhr. Das dritte Mal in Folge früh aufgestanden.

Ich rollte mich aus dem Bett und absolvierte meine ersten Übungen noch im Halbschlaf. An den besten Tagen – Tagen wie diesem – fühlte ich mich wie ein Bildhauer, der einen Marmorblock bearbeitete. Jede Kraftanstrengung, jeder Schweißtropfen, der über meine Wange lief, gestaltete mein künftiges Ich.

Nach dem Duschen und Frühstücken spülte ich und räumte die Küche auf. Komisch, für Mr. Lester hatte ich nie geputzt.

Oder vielleicht doch nicht so komisch. Bis gestern hatte ich keine Erinnerung daran, jemals mit einer jungen Frau gesprochen zu haben, ganz zu schweigen davon, sie in meine Wohnung einzuladen. Meine einzige echte Begegnung (wenn man es so nennen wollte) hatte acht oder neun Wochen nach dem Neustart meines Gedächtnisses stattgefunden. Ich hatte genug Selbstvertrauen aufgebaut, um mich der Außenwelt zu stellen, und freute mich jeden Abend auf einen langen Spaziergang bei Sonnenuntergang über den gewundenen Pfad durch den Park zur Uferpromenade. Wenn die Sonne versank und die Lichter am Fluss zu glitzern begannen, kehrte ich immer um und ging zurück nach Hause.

Ich sah gern den Joggern zu. Während der Rest der Welt trottete und stapfte, flogen die Jogger förmlich über den Weg, lebendig und energiegeladen.

An jenem Abend war ich erst kurz unterwegs, als mir eine Joggerin entgegenkam. Im Lauf der Wochen hatte ich mir die Verkehrsregeln eingeprägt, nach denen die verschiedenen Freizeitnutzer sich im Park bewegten, und normalerweise war es nicht besonders schwierig, den anderen auszuweichen, aber an diesem Abend war ich offenbar mit den Gedanken woanders. Als ich merkte, was los war, stießen wir schon fast zusammen.