The Brightest Stars  - connected - Anna Todd - E-Book

The Brightest Stars - connected E-Book

Anna Todd

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Beschreibung

The darkest moon will guide your way

Die leidenschaftliche und bewegende Liebesgeschichte um Karina und Kael geht weiter. Band 2 der großen Serie THE BRIGHTEST STARS.

Karina fühlt sich betrogen und enttäuscht, seit sie weiß, dass Kael sie hintergangen hat, und sie bricht den Kontakt zu ihm ab. Aber die Gedanken an Kael lassen sie einfach nicht los. Denn niemand versteht sie, wie er es tut. Niemand kann sie besänftigen, wie er es kann. Zwischen den beiden scheint ein unsichtbares Band zu existieren, das sie wie magisch zu ihm hin zieht. Als sie sich zufällig wiederbegegnen, wird Karinas Sehnsucht noch größer, und sie muss sich entscheiden: Kann sie seine Nähe zulassen, ohne sich daran zu verbrennen?

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Seitenzahl: 412

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Das Buch

Die leidenschaftliche und bewegende Liebesgeschichte um Karina und Kael geht weiter. Band 2 der großen Serie THEBRIGHTESTSTARS.

Karina fühlt sich betrogen und enttäuscht, seit sie weiß, dass Kael sie hintergangen hat, und sie bricht den Kontakt zu ihm ab. Aber die Gedanken an Kael lassen sie einfach nicht los. Denn niemand versteht sie, wie er es tut. Niemand kann sie besänftigen, wie er es kann. Zwischen den beiden scheint ein unsichtbares Band zu existieren, das sie wie magisch zu ihm hin zieht. Als sie sich zufällig wiederbegegnen, wird Karinas Sehnsucht noch größer, und sie muss sich entscheiden: Kann sie seine Nähe zulassen, ohne sich daran zu verbrennen?

Die Autorin

Anna Todd ist die »New York Times«-Bestsellerautorin der AFTER-Serie, des Romans SPRINGGIRLS und der STARS-Serie. AFTER erschien in 35 Sprachen und ist ein internationaler Nummer-1-Bestseller. Seitdem hat sie acht Romane geschrieben. Sie ist an der Verfilmung von AFTERTRUTH, der Fortsetzung von AFTERPASSION, als Produzentin und Regisseurin beteiligt. Anna stammt aus Ohio und lebt mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn in Los Angeles. Mehr über die Autorin auf AnnaTodd.com, bei Twitter unter @AnnaTodd, auf Instagram unter @AnnaTodd und auf Wattpad unter Imaginator1D.

ANNA TODD

THE BRIGHTEST

STARS

connected

Roman

Band 2

Aus dem Amerikanischen

von Nicole Hölsken

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel THE DARKEST MOON bei Frayed Pages LLC.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 10/2020

Copyright © 2020 by Anna Todd

Published by arrangement with

Bookcase Literary Agency

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Rabea Güttler

Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-22715-9V003

www.heyne.de

Für alle, die sich schon einmal verloren gefühlt haben.

Lass mich Dir helfen, Dich selbst zu finden.

Playlist

What We Had – Sody

Falling – Harry Styles

Possibility – Lykke Li

Little Did You Know – Alex & Sierra

July – Noah Cyrus

Little Bit Of You – Kevin Garrett

Idfc – blackbear

Poser – Grace VanderWaal

Lost On You – Lewis Capaldi

Before You Go – Lewis Capaldi

Hollow – James Smith

Lost Without You – Freya Ridings

The Light – The Album Leaf

Lie – NF

Love In The Dark – Jessie Reyez

When The Party’s Over – Billie Eilish

Watch – Billie Eilish

Rest – Minke

The Other (Stripped) – Lauv

Unspoken – Aaron Smith

Can We Kiss Forever? – Kina, Adriana Proenza

1

Kael, 2019

Das Meer aus schwarzen Klamotten tut mir in den Augen weh. Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich in einer derart uniformierten Menge war. Ich bin immer noch so an den Tarnanzug gewöhnt, den ich jahrelang Tag für Tag getragen habe, dass ich, obwohl ich mittlerweile nicht mehr in der Army bin, auch unter Zivilisten immer noch nach Tarnfarben Ausschau halte. Wenn ich heute eines meiner frisch gereinigten Jacketts vom Bügel nehme, erinnere ich mich an meinen Kampfanzug, dessen Stoff von dem daran verkrusteten Sand und Schmutz so steif geworden war, dass er knisterte, wenn wir stundenlang durch die Hitze Georgias marschierten. Ich greife unter mein Shirt, und meine Hand berührt die Hundemarken, die um meinen Hals hängen.

Ich gehöre nicht zu den Soldaten, die diese Dinger mit Stolz um den Hals tragen, um in den Bars zu Hause ein paar Drinks umsonst zu bekommen. Ich trage sie, weil das Gewicht des Metalls auf meiner Brust mich erdet. Wahrscheinlich nehme ich sie nie wieder ab.

»Ist ein bisschen kalt hier«, sagt meine Ma, als ich die Hundemarke loslasse und meine Hände in den Schoß lege.

»Willst du meine Jacke haben?«, frage ich sie.

Sie schüttelt den Kopf.

»Sie müssen den Leichnam kühl halten«, sagt eine bekannte Stimme.

»Du bist noch genau so ein krankes Arschloch wie früher.« Ich stehe auf und umarme Silvin. Sein Körper ist erheblich dünner als bei unserer letzten Umarmung.

»Du bist ja auch noch derselbe.« Er knufft meinen Arm.

Meine Ma sieht ihn tadelnd an. »Hört damit auf.« Sie schlägt ihn ein wenig fester, als er mich geschlagen hat.

»Wie oft hab ich das jetzt schon gehört?« Silvin umarmt meine Mom, und sie fängt an zu lächeln.

Sie fand ihn eigentlich immer ganz nett, obwohl er ein unflätiger Arsch mit einem krassen Sinn für Humor ist. Sein beschissener Humor brachte uns sogar in den düstersten Zeiten unseres Lebens immer wieder zum Lachen, weshalb auch ich immer schon was für ihn übrighatte.

»Wie geht’s dir, Mann?«, frage ich lässig, obwohl mir klar ist, dass er wahrscheinlich momentan mehr leidet als die meisten anderen Leute in der Kirche. So wie ich bei der letzten Gelegenheit dieser Art.

Er räuspert sich und blinzelt mit geröteten Augen. Dann bläst er die Luft aus und antwortet: »Mir geht’s gut, ähm, mir geht’s gut. Ich wär nur lieber in Vegas bei einem Slotgame, um mit einem Pornostar deren Geld zu verspielen.« Er lacht verlegen.

»Wären wir das nicht alle?«, witzele ich, um nicht noch mehr trübe Gedanken bei ihm zu verursachen. Manchmal ist es besser, an der Oberfläche zu bleiben, wo man den Gefühlen nicht so ausgesetzt ist.

»Setzt du dich zu uns? Oder hast du schon einen Platz?«, frage ich ihn.

»Das hier ist kein verdammtes Konzert, Martin«, sagt er und lacht. Dann setzt er sich neben meine Ma.

Silvins verqueres Lachen soll wohl die tiefe Traurigkeit überdecken, die sich über die ganze Kirche gelegt hat. Die Trauer tropft förmlich von der Decke. Es ist die Art von Kummer, die in einen hineinblutet und die man nie wieder abwaschen kann. Man sieht sie dir an. Das Gewicht von allem, was du mit dir trägst, fließt einfach durch deinen Blutkreislauf und sitzt auf deinen Schultern.

Silvin seufzt. Er lässt sich schwer auf dem Holzsitz zurücksinken, als versuche er, etwas von dem Gewicht, das auf ihm lastet, an die Bank abzugeben. Seine Augen starren nach vorn, haben sich in irgendeiner Erinnerung verloren, die sich weigert zu verschwinden, die ihm jede Chance auf inneren Frieden versagt. Er ist zu jung, um so alt auszusehen. Er ist drastisch gealtert, seit wir alle ihn »Babyface« nannten – mit unserem besten Südstaatenakzent. Er stammt aus Mississippi, und bei unserem ersten Einsatz sah er aus wie fünfzehn. Aber jetzt sieht er sogar älter aus als ich. Babyface, wie der ganze Zug ihn nannte, war ganz schön erwachsen geworden, seit damals, als ihm etwas, das wie rohe Thunfischstückchen aussah, vom Himmel ins Gesicht fiel. Mein Hirn brauchte damals eine weitere Explosion, um das Entsetzliche zu verstehen und zu erkennen, dass die Stückchen-Plage, die auf uns herabregnete, Stücke menschlichen Fleisches waren, nicht etwa Fisch. Ich stand so nah, dass mir ein Finger mit einem Ehering dran vor die Kampfstiefel fiel. Johnsons Gesicht veränderte sich, als er sich umwandte und erkannte, dass sein Battlebuddy Cox nicht mehr neben ihm stand. Ich sah etwas in seinen Augen, ein winziges Glitzern, das erlosch, als er die Waffe aus der Halterung zog und sich weiterbewegte. Er erwähnte ihn nie wieder, und auf Cox’ Beerdigung saß er nur schweigend da, während dessen schwangere Witwe weinte.

Mir fällt auf, dass diese Beerdigung hier sich gespenstig ähnlich anfühlt.

Ich sehe mich nach einer Uhr um. Ist es nicht langsam höchste Zeit anzufangen? Ich will es hinter mich bringen, bevor ich anfange, gründlicher darüber nachzudenken. Beerdigungen sind immer gleich. Zumindest beim Militär. Zu anderen Beerdigungen war ich seit meiner Kindheit nicht mehr. Seit Anfang meiner Grundausbildung war ich mindestens schon bei zehn. Also zehn Mal, dass ich schweigend auf so einer hölzernen Kirchenbank gesessen habe und mir die Gesichter der Soldaten angesehen habe, die nach vorn blicken mit routiniert zu einer festen Linie zusammengepressten Lippen. Zehn Mal, dass in der Menge plötzlich jemand anfing zu schluchzen. Glücklicherweise war nur die Hälfte von ihnen verheiratet und hatte Familie, also gab es nur fünf schluchzende Ehefrauen, deren Leben auseinandergerissen und für immer verändert worden war.

Oft fragte ich mich, wann ich keine Anrufe dieser Art mehr kriegen würde? Wie viele Jahre würde es dauern, bis wir uns nicht mehr aus diesem Grund versammeln würden? Würde das alles so weitergehen, bis wir alt und grau waren? Würde Silvin zuerst auf meine Beerdigung gehen oder ich zuerst auf seine? Ich gehe immer hin, genau wie Johnson, den ich aus den Augenwinkeln entdecke. Stanson auch, der seinen neugeborenen Sohn in den Armen hält. Er ist noch immer bei der Army, aber selbst diejenigen von uns, die nicht mehr im aktiven Dienst sind, kommen weiterhin. Einmal bin ich sogar nach Washington geflogen für einen Typen, den ich kaum kannte, den Mendoza aber ziemlich ins Herz geschlossen hatte.

Heute sind mehr Leute da also sonst. Aber dieser tote Soldat war auch beliebter als die meisten von uns. Ich will seinen Namen nicht denken oder ihn im Stillen aussprechen. Ich will das weder mir selbst noch meiner Mom antun, die ich in Riverdale aufgegabelt und bis hierher mitgenommen habe. Sie hatte ihn immer gemocht. Wie jeder hier.

»Wer ist die Lady da hinten?« Meine Mutter hüstelt nach der Frage. Ihre Finger deuten auf eine Frau, die ich nicht kenne.

»Keine Ahnung, Ma«, flüstere ich ihr zu.

Silvins gequälte Augen sind nun geschlossen. Ich wende den Blick von ihm ab.

»Die Frau kommt mir total bekannt vor«, beharrt sie.

Ein Mann in einem Anzug betritt die Bühne. Anscheinend ist es jetzt so weit.

Ich unterbreche sie. »Ma. Sie wollen anfangen.«

Ich suche die Bänke nach Karina ab. Mittlerweile müsste sie da sein. Meine Mom hustet erneut neben mir. In letzter Zeit hustet sie immer mehr. Sie hat diesen Husten jetzt schon beinahe zwei Jahre, vielleicht sogar länger. Manchmal hat sie ein paar Tage Ruhe. Dann zahlt es sich aus, dass sie das Rauchen aufgegeben hat. Aber an anderen Tagen scheinen ihre Bronchien von sonst was verklebt zu sein; dann motzt sie herum, dass sie sich genauso gut jetzt eine Marlboro anstecken könnte. Ich habe mein halbes Leben mit ihr deshalb gestritten, seit ich zehn war und hörte, wie der Doktor ihr sagte, sie würde einen Lungenflügel verlieren, wenn sie das Rauchen nicht aufgab und nicht täglich ihre Medikamente nahm. Ich wende den Blick ab, als sie über die Haut an ihren Lippen reibt und stärker hustet. Sie macht einen erschöpften Eindruck. Dann starrt sie wieder wie teilnahmslos auf den mit Blumen bedeckten Sarg. Er ist natürlich geschlossen. Keiner will, dass die Kinder einen kaum erkennbaren Körper ansehen müssen.

Fuck. Ich muss damit aufhören. Gott weiß, wie viele Stunden ich bei Therapeuten gesessen habe, damit die mich wieder in Ordnung brächten. Man sollte doch meinen, dass ich solche Gedanken mittlerweile verdrängen könnte. Aber die Techniken, die sie uns beibringen, funktionieren einfach nicht. Die Dunkelheit ist unwandelbar, unbeweglich. Vielleicht sollte ich die Regierung anschreiben, damit sie sich die Kosten für meine Therapie zurückerstatten lassen? Sie haben dafür bezahlt, wie es sich gehört, aber hat es gewirkt? Offensichtlich nicht. Nicht bei Silvin, nicht bei mir, nicht bei dem Leichnam in dem Kasten auf der Bühne.

»Zählen Sie rückwärts«, empfahlen sie mir, wenn meine Gedanken mal wieder in diese Richtung drifteten.

»Zählen Sie rückwärts, und denken Sie dann an etwas, das Ihnen Freude und inneren Frieden schenkt. Spüren Sie die Füße auf der Erde, machen Sie sich bewusst, dass Sie jetzt in Sicherheit sind«, wiederholten sie immer wieder.

Ich denke an sie, wenn ich mich beruhigen will. Seit ich sie getroffen habe, hatte ich durchaus etwas Frieden. Aber der währt nur so lange, bis die Wirklichkeit wieder einsetzt, und dann will ich mich für die Tatsache bestrafen, dass sie nicht mehr in meinem Leben ist. Und ich gehe weiter in die Dunkelheit hinein.

Aber heute komme ich nicht mehr dazu, meine Eigentherapie zu beenden.

»Fangen wir an. Wenn Sie bitte alle Platz nehmen wollen.« Die Stimme des Bestattungsunternehmers ist leise und teilnahmslos. Wahrscheinlich macht er so etwas hier ein paarmal die Woche.

Die Menschen verstummen, und die Beerdigung beginnt.

***

Nach dem Gottesdienst bleiben wir sitzen, während ein paar der Anwesenden sich für einen letzten Abschiedsgruß anstellen. Silvin fängt meinen Blick auf und deutet nach oben, als wolle er mir irgendetwas mitteilen. Als ich hochschaue, tippt mir jemand auf die Schulter. Natürlich hoffe ich, dass es Karina ist. Alles andere wäre eine Lüge. Andererseits bin ich aber ziemlich sicher, dass sie es nicht ist.

Und natürlich ist es jemand anders. Hinter mir steht Gloria. Sie trägt ein schwarzes Kleid, dessen Oberteil mit weißen Blumen bestickt ist. In diesem Kleid habe ich sie, glaube ich, schon mindestens zehn Mal gesehen. Zehn Beerdigungen. Der heutige Tag war bisher verdammt hart, weil ich erst Karina und dann Silvin gesehen habe und dann noch den Zuschlag für einen verflucht guten Auftrag in einem Vierparteienhaus vor den Toren Fort Bennings nicht bekommen habe. Und jetzt treffe ich auch noch Gloria, die mich immer an ihren Mann erinnert.

»Hey Gloria.« Ich stehe von der Bank auf und umarme sie.

Gloria erwidert meine Umarmung, löst sich dann von mir, nimmt mich erneut in den Arm.

»Wie geht es dir? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Du gehst gar nicht mehr ans Telefon.« Sie zieht eine Grimasse. »Arschloch«, flüstert sie und blickt mir geradewegs in die Augen.

»Ich versinke in Arbeit; außerdem weißt du doch, wie sehr ich Telefonieren hasse.«

Sie verdreht die dunklen Augen. »Die Kids vermissen dich, okay? Und sie fragen total oft nach dir.«

Die Kids. Die Schuld steigt mir wie brennende Galle in die Kehle.

»Ich vermisse sie auch.« Ich schaue ihre Füße an, an die sich normalerweise das kleinste ihrer Kinder klammert. »Ich rufe wieder häufiger an. Ich bin ein echter Scheißkerl.« Ich lächele sie an, und sie nickt, lässt mich ein wenig vom Haken.

Die Kette um meinen Hals fühlt sich schwer an. Eine Hundemarke meine, eine Hundemarke seine. Ich bin es ihm schuldig, darf mich nicht feige vor der Trauer darüber verstecken, ihn verloren zu haben, und muss für seine Kids da sein, wie ich es versprochen habe.

»Und was für ein Scheißkerl du bist!«, stimmt sie mir mit lächelndem Gesicht zu. »Onkel Scheißkerl sollte meine Kids hin und wieder wirklich mal anrufen.« Eindringlich mustert sie mein Gesicht.

»Ich hab dich erst gar nicht erkannt – wegen dem hier.« Sie berührt mit der Hand die Stoppeln an meinem Kinn.

»Ja. Ich bin jetzt ein freier Mann und habe beschlossen, mich ab sofort auch wie einer zu benehmen.«

»Freut mich. Schön dich zu sehen. Auch wenn es ausgerechnet hier ist. Und du …« Sie sieht meine Ma an, und ohne das Gespräch zu unterbrechen, das meine Ma mit einer früheren Bekannten führt, umarmt meine Mutter sie und gibt ihr einen Wangenkuss.

»Karina sieht toll aus.« Gloria schürzt die Lippen und sieht mir in die Augen. »Das tut sie ja immer, aber heute wirkt sie …« Ich wende den Blick ab, als sie schweigt.

»Sie wirkt glücklich. Das ist es!« Sie lächelt.

Gloria hat Karina immer geliebt, und die Buschtrommeln haben mir zugetragen, dass sie sich immer noch gelegentlich treffen, auch nachdem ich vom Stützpunkt verschwunden bin.

Schnell scanne ich die Kirche auf der Suche nach Karinas Haar. Es ist jetzt wieder braun. Diese Farbe liegt genau zwischen »Kastanie und Schokolade«, sagte sie mir mal. So färbte sie sich das Haar immer, wenn sie das Gefühl hatte, sich wieder im Griff zu haben. Alles zu kontrollieren und ihre Haarfarbe zu wechseln gehörte zu ihren Ritualen. Es gab viele kleine Gewohnheiten, die sie pflegte, um Kontrolle auszuüben, um anschließend zu behaupten, sie habe nur Glück gehabt.

»Ja, das freut mich«, sage ich. »Ich habe sie heute Morgen getroffen.«

Sie muss mir nicht sagen, dass sie das schon weiß. Das merkt man daran, wie wenig erstaunt sie ist.

»Wie auch immer, hast du die Kids dabei?«, wechsele ich das Thema. Sie verdreht die Augen noch einmal und schüttelt den Kopf.

»Nein. Meine Mom ist mit ihnen in Benning geblieben. Ich fand, dass sie vorerst schon genug von solchen Veranstaltungen erlebt haben.«

»Ist das nicht bei uns allen so?«

»Verdammt richtig.«

Eine Frau nähert sich uns und umarmt Gloria. Sie scheint sie zu kennen, und die beiden unterhalten sich. Meine Ma spricht immer noch mit ihrer Sitznachbarin, also halte ich wieder nach Karina Ausschau. Wie ist es nur möglich, dass ich sie bisher nirgends gesehen habe? So groß ist diese Kirche doch nun auch wieder nicht. Aber ich erinnere mich, wie gut sie mit ihrer Umgebung zu verschmelzen vermag, wie hervorragend sie sich in einer Menschenmenge verstecken kann. Das ist eine ihrer »kleinen Gewohnheiten«.

In der Unterhaltung neben mir fällt Mendozas Name, und ich versuche, nicht zuzuhören, als Gloria wieder mal das Übliche sagen muss. Ich habe Gloria schon so oft Danke und Mir geht’s gut sagen hören, dass sie mir total leidtut, weil sie stets in der Vergangenheit leben muss. Hier zu leben ist hart, aber es ist noch härter zu gehen. Ich verstehe das besser als die meisten anderen.

Die Stimme meiner Mom dringt durch die leisen Begrüßungen und Beileidsbekundungen um mich herum hindurch, während ich, in Gedanken versunken, einfach nur dastehe.

»Mikael, wo will deine Schwester noch mal aufs College gehen?«, fragt sie mit wirrem Blick, obwohl wir schon bestimmt hundert Mal darüber gesprochen haben.

»MIT«, berichte ich ihrer Gesprächspartnerin, in der ich jetzt Lawsons Mom wiedererkenne. Ich weiß, dass sie ein besserer Mensch als ihr Sohn ist, aber das ist eigentlich keine Kunst. Nachdem ich die vergangenen vier Jahre mit ihm in meinem Zug verbracht hatte, dann zweimal mit ihm nach Afghanistan abgeordnet war, kannte ich ihn besser als seine eigene Mutter. Der Krieg bringt die Menschen einander näher, als alles andere es zu tun vermag, außer dem Tod. In meiner Welt arbeiten die beiden Hand in Hand.

»Genau. MIT. Sie ist dieses Jahr Klassenbeste, und im letzten auch schon. Sie muss noch zwei Jahre warten, aber dann wären die verrückt, wenn sie sie nicht annähmen.« Ihr schwarzes Haar rutscht aus diesem Klammerdings heraus, das sie immer trägt. Ich strecke die Hand aus, um ihr das Haar aus dem Gesicht zu schieben. Die Locken, bei denen ich ihr heute Morgen geholfen habe, sind wieder ganz verschwunden.

Ich erinnere mich plötzlich daran, wie Karina mich auslachte, nachdem ich mir die Finger an einem heißen Lockenstab verbrannt hatte. Ich wusste, dass sie ganz sicher die fürsorglichste, selbstloseste Person war, der ich je begegnen würde, als sie anbot, mir beizubringen, wie ich das Haar meiner Mom in Locken legen konnte, nachdem wir die Brandblasen an ihren Händen entdeckt hatten. Manchmal zitterten sie morgens so sehr, dass sie es nicht mehr allein schaffte, aber sie war zu stur, um um Hilfe zu bitten.

Ich fahre nicht so oft nach Hause wie ich sollte, aber wenn ich es tue, genießt meine Mom es, wenn ich ihr das Haar in Locken lege. Sie sagt, dass das eines Tages einen guten Vater aus mir machen würde. Karina behauptet das Gleiche und das mit einem Blick, als könne sie in die Zukunft sehen. Aber das konnte sie dann offenbar doch nicht und meine Ma genauso wenig, denn sie hofft immer noch auf Enkelkinder von mir, damit der Familienname weiterlebt. Nicht allzu wahrscheinlich.

Ich seufze und hole mein Handy aus der Tasche, checke es gewohnheitsmäßig, wobei ich mich im Raum umsehe. Die Kirche hat sich ein wenig geleert, also werde ich sie wahrscheinlich jetzt schneller entdecken. Dann weiß ich entweder sicher, dass sie doch nicht hier ist, oder sie taucht aus irgendeiner verborgenen Ecke auf, in der sie sich versteckt hat. Das heißt, wenn sie nicht kurz vor Ende hinausgeschlüpft ist, was ihr ebenfalls durchaus zuzutrauen ist …

»Ich bin hier, Dory.«

Beim Klang von Karinas sanfter Stimme setzt mein Herz einen Schlag aus vor Erleichterung.

»Da bist du ja. Jeder redet über dich, und da bist du«, sagt Ma.

Karina runzelt die Augenbrauen und schüttelt den Kopf. »Klatsch und Tratsch, wie immer.«

Ihre Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, und sie legt meiner Mom den Arm um die Schultern und drückt sie.

Karinas Finger wandern zum Kopf meiner Mutter, und sie öffnet die Spange. Ihre zarten Hände zwirbeln ihr Haar genauso zurück, wie sie es mag, und verdammt viel besser, als ich es könnte. Mann, die beiden sind sich seit den Anfängen echt nah gekommen. Es macht mich fucking wahnsinnig vor schlechtem Gewissen, dass meine Mom wegen allem, was passiert ist, Karina nicht mehr in ihrem Leben hat. Es war nicht das Gleiche wie bei Gloria, die in zehn Minuten zu ihr fahren konnte. Meine Mom war ja kaum noch in der Lage, Auto zu fahren.

»Willst du nach draußen gehen?«, fragt Karina jetzt meine Mom. »Hier drin wird es langsam ein bisschen stickig.« Das Grün ihrer Augen richtet sich auf das Bleiglas des Kirchenfensters.

Meine Mom folgt Karina, und beide schauen sich nach mir um. Ich stehe reglos da.

»Und?«, fragen sie im Chor.

»Ich soll mitkommen?« Ich sehe Karina an.

Sie erwidert meinen Blick. Ihre Lippen öffnen sich etwas, aber sie sagt keinen Ton.

Als wir uns umdrehen, vibriert das Handy in meiner Hand. Ich will drangehen und fange Karinas Blick auf. Sie erdolcht das Gerät mit ihren Blicken wie einen ihrer schlimmsten Feinde. Sie erwartet, dass ich drangehe, wie sonst auch immer, also ignoriere ich den Anruf und halte ihren Blick fest. Sie leckt sich über die Lippen, und ihre Augen verraten, dass sie überrascht ist und das als Erfolg verbucht. War ohnehin nur einer meiner Auftraggeber.

»Sollen wir?« Mit der Frage verleihe ich der Tatsache Nachdruck, dass ich nicht ans Handy gegangen bin. Vielleicht schaffe ich es ja doch irgendwie, dass sie mich weiter beachtet. Sie nickt und geht voran, zur Kirche hinaus, während die Glocken vom Turm in den Himmel hinausklingen.

2

Karina, 2017

Ding-dong. Die Klingel der Tür zum Salon erklang, und ich sprang von meinem Bürostuhl auf, in dem ich mich müßig hin und her gedreht hatte. Wir hatten seit beinahe einer Stunde keinen Kunden mehr gehabt, und bei keinem von uns stand irgendeine Reservierung im Kalender, also war ich jetzt allein im Salon. Ich hatte Staub gewischt und gesaugt, sämtliche Öle in allen Massageräumen aufgefüllt. Jetzt gab es buchstäblich nichts mehr zu tun, außer auf meinem Handy herumzuscrollen, und ich versuchte bewusst, das zu vermeiden. Aber jetzt hatte ich einen möglichen Kunden, der meine Langeweile vertreiben würde. Der Mann, der auf die Rezeption zukam, hatte ein kantiges, viereckiges Kinn wie ein Pitbull und eine Alabama State Cap auf seinem dunklen Schopf, die seine dunklen Augen beschirmte. Er war groß, ungeheuer groß.

»Hi, wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich ihn und sah erst rasch zur Uhr an der Wand hinauf und dann durch die Glastüren hinter ihm. Draußen war es dunkel, und plötzlich überlief mich eine Gänsehaut. Ich hasste es, so spät noch allein im Salon zu sein. Ich konnte nicht sagen, warum, aber schon seit Wochen hatte ich so eine üble Vorahnung, die ich einfach nicht abschütteln konnte. Das irrationale Gefühl, dass bald etwas Furchtbares passieren würde, lauerte über mir, sodass ich mich ständig verfolgt fühlte und mein Hirn sogar noch chaotischer arbeitete.

Als der Mann endlich antwortete, hatte ich mir schon mehrfach vorgestellt, wie er mich ermordete.

»Haben Sie einen Termin frei?«, fragte er mit heiserer Stimme.

Mir sank das Herz nun schon zum dritten Mal in die Hose.

»Äh.« Ich überlegte, ob ich Nein sagen und behaupten sollte, dass ich den ganzen restlichen Abend ausgebucht war, aber wenn ich ihn abwies und Mali dahinterkam, würde sie mir womöglich kündigen. Dabei brauchte ich das Geld, zumal nächste Woche meine Stromrechnung fällig war. So schnell würde er mich schon nicht umbringen. Er hatte schließlich keine Ahnung, dass ich allein hier war, und das war auch gut so.

Ich wünschte, ich hätte nicht so denken müssen. Mir ist durchaus klar, dass ich mehr als andere Menschen unter Verfolgungswahn leide, aber es ist trotzdem eine Tatsache, dass immer und überall Gefahren lauern, gerade für Frauen.

»Ja … was für eine Behandlung wünschen Sie denn?«, fragte ich ihn und deutete auf die Karte an der Wand.

Die laminierten Poster rollten sich an den Ecken ein, und einige der Preise waren kaum mehr lesbar, denn seit der Eröffnung des Salons war Malis krakelige Handschrift verblasst. Mit einem Edding zog ich hin und wieder die Buchstaben nach, aber Mali kümmerte das alles nicht. Sie verdrehte die Augen, wenn ich ihr versicherte, dass ich gern neue Schilder machen wollte. Anscheinend war ich die Einzige, die sich daran störte.

»Eine Stunde? Ich brauche dringend eine Massage. Mein Rücken ist hier ganz verspannt.« Er rieb mit der Hand über die Hüfte und verdrehte dabei seinen Oberkörper.

»Eine einstündige Behandlung kann ich machen. Sie sind zum ersten Mal hier?« Ich kannte die Gesichter all unserer Stammkunden, nicht nur die meiner eigenen.

Er nickte, und ich schob ihm das Clipboard mit dem Kontaktformular für Neukunden hinüber. Seine Fingernägel waren schmutzig, und seine Hände waren so trocken, dass die Haut an seinen Knöcheln aufgesprungen war und weiße Ringe drum herum zu sehen waren. Sein Gesicht wirkte jünger als seine Hände, aber selbst wenn ich ihm direkt in die beinahe schwarzen Augen sah, konnte ich sein Alter nicht erraten. Das Einzige, was ich einschätzen konnte, war, dass er hart arbeitete und entweder aus Alabama stammte oder ein spezielles Team aus der Gegend besonders mochte.

Während er das Formular ausfüllte, holte ich das Handy aus meiner Tasche und checkte es heimlich. Eine Benachrichtigung wurde genau in dem Augenblick eingeblendet, als ich den Bildschirm entsperrte. Instagram. Ich hatte zwei neue Follower und drei Likes für meinen neuesten Post, bei dem es sich um ein Foto von einer Pusteblume zwischen zwei Grashalmen handelte. Zwei Follower, hmm? Mit meinen insgesamt zwölf Followern und zwanzig Likes auf einige meiner Posts hätte ich glatt Influencerin werden können.

»Bitte, fertig«, unterbrach der Mann meinen Tagtraum von der Möglichkeit, durch das Posten ästhetisch ansprechender Fotos auf einer App Hunderttausende von Dollars zu verdienen.

»Danke …« Ich las seinen Namen. »Brady. Wenn Sie bereit sind, können wir anfangen.«

Er nickte, und ich führte ihn nach hinten in das Zimmer, in dem ich immer arbeitete. Als wir den winzigen Raum betraten, kam er mir sogar noch größer vor. So groß, dass ich zu ihm emporblicken musste, wenn ich mit ihm sprach. Ich schaltete die Musik ein und umrundete den Tisch, um noch eine Kerze auf dem Regal zu entzünden.

»Haben Sie außer Ihrem Kreuz noch andere Problemzonen, die ich behandeln sollte?«

»Meinen Kopf«, antwortete er, und ich wartete ab, um zu sehen, ob er einen Witz gemacht hatte oder nicht.

Er lächelte leicht und sah mit den Grübchen in den Wangen gleich erheblich weniger mordlustig aus.

»Dafür bezahlt man mir hier nicht genug. Also sonst noch was?« Ich erwiderte sein Lächeln, und er schüttelte den Kopf. So Furcht einflößend war er nun doch nicht.

»Und was den Druck angeht? Eher klassische oder Thai-Massage? Leicht, mittel, tiefgehend?«

Er sah verwirrt aus. »Kenn’ den Unterschied nicht, aber wahrscheinlich mittel? Hatte noch nie eine Massage.«

Innerlich stöhnte ich. Ich würde ihn jetzt entweder zum Stammgast machen oder sein erstes Erlebnis vollkommen vermasseln. Ich hasste diese Art von Druck. Selbst gemacht, ja, aber ich war dennoch nervös. Warum musste ich nur immer so sein? Es war total anstrengend.

»Okay.« Ich rang mir ein schwaches Lächeln ab. »Ich gebe Ihnen ein paar Minuten, bis Sie sich so weit ausgezogen haben, wie es Ihnen angenehm ist, und Sie Ihre persönlichen Gegenstände in diesem Korb verstaut haben. Dann legen Sie sich mit dem Gesicht nach unten auf die Liege, decken sich zu, und ich bin in ein paar Minuten wieder da. Lassen Sie sich Zeit.«

Ich verließ das Zimmer und zog sorgfältig die Vorhänge zu. Dann war ich wieder am Handy, diesmal, um mir die Unterhaltung mit Austin noch einmal durchzulesen. Drei »Wo bist du?« und ein »Wenn einer angepisst sein und nicht antworten sollte, dann ja wohl ich!« später und immer noch nichts. Mein Zwillingsbruder und ich hatten durchaus einige Auseinandersetzungen hinter uns, und es hatte Zeiten gegeben, in denen wir wochenlang nicht miteinander gesprochen hatten, aber das hier war anders.

Jetzt hatte er sich als verdammter Lügner entpuppt. Das hier war etwas anderes als die Flunkerei eines Jungen, der sich dadurch irgendwas von den Eltern oder den Mädels ergaunern wollte. Jetzt war er ein Mann, einer der mich verdammt noch mal angelogen hatte und mit Kaels Hilfe der Army beigetreten war. Eigentlich hätte ich gleich wissen können, dass ich Kael nicht vertrauen konnte. Aber er hatte mich – wie geplant – eingewickelt, und ich hatte mich in das Spiel, das er mit meinem Vater trieb, hineinziehen lassen. Ein Spiel, das komplizierter und erheblich raffinierter war, als ich mir vorstellen wollte. Ich scrollte in meinem Chat mit Austin weiter hinauf bis zu dem Zeitpunkt, als Austin von seinem kurzen Abstecher in South Carolina bei unserem widerlichen Onkel auf dem Nachhauseweg gewesen war und wir beide uns total gefreut hatten.

»Äh, Ma’am?« Die Stimme schreckte mich dermaßen auf, dass ich zusammenzuckte und mit einem Ruck wieder in der Wirklichkeit des Salonflurs landete.

»Shit«, flüsterte ich bei mir. Wie lange hatte ich jetzt dort herumgestanden? Ich hatte keine Ahnung.

»Komme!«, piepste ich und tat gar nicht erst so, als hätte er die angemessene Zeitspanne gewartet.

Ich zog den Vorhang zurück, eilte an den Massagetisch und zu meinem vernachlässigten Neukunden, der sicherlich nie mehr herkommen würde, nicht mal, um mich umzubringen – und schon gar nicht für eine weitere Behandlung.

»Liegt Ihr Kopf bequem? Und der Rest auch?«

Er nickte, und ich zog die Decke auf seinem Rücken herunter und fing an. Während meine Hände über seine Schulterblätter glitten, wanderten meine Gedanken zur Tür hinaus, den Flur entlang und dann über die Straße hin zu jenem Ort, an dem sie in letzter Zeit so oft weilten.

3

Kurz nach zehn kam ich nach Hause. Brady, mein neuer Kunde, war der letzte des Tages gewesen. Er hatte in zwei Wochen seinen nächsten Termin bei mir vereinbart, und ich dankte meinem Glücksstern, dass ihm die Behandlung anscheinend doch gefallen zu haben schien. Die Stunde war total schnell vergangen, denn im Geiste hatte ich quasi mein ganzes Leben an mir vorüberziehen lassen, doch als ich heimkam, tropfte die Zeit nur noch so langsam dahin wie Honig bei Raumtemperatur. Elodie schlief auf der Couch, als ich ankam, also schaltete ich den Fernseher aus, setzte mich in den Sessel und starrte in die Dunkelheit meines Wohnzimmers hinein. Früher hatte ich große Angst vor dem Dunkeln gehabt, und manchmal rannte ich sogar heute noch zu meinem Bett hinüber und sprang in hohem Bogen hinein, um nicht in die Fänge irgendeines Monsters zu geraten, das sich möglicherweise darunter verbarg. Ich fürchtete mich heute nicht mehr vor Geistern und auch nicht mehr vor dem Mann unter dem Bett im Zimmer des kleinen Mädchens in dem Düstere Legenden-Film, der mich als Teenager zu Tode erschreckt hatte. Trotzdem war dieses unheimliche Gefühl nie ganz verschwunden. Mein Leben war nun einmal voller Geister, ob lebendig oder tot.

Elodie schlief tief und fest. Ich fragte mich, wie es zwischen ihrem Ehemann Phillip und ihr im Augenblick lief und welche Obstgröße ihr Baby wohl in dieser Woche hatte. Ich hatte sie in den letzten paar Tagen nicht häufig gesehen. Ich hatte nur gearbeitet und geschlafen und sonst nicht allzu viel getan. Eigentlich hatte ich mir an den vergangenen beiden Samstagen vorgenommen, meinen kleinen Lieblings-Bastelladen mal wieder zu besuchen, dann aber beide Freitagabende davor damit verbracht, mir diesen Plan wieder auszureden.

Ich sah auf die Uhr. Es war Viertel nach zehn, und ich war gleichzeitig todmüde und total überdreht. Mein Körper war erschöpft, aber meine Gedanken wollten nicht aufhören zu rumoren. Ich lehnte mich auf dem Sessel zurück, und mein Kopf pochte. Obwohl Elodie dort auf der Couch lag, fühlte sich das Haus leer an.

Aber vielleicht war ich ja auch diejenige, die leer war? Ich war in der letzten Zeit mit so einigem konfrontiert worden, und das gehörte dazu. Ebenso wie die Tatsache, dass ich nicht allzu viele Freunde hatte. Meine beste Freundin war schwanger und verbrachte immer mehr Zeit mit den Soldatenfrauen, mit denen sie sich angefreundet hatte. Ich verstand das, aber es trug dazu bei, dass das Gefühl der Einsamkeit, das mich ohnehin schon zu verschlingen drohte, sich nur noch verfestigte. Im Augenblick hatte ich auch keine Familie. Ja, mein Bruder und ich waren Zwillinge, weshalb wir einander ein Leben lang verbunden sein würden, aber im Augenblick fehlte jede Spur von ihm – wie immer, wenn er irgendetwas vermasselt hatte.

Und dann war da noch die Zeit. Vor zwei Monaten war mein Leben vollkommen anders gewesen. Austin hatte sich noch in Kansas aufgehalten. Mein Dad und ich hatten eine fade, undramatische Beziehung. Kael war für mich noch ein Fremder gewesen. Und das war leichter gewesen, unkomplizierter. Ich konnte es kaum fassen, dass ich Kael erst so kurze Zeit kannte, er mir mein Leben aber schon dermaßen versaut hatte. Selbst jetzt, während ich in meinem dunklen, einsamen Wohnzimmer saß, musste ich an ihn denken. Ich konnte den Gedanken an ihn einfach nicht loswerden, und das tat mir verdammt noch mal ganz sicher nicht gut. Ich kannte ihn schließlich kaum und wusste nur, dass er ein verfluchter Lügner war. Warum wollte das einfach nicht in meinen Dickschädel hineingehen? Warum grübelte ich immer noch stundenlang darüber nach?

Erst vor zwei Wochen hatte ich herausgefunden, dass Kael Austin geholfen hatte, sich insgeheim bei der Army zu verpflichten – für mich war das buchstäblich das schlimmstmögliche Szenario, und das hatte Kael gewusst. Es war ihm nur schlicht egal gewesen.

Meine Knie fingen an zu zittern, und ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. Die Zeiger der Uhr hatten sich kaum weiterbewegt, und doch hatte ich in diesem kurzen Augenblick noch einmal unsere gesamte gemeinsame Zeit durchgespielt, angefangen von unserem ersten Zusammentreffen bis hin zu unserem letzten. Wie der Regen an diesem Tag auf meine Haut getropft war, das würde ich wohl nie vergessen, egal, wie sehr ich mich bemühte.

Früher war ich gut darin, Sachen zu vergessen – ich vergaß sogar, dass ich eine Mutter hatte, die ihre Familie verlassen hatte und nie zurückgekehrt war. So gut konnte ich das. Aber Kael hatte etwas an sich, das mich nicht losließ, und ich quälte mich damit. Noch nie zuvor habe ich Tage gezählt oder eine Uhr angestarrt und die Zeiger insgeheim beschworen, sich doch bitte weiterzubewegen. Ich war wie besessen von der Zeit. Ich fühlte es. Ich machte mir Sorgen, weil ich dermaßen fixiert war, gab mir Mühe, nicht ganz so zwanghaft zu werden wie meine Mutter, aber dadurch wurde die Sache irgendwie nur noch schlimmer.

Das ging jetzt schon seit Tagen so. Letztlich lief es immer darauf hinaus, dass ich mich auf den Versuch fixierte, mich nicht zu fixieren, sodass ich unweigerlich irgendwann wieder am Küchentisch landete, dort saß und die Uhr anstarrte und mich fragte, ob die Zeit irgendwann wieder an Tempo zulegen würde. Ich wollte die nächste Phase des Herzschmerzes erreichen, in der ich, wie alle auf Instagram behaupteten, wieder mit Freunden ausgehen, Wein trinken und Tränen lachen würde. Da ich es aber nicht allzu sehr mit Tränen hatte und auch nicht allzu viele Freunde besaß, kam mir das unwahrscheinlich vor. Käme ich doch nur irgendwann an den Punkt, mir beim Anblick seines Facebook-Profils nicht mehr vorzustellen, wie sein Schweiß auf seinen Lippen schmeckte, wenn er mich küsste …

Ich stieß mich aus dem Sessel hoch und ging in die Küche. Beim Anblick des Kühlschranks knurrte mir der Magen. Ich wusste gar nicht mehr, wann ich zum letzten Mal etwas gegessen hatte. Ich holte mir eine Tüte mit Brot von der Theke und setzte mich an den Tisch. Es war total trocken, aber da ich eigentlich gar keinen Appetit hatte, war mir das egal.

Eine gefühlte Stunde später erwachte ich blinzelnd aus der Erinnerung an eine Zeit, als Kael auf meiner Veranda gesessen hatte und Gedichte für mich aufgesagt hatte, während wir uns die Sterne angesehen und darüber gesprochen hatten. Irgendwie tat das gut, denn es gehörte zu den wenigen Erinnerungen meines ganzen Lebens, die ich schön fand und mir gern ins Gedächtnis rief.

Meine Augen blickten zur Decke empor, starrten durch mein Dach hindurch in den Himmel. Der Riss in der Decke hatte sich in der vergangenen Woche in einen riesigen, blitzförmigen Spalt verwandelt, der beinahe quer über die gesamte Küche hinweglief. Hätte das Universum nicht wenigstens so viel Mitgefühl haben können, diesen Spalt erst nächsten Monat entstehen zu lassen, wenn es nicht mehr so unaufhörlich regnete wie in den letzten paar Tagen? Wie ich mein Glück kannte, breitete sich der Riss demnächst über das ganze Dach aus, für dessen Reparatur ich auf keinen Fall das Geld hatte.

Ich knibbelte an meinen Nägeln herum. Nachdem der Lack ab war, fing ich an, die Nagelhaut zu bearbeiten. Ich versuchte, das wieder sein zu lassen, und entsann mich sogar des Rats meiner Mutter, als ich mich zum ersten Mal in einen Jungen verknallt hatte und anfing, auf mein Äußeres zu achten: Ich sollte mich auf meine Hände setzen, wann immer ich den Drang zum Knibbeln verspürte. Damals befolgte ich den Rat so gut wie nie, aber zumindest erinnerte ich mich jetzt an ihn.

Ich erinnere mich auch, dass sie am gleichen Tag, als sie mir diesen Rat gab, geradezu glücklich wegen etwas gelächelt hatte, das sie in ihrer Post gefunden hatte. Sie hatte den Brief an ihre Brust gepresst, nachdem sie ihn geöffnet hatte. Austin und ich hatten ihr von der Treppe aus zugesehen. Sie hatte zum Himmel hinaufgeblickt, und ein Leuchten schien von ihr auszugehen. Wegen dieses inneren Lichts, wegen der Art, wie sie strahlte, hatten Austin und ich den Blick von ihr abgewandt und einander bedeutungsvoll angesehen.

4

Ich hatte mir vor Angst fast in die Hose gemacht, als ich mit der Wange auf dem Küchentisch aufgewacht war. Mein Nacken schmerzte, weil ich so verspannt geschlafen hatte, kein Wunder, ich hing ja auch halb vom Tisch herunter. Ich hatte den Nacken knacken und kreisen lassen, und langsam war die Erinnerung an meine Träume zurückgekommen. Austin und ich am Treppenabsatz, meine Mom, die mit uns Lasagne kochte, während sie zu Alanis Morissette durch die Küche tanzte … und dann noch ein Traum von einem weinenden Mädchen.

Das war um vier Uhr morgens gewesen, und neben meinem Kopf hatte ein verpackter Laib Brot gelegen. Ich hatte den Drahtverschluss an der Brottüte zugedreht und mich in mein Schlafzimmer geschleppt, hatte mich gleich aufs Bett fallen lassen und mir nicht mal die Mühe gemacht, meine Arbeitsklamotten auszuziehen.

Jetzt war später Vormittag, und endlich hatte ich geduscht und fühlte mich wieder wie ein Mensch. Elodie machte sich fertig, weil sie irgendetwas vorhatte. Sie hatte mir schon zweimal gesagt, wohin sie wollte, aber ich konnte es mir ums Verrecken nicht merken. Wir machten immer Witze darüber, dass ich ihr Schwangeren-Hirn hatte. Ich schob einen Kaffeepad in meinen alten Keurig-Automaten und wartete darauf, dass das Lebenselixier sich in meinen Becher ergoss.

Vor meinem Küchenfenster hielt sich die Sonne immer noch versteckt, und der Himmel weinte nach wie vor, während ich an meinem Kaffee nippte und an dem trockenen Brot von gestern Nacht knabberte.

»Bin bald zurück. Hole nur noch ein paar Sachen im Supermarkt«, meinte Elodie und legte mir von hinten den Arm um die Schultern. Sie duftete nach Obst und frischer Wäsche.

»Hast du denn gut geschlafen?«, fragte ich sie mit einem Blick auf ihr zartes Gesicht. Es sah rosig und glühend aus, aber ihre Augen waren geschwollen. Sie brauchte Ruhe.

»Kare, sorry, dass du unseren Streit diese Nacht mit angehört hast«, sagte sie und stellte sich vor mich hin, wobei ihr blonder Bob ein wenig hin und her schwang. Ich sah in die großen, blauen, geröteten Augen, und sie biss sich auf die Lippe.

»Phillip ist einfach nur … er ist gestresst, weil er nicht hier ist. Deshalb streiten wir schon mal häufiger. Aber es geht ihm gut. Alles ist gut«, versicherte sie, und ihre Hände zitterten.

Ich glaubte ihr nicht eine einzige Sekunde lang, aber ich wollte sie nicht unter Druck setzen, damit sie mit mir redete, wenn sie das Bedürfnis hatte.

»Ich habe gar nichts gehört.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe auf dem Küchentisch geschlafen.« Ich lachte matt und verdrängte die Tatsache, dass ich diese Nacht ein weinendes Mädchen im Traum gehört hatte.

Sie lächelte, und ihr hübsches Gesicht wirkte erleichtert.

»Okay. Ich bin bald wieder da. Ich muss ja heute auch noch arbeiten.« Sie küsste mich auf beide Wangen und eilte zur Hintertür hinaus.

»Bye!«, schrie ich ihr hinterher, als die Fliegentür nach ihrem Abgang zuschnappte.

Der Gedanke, dass die beiden stritten, war mir verhasst, und ich hoffte verdammt noch mal, dass sie es hinkriegen würden. Aber wenn nicht, würde ich, so gut ich konnte, für sie und das Baby da sein.

Liebe Güte, der Satz machte mir eine Scheißangst.

Aber jedenfalls musste Elodie den Rest ihrer Schwangerschaft so gechillt wie möglich verbringen, damit auch das Baby gechillt auf die Welt kam. Und ich würde mein Bestes tun, damit das irgendwie klappte.

Ich packte eine Ladung Wäsche in die Maschine und kehrte in mein Schlafzimmer zurück. Es sah so anders aus mit nackter Matratze, so viel größer ohne Kissen am Kopfende. Ich schob die Klamotten auf meiner Kommode hin und her. Dann fuhr ich mit dem Finger über die Platte durch den grauen Staub, kritzelte ein K hinein und ein Herz. Das tat ich immer, wenn ich in die Nähe eines Stücks Papier kam, mindestens seit ich mit elf oder zwölf ein Hausaufgabenheft führen musste. In meinem kleinen Haus sammelte sich der Staub so schnell, dass ich einfach nicht mit dem Wischen hinterherkam. Genauso wenig wie mit dem Gießen der Sukkulente auf meiner Kommode. Die war jetzt tot.

Mein Gott, ich konnte nicht mal eine Pflanze am Leben erhalten.

Ich setzte mich aufs Bett und zog das Handy heraus. Ich bekam nie Anrufe, checkte mein Handy aber trotzdem andauernd. Ich wischte den Bildschirm an dem gemütlichen Gammel-T-Shirt, das ich nach dem Duschen angezogen hatte, ab und legte das Handy auf meine Kommode, während ich mich anzog. Nachdem ich mich fertig angekleidet hatte, war ich beinahe schon wieder durchnässt, denn die Feuchtigkeit des Morgenregens war durch die Ritzen an den Fenstern ins Zimmer gedrungen. Mein Raum war wie eine Sauna, einfach erbärmlich. Ich schaltete das Klimagerät in der Ecke an und direkt wieder aus, denn meine Stromrechnung ging jetzt schon durch die Decke. Ich musste unbedingt raus hier, sonst würde ich den Morgen mit unnötigem Umräumen vertrödeln.

Geschirr. Wie wär’s mit Spülen? Ich musste erst in einer halben Stunde bei der Arbeit sein und hatte schon meinen Salonkittel an. Mir blieb also noch etwas Zeit, und sicher würde sonst Elodie sich über den Abwasch hermachen, wenn ich es jetzt nicht erledigte – doch in ihrem Zustand sollte nicht ausgerechnet sie die Reste der verdorbenen Lasagne von neulich Abend aus der Auflaufform kratzen müssen.

Ich stellte das Wasser an, als ihr Name auf dem Handy aufleuchtete, das jetzt auf der Anrichte lag.

Willst du Kaffee? Ich bin fast schon wieder zu Hause.

Ich betrachtete die leere Tasse und tippte eine Antwort ein. Je mehr Koffein ich kriegen konnte, umso besser würde der Tag werden. Gegen Mittag war ich dann vermutlich ganz zittrig, aber das war im Moment normal.

Ich überlegte, ob ich Elodie heute Abend nach der Arbeit einladen sollte, mit mir abzuhängen. Ich konnte im einzigen Restaurant der Stadt, das überhaupt Vorbestellungen entgegennahm, einen Tisch reservieren. Ich wusste, dass sie das Steak dort liebte. Es würde uns beiden guttun, mal aus dem Haus zu kommen. Und es würde ihr guttun, wenn ich ihr zeigte, dass ich gern Zeit mit ihr verbringen wollte und es mir nicht reichte, mit ihr zusammenzuwohnen und auf der gleichen Couch mit ihr herumzusitzen, während wir uns mit den Handys in der Hand krampfhaft wach hielten. Sie war in letzter Zeit so viel mit ihren anderen Freundinnen zusammen gewesen, dass ich mich fragte, ob sie sie mehr mochte als mich? Musste wohl so sein, wenn sie derart oft mit ihnen zusammen war.

Aber war das überhaupt schlimm? Warum kümmerte mich das? Sie hatte sowieso mehr mit ihnen gemeinsam als mit mir. Ich hatte sie nie wirklich kennengelernt, aber ich wusste, wie diese Cliquen aus jungen Soldatenfrauen drauf waren. Entweder Zucker oder Salz. Ich weiß noch, dass meine Mom wie eine Aussätzige behandelt wurde und wie diese Zurückweisung sie gegen das rebellieren ließ, was sie für die typische Lebensweise einer Offiziersfrau hielt – die Lebensweise, die mein Dad sich wünschte, dass sie seinen Nachnamen annahm und ihm ein gemütliches Heim schuf.

Elodie und meine Mom waren allerdings vollkommen unterschiedlich, und vielleicht hatten sich die Zeiten ja auch geändert. Aber angesichts dessen, was ich in meiner Jugend immer an Storys zu hören bekommen hatte, fiel es mir schwer, anders darüber zu urteilen. Ich fand, dass Elodie leichte Beute für gemeine Mädels war. Sie war von Natur aus freundlich und gütig, und ihr süßer Akzent, durch den alles so viel weicher klang, machte sie auf gewisse Weise zur Außenseiterin. Eigentlich total unfair, aber seien wir realistisch: Menschen können verdammt ignorant sein. Ihre letzten Freundinnen hatten sich über ihren Akzent lustig gemacht, aber nie offen, sondern freundlich frotzelnd. Eine von ihnen hatte sie schließlich beschuldigt, sich an ihren Mann ranmachen zu wollen, dem Elodie aus unschuldiger Gewohnheit heraus je einen Kuss auf beide Wangen gegeben hatte. Dann wandten sich alle gegen sie, posteten sogar etwas auf Facebook, wobei sie jede Menge Details ausplauderten, aber aus irgendeinem Grund ihren Namen nicht nannten. Diese alten Freundinnen waren ebenfalls frischgebackene Soldatenfrauen gewesen, und der Schluss lag nahe, dass die derzeitige neue Freundesgruppe sich irgendwann genauso verhalten würde.

Ich habe gelernt, dass es unklug ist, davon auszugehen, dass Menschen nicht vorhersagbar sind. Wie Maya Angelou es Oprah beigebracht hat, die es wiederum mir beibrachte: Wenn Leute dir sagen, wer sie sind, solltest du ihnen glauben. Sogar Estelle, Stepford-Wife meines Vaters mit der Borderline-Störung, war Opfer kindischer Klatschgeschichten, dabei war mein Dad ein ziemlich hohes Tier hier in Fort Benning. Sie wohnten in der größten Art von Haus, das es auf dem Posten gab, und mein Dad kaufte ihr die schönsten Handtaschen, steuerfrei, in den Post Exchange-Läden auf den Stützpunkten der US-Army. Damit und mit ihren Kuchenbasaren und Gruppenreisen nach Savannah gab sie sich total viel Mühe und schoss auch meist den Vogel ab. Doch egal, was sie tat, einige der anderen Ehefrauen zerrissen sich immer noch das Maul über sie und meinen Dad. Sie sagten, dass die »verrückte« und »billige« Ex-Frau meines Dads abgehauen und nie zurückgekehrt sei. Einige von ihnen, die meine Mom gemocht hatten, flüsterten dann, dass Estelle schon etwas mit meinem Vater gehabt hatte, bevor meine Mom abhaute. Ihre Kids hörten das und wiederholten es in der Schule vor meinem Bruder und mir. Austin geriet wegen unserer Mom und ihres Verschwindens in viele Streitereien, manchmal sogar Schlägereien mit den anderen Kids. Aber genug von meinem eigenen Trauma. Hier ging es um Elodie und darum, wie ich sie vor Frauen, die sie womöglich verletzten, beschützen konnte.

Elodie bekam es jetzt von beiden Seiten; ihr Ehemann Phillip rief in dieser Zeit viel häufiger aus Afghanistan an, und sie stritten sich auch immer mehr. Im Vergleich zu den letzten Wochen, in denen sie scheinbar nichts anderes getan hatte, als zu schlafen, schlief sie jetzt nur noch wenig. Sie wirkte erschöpft, sodass sie, wenn sie von einem Besuch bei irgendwem oder einem Treffen der örtlichen Familiengruppe nach Hause kam, nur noch Netflix einschaltete und schon bei der Hälfte einer Episode eingeschlafen war. Aber wenn um drei Uhr nachts das Telefon klingelte, war sie wieder hellwach. Sie schlief auch weiterhin auf der Couch, behauptete, sich dort weniger einsam als im Bett zu fühlen, klammerte sich aber nachts immer an so einem Seitenschläferkissen fest. Mittlerweile fragte ich mich, ob ich das nicht auch mal ausprobieren sollte, um mich weniger einsam zu fühlen.

Seit Kurzem verfolgte ich eine ganz neue Philosophie: Jede einzelne Stunde Schlaf bedeutete weniger Wachzeit, in der ich mich der Shitshow meines Lebens stellen musste. Weniger Gelegenheit, meinen Bruder zur Rede zu stellen. Weniger Gelegenheit, zufällig auf Kael zu treffen. Weniger Gelegenheit, mich mit all dem Mist auseinanderzusetzen, mit dem ich nichts zu schaffen haben wollte. Immer wenn ich mich zur Arbeit auf den Weg machte, das Unkraut gejätet hatte, das meinen Garten zu überwuchern drohte, das Haus geputzt oder auch nur den Spalt in der Küchendecke betrachtet hatte, war es beinahe schon wieder Zeit aufzuwachen und wieder von vorn anzufangen. Das Problem war, dass all diese geisttötenden Aufgaben die gegenteilige Wirkung auf mich hatten – mein Hirn war alles andere als tot. Meine Gedanken wirbelten und brodelten beständig durcheinander, während ich versuchte zu kapieren, was alles schiefgelaufen war.

Wie war es möglich, dass es erst zwei Wochen her war? Bei Brien, meinem Ex, den man eigentlich nicht im Entferntesten mit Kael vergleichen konnte, hatte mich unsere Trennung nicht so fertiggemacht. Ich war immer diejenige von uns beiden gewesen, die weniger emotional gewesen war, die nicht weinte und nicht nachgab, wenn ich glaubte, im Recht zu sein. Er war derjenige gewesen, der sich dauernd entschuldigt hatte. Zumindest am Anfang.