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Was wird am Ende der Zeit sein? Und was hält die Welt im Innersten zusammen? Der erst vor kurzem am Virginia Science & Technology Campus zum Professor gekürte Lars Krönlein und die Genfer Professorin Dr. Jael Rosenberg erforschen am neuesten Pentaquark-Ring den Ursprung der Materie. Dabei entdecken sie ein geheimnisvolles Phänomen, das sie als "Wind" bezeichnen und das jedem Materieteilchen wie ein Lufthauch vorauszueilen scheint. Es kommt der Tag, an dem das deutsch-israelische Forscherteam spurlos verschwindet.
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Seitenzahl: 235
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Forscher wollen immer dasselbe: Verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Lisa stellt als zukünftige Ärztin den Menschen in den Mittelpunkt ihres Interesses. Ihr Ehemann Lars hingegen schießt mit seiner Kollegin Jael Rosenberg über das Ziel einer bodenständigen Forschung hinaus. Die beiden entdecken einen Effekt, der den Ursprung der Existenz erklären und gleichzeitig ihr Ende einläuten könnte.
Während Lars und Jael Rosenberg um das nackte Überleben kämpfen, erkundet Lisa das Geheimnis jüdischer Prophezeiungen. Trotz räumlicher und zeitlicher Distanz pflegt Lisa den Kontakt zu Lars. Werden sie gemeinsam einen Weg finden? Wird es ein Wiedersehen geben? Gefahr und Faszination verwickeln den Leser in eine andere Realität.
Schockiert und zugleich gebannt gerät der Leser in eine fiktive Geschichte, die auch Realität werden könnte. Erneut schuf der christliche Autor und Meister des Spannungsaufbaus, Rüdiger Marmulla, einen Thriller, der forschungsethische Fragen aufwirft.
Wie wird eine Geschichte enden, deren Verlauf schon die alttestamentlichen Propheten vorausgesagt haben?
Margit Helten, Karlsruhe im Oktober 2021
Lieber Lars,
die Landschaft unter uns könnte die Peloponnes sein. Die Umrisse sind recht charakteristisch. Du schläfst. Francis hat auch die Augen geschlossen.
Ich muss Dir sagen, dass ich Deine Begeisterung für die Gegend im Jordangraben nicht teilen konnte. Ich sah es Dir an, dass Dein Herz ganz weit und froh war, weil Dir alles so herrlich schien. Ich sah in Deinen Augen, wie glücklich Du warst. Und ich entdeckte in Deiner Freude eine kindliche Unschuld des Herzens. Da habe ich mich entschlossen, Dir ganz neu zu vertrauen. Wenn Du wach wirst, spätestens wenn wir in Frankfurt ankommen, werde ich Dir meine Entscheidung sagen. Ja. Wir werden wieder zusammen wohnen. Wir machen einen Neuanfang.
Ich schaue wieder aus dem Fenster. Die Sonne spiegelt sich im Mittelmeer. Im Flugradar sehe ich, dass wir uns Italien nähern. Noch gute zwei Stunden, und wir werden zuhause sein. Ich glaube, ich höre jetzt auf, in unsere Cloud zu schreiben und schließe ebenfalls noch eine Weile meine Augen.
Ich liebe Dich auch, Lars.
Deine Lisa
Die Flugbegleiterin greift zum Mikrofon: „Wir sind im Anflug auf den Rhein-Main Airport. Bitte stellen sie ihre Rückenlehne aufrecht und legen sie ihren Sicherheitsgurt an. Das Wetter in Frankfurt ist warm und trocken. Bitte vergessen sie beim Aussteigen nicht ihr Handgepäck. Wir wünschen ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Frankfurt und danken ihnen für den Flug mit Lufthansa.“
Ich rufe kurz meine Nachrichten auf dem Messenger ab. Ich schaue auch noch in die Cloud. Lisa hat etwas in unser Tagebuch geschrieben. Der Eintrag ist vom Freitag, den 23. Oktober 2043. Ach, das ist ja heute Morgen! Ganz frisch. Ich lese es. Wir werden wieder zusammen wohnen. Und sie liebt mich. Besser könnte es nicht sein. Ich schaue zu Lisa rüber. Ich schenke ihr ein breites Lächeln. Und sie nickt mir zu. Ich fühle mich phantastisch. Wir legen alle unsere Sicherheitsgurte an.
Wir sind im Landeanflug. Wir kommen über Osten rein. Da ist das Müllverbrennungswerk in Heusenstamm. Die Autobahn A3 begleitet uns. Der Monte Scherbelino. Gravenbruch. Der freie Platz, wo früher mal ein Autokino war. Neu-Isenburg. Wald. Viel Wald. Wir überqueren die Autobahn A5. Jetzt geht es ganz schnell. Zaun. Luftbrückendenkmal. Landebahn. Touchdown. Die Wasserstoffturbinen gehen sanft in den Umkehrschub.
„Papa, ich will auch einmal Pilot werden.“ Francis schaut mich mit großen Augen an.
„Wir werden heute Nachmittag aus den Kissen auf dem Wohnzimmersofa ein Cockpit bauen. Und dann fliegen wir zwei. Ich werde dein Copilot sein.“
„Au ja, Papa. Und was nehmen wir als Lenkrad?“
Ich überlege. Dann habe ich eine Idee. „Wir nehmen einen Kleiderbügel aus der Garderobe.“
Unser Flugzeug geht am Terminal 3 in die Parkposition. Alle steigen aus. Auch unsere Familie und unsere Freunde, die mit uns nach Israel gereist sind, verlassen den Airbus.
„Wir sehen uns dann am Montag wieder in der Uni, Frau Krönlein.“ Professor Jürgens, Lisas Doktorvater, verabschiedet sich von uns.
Hannah und Johannes machen sich auf den Heimweg nach Heidelberg. Hannah lächelt. „Diese Reise werden wir nie vergessen.“
Lisas Eltern und Heidi nehmen mit uns ein Taxi nach Sachsenhausen. Wir lassen sie zuerst am Deutschherrnufer aussteigen.
Dann geht es zum Sonnenring. Ein gutes Gefühl steigt in mir auf, als Lisa mit dem Keycode die Wohnungstür öffnet. Wieder zuhause. Endlich.
„Sag mal, Lars. Was haben eigentlich John und der Dekan vom Virginia Science & Technology Campus in Israel mit dir besprochen?“
„Die beiden wollen, dass ich vorzeitig ein Examen rigorosum ablege.“
„Aber du promovierst doch bislang nicht.“
„Nein, Lisa. Es geht in diesem Rigorosum allein um den Master-Abschluss meines Studiums.“
„Jetzt schon?“
„Ja. Sie planen nach dem Studium irgendetwas mit mir. Aber sie sind da noch nicht mit der Sprache herausgerückt.“
„Und wann soll das Rigorosum stattfinden?“
„Nach dem Abschluss des jetzigen Semesters.“
„Im März kommt unser zweites Kind zur Welt. Es wäre schön, wenn du bei der Geburt wieder dabei bist. Da würde ich mich sicherer fühlen.“
„Ja, Lisa. Das ist klar.“
„Ich habe schon einen Namen.“
„Ja? Sag.“
„Maurice.“
„Denkst du an Maurice Ravel?“
„Ja, Lars. Und ich denke an Daphnis et Chloé, die Suite, die wir immer so gern hören.“
„Und wenn es ein Mädchen wird?“
„Es wird ein Junge, Lars.“
Ich nehme Lisa in die Arme. Zwei Jungen. Das ist wunderbar. Nach einer Weile löse ich mich aus der Umarmung. „Ich bin vom Unterricht bis auf weiteres freigestellt.“
„Du nimmst mit deinem Avatar nicht mehr am Tele-Learning des Virginia Science & Technology Campus teil?“
„Nein. John und Professor Williams haben mir auf meinen Messenger jede Menge Literatur gesandt, die ich das kommende Halbjahr durcharbeiten muss. Es wartet viel an Arbeit auf mich. Ich muss mich jetzt konzentriert auf das Rigorosum vorbereiten.“
„Aber auf dein gutes Essen muss ich in der Zeit nicht verzichten, oder?“
„Nein, Lisa. Um das Essen kümmere ich mich weiterhin. Das Kochen lasse ich mir nicht nehmen. Nur den Einkauf und den übrigen Haushalt würde ich gern Kerstin anvertrauen. Ich denke, das alles kann sie gut bewerkstelligen.“
„Ja. Das verstehe ich. Ich widme mich auch wieder ganz meinem Studium und der Promotion. Gut, dass Maurice in den Semesterferien kommen wird. Und im Sommer nächstes Jahr kommt dann mein Erstes Staatsexamen.“
„Du machst gute Schritte voran. Du wirst eine gute Ärztin werden, Lisa. Ich weiß es.“
„Danke, Lars, dass du an mich glaubst. Das bedeutet mir so viel.“
„Ich weiß, Lisa.“
Francis kommt zu uns ins Wohnzimmer gerannt. Er will mit uns kuscheln. Wir nehmen ihn in unsere Mitte und umarmen ihn gemeinsam.
Lieber Lars,
hier in der Pathologie ist alles viel vitaler, viel lebendiger als in der Anatomie. Die Leichen in der Pathologie haben nicht die typische Graufärbung, die vom konservierenden Formaldehyd stammt. Es ist ein komisches Gefühl, Körper vor sich zu haben, in denen vor wenigen Stunden noch das Leben steckte.
Heute nahm ich an meiner ersten Sektion in der Pathologie teil. Im Sektionssaal ist in großen Lettern an die Wand geschrieben „media vita in morte sumus“.
Ich habe das einmal recherchiert. Der Satz bedeutet, dass wir mitten im Leben dem Tod begegnen, und er geht auf einen frühmittelalterlichen gregorianischen Choral zurück. Der komplette Text lautet
Mitten im Leben
sind wir im Tod.
Welchen Helfer suchen wir
als dich, Herr,
der du wegen unserer Sünden
mit Recht zürnst.
Heiliger Gott,
heiliger starker,
heiliger und barmherziger Erlöser:
überlass uns nicht dem bitteren Tod.
Es liegt etwas Geheimnisvolles um das Sterben, und ich kann es nicht ergründen.
Heute lernte ich übrigens, was Senckenberg-Tumore sind. Wenn man die Leiche auf dem Sektionstisch lagert, dann gibt es auf der Unterseite der Leichenhaut Abdrücke von den Abflusslöchern des Sektionstisches. Diese regelmäßigen kreisrunden Aufwölbungen der Haut bezeichnet man als Senckenberg-Tumore. Man sieht sie, wenn man die Leiche auf die Seite dreht. Natürlich sind das keine echten Tumore. Das ist typisch Frankfurter Pathologenhumor.
Als ich heute die Pathologie verließ, fühlte ich mich ganz trist. Gut, dass du zuhause auf mich mit einem wunderbaren Essen gewartet hast. Ja, es ist wahr, während meiner Sektionen und meiner Arbeit als Hilfswissenschaftlerin in der Anatomie schmeckt mir das vegetarische Essen deutlich besser. Das milde gelbe Curry mit Zucchini, Champignons und Basmatireis hat meinen Geschmack heute voll getroffen. Auch die Cashewkerne, mit denen Du die Mahlzeit getoppt hast, waren sehr raffiniert.
Danke, Lars. Ich genieße unsere Zweisamkeit nach dem langen Jahr der Trennung ganz neu.
„Lisa? Dass die Senckenberg-Tumore keine echten Tumore sind, habe ich ja verstanden. Aber wer oder was ist Senckenberg?“
„Johann Christian Senckenberg lebte im 18. Jahrhundert und wurde ‚Frankfurter Stadtphysicus‘ genannt. Er war Arzt, Naturforscher und Botaniker. Seine Promotion handelte von der Heilkraft der Beeren des Maiglöckchens. Doch sein Privatleben war sehr traurig. Er war dreimal verheiratet, und alle seine Frauen und Kinder waren früh verstorben. Da bildete er mit seinem Vermögen eine Stiftung und widmete sich ganz der Forschung und Stiftungstätigkeit. Der volle Name unseres Anatomischen Instituts lautet ‚Dr. Senckenbergisches Zentrum der Morphologie‘, weil sich die Anatomie früher allein mit der Form der Zellen und Zellverbände beschäftigt hat. Daneben wurden auch ein ‚Dr. Senckenbergisches Zentrum der Pathologie‘ in Frankfurt und ein ‚Dr. Senckenbergisches Institut für Meeresforschung‘ in Wilhelmshaven und in Hamburg gegründet. Die Dr. Senckenbergische Stiftung mit ihren Instituten trug 1914 maßgeblich zur Gründung der Frankfurter Universität bei.“
„Du kennst dich aber gut aus, Lisa.“
„Natürlich. Das muss ich auch, wenn ich in der Anatomie promoviere. Das würde mir Professor Jürgens übelnehmen, wenn ich die Ursprünge unseres Instituts nicht kennen würde. Ich weiß, dass ihm die Geschichte der Medizin sehr wichtig ist. Und die Geschichte unseres Instituts sollte ich allemal kennen.“
Ich lache. „Da hast du Recht, Lisa. Ich wollte, ich würde über die George Washington University auch so gut Bescheid wissen.“
„Du kannst dich doch auch belesen, Lars.“
„Das stimmt. Aber erst einmal mache ich uns ein schönes Abendessen.“
Lisa schmiegt sich an mich. Und ich mag noch gar nicht mit dem Kochen beginnen.
Liebe Lisa,
tagsüber lese ich, was das Zeug hält. Verzeih bitte, dass mir abends, wenn ich nach dem Abendessen noch die Küche sauber gemacht habe, regelmäßig auf der Wohnzimmercouch die Augen zufallen und ich einschlafe. Ich genieße die Zeit mir Dir. Und wenn ich neben Dir auf der Couch liege und die Augen schließe, dann bin ich sehr glücklich.
Die Zeit, in der ich Francis morgens zu den GoetheKids bringe und nachmittags wieder abhole, ist die einzige Zeit des Tages, in der ich einmal an die frische Luft komme.
Den Rest des Tages verbringe ich an meinem Leseschirm. Manchmal lasse ich mir die Fachliteratur auch vom Computer vorlesen. Ich lese alles zu den Biomedical Informatics rauf und runter. Auch aktuelle Fachartikel muss ich lesen.
Diese Tage erinnern mich sehr an die Zeit meines Abiturs. Das einzige, das jetzt gegenüber meiner Abiturzeit anders ist, ist die Gegenwart von Dir und Francis. Es ist wundervoll, eine Familie zu haben.
Ich habe genau gelesen, was Du in unsere gemeinsame Cloud geschrieben hast. Du magst das vegetarische Essen jetzt mehr. Ich werde deshalb von nun an verstärkt das Fleisch im Essen weglassen. Für heute Abend habe ich als Gericht eine Antipasti-Bowl mit Mozzarella auf Risotto geplant. Ich bin mir sicher, Du wirst es mögen.
Bitte sage mir, wenn ich mehr für Dich tun kann. Nicht jeden Wunsch kann ich Dir von Deinen Augen ablesen. Aber dazu habe ich ja Ohren. Ich will Dir jeden Wunsch erfüllen. Alles, was mir möglich ist, will ich tun.
Lisa, Du bist meine Liebe.
„Lars, ich glaube, ich werde deine Hilfe für meine Forschung in der Anatomie benötigen.“
„Ja? Was kann ich für dich tun?“
„Meine Aufgabe ist es ja, aus der Verknüpfung der Zellverbände der Großhirnrinde abzuleiten, welches Bild die Sterbenden zuletzt gesehen haben. Ich habe schon jede Menge dreidimensional rekonstruierte Großhirnrinden aus meinen elektronenmikroskopischen Untersuchungen erstellt. Aber jetzt weiß ich gar nicht, wie es weitergehen soll.“
„Gibt es denn Fotografien von den Räumen, in denen deine Körperspender verstorben sind?“
„Nein.“
„Ja, das geht nicht. Wir werden nie herausfinden können, wie die Daten im Hirn verschlüsselt werden, wenn wir die Zellverbände nicht mit dem zuletzt gesehenen Bild der Verstorbenen vergleichen können.“
„Was soll ich tun?“
„Du musst in Erfahrung bringen, wo genau die Körperspender verstorben sind. Dann musst du an die Orte fahren und Fotos von den Räumen anfertigen.“
„Puh. Und wenn das nicht geht?“
„In diesem Fall wären die Großhirnrinden, die du schon rekonstruiert hast, für diese Untersuchung unbrauchbar.“
„Dann habe ich mir vielleicht viel Arbeit umsonst gemacht?“
„Tja. Also, erst einmal muss das Studiendesign stehen, wenn man sich unnötige Arbeit ersparen möchte.“
„Ich wollte, ich hätte dich früher befragt. Was empfiehlst du mir?“
„Ich empfehle, die Sterbezimmer zu der Tageszeit und mit den Lichtverhältnissen zu fotografieren, zu denen die Körperspender verstorben sind. Und dann vergleichen wir helle und dunkle Sterbeorte, um erst einmal im Ansatz herauszufinden, wie helle und dunkle Flächen im Hirn kodiert werden. Wenn wir das haben, dann suchen wir helle und dunkle Objekte innerhalb der Fotografien eines Sterbeortes und innerhalb des zugehörigen Hirns auf. Wir werden uns also anfänglich allein auf Schwarz-Weiß-Informationen beschränken, um zu beschreiben, wie Formen und Umrisse im Gehirn verschlüsselt werden.“
„Und Farben kommen später einmal.“
„Irgendwann. Ja.“
„Dann habe ich ja noch einen weiten Weg vor mir. Ich glaube, ohne einen Biomedizinischen Informatiker deines Formats könnte ich diese Arbeit nicht bewältigen. Aber Professor Jürgens hat mich schon beruhigt. Er hat gesagt, es sei auch Forschung, wenn man in einer Dissertation zeigen könnte, mit welchen Methoden man nicht zum Ziel kommt. Dann können sich nachfolgende Untersuchungen gezielt anderen Wegen widmen.“
„Da hat dein Doktorvater Recht, Lisa.“
„Glaubst du, ich werde jemals ein Bild aus den Zellverbänden der Großhirnrinde ableiten können?“
„Grob gerasterte Schwarz-Weiß-Bilder vielleicht schon. Für exaktere Farbbilder wird ein neues Studiendesign notwendig sein.“
„Wie würde das aussehen?“
„Man käme nicht drumherum, den Sterbenden eine Kamera anzulegen, die die letzten visuellen Wahrnehmungen aufzeichnet. Die Frage ist nur, wer das will.“
„Wir haben ja ausschließlich Körperspender, die sich der Wissenschaft verbunden fühlen.“
„Ja. Trotzdem ist doch der Tod ein sehr intimer und privater Moment. Wer will ihn schon auf solch technische Weise mit den Forschern und der Nachwelt teilen? Ich bin mir unsicher.“
„Denkst du manchmal an das Sterben?“
„Ja, Lisa. Mein Papa hatte ja schon Jahre vor seinem Sterben eine Nahtoderfahrung, die mich sehr bewegt hat, als er sie mir berichtete. Lange hatte Papa ja darüber geschwiegen und sich nicht getraut, mit anderen zu teilen, was er erlebt hatte. Er wollte vermeiden, dass andere denken, er sei ein Spinner. Über meinen Papa haben, solange er lebte, immer wieder viele Menschen gelacht. Für manche war er mehr so eine traurige Witzfigur.“
„Woher kam das?“
„Mein Papa war in einem Heim aufgewachsen. Seine Eltern hat er nie kennengelernt. Er hatte nie jemanden, der an ihn geglaubt hat. Niemand hat ihn gefördert. Und Freunde hatte er auch nicht, bis er Mama kennenlernte. Mit Mama fing Papas Leben noch einmal ganz neu an. Aus Papa wäre beruflich viel mehr als nur ein Versicherungsmathematiker geworden, wenn er gute Förderung erfahren hätte.“
„Glaubst du, Stephan war glücklich mit seinem Leben?“
„Ja. Papa hat das Beste aus allem gemacht. Und das Beste war, Mama kennenzulernen und mich als Sohn zu bekommen. Und seine Nahtoderfahrung hat auch noch einmal sein Leben umgekrempelt.“
„Stephan war damals bei Hannah und Johannes in Heidelberg und hat sich alles zum Glauben erklären lassen, nicht wahr, Lars?“
„Ja. Und seither ist es in unserer Familie üblich, tiefgehende Fragen und Lebenszweifel mit Hannah und Johannes zu besprechen.“
„Als ehemalige Diakonisse ist Hannah dazu ja auch bestens geeignet. Mein Vater sagt immer, dass Hannah das Diakonissenkrankenhaus früher echt vorangebracht hat.“
Ich nicke. „Wir haben damals unser Krisengespräch mit Hannah und Johannes nicht zu Ende gebracht.“
„Hannah und Johannes haben sich darauf beschränkt, für uns zu beten, anstatt uns Lebenstipps mit auf den Weg zu geben.“
„Ja. Das haben sie. Wollen wir die beiden in Heidelberg besuchen gehen? Sie müssen wissen, dass zwischen uns alles gut ist.“
Lisa lacht herzlich „Ja, Lars. Das ist für die zwei eine Gebetserhörung. Da sollten sie auch eine Rückmeldung bekommen. Das wird die beiden auch ermutigen. Ihre Gebete waren nicht umsonst.“
„Ich werde ihnen einen Call senden. Und dann besuchen wir sie.“ Ich tippe auf das Holokrypt-Tattoo an meinem Handgelenk. Ich habe sofort eine Verbindung mit Johannes. Wir dürfen sie am Wochenende besuchen gehen. Perfekt.
Regionalbahn, Heidelberg, Hauptbahnhof, Straßenbahn, Bismarckplatz, Eisdiele, Bohnerwachs. Alles wie immer. Ich sitze so, dass ich vom Wohnzimmerfenster aus auf das Heidelberger Schloss blicken kann. Lisa sitzt rechts von mir. Uns gegenüber sitzen Hannah und Johannes. Francis ist mit Kerstin zuhause geblieben, damit wir vier ungestört miteinander sprechen können.
Hannah und Johannes reichen Kaffee und Apfeltaschen.
Ich eröffne das Gespräch. „Bei uns ist die Welt wieder in Ordnung. Wir wohnen wieder zusammen und sind wieder eine Familie. Danke für alles, was ihr für uns getan habt.“
Lisa schließt sich meinem Dank an. „Dass wir bei euch immer willkommen sind, ist ein Segen für uns. Ihr seid uns auch ein Vorbild. Ihr führt die perfekte Ehe.“
Hannah lächelt.
Johannes auch. Er sagt ganz unerwartet: „Wenn man davon absieht, dass Hannah einen Mann mit einer homosexuellen Biographie geheiratet hat, passt bei uns alles.“
Lisa bleibt cool.
Ich verschlucke mich hingegen beinahe an meiner Apfeltasche. Ich muss erst einmal etwas trinken. Lisa schlägt mir sanft auf den Rücken. Dann bringe ich gerade so mit einem Krächzen heraus: „Was?“
„Ja, Lars, wusstest du nicht, dass ich deinen Vater bei einem gleichgeschlechtlichen Date kennengelernt habe, das deine Mutter eingefädelt hat?“
Lisa lacht vergnügt. Das ist ihr offensichtlich auch neu.
„Wieso sollte meine Mutter so etwas getan haben?“
„Deine Mutter wollte, dass dein Vater glücklich wird. Nach neun vermasselten Dates mit Frauen, dachte sie sich, dass dein Vater die Dates mit Frauen vielleicht deshalb immer in den Sand setzt, weil er in Wirklichkeit auf Männer steht.“
Lisa grinst immer noch bis zu den Ohrläppchen.
Ich kann mir das alles nicht vorstellen. „Und wie lief das Date mit euch beiden ab?“
„Katastrophal. Deinem Vater wurde während unseres Treffens klar, dass er nicht auf Männer steht – aber auf Freundschaft. Er wünschte sich, dass wir zwei Freunde werden.“
Ich bleibe einsilbig. „Ohne Sex…“
„Ohne Sex. Ja, Lars.“
Ich bin erleichtert.
„Und dann hast du Hannah geheiratet?“ Lisa legt die Stirn in Falten und schaut jetzt ernst.
„Ich hatte etliche kurze Beziehungen mit Männern. Die waren alle sehr schmerzlich für mich. Die längste Beziehung hatte ich zu einem älteren Mann, der mich nach fünf Jahren gegen einen jüngeren Freund eingetauscht hat. Mir ging es viele Jahre ganz elend. Ich fühlte mich wie eine Ware auf dem Markt der Begierden. Von da an war ich unfähig, eine körperliche Beziehung zu einem anderen Menschen aufzubauen. Ich fürchtete, für immer allein zu bleiben.“
Ich erkenne noch keine Verbindung zu Hannah. Die ganze Geschichte wirkt auf mich ganz bizarr. „Und wie ging es dann weiter?“
„Auf der Hochzeit deiner Eltern lernte ich Hannah kennen. Wir verstanden uns auf Anhieb. Ich spürte, dass gute Schwingungen von ihr ausgingen. Ich liebe, wie Hannah das Leben liebt. Sie schenkt mir eine Geborgenheit, die ich bei Männern immer gesucht aber nie gefunden habe.“
Lisa staunt. „Das ist ja ein Wahnsinnsschritt, den Hannah da auf dich zu gemacht hat.“ Lisa schaut wechselweise Hannah und Johannes an.
Hannah ergreift wieder das Wort. „Es war vor allem ein Wahnsinnsschritt, wenn man bedenkt, dass ich kurz davor war, als Diakonisse auf mein Altenteil nach Marburg ins Mutterhaus zu gehen. Das Mutterhaus und die Dienstgemeinschaft waren ja sozusagen meine Altersvorsorge. Ich bin sehr dankbar, dass die Dienstgemeinschaft eine Lösung für mich und meine Finanzen gefunden hat.“
Lisa zieht die Augenbrauen nach oben. „Und du kannst Johannes vertrauen, dass er nicht morgen mit einem Mann durchbrennt?“
Hannah nickt. „Da bin ich mir ganz sicher…“
Johannes sagt sehr leise „Ich hatte schon die Jahre vor Hannah keine sexuellen Kontakte mehr mit Männern, weil ich so an der Unverbindlichkeit und Kälte der Kontakte gelitten hatte. Ich litt darunter, nur eine Sahneschnitte für die schnelle Kaffeetafel zu sein.“
Lisa schüttelt den Kopf. „Es soll aber auch homosexuelle Partnerschaften geben, die gelingen.“
„Das habe ich nie kennengelernt. Ich kann ja nur für mich und meinen Erfahrungshorizont sprechen.“ Johannes beißt sich auf die Lippen.
Ganz unerschrocken bricht Lisa mal wieder ein Tabu und fragt, mit dem Zeigefinger abwechselnd auf Hannah und Johannes deutend „Und? Läuft da zwischen euch was?“
Hannah lächelt wieder und nickt. „Freundschaft. Liebe. Verbundenheit.“
Lisa lässt nicht locker. „Und Sex?“
Hannah räuspert sich und überlässt jetzt Johannes das Reden. „Ja. Das auch. Gewiss nicht so stürmisch wie zwischen euch beiden. Aber mit Leidenschaft und großer Ausdauer ist es auch bei uns möglich. Ich genieße es, mich bei Hannah ganz fallen lassen zu können.“
„Also ist es doch eine Mann-Frau-Sache zwischen euch, und nicht so ein Mutter-Sohn-Ding?“ Lisa bohrt und bohrt. Es wird mir schon echt unangenehm.
Doch Johannes bleibt sehr souverän und locker auch bei diesem Thema. „Wir lieben uns. Auf allen Ebenen.“
„Alle Achtung.“ Lisa nickt und knufft mich in die Seite, als sie merkt, dass mein Kopf bei diesem Thema rot wurde.
Lisa kommt ganz niedergeschlagen nachhause. So kenne ich sie gar nicht. „Was ist los, Lisa?“
„Professor Jürgens ist richtig böse auf mich. Er hat mich heute hochkant aus dem Labor geworfen.“
„Wieso das?“
„Ich hatte ihm gesagt, dass wir im Frühjahr unser zweites Kind erwarten. Da ist er ausgetickt.“
„Das verstehe ich nicht. Erzähle mir alles. Er muss doch irgendwas gesagt haben.“
„Ja, das hat er. Er sagte: ‚Frau Krönlein, das ist unverantwortlich, was sie da machen. Sie hantieren zur Gewebekontrastierung mit radioaktivem Uran und arbeiten an einem Elektronenmikroskop, das Röntgenbremsstrahlung erzeugt. Und dabei sind sie schwanger. Bis zur Geburt ihres Kindes werden sie kein Gewebe mehr verarbeiten und auch nicht mehr mikroskopieren. Haben sie schon einmal etwas von Mutterschutz gehört? Schluss. Sie verlassen jetzt mein Labor.‘ So verärgert habe ich Professor Jürgens noch nie gesehen. Jetzt fühle ich mich ganz elend.“
„Er hat so reagiert, weil er dich mag. Das musst du richtig verstehen.“
„Wahrscheinlich hast du Recht, Lars. Trotzdem bin ich noch ganz durcheinander. Ich sehe immer noch den Zorn in seinen Augen.“
„Das war nicht Zorn. Das war reine Fürsorge.“
„Ja. Wahrscheinlich. Meine ganze Doktorarbeit muss jetzt ruhen.“
„Naja, du musst als nächstes sowieso erst einmal alle Sterbezimmer fotografieren. Da bist du keinem Strahlenrisiko ausgesetzt. Du bist also nicht ganz untätig.“
„Lars? Ob unser Kind Schaden genommen hat?“
„Kannst du das nicht prüfen lassen?“
„Ich könnte eine Fruchtwasseruntersuchung machen lassen. Da könnte man sehen, ob unser Baby eine Fehlbildung hat.“
„Ja. Mache das, Lisa.“
„Und was wäre die Konsequenz?“
„Ich weiß nicht.“
„Wenn unser Kind eine Anenzephalie oder eine Spina bifida aperta hat, dann werde ich es auch zur Welt bringen.“
„Anenzephalie? Spina bifida aperta? Was ist das?“
„Bei der Anenzephalie entwickelt das Baby kein Gehirn, und es fehlt auch die Schädeldecke.“
„Ach du meine Güte. So etwas gibt es?“
„Ja. Wir haben in unserer anatomischen Sammlung ein paar Fälle.“
„In Alkohol eingelegt?“
„Genau.“
„Und eine Spina bifida aperta? Was ist das?“
„Das ist eine Fehlbildung der Wirbelsäule. Die Wirbelsäule ist offen und wird nicht durch Haut oder Bindegewebe bedeckt. Man schaut direkt auf das offene Rückenmark.“
„Puh. Jetzt verstehe ich Professor Jürgens Ärger schon sehr gut. Was machen wir?“
„Ich werde Maurice in jedem Fall zur Welt bringen. Ein Schwangerschaftsabbruch kommt für mich nicht in Frage.“
„Für mich auch nicht, Lisa.“ Ich nehme sie in die Arme. Ich spüre Lisas innere Unruhe. Und ich fühle, dass sie sich über sich selbst ärgert, weil sie den Mutterschutz missachtet hat. „Die Wahrscheinlichkeit ist doch größer, dass unser Kind gesund zur Welt kommt, oder?“
Lisa zieht ihre Schultern nach oben. Sie weiß es nicht.
Ich fühle mich jetzt auch ganz traurig und niedergeschlagen.
Liebe Lisa,
zur Christmesse liefen wir drei im frischen Schnee zur Alten Nikolaikirche. Auf dem Römerberg stand wieder eine riesige Tanne. Alles war wunderbar mit Lichtern geschmückt.
Pastor Albert ist in diesem Herbst in den Ruhestand gegangen. Ein neuer Pfarrer ist da. Seine Predigt sprach uns so gar nicht an. Er sprach so langatmig, dass ich jetzt noch nicht einmal sagen könnte, was er uns mit seiner Predigt überhaupt mitteilen wollte.
Zurzeit ist alles im Fluss und ändert sich. Das müssen wir so hinnehmen.
Zum Heiligen Abend kochte ich uns Gänsebrust mit Knödeln, Maronen und Rotkraut – so wie Papa das immer gemacht hat. Leider kam das Fleisch im Essen so gar nicht bei Dir an. Naja, wir essen in letzter Zeit mehr vegetarisch. Ich wollte einfach an Papas alte Tradition anknüpfen.
Für Francis haben wir einen Flugsimulator gekauft. Die holographische Darstellung des Cockpits und der Landschaft ist grandios. Trotzdem ist Francis mit dem Flugsimulator vollkommen überfordert. Ich glaube, das war doch keine so gute Idee. Mit den Kissen und dem Kleiderbügel spielt sich das Fliegen für ihn doch besser.
Und dann ist da eine innere Traurigkeit, die in der Schwangerschaft nach uns greift. Wird unser Maurice gesund zur Welt kommen? Wir sprechen darüber nicht viel. Doch ich sehe Dir die Sorge an, Lisa. Ich fühle mich ganz trüb. Wenn Maurice doch schon auf der Welt wäre.
Zum Nachtisch servierte ich uns leckeren Bratapfel mit Vanillesauce. Francis klatschte vor Freude in die Hände, als ich mit den Bratäpfeln aus der Küche kam. Und es roch auch sehr gut. Mit dem Nachtisch habe ich bei Euch beiden voll ins Schwarze getroffen.
Lieber Lars,
jetzt haben wir beide schon so lange nicht mehr in unser Tagebuch geschrieben. Es sind nur noch vierzehn Tage bis zum errechneten Entbindungstermin. Und Du bist heute Morgen nach Washington aufgebrochen. Dein Examen rigorosum steht an. Du wirst nur zwei Tage weg sein. Und doch vermisse ich Dich schon jetzt unendlich.
Ich glaube, ich habe eine Frühjahrsdepression. Ich fühle mich ganz matt und lustlos. Das fünfte Semester habe ich gerade so zu Ende gebracht.
Ulrich macht jetzt sein Physikum. Die Zahnmediziner machen erst ein Semester nach den Humanmedizinern ihre Zahnärztliche Zwischenprüfung. Ob ich Ulrich heute Abend einmal anrufe und frage, wie’s läuft? Ach, vielleicht mache ich ihn dann nur nervös. Das ist wahrscheinlich keine gute Idee. Ich lasse es.
Noch hast Du Dich nicht gemeldet. Du bist noch mit dem Flugzeug unterwegs. Und ich weiß nicht wohin mit mir selbst. Der Tag schleppt sich einfach so dahin.
Ach, ich lege mich im Wohnzimmer einfach auf die Couch. Ich warte, dass Du Dich meldest.
Ich sende Lisa einen kurzen Call, dass ich in Washington eingetroffen bin. Ich schicke nur eine knappe Sprachnachricht. Heute Mittag ist meine Prüfung. Ich bin gut in der Zeit. Was werden die mich wohl examinieren? Und warum wollen John und der Dekan, dass ich vorzeitig mein Examen ablege?
Ich fahre über den George Washington Boulevard in den Bridgefield Way. Die Enterprise Hall ist am 44983 Knoll Square.
Da steht das mir so vertraute Gebäude, halb aus roten Ziegeln, halb aus Betonelementen gebaut. Ich laufe zum Eingang. Meine Prüfung wird in Johns Büro stattfinden. Erstes Stockwerk. Zimmer 132. Ich klopfe an.
„Herein“, ruft John von innen. Außer ihm und dem Dekan, Professor Williams, ist noch eine mir unbekannte Frau anwesend.
Der Dekan bemerkt meinen irritierten Blick und klärt mich gleich auf. „Das ist Professor Young, die Rektorin der George Washington University.“
Mannomann. Was ist das nur für ein Aufgebot. Was haben die vor?
„So, Herr Krönlein. Dann kommen wir gleich zur Prüfung. Berichten sie uns einmal über die Modellbildung, Simulation und Organmodellierung in der Biomedizin.“
Gut, dass ich mich so sorgfältig vorbereitet habe. „In der biomedizinischen Simulation werden biologische Organe, Gewebe und Zellen nachgebildet. Die Funktionsabläufe des Körpers können zum einen so besser verstanden werden. Zum anderen werden mit dem Nano-3D-Drucker Gewebe modelliert, die ihrerseits Körperfunktionen übernehmen können. Das erste Gewebe, das hier nachgebildet wurde, war Lungengewebe, das bei Patienten mit fortgeschrittenen bösartigen Tumoren erfolgreich implantiert werden konnte. Das modellierte Lungengewebe wird über artifizielle Bronchien an der Luftröhre angeschlossen und übernimmt den Gasaustausch im Thorax. Kurz nach dem Lungengewebe gelang es auch, Myokard nachzubilden, um künstliche Herzen zu implantieren.“