The Hitchhiker's Guide to Diplomacy - Leigh Turner - E-Book

The Hitchhiker's Guide to Diplomacy E-Book

Leigh Turner

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Beschreibung

Was macht einen Diplomaten aus? Kann man die Lehren einer diplomatischen Karriere auf das Leben umlegen? Ist die Diplomatie glamourös und dramatisch? Mit typisch britischem Humor heißt der ehemalige Botschafter Leigh Turner mit »The Hitchhiker's Guide to Diplomacy« in der echten Welt der Diplomatie willkommen. Als diplomatischer Vertreter von Queen Elizabeth II. war Leigh Turner in Wien, Moskau, Berlin, Kiew und Istanbul. Mit viel Witz, Biss und Einblick erzählt er vom Zerfall der Sowjetunion bis hin zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, von Spionage und ihrem Einsatz in der Diplomatie, von diplomatischer Immunität und von den großen politischen Ereignissen des 20. und 21. Jahrhunderts – und wie sie für Entscheidungen in unserem Leben wegweisend sein können. Aber auch von (un)diplomatische Menschen, Politik und Krieg bis hin zu Tipps für Diplomaten, Botschafter und das Leben im Allgemeinen. »The Hitchhiker's Guide to Diplomacy« ist eine ungemein unterhaltsame Rückschau eines diplomatischen Lebens und was man daraus lernen kann – für Diplomaten, Botschafter, Per-Anhalter-Fahrende und alle anderen! Aus dem Englischen übersetzt von Lisa Strausz.

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LEIGH TURNER

THE HITCHHIKER’S GUIDE TO DIPLOMACY

Wie Diplomatie die Welt erklärt

Aus dem Englischen von Lisa Strausz

LEIGH TURNER

THE HITCHHIKER’S GUIDE TO DIPLOMACY

Wie Diplomatie die Welt erklärt

Aus dem Englischen von Lisa Strausz

Czernin Verlag, Wien

Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien, Kultur

Turner, Leigh: The Hitchhiker’s Guide to Diplomacy. Wie Diplomatie die Welt erklärt / Leigh Turner

Wien: Czernin Verlag 2023

ISBN: 978-3-7076-0798-7

© 2023 Czernin Verlags GmbH, Wien

Übersetzung aus dem Englischen: Lisa Strausz

Lektorat: Joe Rabl

Umschlaggestaltung und Satz: Mirjam Riepl

Umschlagabbildungen: Leigh Turner privat

Vor- und Nachsatzabbildungen: Leigh Turner privat und UK Government, HBF Österreich

Druck: Finidr

ISBN Print: 978-3-7076-0798-7

ISBN E-Book: 978-3-7076-0799-4

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

Gewidmetden vielen hervorragendenDiplomatinnen und Diplomaten,die mich die Lektionenin diesem Buch gelehrt haben.

INHALT

Einleitung

Teil 1: EINE DIPLOMATISCHE LAUFBAHN

1. London: Die Grundlagen

2. Wien: Die erste Auslandsentsendung

3. London: Die Feuerprobe

4. Moskau: Mitten ins Chaos

5. Hongkong: Etwas bewirken

6. Berlin: Spezialisieren – oder nicht?

7. Berlin: Arbeit ist nicht alles

8. Die Überseegebiete: Maximale Verantwortung

9. Kiew: Treu und geliebt

10. Istanbul: Ran an die Arbeit!

11. Wien: Die letzte Auslandsentsendung

TEIL 2: LEHREN AUS DER DIPLOMATIE

(Un)diplomatische Menschen

Handbuch für den Diplomaten

Handbuch für den Botschafter

Ereignisse, mein Junge, Ereignisse

Russland, die Ukraine und die ehemalige Sowjetunion

Russlands Krieg gegen die Ukraine

Eine Welt im Wandel

Politik

Der Brexit

TEIL 3: HANDBUCH FÜRS LEBEN

Lebenslanges Lernen

Diplomatisches Urteilsvermögen

TEIL 4: DIE WICHTIGSTEN TIPPS FÜR DIPLOMATEN UND BOTSCHAFTER

Zusammenfassung

Danksagung

Weiterführende Literatur

Über den Autor

EINLEITUNG

Sparsamkeit ist das Gebot der Stunde … Die Einführung des Telegraphen hat den Stellenwert der Botschafter verändert. Bei Mitarbeitern, die stündlich Anweisungen über kleinste Details zu erhalten imstande sind und dies auch tun, ja selbst darum bitten, als entzögen sie sich nur zu gerne der Verantwortung, ist es gut vorstellbar, dass das Foreign Office nicht erneut auf der unerschöpflichen Großzügigkeit des Finanzministeriums beharren wird.

Aus einem Bericht der Times über die Debatte zum Wiederaufbau von Pera House, der britischen Botschaft in Istanbul, nach dem Brand von 1870.

Ukraine 2022

Ich habe 2021 begonnen, dieses Buch zu schreiben. Der seit 2014 schwelende Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, ausgelöst durch Präsident Vladimir Putins Entscheidung, seinen friedlichen Nachbarn zu überfallen, hatte bereits 14.000 Menschenleben gefordert. Aber vielen in Großbritannien, der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten kam er weit entfernt und schwer verständlich vor. Putins groß angelegter Vernichtungskrieg gegen die Ukraine – einen souveränen Staat, größer als Frankreich und vor Kriegsbeginn mit einer Bevölkerung von 40 Millionen Menschen –, den er im Februar 2022 begann, hat die Welt verändert und die Diplomatie auf den Kopf gestellt.

Dieses Buch verknüpft den Krieg von 2022 mit Ereignissen in den Jahren 1980, 1989, 1993 und 2014. In den Kapiteln über Russland und die Ukraine wird der Hintergrund des Konflikts beleuchtet: was die Welt falsch gemacht hat, was sie richtig gemacht hat und was Vladimir Putin nicht versteht.

In den Abschnitten über die Berliner Mauer und diplomatische Immunität, Terrorismus, Spionage, den Fall des Eisernen Vorhangs, Frauen in der Diplomatie und wie sich die britische Politik bereits 1987–1989 auf den Brexit vorbereitete, versuche ich, die Diplomatie des beginnenden 21. Jahrhunderts in einen Kontext einzuordnen. Wie, wo und aus welchen Gründen findet echte Diplomatie statt, und was können Nicht-Diplomaten daraus lernen?

Was verrät uns die Schildkröte Jonathan auf St. Helena über institutionelle Stabilität? Wieso ist diplomatische Immunität ein notwendiges Übel? Wir ergründen, warum es für internationalen Terrorismus kein Heilmittel gibt, warum unbekannte Feinde die schlimmsten sind und warum man autoritäre Herrscher von Putin bis Saddam Hussein niemals überschätzen sollte. Unterwegs treffen wir bemerkenswerte Persönlichkeiten, von Ihrer Majestät der Queen, Vivienne Westwood und Jane Goodall über Paul McCartney und die Weisheit von Deep Purple bis hin zu General Lyn Sherlock, einer US-Brigadegeneralin und ehemaligen C-17-Pilotin – und einen gewissen Satan, den ich 1992 eines Nachts in Moskau traf. Über ihn später mehr. Wie können wir die Russen verstehen – oder die Deutschen, oder die Amerikaner?

Moskau 1993

Am Sonntag, dem 3. Oktober 1993, versammelte sich ein Gruppe Expats in der Datscha1 der britischen Botschaft im Nordwesten Moskaus zum 5. Geburtstag eines Kindes. Dicht an dicht standen Familien in ihren Wintermänteln im Garten unter der fahlen Herbstsonne, tranken Tuborg und knabberten Chips. Eingemummelte Kleinkinder spielten Verstecken, ihre Bäuche voll mit Wackelpudding, Scones und Schokokuchen.

Ich half dem Geburtstagskind und seinen Freunden gerade dabei, ein Piratenschiff zusammenzubauen, als ein Kollege von der Botschaft auf mich zukam. Vor dem russischen Parlament2 waren Schüsse gefallen. Die Bereitschaftspolizei hatte vier Tage lang bewaffnete Rebellen im Zaum gehalten, die Präsident Jelzin zu stürzen versuchten. Um uns herum spielten Kinder Fußball und aßen Kuchen, und wir Erwachsenen beratschlagten, was zu tun sei.

Immer mehr Meldungen über Tote, bewaffnete Milizen auf dem Weg zum Fernsehzentrum in Ostankino und gepanzerte Fahrzeuge, die sich den Demonstranten anschlossen, langten ein. Wir beschlossen, im Konvoi in die Stadt zu fahren, angeführt vom beflaggten Botschaftsauto eines lateinamerikanischen Diplomaten. Falls wir Gewalt oder Menschenmengen begegneten, würden wir kehrtmachen.

Während andernorts Kämpfe tobten, kroch unser Konvoi durch die Vororte Moskaus. Vor den Geschäften standen Leute wie gewohnt in Schlangen an, an den U-Bahn-Stationen verkauften Frauen Haushaltswaren, Kioske bewarben importierten Wodka. Erst im Stadtzentrum bemerkten wir, dass ein Rebellen-Konvoi eine Überführung am inneren Ring überquert hatte, während wir unten durchgefahren waren. Am Abend sahen wir zu, wie jeder einzelne russische Fernsehkanal schwarz wurde, als die Milizen Ostankino angriffen. »Die letzte Meldung ist«, schrieb ich abends an meine Eltern,3 während Tracer-Kugeln den Himmel im Norden aufleuchten ließen, »dass Panzer, man vermutet Pro-Jelzin, in die Stadt ziehen.«

Am nächsten Morgen stieg ich in meinen frostigen Lada Niva, umschloss mit meinen behandschuhten Händen das Kunststofflenkrad und schaltete für ein bisschen Unterhaltung auf dem Weg zur Arbeit das Radio ein. Die Verkehrsnachrichten brachten die übliche Auflistung von Baustellen und Fahrzeugpannen. »Meiden Sie auch die Gegend rund um das Verteidigungsministerium«, witzelte der Moderator. »Möglicherweise ist dort alles mit Kampfpanzern vollgeparkt.«

Die beiden russischen Putsche, der erste im August 1991 gegen den sowjetischen Machthaber Michail Gorbatschow und der zweite im Oktober 1993 gegen den russischen Präsidenten Boris Jelzin, drückten dieselben verhängnisvollen Spannungen in der russischen Gesellschaft und Politik aus, die 2014 und 2022 zu Putins Invasionen in die Ukraine führten. Das Leid der Russen in den chaotischen 1990er-Jahren erklärt, warum sie Putin schon so lange ertragen.

Erkenntnisse aus der Diplomatie

Die Diplomatie ist seit Jahrhunderten im Wandel begriffen. Wer braucht schon Diplomaten, wenn es Telegramme/Fernseher/das Internet gibt? An jenem Morgen, während Regierungstruppen das Weiße Haus beschossen und der Putsch gegen Jelzin niedergeschlagen wurde, schalteten wir in der Botschaft CNN ein, um auf dem Laufenden zu bleiben.

Wie in den meisten Berufen geht es in der Diplomatie darum, ein bestimmtes Thema bestmöglich zu verstehen und auf dieser Grundlage die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen. Die Prioritäten ändern sich. Aber dass wir Diplomatinnen und Diplomaten brauchen, die sich mit Ländern, multilateralen Organisationen und den Menschen dahinter auskennen, wird sich nie ändern.

Was ist ein Diplomat? Können wir Erkenntnisse aus der Diplomatie auf das Leben im Allgemeinen übertragen – auf das Berufs- und Familienleben, auf Wirtschaft, Politik, die Entscheidung, in Pension zu gehen, wie wichtig Freundschaft ist oder wie man einen Toten bestattet? Ist Diplomatie immer so glamourös wie ein königlicher Besuch oder so dramatisch wie ein Staatsstreich in der Türkei? Ich möchte Ihnen mit diesem Buch ein authentisches Bild vermitteln.

Der Hauptteil des Buches ist in vier Teile gegliedert. Der erste, »Eine diplomatische Laufbahn«, umreißt meine Erfahrungen in den 42 Jahren von 1979 bis 2021 und schafft einen Rahmen für die folgenden Kapitel. Teil 2, »Lehren aus der Diplomatie«, befasst sich mit bemerkenswerten Persönlichkeiten, damit, was einen Diplomaten ausmacht, was einen Botschafter ausmacht, wie Diplomatie funktioniert, mit dem 20. und 21. Jahrhundert (»Ereignisse, mein Junge, Ereignisse«4), mit Russland, der Ukraine und der ehemaligen Sowjetunion, mit Russlands Krieg gegen die Ukraine, der Welt im Wandel, mit Politik und dem Brexit. In Teil 3, »Handbuch fürs Leben«, geht es um lebenslanges Lernen und diplomatisches Urteilsvermögen. Teil 4 schließlich fasst meine wichtigsten Tipps für Diplomaten und Botschafter zusammen.

Das hier ist kein Diplomatie-Handbuch. Wenn Sie eine Erklärung des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen, der Schwierigkeiten der Nahost-Friedensverhandlungen oder eine Theorie der diplomatischen Etikette lesen möchten, sehen Sie sich bitte anderweitig um. Aber wenn Sie konkrete Beispiele suchen, wie Diplomaten wirklich mit Spionen zusammenarbeiten, wie Mörder sich dank Immunität der Strafe entziehen, wie Russland die Sowjetunion auflöste und sich seither pausenlos über die Folgen ärgert oder was einen guten Diplomaten oder Botschafter ausmacht, lesen Sie weiter!

Autostoppen und Diplomatie

1983 erzählte ich meinem Chef im Umweltministerium, dass das Foreign Office, das britische Außenministerium, meine Bewerbung angenommen hatte.

»Diplomaten sind hoffnungslose Fälle«, sagte er. »Lesen Sie den CPRS-Bericht.5 Sie sind verrückt, wenn Sie das machen.«

»Das habe ich auch 1979 in New York gehört«, sagte ich, »als ich sieben Wochen lang per Anhalter durch die USA reisen wollte. Man würde mich vergewaltigen, kastrieren und für medizinische Zwecke verkaufen, noch bevor ich New Jersey erreicht hätte. Ich hab’s trotzdem nach Hause geschafft.«

Die gleichen Fähigkeiten, die mir im Sommer 1979 geholfen haben, es per Anhalter nach Hause zu schaffen, erwiesen sich auch in meiner diplomatischen Karriere als unentbehrlich. Nehmen wir meine Erfahrung mit Ray6, einem behäbigen, hünenhaften Mann mit tief liegenden Augen in seinem dunklen Gesicht, der mich etwas außerhalb von Durango, Colorado, mitnahm.

Das Erste, was ich im Fahrerhaus erblickte, waren seine Metzgerarme: kräftig und glänzend vor Schweiß. Als Nächstes fielen mir seine Tätowierungen und sein kantiger Unterkiefer auf, wo ein Stoppelbart sein mürrisches Halblächeln einrahmte. Zwischen seinen Oberschenkeln klemmte ein geöffnetes Sixpack Schlitz.

Schlitz – das Bier, das Milwaukee berühmt gemacht hatte. What’s made Milwaukee famous has made a loser out of me.7

Ob es gefährlich war, in diesen alten Ford-Pick-up einzusteigen? Der Abend brach kühl herein, und ich stand am Straßenrand und hatte nur einen Augenblick Zeit, mich zu entscheiden.

»Wohin fahren Sie?«, fragte ich.

»Cortez«, antwortete er.

Das war die nächste Stadt. Ich nickte und stieg ein.

»Bitte schön.« Der Fahrer stupste mich mit einem Bier an. »Ich bin Ray. Der Gurt ist kaputt.«

»Danke«, sagte ich. Im Fahrerhaus roch es nach Kampfer. Ich kurbelte mein Fenster herunter und nahm einen Schluck. »Lange Reise?«

»Nö.« Er warf eine leere Flasche auf den Boden. Es machte klirr. »Bin gerade raus ausm Gefängnis. Auf Bewährung.«

»Ah, wofür?« Es erschien mir höflich, nachzufragen.

»Hab einen Kerl mit ’nem Billardstock umgebracht. Der Richter meint, es war nicht vorsätzlich. Das war’s auch nicht. Es ist einfach passiert.«

Ich richtete meinen Blick nach vorne und nahm einen weiteren Schluck von meinem Bier.8

Sowohl beim Autostoppen als auch in der Diplomatie muss man mit Ungewissheit umgehen können. Bei beiden kommt es darauf an, Beziehungen zu knüpfen, sich um guten Willen zu bemühen und Menschen zu beeinflussen – auch die, in deren Fahrzeuge man einsteigt, wie Ray. Man muss Menschen einschätzen können, schnelle Entscheidungen treffen und dann entsprechend handeln.

Beim Trampen steht man am Straßenrand, ohne zu wissen, ob jemals irgendjemand anhalten wird – oder wohin die Reise gehen könnte. Diplomaten leben und arbeiten alle fünf Jahre an einem anderen Ort der Welt. Das bedeutet neue Kollegen, eine neue Kultur und vielleicht eine neue Sprache.

Ein guter General, heißt es, ist ein schlechter Admiral. Das Meer ist unvorhersehbarer als das Festland. Wenn das Wetter umschlägt, muss ein Kapitän rasch und flexibel reagieren. Sind Diplomaten gute Admirale? Oder kommen sie ins Schwimmen? Sehen wir uns das näher an.

Ein Beitrag für die Gesellschaft

In meinem letzten diplomatischen Amt als britischer Botschafter in Österreich und Ständiger Vertreter bei den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen in Wien9 schlugen mir mehrere Leute vor, ich solle meine Erfahrungen doch mit anderen teilen und »einen Beitrag für die Gesellschaft leisten«. Sie hatten nicht ganz unrecht. Wenige Jobs bieten eine vergleichbar anregende Karriere. Manche Anekdoten in diesem Buch mögen Ihnen vertraut sein, manche der »Lektionen« halten Sie vielleicht für (wie britische Beamte sagen würden) STBO10. Andere mögen, wie ich hoffe, Einsichten in die Diplomatie – und vielleicht über das Leben im Allgemeinen – bieten.

Willkommen in der Welt der echten Diplomatie.

1 Traditionell ein einfaches russisches Landhaus, in den letzten Jahrzehnten häufig eine palastartige Villa. Die Datscha der Botschaft war Ersteres und existiert schon lange nicht mehr.

2 Das verwirrenderweise »Weißes Haus« genannte Regierungsgebäude bzw. Sitz des Obersten Sowjets der Russischen Föderation.

3 Ich bin begeisterter Briefeschreiber. Die meisten Zitate in diesem Buch stammen aus meinen Briefen, bei Bedarf schien zur Verdeutlichung mit einem Datum versehen. Aus offiziellen Quellen zitiere ich nur, wenn angegeben.

4 Die Antwort des britischen Premierministers Harold Macmillan (1957–1963) auf die Frage nach dem größten Problem der Staatsführung.

5 Der Bericht des Central Policy Review Staff von 1977 war einer von mehreren Berichten der Nachkriegszeit über das Foreign Office, darunter der Plowden-Bericht (1964) und der Duncan-Bericht (1969).

6 Name geändert.

7 Jerry Lee Lewis.

8 Der Rest dieser Geschichte ist auf meiner Website rleighturner.com zu lesen.

9 Es besteht weder ein direktes noch ein umgekehrtes Verhältnis zwischen der Länge eines diplomatischen Titels und der Wichtigkeit des Amts.

10 »Stating the bleeding obvious« – das liegt ja auf der Hand.

TEIL 1

EINE DIPLOMATISCHE LAUFBAHN

1. LONDON:

DIE GRUNDLAGEN

Am 3. Oktober 1979 näherte ich mich mit etwas Bangen der Marsham Street Nummer 2, dem mittlerweile abgerissenen Hauptsitz des Umwelt- und Verkehrsministeriums (DOE). Im Sommer davor war ich durch 27 Bundesstaaten der kontinentalen USA getrampt und hatte im Herbst auf einem Campingplatz in Frankreich gearbeitet.

Der Architekturhistoriker Nikolaus Pevsner beschrieb die drei Türme in der Marsham Street, die von 1971 bis 2002 das DOE beheimateten, als »das Inbild der gesichtslosen Bürokratie«.

»Sie sind hier falsch«, sagte der Portier. »Sie müssen zum Lambeth Bridge House.«

Ich trottete also über die Themsebrücke und steuerte ein trostloses rotes Bürogebäude aus den 1940ern an. Auch dieser laut Pevsner »zweckmäßige und unscheinbare Ziegelbau« ist inzwischen demoliert worden. Im Inneren wurden die Gänge, je weiter man ging, immer düsterer und bedrückender.

Ich begann ein wenig an meiner Berufswahl zu zweifeln.11

Schließlich fand ich die Tür mit der Aufschrift »Personnel, Management and Training Department«. Ich öffnete sie und sah im Raum zwei Frauen, halb verborgen hinter dichtem Zigarettenrauch. Sie lächelten mir zu und winkten mich herein. Mein Eindruck von der neuen Arbeitsstätte hatte sich augenblicklich verändert.

In den ersten vier Jahren arbeitete ich bei vier verschiedenen Behörden:

Im Verkehrsministerium hatte ich mit der britischen Güterverkehrspolitik zu tun, insbesondere mit einem Gesetzesentwurf zur »Entstaatlichung«

12

der National Freight Corporation, einer staatlichen Spedition. In meinem Büro im 17. Stock hatte ich einen Ausblick auf den gegenüberliegenden Turm. Meine handschriftlichen Entwürfe reichte ich meinem Chef am anderen Schreibtischende und sah zu, wie er sie ausführlich korrigierte.

1980 kam ich zur Property Services Agency in Rheindahlen in Deutschland, wo auch die Hauptsitze der NATO Northern Army Group (NORTHAG) und der British Army of the Rhine (BAOR) lagen. Die Agentur war für den Bau und die Instandhaltung von Immobilien des britischen Militärs in Westdeutschland und Berlin zuständig. Dort scherzten wir, unser gemeinsames Hauptquartier wäre mit Sicherheit das erste Ziel eines sowjetischen Atomangriffs.

1981 kehrte ich zurück in die Marsham Street und arbeitete im Umweltministerium am Kündigungsschutz für Mieter. Wir führten das gesicherte Mietverhältnis ein und schufen Gesetze für Hausboote und sogenannte »Mobile Homes«, eine Art Riesenwohnwagen, die in Wahrheit ähnlich mobil sind wie ein toter Elefant.

1982 wechselte ich ins Finanzministerium, wo ich die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik von Premierministerin Margaret Thatcher umsetzte. Wir bewarben bargeldlosen Zahlungsverkehr und andere Maßnahmen, die die Effizienz der britischen Wirtschaft erhöhen sollten (wie würde die Wirtschaft boomen, wenn erst weniger Bedarf an starken Männern in Panzerwesten bestünde, die Bargeld in Lieferwagen hin und her transportierten!).

Diese Stellen zählten zu den faszinierendsten meiner beruflichen Laufbahn. Die Highlights waren:

Ministern bei Parlamentsdebatten beratend zur Seite zu stehen,

mit einem Fernfahrer von Lincoln bis nach Clermont-Ferrand in Frankreich und zurück zu reisen,

den Checkpoint Charlie zu passieren und Kavallerieoberste in Westberlin zu treffen,

Lobbygruppen für Hausboot- und Mobile-Home-Bewohner kennenzulernen, unter ihnen auch Earl Grey, den Vorsitzenden der »Residential Boat Owners’ Association«.

Bei der bürokratischen Routinearbeit erlernte ich die Grundlagen von Politik und Wirtschaft und wie man Projekte abschließt. Über meine späteren Jobs im diplomatischen Dienst kann ich mich nicht beklagen. Das Foreign Office mag vielen als ein glamouröserer Arbeitsplatz erscheinen, aber keines der Ämter, die ich dort innehatte, fand ich deutlich anspruchsvoller oder lehrreicher.

Im Jahr 1980 nahm ich an einer Sitzung unter der Leitung von Giles Hopkinson teil, meinem ersten Generalsekretär im Verkehrsministerium, bei der er meinen Verbesserungsvorschlag für das Verkehrssystem in Südostengland (unter anderem die Idee, eine neue Autobahn um London herum zu bauen13) mit derart viel Charme in der Luft zerriss, dass ich mich geradezu geehrt fühlte. Meine Kolleginnen und Kollegen im Umweltministerium und im Finanzministerium waren ebenso wunderbar – einschließlich jener zwei Damen, die mir an meinem ersten Tag meine Hoffnung wiedergegeben hatten.

11 »Wahl« ist übertrieben. Ich hatte unter anderem Absagen vom Tourismuskonzern Thomas Cook, den British Airways und der Werbeagentur J. Walter Thompson erhalten.

12 Das Wort »Privatisierung« war noch nicht erfunden.

13 Die M25 wurde 1986 eröffnet.

2. WIEN:

DIE ERSTE AUSLANDSENTSENDUNG

1983 wechselte ich vom Finanzministerium ins Foreign Office, das damals mit vollem Namen Foreign and Commonwealth Office (FCO) hieß. Ich hatte Glück: Die Bewerbungskommission stellte mir eine Frage über die Dezentralisierung in Wales, ein Thema, über das ich zufällig am Abend davor im Pub mit einem Freund diskutiert hatte, der sich für die walisische Unabhängigkeit begeistern konnte.

Als mich die Personalabteilung des Foreign Office anrief, um mir den Job anzubieten, saß ich gerade in einem Wirtschaftskurs am Civil Service College. Der Vortragende war David »Two Brains« Willetts14, damals Beamter im Finanzministerium. Ich wartete bis zum Ende des Vortrags damit, den Raum zu verlassen und mein Schicksal zu erfahren.

Der Wechsel ins Foreign Office schien zunächst ein Fehler gewesen zu sein. Mein erster Job in London war der eines »Desk Officer«15 für El Salvador und Nicaragua. Ich verwaltete hauptsächlich den Briefverkehr von Ministern und beantwortete Tausende identische Briefe von Parlamentsabgeordneten, deren Wähler sich beschwerten, weil die britische Regierung die US-Politik in El Salvador (wo die USA ein rechtes Regime unterstützten) und Nicaragua (wo die USA ein linkes Regime bekämpften) befürwortete. Berichte aus der Region erhielten wir in Form von Briefen auf Luftpostpapier, die per diplomatischem Kurierdienst befördert wurden.16

Meine Abteilung war auch für Kuba zuständig. Das Organ des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas war die Zeitung Granma (der Name sorgte für Verwirrung), sie hatte eine seltsam duftende Druckfarbe und sang unentwegt ein Hohelied auf die Revolution. Als ich 2015 eine Urlaubsreise nach Kuba unternahm, schien sich das Land im Vergleich zu der Berichterstattung in der Granma 1983 kaum verändert zu haben.

Später wurde ich beauftragt, meine Rechenkenntnisse (unter der Annahme, ich hätte während meiner Zeit im Finanzministerium welche erworben) einzusetzen und einen Bericht über den Einsatz von Statistik und Computern in den Personalabteilungen des FCO zu verfassen.

Eines Tages steckte meine Abteilungsleiterin Judith Macgregor ihren Kopf durch die Tür und winkte mich zu sich. Der Zweite Sekretär für Politik und Pressereferent bei der britischen Botschaft in Wien war zurückgetreten, sagte sie. Sie bräuchten dort schleunigst jemanden mit Deutschkenntnissen. Ob ich Interesse hätte?

Als Kind hatte ich in Nigeria und Lesotho gelebt und daher gehofft, meine erste Entsendung könnte nach Afrika oder Lateinamerika gehen. Wien – eher nicht. Ich fragte meine Arbeitskollegen. Von einer Kollegin, Alison Cawley, erhielt ich eine krakelige Notiz mit den Worten »This means nothing to me«17. Eine andere, Louise Kroll, sagte: »Wien? Du bist verrückt, wenn du das nicht machst.«

Der Umzug nach Wien im Jahr 1984 für meine erste Auslandsvertretung war für mich eine große Sache. Um die Tragweite der Ortsveränderung noch zu unterstreichen, unternahm ich die Reise mit dem Zug. Auf einer Reise auf dem Landweg merkt man, wie die Flüsse, Berge, Wälder und ganz einfach die Entfernungen die Geschichte des Kontinents geprägt haben.18 Beim Fliegen sieht man nur die Abflughalle. 1984 verlief die Bahnstrecke noch entlang des Rheins. Bei Einbruch der Nacht sah ich durch das Fenster eine beleuchtete Burg nach der anderen vorüberziehen.

Als ich 2016 meine Stelle als Botschafter in Wien antrat, reiste ich erneut mit dem Zug von London aus an. Die Reise – jetzt mit Umstiegen in Brüssel, Frankfurt und München – dauerte gleich lange wie 1984, als ich von Ostende bis Wien im selben Abteil saß. Aber es war viel schwieriger geworden, jemanden zu finden, der mir eine Fahrkarte für die ganze Reise verkaufte.19

Die 1980er waren für Österreich eine turbulente Zeit. 1984 traf ich den Grünen20-Politiker Kaspanaze Simma bei einem Protest gegen das Donaukraftwerk in der Hainburger Au östlich von Wien. 1985 erlebte ich den österreichischen Weinskandal, als herauskam, dass Winzer ihren Weinen Frostschutzmittel zugesetzt hatten, um sie süßer zu machen. 1986 wurde der ehemalige Wehrmachtsoffizier und UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim21 zum Bundespräsidenten gewählt. Im selben Jahr sah ich in Innsbruck die Übernahme der Freiheitlichen Partei durch den jungen Jörg Haider.

Später half ich bei der Organisation eines Besuchs des Prinzen und der Prinzessin von Wales, der parallel zu einem Festival für britische Kultur, »Britain in Vienna«, stattfand.

In Österreich wurde mir klar, wie viel Sprachenkenntnisse in der Diplomatie wie auch im Alltag ausmachen. Ich bin in Fremdsprachen eine zertifizierte Null.22 Aber durch Zuhören und Sprechen kann ich sie mir ganz gut aneignen, und so habe ich im Laufe der Jahre passables Französisch, Deutsch, Russisch, Ukrainisch, Türkisch und Spanisch gesprochen, wenn auch nicht zur selben Zeit.

Meine Sprachenkenntnisse verhalfen mir zu mehreren Stellen:

Wie erwähnt, wurde ich 1984 kurzfristig nach Wien entsandt.

Als 2008 der britische Botschafter in Kiew verfrüht sein Amt verließ und man auf die Schnelle einen Ukrainisch oder Russisch Sprechenden brauchte, war ich qualifiziert.

Sowohl die Stelle des Botschaftsrats für EU und Wirtschaft in Deutschland (1998–2002) als auch die des Botschafters in Wien (2016–2021) setzten fließendes Deutsch voraus.

Es machte sich bezahlt, in der Ukraine mit Präsident Juschtschenko Ukrainisch oder mit Präsident Janukowitsch Russisch zu sprechen. Aber persönlich bereichert hat es mich, in Istanbul mit meinem Sicherheitsdienst oder in einem Bus in Anatolien mit Mitreisenden Türkisch zu sprechen, von Journalisten in Nowosibirsk oder Wladiwostok auf Russisch interviewt zu werden oder in Wien an Live-Talkshows auf Deutsch teilzunehmen. Mich in anderen Sprachen als Englisch zu verständigen hat mich wie keine andere Erfahrung in den letzten 40 Jahren geprägt.

Nicht immer ist auf das System Verlass. Ein Treppenwitz unter Diplomaten lautet, dass man, wenn man eine Stelle in Brasilien anstrebt, als Erstes Russisch lernen sollte.

Bei mir hat das nicht funktioniert.

14 Bekannt für seine überragende Intelligenz.

15 D. h. Referent.

16 Das Diplomatengepäck wird mit einem manipulationssicheren Verschluss versehen und von »Queen’s Messengers« transportiert, die spezielle, extradicke Reisepässe mit der Aufschrift »Courrier Diplomatique« mit sich führen.

17 Der Refrain von »Vienna«, einem Lied von Ultravox aus dem Jahr 1981.

18 Ein Sprichwort besagt, dass die Seele nicht schneller reist als ein Kamel.

19 Einzig die Deutsche Bahn stellte sich der Herausforderung.

20 1984 hatte das Wort »grün« in Bezug auf Umweltpolitik noch kaum in die englische Sprache Einzug gefunden, obwohl das Konzept in Österreich und Deutschland populär war.

21 Waldheims erster Wahlkampfspruch nahm Bezug auf sein vorheriges Amt als UNO-Generalsekretär in New York. Vor der Skyline von Manhattan prangten die Worte: »Ein Österreicher, dem die Welt vertraut.«

22 Siehe »Wie man eine Fremdsprache lernt«.

3. LONDON:

DIE FEUERPROBE

Am 24. Oktober 1987 verließ ich Wien mit dem Zug und kam am nächsten Morgen mit der Ostende-Dover-Fähre in Großbritannien an. Neun Tage zuvor hatte ein Zweijahrhundertsturm in London und den angrenzenden Grafschaften gewütet: Auf der Zugfahrt durch Kent war die Verwüstung überall zu sehen, eine Metapher für das turbulente politische Klima, in das ich mich begab.

Der 2. November war mein erster Arbeitstag im Foreign Office als Referent für Haushalt und Finanzen in der Abteilung Europäische Gemeinschaft (Inneres) (ECD(I)). Es wurde ein langer Tag.

Am Abend saß ich mit meinem Kollegen Ralph Publicover23, Referent für die Gemeinsame Agrarpolitik (einschließlich Stabilisatoren und Währungsausgleich24), in Raum E12125 des Außenministeriums und beobachtete den aufgehenden Mond. Mein Vorgänger, Mark Lyall Grant, war Privatsekretär von Europa-Staatsministerin Lynda Chalker geworden. Der Abteilungsleiter von ECD(I), Stephen Wall, hatte mich für den Posten ausgewählt, »einen der wichtigsten Arbeitsplätze im FCO diesen Herbst«, wie er meinte.

Als der Mond hoch am Himmel stand, öffnete sich die Tür und Lynda Chalker persönlich trat ein. »Sie müssen Leigh Turner sein«, sagte sie und fügte nachdrücklich hinzu, ich könne Mark in den bevorstehenden Wochen und Monaten jederzeit um Rat und Hilfe bitten.

Nachdem sie gegangen war, meinte Ralph: »Da siehst du, worauf du dich eingelassen hast.«

Er war nicht der Erste, der mich warnte. In einem Brief, den ich am Wochenende an meine Eltern schrieb, erzählte ich von den »vielen Beileidsbekundungen«, die ich an diesem Morgen bekommen hatte, »weil ich ein derart beängstigendes Aufgabenspektrum übernehme«.

Als eine meiner ersten Aufgaben sollte ich eine Tagung des Europäischen Rates über die künftige Finanzierung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)26 im Dezember 1987 vorbereiten. Bei der Tagung sollte entschieden werden, wie viele Milliarden Großbritannien künftig in den Haushalt der EWG einzahlen müsste. Premierministerin Margaret Thatcher maß dieser Frage eine gewisse Bedeutung bei.27 Ebenfalls zuständig war ich für die britische Politik zum Europäischen Währungssystem – auch ein Thema zahlreicher politischer Debatten in Großbritannien.28

Ich war dermaßen eingespannt, dass ich meine eigene 30. Geburtstagsparty verpasste, da sich die Staats- und Regierungschefs im Dezember 1987 nicht einigen konnten und für den Tag meiner Feier im Februar 1988 einen zusätzlichen Europäischen Rat anberaumten.

Warum hatte ich mich also für die Stelle beworben?

Weil ich gedacht hatte, die Arbeit an der EWG wäre wichtig für die Interessen des Vereinigten Königreichs, könnte Spaß machen und meine Karriere fördern. All das traf zu:

(i) Ich habe vermutlich nie härter gearbeitet als damals. Erst im Morgengrauen nach Hause zu kommen, wenn die ersten Vögel schon zwitscherten, war keine Seltenheit. Bei dieser Feuertaufe lernte ich, in kürzester Zeit zu hochkomplexen Themen etwas Sinnvolles zu produzieren. Ich lernte auch, wie man verhandelt – vor allem mit dem britischen Finanzministerium, meinem alten Arbeitgeber. Dieses war federführend in der Politik in meinem Bereich, aber die Verhandlungen leiteten Außenminister Geoffrey Howe und Premierministerin Margaret Thatcher. Das soll jetzt nicht abgedroschen klingen, aber mir wurde bewusst, was ich alles leisten konnte.

(ii) Weil es um wichtige Dinge ging, waren meine Kollegen echte Profis. Meine Vorgesetzten – Nigel Sheinwald, Stephen Wall und John Kerr – gaben mir einen Crashkurs in harter Arbeit und Exzellenz.29 Mit mehreren meiner talentierten Kollegen von damals bin ich noch heute befreundet.

Nach meiner Zeit im ECD(I) wechselte ich in die »Abteilung für Sicherheitskoordination« (SCD), wo ich mit Terrorismusbekämpfung zu tun hatte. Als »Head of Ops« – Einsatzleiter – war ich zuständig für die Reaktion der britischen Regierung auf einen Terroranschlag im Ausland und des FCO auf einen Anschlag im Inland. Damit verbunden waren regelmäßige Übungen mit den britischen Polizeikräften sowie unvergessliche Reisen in ehemalige Warschauer-Pakt-Staaten nach dem Fall der Berliner Mauer 1989, bei denen wir mit den dortigen Sicherheitsdiensten ein gemeinsames Vorgehen bei der Terrorismusbekämpfung aushandelten.

In der SCD gewann ich noch mehr Respekt für die britischen Sicherheits- und Geheimdienste sowie für die Streitkräfte, mit denen wir eng zusammenarbeiteten. Ich lernte auch delegieren und praktisches Krisenmanagement, was mir in meiner späteren Karriere helfen sollte.

Nirgendwo lernt man mehr und schneller als bei harter Arbeit mit begabten Kollegen. Nur wenige Dinge sind so unvergesslich oder machen – vor allem im Nachhinein – mehr Freude.

23 Später Botschafter in Angola. Von den anderen hier namentlich genannten Personen wurde Mark Lyall Grant später Nationaler Sicherheitsberater, Stephen Wall Ständiger Vertreter des Vereinigten Königreichs bei der EU, Nigel Sheinwald und John Kerr wurden britische Botschafter in den USA, wobei Letzterer, heute Baron Kerr of Kinlochard, auch Staatssekretär im FCO wurde.

24 Ach, fragen Sie nicht.

25 Wurde später zu einer Herrentoilette umgebaut.

26 Ab 1993 die Europäische Union.

27 Britisches Understatement.

28 Noch mehr britisches Understatement.

29 Einmal diskutierte ich mit Kerr über eine Formulierung in einer Rede: Sollte das Vereinigte Königreich dem Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems beitreten, wenn die Zeit »richtig« oder »reif« sei? Er beharrte auf Letzterem, das seiner Meinung nach die Unvermeidbarkeit besser ausdrückte.

4. MOSKAU:

MITTEN INS CHAOS

Vor dem Londoner Pub »The Two Chairmen« erstreckt sich ein breiter Gehsteig, perfekt, um darauf ein kühles, erfrischendes Bier zu genießen.

»Ihr habt doch vor ein paar Jahren eure Kinder bekommen«, sagte mein Kollege und hob sein Glas. »Wir können uns nicht auf den richtigen Zeitpunkt einigen. Was meinst du?«

»Manches lässt sich nicht planen«, erwiderte ich.

Ich hatte Pamela, eine Kollegin im Außenministerium, 1990 in London kennengelernt. Noch im selben Jahr suchten wir nach einem gemeinsamen Auslandsposten. In unserem Dienstgrad wurden nur in drei Vertretungen zwei Stellen frei: Washington (dem Regierungsapparat in Whitehall zu ähnlich), Brüssel (zu nah an London) und Moskau.

Pamela sprach bereits Russisch (und Chinesisch). Ich würde es lernen müssen, obwohl man mir offiziell zu verstehen gegeben hatte, dass meine Fähigkeiten zum Sprachenlernen gleich null seien. Sie sollte den Posten in Moskau für Innenpolitik übernehmen, ich den für Handel. Wir bewarben uns – und bekamen die Stellen.

Doch dann wurde alles anders.

Der Radiowecker war auf »Radio 4« eingestellt. Am Morgen des 19. August 1991 wurden wir von der Nachricht geweckt, kommunistische Hardliner hätten einen Staatsstreich gegen den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow gestartet. Ich war kurz davor, einen neunmonatigen Vollzeit-Russischkurs zu beginnen, der mich auf das Sprachniveau »C1« bringen sollte (»ein hohes Niveau an Sprachkenntnissen, das in akademischen und beruflichen Kontexten eingesetzt werden kann«).

Die BBC, wie auch der Rest der Welt, befleißigte sich hastig einer Erklärung. Sie trieb einen Experten auf, der die Ereignisse in Moskau und auf der Krim – wo Präsident Gorbatschow in seiner offiziellen Datscha in Foros untergebracht war – deuten sollte. Dieser »Experte« weckte uns mit den Worten: »Präsident Gorbatschow – wenn er überhaupt noch lebt.«

Die Stimme gehörte Robert Maxwell, einem ehemaligen britischen Abgeordneten, Medienmogul und mutmaßlichen Spion. Elf Wochen später wurde nahe seiner Jacht im Atlantischen Ozean seine nackte Leiche geborgen.30

Politisch war die wichtigste Konsequenz des Staatsstreichs die Unterzeichnung der Belowescher Vereinbarungen durch die Staatschefs Russlands, der Ukraine und Belarus’ am 8. Dezember 1991, womit die Sowjetunion aufgelöst und die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) gegründet wurde. In meinem Russischkurs diskutierten wir über einen Atlas gebeugt, ob wir wohl in die GUS-Zentrale in Minsk versetzt würden, was allerdings nicht geschah.

Meine Stelle in Moskau wurde gestrichen und ich bekam Wirtschaftsangelegenheiten zugeteilt.

Im Dezember 1992 trafen wir mit unserem drei Monate alten Sohn Owen in Moskau ein. An meinem ersten Arbeitstag sah ich von unserer Wohnung im 13. Stock in der Ulitsa Akademika Korolyova aus eine blutrote Sonne aufgehen. Ich machte mich auf den Weg durch den Schnee in Richtung Metrostation. Unsere Büros waren in Mietcontainern hinter der alten Botschaft gegenüber dem Kreml untergebracht.

Von 1992 bis 1995 war ich als Diplomat für die Wirtschaftsberichterstattung über einen Großteil der ehemaligen Sowjetunion zuständig. Das war ein Privileg und eine Herausforderung zugleich. Für die meisten Russen war das Leben hart. Die Supermärkte und Tankstellen waren leer. Benzin kauften wir bei von Tschetschenen betriebenen Tankwagen am Straßenrand. Unsere erste Mahlzeit war ein mageres Hähnchen, das wir bei einer älteren Frau vor einer Metrostation erstanden hatten. Die Gesundheitsversorgung war schlecht, Inflation und Währungsreformen hatten die Ersparnisse verpuffen lassen. 1992 kostete eine Metrofahrkarte 5 Kopeken.31 1995 war der Preis auf 5.000 Rubel angestiegen: das 100.000-Fache.

Inmitten der Unruhen war es kompliziert bis unmöglich zu planen. Als ich 1991 meinen neunmonatigen Sprachkurs begonnen hatte, wurden uns noch Ausdrücke wie »der unvermeidliche Zusammenbruch des Kapitalismus« beigebracht; 1992 war die Rede vom »Übergang zur Marktwirtschaft«.

Man erzählte sich eine Geschichte von Ingenieuren in einer Raketenfabrik, die von der Geschäftsleitung zusammengerufen wurden und eine moderne Waschmaschine präsentiert bekamen. »So, Jungs«, habe der Manager gesagt. »Das stellt ihr jetzt her.«

Im November 1994 überraschte mich der Leiter eines privaten Ölhandelskonzerns32 bei einem Treffen, indem er mir die Makarow-Pistole zeigte, die er zu seinem Schutz gekauft hatte. Er zog den Ladestreifen heraus, um zu zeigen, dass sie Munition enthielt. »Er schien wirklich besorgt über das Risiko, das die organisierte Kriminalität für ihn persönlich darstellt«, schrieb ich. »Ich werde versuchen, mich 1995 nach ihm zu erkundigen.« Daraus wurde nichts: Ein paar Monate nach unserem Treffen wurde er ermordet.

Viele russische Geschäftsleute ließen sich von solchen Bedrohungen nicht unterkriegen: »Trotz der Morddrohungen«, schrieb ich 1994 nach einem Besuch in einer Computerfabrik in Jekaterinburg, »wirkte [Herr X] entspannter als bei meinem vorherigen Besuch.« 1993 wurden laut Angaben der Polizei 37 Geschäftsleute in Moskau ermordet, darunter acht Banker.

1993 kam ein russisches Spiel namens »Business« auf den Markt. Ich war neugierig auf die Regeln eines solchen Spiels und kaufte eines, das sich als schlecht getarntes Imitat von »Monopoly« herausstellte. Der Hauptunterschied war, abgesehen von den Straßennamen, dass der potenzielle Geschäftsmann nicht ins Gefängnis ging, sondern von der Mafia als Geisel genommen wurde – die Illustration zeigte einen verängstigten geknebelten Mann mit Fliege, dem eine Pistole vorgehalten wurde. Der Name des Spiels lässt erkennen, dass für viele Russen die Trennlinie zwischen einem Unternehmen und einem Monopol immer noch unscharf war.

Meine Russischkenntnisse erwiesen sich als hilfreich: Außerhalb von Moskau sprach kaum jemand Englisch. Der Job führte mich von Kaliningrad im Westen nach Petropawlowsk-Kamtschatski und Wladiwostok im Osten. Überall begegnete ich Unternehmern, ausländischen Investoren sowie regionalen und nationalen Regierungsbeamten, die Ordnung schaffen oder einfach nur über die Runden kommen wollten.

Obwohl sie in der unsicheren Lage kaum vorausplanen konnten, ging das Leben für die Russen weiter. 1993 sah ich Pensionisten im Dserschinski-Park beim Tanztee bei minus fünf Grad im Frühlingsschnee, Jugendliche, die zum Widerstand gegen den Putsch gegen Jelzin am 3. Oktober 1993 Barrikaden auf der Twerskaja-Straße errichteten, und Einheimische, die auf brüchigen Eisschollen an der Küste der Insel Sachalin fischten.

»Wir müssen uns anpassen«, erklärte mir ein Forscher bei meinem Besuch des Wissenschaftsparks Akademgorodok in Sibirien. »Wenn ich 200 Kilometer zum Pilzesammeln in den Wald fahre und mein Auto eine Panne hat, kann ich es reparieren. Meinem Kollegen aus den USA passiert dasselbe auf dem Weg zum Supermarkt und er muss einen Abschleppdienst rufen. Achtzig Prozent der Sibirier können ohne offizielles Einkommen leben. Sie heizen mit Holz und ernähren sich von den Vorräten in ihren Datschas.«33

Was man daraus lernen kann? Wie die Russinnen und Russen, die mit weitaus größeren Problemen zu kämpfen hatten, muss man sich als Diplomat auf Ungewissheiten einstellen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich einmal Russisch lernen, zwei reizende Kinder bekommen (Anna wurde 1994 geboren) oder mich in einem kapitalistisch gewordenen Land mit Wirtschaftspolitik befassen würde. Alle diese Erfahrungen sind unvergesslich. Alle haben mein Leben bereichert.

»Okay, das Leben ist unberechenbar«, sagte mein Freund vor dem Pub. »Wie plant man also den besten Zeitpunkt für ein Kind?«

»Bei vielen Dingen ist es gut, einen Plan zu haben«, antwortete ich. »Aber manchmal muss man den Plan über Bord werfen und einfach das tun, was einem richtig erscheint.«

30 Wenn jemand im Radio große Reden schwingt, heißt das noch lange nicht, dass er auch was in der Birne hat.

31 Ein Rubel sind hundert Kopeken.

32 »Die Sicherheitsvorkehrungen waren erstaunlich«, schrieb ich. »Der Zutritt wurde über eine Gegensprechanlage durch eine Doppelschleuse kontrolliert. Darin lehnte zwischen zwei hartgesottenen Wachen ein AK-47.«

33 Ein anderer Forscher sagte zu mir: »Wir können Ihnen hier Nerze in allen Farben züchten.«

5. HONGKONG:

ETWAS BEWIRKEN

»September 1996, Peking: die zweite von drei offiziellen Sitzungen der Joint Liaison Group. 15 Personen auf jeder Seite der langen Tische, an weiteren Tischen hinter uns Konsekutivdolmetscher und Protokollschreiber. Wir arbeiten uns mühsam durch die Tagesordnung, wiederholen Positionen, die beide Seiten längst verstanden haben, erringen ab und zu einen kleinen Sieg, der später der einzige Hinweis darauf sein wird, dass wir Fortschritte gemacht haben.«

1995 kehrte ich nach drei Jahren in Moskau nach London zurück und bekam zwei Jobangebote. Ich könnte im Südkaukasus arbeiten, wo mir mein Russisch zugutekäme. Oder ich könnte in der Hongkong-Abteilung (HKD) arbeiten, die sich mit der Rückgabe von Hongkong an China im Jahr 1997 befasste. »Das ist wirklich wichtig«, sagte mir jemand. »Sie können da etwas bewirken.«

Ich nahm die Hongkong-Stelle an.

Großbritannien und China verhandelten bereits seit 1979 über die Zukunft Hongkongs. Nach einem Treffen zwischen Margaret Thatcher und Deng Xiaoping im September 1982 in Peking und zwei Jahren konzentrierter Verhandlungen war im Dezember 1984 die »Joint Declaration«, die »Gemeinsame Erklärung«, unterzeichnet worden. Sie legte die Grundprinzipien für die Zukunft Hongkongs nach der Übergabe an China am 30. Juni 1997 fest, einschließlich des Prinzips »Ein Land, zwei Systeme«, unter dem Hongkong ein hohes Maß an Autonomie (mit Ausnahme von Verteidigung und Außenpolitik) und seine bestehenden Regierungs- und Wirtschaftssysteme, getrennt vom chinesischen Festland, fünfzig Jahre lang nach 1997 beibehalten würde.

Mit der Gemeinsamen Erklärung wurde eine »Sino-British Joint Liaison Group« (JLG) ins Leben gerufen, die 1997 eine reibungslose Regierungsübergabe gewährleisten sollte. Unsere Abteilung war für die politischen Fragen zuständig. Viele der Maßnahmen, wie jene zu Fragen der Staatsbürgerschaft, hatten enorme praktische Auswirkungen. Als ich im November 1995 der Abteilung beitrat, waren meine obersten Prioritäten die Ausstellung neuer Pässe mit dem Status »British National (Overseas)« an 3,5 Millionen berechtigte Einwohner Hongkongs sowie der Bau des neuen Generalkonsulats im Bezirk Admiralty.

In der Zeit bis zur Übergabe traten ständig neue Probleme auf und der steigende Druck erhitzte unsere Gemüter. Wegen der achtstündigen Zeitverschiebung fiel das Ende des Arbeitstages in Hongkong mit dem Beginn des Tages in London zusammen, sodass wir an beiden Enden alles daransetzten, Aufgaben bis Dienstschluss zu erledigen – Politik in einer Art tugendhaften Tretmühle.

Bei den regelmäßigen Dienstreisen nach Hongkong und Peking nahmen wir an Sitzungen der JLG teil und arbeiteten mit den engagierten Funktionären der Hongkonger Regierung (unter der Leitung von Chief Secretary Anson Chan) und des Gouverneuramts (unter der Leitung von Chris Patten) zusammen. Auf britischer Seite gaben viele politische Fragen Anlass zu Diskussionen.34

Als Stellvertretender HKD-Leiter nahm ich zwar nicht an der Übergabe selbst teil, leitete jedoch auf Einladung des Stellvertretenden Premierministers John Prescott einen Festakt im Banqueting House in London. Auf einer großen Leinwand konnten wir die Ereignisse in Hongkong mitverfolgen. Kurz bevor die Uhr in Honkong Mitternacht schlug, trat Stille ein. Die ersten Soldaten der Volksbefreiungsarmee marschierten mit der chinesischen Flagge, die sie gleich hissen würden, in das Versammlungszentrum in Hongkong ein. Als der Union Jack eingeholt wurde, ließ eine Kellnerin in London ihr Tablett mit Getränken zu Boden fallen.

Am 3. Juli 1997 übernahm ich die Leitung der Hongkong-Abteilung. Wir regelten weiterhin die Beziehung zwischen Großbritannien und Hongkong und führten halbjährliche Berichte über die Umsetzung der Gemeinsamen Erklärung an das Parlament ein.35 Die JLG tagte weiterhin.

Da ich nun ein höheres Amt bekleidete, kam ich auch mit mehr Führungskräften in Kontakt, in Hongkong wie in London. Ungefähr in dieser Zeit sagte mir ein hoher britischer Diplomat: »Wissen Sie, ich bin so hochrangig, wie ein Diplomat nur sein kann.« Eine ausgezeichnete Lektion in Sachen Bescheidenheit.

Die Arbeit in der Hongkong-Abteilung war extrem politisch und hatte auch viele unmittelbare Auswirkungen auf die Außenwelt. Sie war vergleichbar mit meiner Zeit in diversen Behörden des britischen Staatsdienstes von 1979 bis 1983 und später in der Abteilung für Überseegebiete, als ich ähnlich hohe Verantwortung trug.

Am 1. Juli 2020 kündigte die britische Regierung als Reaktion auf die Vorfälle in Hongkong eine neue Einwanderungsmöglichkeit für British Nationals (Overseas) und deren unmittelbare Familienangehörige in das Vereinigte Königreich an. Sie trat am 31. Jänner 2021 in Kraft. Schätzungen der britischen Regierung zufolge würden in den ersten fünf Jahren etwa 300.000 der etwa 5,4 Millionen berechtigten Bürger Hongkongs das Angebot annehmen. Im ersten Jahr trafen über 100.000 Anträge ein. Die Auswirkungen des Gesetzes könnten die (ohnehin schon beträchtliche) Einwanderungsbewegung von 1972, als sich rund 30.000 von Idi Amin aus Uganda vertriebene Asiaten im Vereinigten Königreich niederließen, deutlich in den Schatten stellen.

Die Joint Liaison Group tagte 1999 zum letzten Mal. Das Vereinigte Königreich veröffentlicht weiterhin halbjährliche Berichte über Hongkong. Und China kritisiert sie weiterhin.

Eine der Freuden der Diplomatie ist, dass man ab und zu Ereignisse in der echten Welt beeinflussen kann. Und unter Umständen wächst dieser Einfluss mit höherem Rang.36 Habe ich etwas bewirkt? Das weiß ich nicht. Aber ich habe drei intensive Jahre lang mein Bestes gegeben.

34 Übersetzung: Dauernd gab es Streit.

35 Laut Peking waren die halbjährlichen Berichte überflüssig, da die Vorgänge in Hongkong Großbritannien nichts angingen.

36 Manche sagen, die Aufgabe eines Beamten, egal welchen Ranges, bestünde einzig darin, die Wünsche von Politikern umzusetzen. Ich bin zwar kein großer Idealist, doch ich bin überzeugt, dass die Qualität der von Beamten geleisteten Arbeit einen Einfluss auf die Umsetzung der Politik – und auf die betroffenen Menschen – hat.

6. BERLIN:

SPEZIALISIEREN – ODER NICHT?

Vor der Geburt unseres ersten Kindes im Jahr 1992 hatten wir im Vergleich zu danach scheinbar unendlich viel Zeit. Einen Teil davon verbrachten wir damit, über den richtigen Umgang mit Babys zu lesen. Zwei Ratschläge von Experten waren besonders bemerkenswert (HINWEIS: BEFOLGEN SIE DIESE RATSCHLÄGE NICHT!): Erstens sollte ein Säugling immer mit dem Gesicht nach unten in sein Bettchen gelegt werden, damit er nicht erstickte. Zweitens: Eine Lammfellunterlage im Kinderbett würde sein Immunsystem stärken.

Kurz vor der Geburt hatten sich die Empfehlungen der Experten in beiden Punkten geändert. Babys auf den Bauch zu legen, erfuhren wir, kam praktisch einem Todesurteil gleich: Man sollte sie auf den Rücken legen. Ebenso war das niedliche Lammfellchen, das wir in einem Spezialgeschäft für Babyzubehör gekauft hatten, im besten Fall nutzlos und im schlimmsten Fall gefährlich. Zum Glück hat unser Kind überlebt.

Auch Behörden gehen mit der Mode. Etwa, wenn eine Studie der Personalabteilung zu dem Schluss gelangt, dass die bei Beförderungen oder Versetzungen jahrelang praktizierten und für unverzichtbar gehaltenen Verfahren müßig oder irreführend sind.37 Oder wenn man eine jahrhundertealte Bibliothek ihrer Bücher beraubt, um gleich wieder zurückzurudern, wenn neue Studien nahelegen, dass Bücher doch eine nützliche Informationsquelle sein könnten.

So schwingt das Pendel auch zwischen Spezialisierung und Generalisierung hin und her. Sollte eine Organisation einen Kader von Spezialisten haben, die über großes Fachwissen beispielsweise in Wirtschaft oder Recht verfügen? Oder sollte die Diplomatenausbildung Grundkenntnisse in beiden Disziplinen vermitteln?

1981 verfasste der vielgerühmte Professor Thody von der Leeds University nach Kritik am Niveau des gesprochenen Französisch im Foreign Office einen Bericht38 über den Sprachunterricht im FCO. Als ich 1983 im Außenministerium anfing, mussten alle Neueinsteiger theoretisch einen obligatorischen dreimonatigen Französischkurs absolvieren. Nach vier Jahren im öffentlichen Dienst sollte ich mir nun zu meiner großen Freude Buñuel-Filme reinziehen. Leider wurde diese Idee alsbald wieder zurückgenommen und mein Kurs nach nur zwei Wochen beendet.

Chinesische und russische Diplomaten tendieren zur Spezialisierung und widmen oft ihr ganzes Leben einem Fachgebiet, einer Region oder einem Land. In den USA übernehmen Neulinge bei ihrem ersten Auslandsposten konsularische Aufgaben und werden danach »cones« zugeordnet – »Kegel«, in denen sie sich auf Politik, Wirtschaft oder Lobbyarbeit spezialisieren.

Das Foreign Office tendiert zur Generalisierung: 1983 hatten die 21 Berufsanfänger 21 verschiedene Studienabschlüsse. Meine russischen Kollegen in Moskau waren erstaunt, dass ich ohne einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften Leiter der Wirtschaftsabteilung geworden war, während deutsche Kollegen in Berlin (meist Juristen) sich wunderten, dass man nach einem Geografiestudium Diplomat werden konnte.

Mittlerweile ist das Pendel in Richtung Spezialisierung geschwungen. Nach der Hongkong-Übergabe bewarb ich mich um Stellen, die einen kompletten Neustart bedeuteten und bei denen ich neue Fähigkeiten lernen würde, unter anderem als Generalkonsul in Melbourne. Erfolgreich war ich jedoch erst, als ich mich 1998 für die Stelle des Botschaftsrats für EU und Wirtschaft in Bonn bewarb.

Bei meinen Qualifikationen leuchtete das ein. In meiner bisherigen Laufbahn hatte ich meine Kompetenz in EU- und Wirtschaftsfragen erworben. Deutsch war meine beste Fremdsprache. Vielleicht wäre es unsinnig gewesen, mich woandershin zu versetzen.

In Bonn, dem »Bundesdorf«, dem John le Carré dreißig Jahre zuvor in seinem Roman »Eine kleine Stadt in Deutschland« ein Denkmal gesetzt hatte, war schon wieder der alte provinzielle Charme zu spüren. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs waren die meisten Regierungsorgane nach Berlin verlegt worden. Die französischen, US-amerikanischen und britischen Truppen, deren Präsenz das örtliche Gemeinwesen über Jahrzehnte geprägt und die ich 1980/81 von Rheindahlen aus verwaltet hatte, waren abgezogen. 1999 zog auch unsere Botschaft in einem Konvoi von Umzugswagen nach Berlin.

Am 3. September 1999 nahm die britische Botschaft in Berlin ihre Arbeit nach 60-jähriger Unterbrechung wieder auf. Nach Krieg, Teilung und Wiedervereinigung tastete sich die zerrüttete Stadt jetzt mit ihrer Love Parade, ihren Open-Air-Kinos und ihrer Techno-Szene an eine neue Identität heran. »Hatte das Vergnügen, in einem Café in einem Zelt zu sitzen«, schrieb ich, »umgeben von einem Käfig voller Ratten, einem frei laufenden Hasen und Billard spielenden Bikern. In der Luft hingen dicker Zigarettenrauch und fragwürdige Dämpfe aus den Mobil-WCs.«

Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts war hier allgegenwärtig, vom Deutsch-Russischen Museum in Karlshorst im Osten bis hin zur Glienicker Brücke im Westen, vom KZ Sachsenhausen im Norden bis hin zu den Resten der Berliner Mauer um das damalige Westberlin. Unser Supermarkt befand sich auf dem Gelände des Spandauer Gefängnisses, wo Rudolf Hess von 1947 bis zu seinem Tod im Alter von 93 Jahren im Jahr 1987 inhaftiert gewesen war. Das Gefängnis war im selben Jahr abgerissen worden.39

In meiner neuen Position kam ich im ganzen Land herum und hielt vor deutschen Unternehmern unzählige Vorträge zum Thema »Großbritannien und die EU«. Mein Team verhandelte auf EU-Ebene über Themen wie den »Rinderwahnsinn«. Wir hatten mit der Europäischen Zentralbank in Frankfurt und mit Unternehmen wie Volkswagen und Vodafone zu tun. 2002 wurde das Euro-Bargeld eingeführt – am 1. Jänner 2002 stapfte ich auf der Insel Hiddensee durch den Schnee zu einem Geldautomaten, um die neuen Banknoten und Münzen in Augenschein zu nehmen. All das wäre auch ohne meine EU-Expertise und meine Deutschkenntnisse möglich gewesen – aber um einiges schwieriger.

37 Das Foreign Office betrieb zwei Jahrzehnte lang einen Kult um Assessment Center und legte Tabellen vor, die beweisen sollten, dass diejenigen, die mit dieser Methode befördert wurden, besser waren als andere, bis sie plötzlich als unwirksam und kostspielig abgeschrieben und eingestampft wurden.

38 Den »Thody Report« – mit stummem »h«.

39 Einer Quelle zufolge war der auf dem Gefängnisgelände errichtete Supermarkt früher als Hessco’s bekannt, eine Hommage an die Supermarktkette Tesco’s, ich persönlich habe allerdings nie gehört, dass ihn jemand so genannt hat.

7. BERLIN:

ARBEIT IST NICHT ALLES

Das Foreign Office nennt eine berufliche Auszeit zu einem bestimmten Zweck, zum Beispiel, um sich um seine Kinder zu kümmern, »unbezahlten Sonderurlaub«. Meine Freunde aus den USA sagen, es klingt, als sei ich gefeuert worden.

Meine vier Jahre Auszeit von 2002 bis 2006, die ich mir für meine Kinder nahm, waren die besten vier Jahre meines Arbeitslebens. War es gut für meine Karriere? Eher nicht. Hat es mein Leben bereichert? Über alle Maßen.

Ein unerwarteter Bonus war, dass die Entscheidung, eine ziemlich hochrangige Position im Foreign Office zugunsten seiner Kinder aufzugeben, im Jahr 2002 einiges Interesse weckte. Eine Redakteurin bei der Financial Times kommentierte: »Mann bleibt zu Hause: klasse Stoff.« Ob ich nicht darüber schreiben wolle, wie sich das anfühlt? Nach ein paar Fehlstarts produzierte ich etwas, das ihr gefiel.

Meine kurze Karriere als Journalist beziehungsweise freier Korrespondent startete mit meinem ersten Artikel »From Herr to Maternity«40, der in der FT vom 9. Mai 2003 erschien. Ich schrieb ein paar Dutzend Artikel für die FT und ein weiteres Dutzend für den Boston Globe und ein oder zwei weitere Zeitungen.

Die meisten meiner Texte drehten sich um Reisen. Ich verglich deutsche mit französischen Ferienlagern, berichtete über neuseeländischen Öko-Tourismus und erörterte die Vorteile beheizter Skilifte. Einige befassten sich mit der Geschlechterfrage und der Arbeitswelt, darunter ein in der Welt veröffentlichter Artikel darüber, wie eine britische Kollegin, die als Sekretärin ohne Universitätsabschluss begann, zu einer hochrangigen Diplomatin wurde – in Deutschland undenkbar.

Aber der größte Gewinn meiner vierjährigen Auszeit war die stärkere und dauerhafte Bindung, die ich zu meinen Kindern entwickelte. Das hat mein Leben auf eine Weise verändert, wie es mir sonst nicht möglich gewesen wäre. Ich behaupte nicht, hier etwas Besonderes geleistet oder das Geheimnis zwischenmenschlicher Beziehungen gelöst zu haben. Aber die vielen Stunden in diesen vier Jahren, die wir miteinander verbrachten und in denen ich die Verantwortung für sie hatte, brachten uns einander sehr nahe. Dafür bin ich bis heute dankbar.

Der vierjährige Tapetenwechsel hat den Rhythmus meines Lebens nachhaltig verändert. Noch einmal: Ich will mich nicht als Ausnahmefall darstellen. Viele haben diesen Weg vor mir beschritten. Aber ich habe zwei Romane geschrieben, ein bisschen Journalismus betrieben, bin einer wunderbaren Wandergruppe beigetreten und habe neue Freunde gefunden. Auch das hat mein Leben verändert.

Viele Freunde und Kollegen prophezeiten mir nach dem unbezahlten Sonderurlaub einen schwierigen Wiedereinstieg in den Beruf. »Sie sollten sich weiter qualifizieren«, riet mir ein wohlmeinender hochrangiger Kollege. »Lernen Sie dazu, tun Sie etwas, mit dem das Foreign Office etwas anfangen kann oder das es für wichtig hält. Sonst ist Ihre Auszeit bloß ein schwarzes Loch.« Andere rieten mir, die Zeit zu genießen, so lange ich konnte. Letzteres entsprach eher meinen Vorstellungen, obwohl ich auch viel über das Schreiben und die Medienwelt gelernt habe.

Der Wiedereinstieg war in der Tat mit einigem Aufwand verbunden. Als ich anfing, mich auf Beförderungsstellen in London zu bewerben, für die ich vier Jahre zuvor am Ende meiner Dienstzeit als Botschaftsrat für EU und Wirtschaft als zu hundert Prozent qualifiziert erklärt wurde, musste ich erfahren, dass ich nun nicht einmal mehr in die engere Wahl kam. Ich versuchte es mit Stellen meines Dienstgrads, aber keine Chance. Schon langsam der Verzweiflung nahe, bekam ich einen Anruf von einer klugen Kollegin, die mich ein wenig kannte. »Vielleicht könntest du dich um einen der ungewöhnlichsten Jobs im Foreign Office bewerben«, sagte sie, »die Stelle des Leiters der Abteilung für Überseegebiete.«

Wie Millionen von Frauen mit einschlägiger Erfahrung Ihnen bestätigen können, spricht nicht viel dafür, dass eine berufliche Auszeit zur Kinderbetreuung der Karriere förderlich ist. Aber ich hatte Glück. Meine späteren Jobs waren respektabel und befriedigend, und persönlich habe ich unermesslich davon profitiert.

Man sollte im Leben nicht alles auf eine Karte – die Arbeit – setzen. Der Management-Guru John Hunt41 brachte es bei einem Kurs der London Business School, den ich 1996 besuchte, auf den Punkt: Statistisch gesehen, sagte er, würden nur zwei der zwanzig Leute im Raum die Spitze des Ministeriums erreichen. »Der Rest von Ihnen, ja, Sie alle«, fuhr er fort, »sollten neben Ihrer Karriere etwas anderes in Ihrem Leben haben, das Sie erfüllt.«

Ein ausgezeichneter Rat.

40 Redaktionsassistenten, nicht Journalisten, denken sich die Schlagzeilen von Zeitungsartikeln aus.