The Ivy Years - Solange wir schweigen - Sarina Bowen - E-Book

The Ivy Years - Solange wir schweigen E-Book

Sarina Bowen

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Beschreibung

Wenn die Liebe dein größtes Geheimnis ist ...

Michael Graham ist geschockt, als er erfährt, dass das neueste Mitglied seines Eishockeyteams ausgerechnet John Rikker ist - der Einzige, der Michaels größtes Geheimnis kennt. Michael weiß augenblicklich, dass für ihn nun alles auf dem Spiel steht, was er sich am Harkness College aufgebaut hat. Aber sein Plan, John wenigstens abseits des Spielfelds aus dem Weg zu gehen, gestaltet sich schwieriger als gedacht. Denn auch nach all den Jahren kann John mit einem einzigen Lächeln seine Welt aus den Angeln heben ...

"Sarina Bowens THE IVY YEARS ist für mich die schönste New-Adult-Reihe aller Zeiten!" Elle Kennedy

Band 3 der IVY-YEARS-Reihe von USA-TODAY-Bestseller-Autorin Sarina Bowen




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Seitenzahl: 469

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Inhalt

TitelZu diesem Buch123456789101112131415Die AutorinImpressum

SARINA BOWEN

The Ivy Years

Solange wir schweigen

Roman

Ins Deutsche übertragen von Ralf Schmitz

Zu diesem Buch

Michael Graham ist geschockt, als er erfährt, dass das neueste Mitglied des Eishockeyteams ausgerechnet John Rikker ist. Denn was niemand weiß: Michael und John haben eine gemeinsame Vergangenheit, und die Gefühle, die Michael für seinen neuen Teamkollegen hatte, sind sein größtes Geheimnis. Ein Geheimnis, von dem auch jetzt niemand etwas erfahren darf, denn Michael ist sich sicher, dass dann alles, was er sich am Harkness College aufgebaut hat, auf dem Spiel stünde. Doch sein Plan, Johns Anwesenheit zu ignorieren und ihm abseits des Eises aus dem Weg zu gehen, gestaltet sich schwieriger als gedacht. Denn schon ein einziger Blick in Johns dunkle Augen bringt Michaels sorgfältig errichtete Schutzschilde gehörig ins Wanken und beschwört Erinnerungen herauf, die er seit sechs Jahren zu vergessen versucht …

1

Bully (eng. Face-Off): der Einwurf des Pucks durch den Schiedsrichter zu Beginn des Eishockeyspiels

September

Graham

In meinen Lieblingsfilmen merkt der Held immer, wenn ihm etwas Schlimmes bevorsteht. Er erkennt die Zeichen oder spürt eine Erschütterung der Macht. Aber im richtigen Leben passiert so was nicht. Und da ich auch kein Actionheld bin, hatte ich wohl nie eine Chance, es kommen zu sehen.

In meinem ganzen Leben nicht. Jedenfalls nicht, wenn es drauf ankam.

An jenem Nachmittag fand das erste Eishockeytraining der Saison statt. Wir lärmten übermütig in der Umkleide herum. Unsere Mannschaftsaufstellung war der Hammer. Wir hatten zwei riesige kanadische Neuzugänge mit gewaltigen Bärten und noch gewaltigerem französischem Akzent dabei. Wir kannten die Jungs erst eine halbe Stunde, trotzdem hatte sich einer schon den Spitznamen »Pepé« eingehandelt – nach der Cartoon-Figur Pepé das Stinktier. Und den anderen würden wir wohl »Frenchie« nennen. Bei Spitznamen sind wir echt einfallsreich.

Ich war fast mit dem Umziehen fertig, als mein Trainingstrikot an einem Stück Klettverschluss des Schulterpolsters hängen blieb. Ich schwankte einen Moment, dann griff jemand von hinten zu und befreite mich.

»Jetzt siehst du ordentlich aus.« Die Stimme und die helfende Hand gehörten meiner Freundin Bella. Als ich mich zu ihr umdrehte, sah ich in ihr schönes Apfelbäckchen-Grinsen, das ihr Markenzeichen war.

»Danke, Mama«, zog ich sie auf und sah sie dabei lächelnd an.

Sie verpasste mir einen Tritt in den Hintern, den ich sogar durch die dicken Polster spüren konnte. »Graham, du solltest mich dieses Jahr doch ›Oh, Unvergleichliche‹ nennen«, sagte sie. »Also, warum übst du nicht schon mal? Sag: ›Danke, oh, Unvergleichliche‹.«

Bella war ein schräger Vogel, auf die beste Art, die man sich vorstellen konnte. Sie war ein reiches Mädchen aus der Upper East Side von Manhattan und der größte Eishockeyfan, der mir je begegnet war, obwohl ihre hochnäsigen Eltern (die ich schon kennengelernt hatte) noch nie ein Spiel gesehen hatten, ganz zu schweigen von einer Umkleidekabine von innen. Deshalb wusste niemand, von wem Bella ihre Begeisterung für unseren Sport hatte.

Ihre Lust auf Hockey wurde nur von ihrer Lust auf die Spieler übertroffen. Es gab keine exakten Zahlen, aber ich war mir sicher, dass sie mit fünfundsiebzig Prozent der Mannschaft geschlafen hatte. Anwesende eingeschlossen.

In der kommenden Saison würde Bella uns zum ersten Mal auch in offizieller Funktion als Student Manager beistehen. Und ihre neue Macht war ihr offensichtlich zu Kopf gestiegen. Das wollte ich ihr gerade sagen, kam aber nicht mehr dazu. Denn in dem Moment stieß Coach James die Tür zum Gang auf, sodass wir uns ihm mit ungeteilter Aufmerksamkeit zuwandten.

»Nun schau sich mal einer diesen Haufen Hooligans an! Wer zum Henker seid ihr Jungs eigentlich? Verdammte Faulenzer, das seid ihr! Ich habe euch etwas mitzuteilen. Also, haltet mal lange genug die Klappe, damit euch nichts entgeht!« Sein runzliges Gesicht wurde ernst. »Die schlechte Nachricht zuerst. Bridger McCaulley ist im Sommer aus der Mannschaft ausgeschieden. Familiäre Probleme. Ich habe ihn eine Stunde lang angebrüllt, aber das hat auch nichts geholfen. Also steckt er wohl wirklich in der Klemme.«

Ein bekümmertes Murmeln ging durch den Raum. Das war echt nicht gut. McCaulley war ein guter Außenspieler, außerdem hatte ich den Kerl immer gemocht.

»Die gute Nachricht ist, dass wir einen neuen Spieler haben, der von der Saint B zu uns gekommen ist. Er ist Stürmer und studiert im zweiten Jahr. Ihr seht, der Herr hat’s genommen, der Herr hat’s gegeben.«

Da erschien noch jemand im Türrahmen, eine Hockeytasche über der Schulter. Und als ich das bekannte Gesicht sah – die unter dunklen Haaren hervorblitzenden großen dunklen Augen –, fühlte ich mich so überrumpelt wie noch niemals zuvor. Sogar mein Blickfeld wurde an den Rändern ein wenig trüb. Die Stimme des Trainers klang plötzlich, als würde ich sie unter Wasser hören.

Ein Poltern beförderte mich an die Oberfläche meines Bewusstseins zurück. Im nächsten Moment gab Bella mir mit verdutzter Miene meinen Helm zurück, der mir vor Schreck aus der Hand gefallen war.

Dann übernahmen die Reflexe, die ich jahrelang trainiert hatte, um unwillkürliche Reaktionen zu verbergen. Ich nahm Bella den Helm ab und klappte das Visier hoch, als hätte ich noch nie etwas Faszinierenderes getan, als die Verschlüsse zu öffnen.

Vorn stellte der Trainer weitschweifig den Neuzugang vor »… sehr laufstark und eine unglaubliche Statistik nach seiner Spielzeit an der Saint B. Eine fantastische Ergänzung. Also, heißt Johnny Rikker in der Mannschaft willkommen!«

Der Klang seines Namens wirkte auf mich wie ein Schlag in den Magen. Ich ließ mich auf die Bank hinter mir fallen und krümmte mich wie einer, der gerade mit Karacho gegen die Bande geknallt war. Um mit gutem Grund den Kopf zwischen den Knien verstecken zu können, fasste ich nach unten und löste die Kufenschoner. Die Gummidinger von den Kufen abzukriegen fiel mir schwerer, als es hätte sein sollen, weil meine Hände tatsächlich zu zittern begonnen hatten.

Verdammt, Graham, rief ich mich zur Ordnung. Nun reiß dich mal zusammen!

»Hartley!« sprach der Trainer unseren Mannschaftskapitän an. »Was dagegen, wenn Rikker McCaulleys Spind nimmt?«

»Meinetwegen«, antwortete Hartley mit rauer Stimme. Er und McCaulley waren seit Langem beste Freunde. Daher hörte er sich nicht allzu begeistert an. »Dann komm mal her«, rief er dem Neuen unverdrossen zu. Dessen Blick ich von nun an bis zu meinem Abschluss ausweichen würde.

Um etwas zu tun zu haben, band ich mir die Schlittschuhe noch mal zu.

Der Trainer brüllte: »Also, alle raus hier! In einer Minute seid ihr auf dem Eis, Leute!«

»Und wie hast du es geschafft zu wechseln?«, erkundigte sich Hartley bei Rikker. Er war offenbar nicht der Einzige, der sich das fragte, denn in der Umkleide war es jetzt mucksmäuschenstill. Es gab ungefähr hundert Regeln der American Collegiate Athletic Association, die dagegensprachen. Eigentlich musste man, wenn man die Schule wechseln wollte, um in der Division One Hockey zu spielen, erst mal ein Jahr aussetzen.

Ich hörte sein bekanntes Lachen, bei dem sich mir die Nackenhaare sträubten. »Ich glaube, für die Geschichte haben wir jetzt keine Zeit.«

Shit! Seine Stimme zu hören wirbelte alles in mir durcheinander. Der raue Klang seiner Stimme brachte längst verdrängte Erinnerungen an die Oberfläche. Gute wie schlechte.

»… erzähl ich später«, sagte er gerade. »Bei ’nem Bier. So eine Geschichte geht nur mit Alkohol.«

Hartley lachte schnaubend. »Okay, bei der Einleitung muss deine Geschichte aber wirklich gut sein.«

»Das kannst du mir glauben«, brummte Rikker.

Ich hielt es nicht aus, noch eine Sekunde länger stillzusitzen. Am liebsten wäre ich aus der Haut gefahren. Ich sprang auf und stürmte zum Ausgang. Als ich die Tür aufriss, schlug mir die Kälte der Eishalle ins Gesicht. Ich holte tief Luft und eilte den Gang hinunter, die Gumminoppen federten unter den Stahlkufen. Ohne abzubremsen, sauste ich über die Schwelle auf die spiegelglatte Eisfläche.

Mein Herz hämmerte in meiner Brust. Ich beugte die Knie, schoss kraftvoll nach vorn und flitzte übers Eis, dass die Bandenwerbung vor meinen Augen verschwamm. Nur Eislaufen würde mich wieder beruhigen.

Das musste es einfach.

Rikker

Anders als bei anderen Sportarten gibt es im Eishockey nicht viele Auszeiten. Was ein Jammer ist. Denn nachdem ich die Kabine betreten und einen ersten Blick auf Michael Grahams Gesicht erhascht hatte, hätte ich gut eine Auszeit gebrauchen können.

Dabei hatte ich gewusst, dass er dort sein würde. Ich hatte vor dem Wechsel die Spielerliste studiert. Daher hatte ich mich für gut vorbereitet gehalten. Immerhin hatte ich fünf Jahre Zeit, um meinen Zorn hinter mir zu lassen. Die Schrammen in meinem Gesicht waren vernarbt, die gebrochenen Rippen nur mehr eine ferne Erinnerung. Ich hatte so vieles hinter mir gelassen.

Auf dem Weg durch die überfüllte Kabine hatte ich ihn nur kurz gesehen. Aber dieser eine Blick hatte genügt, um mir darüber klar zu werden, was mir hier bevorstand. Weil man die erste Liebe nie wirklich vergisst, nicht wahr?

Jedenfalls behaupten das die Texte der Popsongs.

Dabei sah er nicht mal mehr so aus wie damals. Ich hatte mir immer nur den mageren verängstigten Teenager vorgestellt, der mich blutend auf dem Asphalt liegen ließ, dabei war die Version 2.0 von Graham, die sich da in der Ecke ausrüstete, ein Kracher von einem Verteidiger. Ich brauchte keinen Röntgenblick, um zu erkennen, dass unter den Schulterpolstern eine höllische Menge Muskeln steckte. Doch über dem neuen Monsterbody sah ich dieselben von den dichtesten blonden Wimpern umrahmten eisblauen Augen, die ich je bei einem Typen gesehen hatte.

Und ich hatte viele gesehen.

Sein Anblick reichte aus, um meinem Herzen einen Mordstritt zu verpassen. Aber leider verriet mir sein Gesichtsausdruck, dass mir harte Zeiten bevorstanden. Der Typ sah nicht so aus, als würde der sich freuen, mich zu sehen.

Natürlich nicht. Das kam nicht gerade unerwartet. Hätte er sich an mich erinnern wollen, hätte er in den letzten fünf Jahren sicher mal angerufen. Oder mir eine E-Mail geschickt. Oder wäre sonst wie mit mir in Kontakt getreten. Ich wusste längst, dass er mit mir so fertig war, wie man es nur sein konnte.

Trotzdem verletzte mich seine finstere Miene.

Aber es gab für mich keine Auszeit. Weder im Leben noch im Eishockey. Also würde ich mich später mit diesem Scheiß herumschlagen müssen. Jetzt musste ich erst mal aufs Eis. Zu behaupten, dass ich diesem Team etwas zu beweisen hatte, wäre die Untertreibung des Jahres gewesen. Schließlich muss man das als Neuzugang immer, nicht wahr? Nur konnte man die übliche Last in meinem Fall mit hundert multiplizieren. Jedenfalls würde es so laufen, sobald die anderen meine Geschichte kannten.

Also legte ich die Polster an, so schnell ich konnte. Alle außer dem Kapitän räumten jetzt die Umkleide. Der Typ, den die anderen Hartley nannten, schien auf mich zu warten. »Du musst aber wegen mir nicht zu spät kommen«, sagte ich, während ich mir die Schlittschuhe zuband.

»Kein Ding.« Er stand da und drehte seinen Schläger auf dem Boden. »Die Eröffnungsrede kenne ich schon. Der Trainer zitiert am liebsten tote Präsidenten.«

»Echt?« Ich sah mich um. Die Kabine wirkte brandneu. »Nett habt ihr es hier.«

»Nicht?«, stimmte Hartley zu. »Vor der Renovierung war es hier ziemlich grausig. Jetzt haben wir einen neuen Kraftraum. Neue Duschen. Alles ist neu.«

Ich stand auf, durchquerte den Raum auf Kufen und warf einen Blick auf die gekachelten Kabinen im Duschraum nebenan. »Vielleicht hat der Trainer mich genommen, weil ihr blickdichte Duschkabinen habt.«

»Wieso das?« Hartley hatte meinen taktlosen Scherz offenbar nicht kapiert. Was bedeutete, dass der Trainer ihn nicht über mich ins Bild gesetzt hatte.

Ich hätte in dem Moment wohl besser die Klappe gehalten. Doch das vergangene Jahr hatte mir mächtig zugesetzt. Wenn Hartley also wegen mir durchdrehen wollte, brachte ich das am besten jetzt gleich hinter mich.

Ich sah ihn an und sagte: »Die ACAA hat mit meinem Wechsel hierher Stellung gegen meinen Rauswurf aus dem Saint-B-Team bezogen.« Als ich meinen Schläger nahm, wandte sich Hartley der Tür zur Eisfläche zu und hielt sie mir auf.

»Cool, aber ich kann dir immer noch nicht folgen«, sagte er und lief den Gang entlang voran.

»Der Saint-B-Trainer ist Katholik. Und ein Eiferer, nehme ich an.« Da Hartley sich nicht umdrehte, wagte ich den Sprung ins kalte Wasser. »Ich bin schwul, Alter.«

Auf dem Weg zum Eis sah ich nur Hartleys Rücken. Ich fühlte die Sekunden vergehen, als er die letzten drei Meter in Richtung Plexiglastür zurücklegte. Die behandschuhte Hand auf dem Türgriff, drehte er sich endlich zu mir um. Er sah mich nachdenklicher an, als ich es bei so einer Sportskanone erwartet hätte. »Unser Trainer holt nicht jeden in die Mannschaft«, meinte er. »Er glaubt wohl, dass du gut zu uns passt.«

»Ich denke, da könnte er recht haben«, gab ich in der Hoffnung richtigzuliegen zurück.

Hartley schob sich einen Handschuh unter den Arm und klappte sein Visier herunter. »Die Sportfakultät hat zu dem Thema eine klare Meinung.«

Einen Moment lang sträubte ich mich dagegen, ein »Thema« zu sein. Andererseits stimmte das, was Hartley sagte, nicht nur, sondern zeugte auch davon, dass er gut Bescheid wusste. Einer der Gründe für meinen Wechsel zum Harkness College war, dass man das »Frei« in »Freie Künste« hier sehr ernst nahm. Im vergangenen Jahr hatte es hier sogar unter der Überschrift Spiel mit, wenn du kannst! eine Kampagne zur Inklusion im Sport gegeben. Ich hatte auf der College-Website ein dreiminütiges Video gesehen, in dem Studenten diesen Satz wiederholten und eine Stimme dem Zuhörer versicherte, dass die Mannschaften ungeachtet der sexuellen Orientierung absolut jeden willkommen hießen.

Etwas Fortschrittlicheres war mir noch nicht untergekommen. Und ich hoffte von ganzem Herzen, dass es sich nicht bloß um leere Worte handelte.

»Ich hab das Video gesehen«, erklärte ich. »Aber du bist nicht drin vorgekommen.« Was so viel heißen sollte wie: Was ist deine Haltung dazu, Kumpel?

»Das hat nichts zu bedeuten«, gluckste er. »Ich war das ganze letzte Jahr aus dem Verkehr gezogen und daher nicht gerade der Lieblingsspieler des Trainers.« Er lächelte reumütig. »Willkommen am Harkness College, Mann. Du entscheidest, wann und wie du die anderen einweihen willst. Sag Bescheid, wenn du möchtest, dass ich der Mannschaft ein paar Worte sage.« Seine braunen Augen musterten mich.

Bis jetzt reagierte er so, wie ich es mir besser nicht hätte ausmalen können. »Ich weiß noch nicht, was ich machen will«, bekannte ich wahrheitsgemäß. Bisher hatte ich mich vor Mannschaftskameraden noch nie geoutet. Und wenn irgend möglich, sollte das auch so bleiben.

Hartley stieß die Tür zum Eis auf. »Gib einfach Bescheid. Und jetzt aufs Eis!«

Ich ging hart ran. Übertrieben hart. Ich stürmte übers Eis wie von Höllenhunden gehetzt. Und so war es ja auch. Weil das hier meine letzte Chance im Eishockey war. Der Wechsel von der Mannschaft einer bedeutenden Hochschule zu einer anderen war eigentlich nicht so ohne Weiteres möglich. Es war ein Riesenglück, hier spielen zu können.

Wenn es nicht funktionierte, würde ich keine weitere Chance mehr bekommen. Und ich liebte diesen Sport. Mit einundzwanzig und in meinem zweiten Collegejahr konnte ich noch drei Saisons in diesem Team spielen. Wenn die Jungs mich wollten.

Ich lief mich warm, und als der Trainer uns Pässe trainieren ließ, ging ich vollkommen darin auf. Ich richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf die in meine Richtung sausenden Pucks. So hatte ich meinen Verstand auch in den letzten fünf Jahren über Wasser gehalten. Eishockey verlangte absolute Konzentration auf den Puck und die übrigen herumflitzenden Körper. Wenn man die Gedanken auch nur für eine Sekunde abschweifen ließ, ging alles den Bach hinunter; die anderen eroberten den Puck, oder man fand sich wie ein Käfer gegen die Bande gequetscht wieder.

Aber ich konnte das gut – mein Bewusstsein ganz dem Spiel widmen. So verflogen neunzig Minuten, ohne dass ich es mitbekam. Als der Trainer das letzte Mal in seine Trillerpfeife blies, war ich schweißgebadet. Und als ich mir den Helm vom Kopf zog, sah ich buchstäblich Dampf daraus aufsteigen.

»Beim nächsten Mal machen wir ein Trainingsspiel, versprochen«, rief der Trainer, als wir schwer atmend an ihm vorbeigingen. »Ich bin ja kein totaler Fiesling!« Der Trainer hatte für jeden, der vom Eis kam, ein freundliches Wort. »Gute Manndeckung«, sagte er oder: »Geh beim nächsten Spiel mit derselben Einstellung raus!«

Ich war der Letzte. Er nahm meinen Arm. »Gut gemacht, Junge. Wenn du immer so schnell unterwegs bist, wirst du dich vor niemandem rechtfertigen müssen.«

»Das ist der Plan«, gab ich zurück.

Der Trainer gluckste. »Ich hab ein gutes Gefühl. Du wirst alles ein bisschen auf den Kopf stellen, aber daran ist überhaupt nichts verkehrt. Halte dich an deinen Mannschaftskapitän, ja? Hartley ist ein guter Junge. Der Beste, den es gibt.«

»Alles klar.« Ich nickte und machte mich auf den Weg in die Kabine.

Die Spinde, das war mir aufgefallen, waren gar keine richtigen Spinde. Die Umkleide der Harkness hatte stattdessen hübsche Holzschränke. Ein bisschen wie die Fächer, die wir in der Vorschule hatten. Bloß dass das hier eher eine Vorschule für sportliche Riesen war. Jeder hatte fast einen Kubikmeter Platz, genug für die Schlittschuhe und Polster und darüber noch eine Ablage für den Helm. Das Ganze erinnerte mehr an das Ritz Carlton als an eine Umkleide. Die Schränke waren nach oben offen, was echt schlau war, weil der gute alte Eishockeymief so auf ein Minimum reduziert wurde. Und wenn alles richtig gemacht worden war – wovon ich ausging –, verfügte die Anlage bestimmt über eine Hundert-Millionen-PS-Belüftung.

Vor jedem Fach stand eine Bank, sodass man, wenn man sich hinsetzte, um die Schnürsenkel der Schlittschuhe aufzudröseln, dem Raum zugewandt war. Die Umkleide wirkte dadurch zwar größer, diese Anordnung war für mich jedoch alles andere als ideal. Wenn ich mein Team davon überzeugen wollte, dass niemand Angst vor mir haben musste, konnte ich den Jungs nicht gut beim Umziehen zugucken. Also wandte ich mich ab und stellte, bevor ich die Schnürsenkel löste, einen Fuß auf die gummibeschichtete Bank.

»Handtücher gibt es um die Ecke«, sagte Hartley, als er seine Polster ablegte. »Gehören zur Grundausstattung.«

»Danke.«

»Na, hallo«, drang eine weibliche Stimme an mein Ohr. Als ich aufblickte, sah ich einen äußerst attraktiven Lockenkopf, der mich anlächelte. »Ich heiße Bella. Ich bin dieses Jahr Student Manager. Also, du kannst dich an mich wenden, wenn du was brauchst.« Dann legte sie tatsächlich ihre Hand an mein verschwitztes Gesicht. »Egal was«, fügte sie hinzu, ehe sie davonstolzierte.

Hartley begann neben mir zu kichern. Ich riskierte einen Blick und sah ihn breit grinsen. »Sie ist ziemlich direkt«, sagte er. »Lass sie nicht zu hart abblitzen, ja? Mit Bella legst du dich besser nicht an.« Er lachte wieder.

Meinetwegen. Ich ließ mir Zeit beim Einrichten meines Fachs. Schließlich schrieb ich mit dem bereitliegenden Marker RIKKER auf die Tafel darüber. Hier hatte man echt an alles gedacht.

Hartley verschwand unter der Dusche. Als er, nur mit einem Handtuch bekleidet, zurückkam, ging ich selbst duschen. Ich trat in die nigelnagelneue Kabine und zog den Duschvorhang zu. Ich blieb lange und ließ das heiße Wasser auf mich herabprasseln. Als ich wieder rauskam, waren die meisten Spieler schon weg. Hartley auch. Und Graham. Ich hätte darauf gewettet, dass er der Erste war, der sich nach dem Training verdrückt hatte.

Auf dem Eis war ich zu beschäftigt gewesen, um mich groß umzuschauen. Trotzdem hatte ich bemerkt, dass es nie Graham war, wenn ich mich bei der Aufstellung einem anderen Spieler gegenübersah.

Nicht dass ich Wiedersehensfreude erwartet hatte. Er hatte mir vor fünf Jahren deutlich zu verstehen gegeben, dass wir keine Freunde mehr waren. Oder überhaupt irgendwas. Und man musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass Graham offenbar beschlossen hatte, in Zukunft hetero zu sein. Oder wenigstens so zu tun.

Also machte er sich jetzt vermutlich vor Angst in die Hose und fragte sich, ob ich womöglich Gespräche mit der Frage begann: »Was meint ihr wohl, was Graham auf der Highschool ausprobiert hat?« Was ich natürlich niemals machen würde. Ich war letztes Jahr auf der Saint B gegen meinen Willen geoutet worden. Was echt furchtbar gewesen war. Niemand verdiente das. Deshalb würde ich keine Geschichten über Graham verbreiten, denn wenn ich das tat, würde ich mich auf dasselbe Niveau herablassen.

Das konnte er jedoch nicht wissen. Daher war mein Anblick sicher ein Riesenschock für ihn. Ich hoffte nur, er würde sich so weit zusammenreißen können, mir die Hand zu reichen. Sonst stand uns ein sehr langes Jahr bevor.

Jemand hatte etwas auf mein Namensschild gekritzelt. »Capri’s Pizza, 19 Uhr« stand da, unterzeichnet mit »H«.

Aha. Das konnte ebenso gut eine Einladung wie eine Anordnung sein.

Halte dich an deinen Mannschaftskapitän, hatte der Trainer gesagt.

Also gut, das würde ich tun.

2

Fliegender Wechsel: die Auswechslung von Spielern, während die Zeit läuft

Graham

Wir saßen mit den ersten Pitchern der Saison vor uns bei Capri’s. Die meisten Spieler hatten sich in die vier oder fünf engen alten Sitzecken gequetscht. Die erste Pizzabestellung des Jahres hatten wir vor ungefähr einer halben Stunde aufgegeben.

Das hier war für mich der beste Ort der Welt, und ich war von den besten Menschen umgeben. Eigentlich hätte ich entspannt sein können.

Aber das war ich nicht. Nicht mal ansatzweise.

Ich brauchte höchstens zwanzig Sekunden für mein erstes Bier. Bella sah es und schenkte mir nach.

»Du bist als Managerin echt ein Naturtalent, weißt du das?«, sagte ich und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Das ist mir jetzt klar.«

»Natürlich«, sagte sie und hob ihr Glas. »Was liegt bei dir am Wochenende an?«

Es war die glorreiche Zeit am Anfang des Semesters, wenn noch niemand ernsthaft lernen musste. »Das Übliche. Heute Abend muss ich mich erst mal abschießen. Und mich flachlegen lassen.«

»Für dich sollte es dafür ein kombiniertes Wort geben. Weil das nämlich genau dein Ding ist.« Sie neigte mit lachenden Augen den Kopf in meine Richtung. »Deshalb wirst du … flachgeschossen. Das hört sich besser an als ablegen.«

»Wenn du es sagst.« Ich zog sie an mich und versuchte mich zu entspannen. Doch ich fühlte mich, als hätte jemand einen Betonklotz auf meiner Brust geparkt.

Mehr hilft mehr. Ich führte das Glas Bier an die Lippen und nahm einen großen Schluck.

»Wir brauchen dieses Jahr einen neuen Gewinnersong«, sagte Hartley gerade. »Hast du einen Vorschlag?«

»›After Midnight‹«, erwiderte ich rasch, um Bella eine Reaktion zu entlocken.

»Vergiss es!«, entgegnete sie prompt. »Clapton mag ja eine Legende sein, aber Gewinnerlieder hat er nicht geschrieben. Ich finde, wir sollten ›What the Hell‹ nehmen.« Bella wackelte, um sich mehr Platz auf der Bank zu verschaffen, mit den Hüften. Es war echt eng in der Nische. Aber das war okay. Weil Bella und ich ein echt enges Verhältnis hatten. Man konnte durchaus sagen, dass sie meine beste Freundin war.

»Guter Song«, meinte Hartley. So war er eben – diplomatisch bis zum Abwinken. »Aber ich finde, der Gewinnersong sollte von jemandem sein, der einen Schwanz hat.«

Bella schnaubte. »Du weißt, wie sehr ich auf Schwänze stehe, Captain, aber ›What the Hell‹ ist wirklich ein guter Song. Auch wenn er von einer Frau ist.«

»›Can’t Hold Us‹«, warf jemand ein.

»Macklemore hatten wir schon zu oft«, widersprach Bella. »Aber ich lasse es mir durch den Kopf gehen.«

»Was? Du meinst, du würdest das entscheiden?«, fragte Hartley und füllte ihr Bierglas auf.

»Ich hab Schlüssel zur Musikanlage in der Umkleide. Ich tue eigentlich nur so, als würde ich über eure Vorschläge nachdenken.«

Wie ich schon sagte: Ihr war die Macht zu Kopf gestiegen.

»Wie wäre es mit ›Timber‹?« Hartley schubste Bella. »Pitbull und Kesha. Da ist für jeden was dabei.«

»Nicht übel, Captain. Gar nicht übel.«

Der Lautsprecher knackte. »Zweiundvierzig! Zweiundvierzig, eure Pizzen sind fertig!«

»Das sind wir!«, jubelte Bella. Sie nahm das Ticket vom Tisch und wand sich an mir vorbei. Ich nutzte die Gelegenheit und kniff ihr in den Hintern. »Finger weg, Dumpfbacke.« Sie stand mit einer in die Seite gestemmten Hand neben dem Tisch. »Sehe ich aus, als könnte ich alleine zwei Pizzen tragen?«, blaffte sie mich an.

»Eigentlich schon«, gab ich zurück und rutschte von der Bank, um ihr zu folgen. »Aber ich helfe dir. Haltet uns die Plätze frei«, rief ich über die Schulter. Wir schlängelten uns zwischen den Gästen hindurch zu der schäbigen alten Theke im Hintergrund. Die Capri-Brüder klatschten in verschwitzten weißen T-Shirts, ihrem Markenzeichen, Tabletts voller Pizzen auf den Tresen und sammelten die Tickets ein.

Als Bella ihr Mörderlächeln aufsetzte, fand einer von ihnen auf der Stelle unsere Bestellung. »Aah«, machte sie, nahm eine der Pizzen und wies mit gerecktem Kinn auf den Ausgang. »Da kommt der süße Neue. Rikker.«

Mein Magen sackte bis in die Schuhspitzen. Ich hatte gehofft, mich wenigstens heute Abend noch an den Gedanken gewöhnen zu können, dass ich erneut vom schlimmsten Erlebnis meines Lebens heimgesucht wurde. Aber nicht mal das war mir vergönnt. Das Unheil kam mit großen Schritten auf uns zu. Er trug ein verblichenes Vermont-Sweatshirt und Shorts, die seine muskulösen …

Mayday! Abbruch!

»Trag du die Teller«, wandte ich mich an Bella und nahm ihr die Pizzen aus der Hand. Meinen Problemen ins Auge zu blicken, war einfach nicht mein Ding.

Was für ein beschissenes Debakel. Womit ich mich selbst meinte.

Rikker

Capri’s Pizza war rustikal, aber von der guten Sorte – der ganze Laden war eichengetäfelt, und die alten Holztische waren tausendfach poliert. In sämtliche sichtbare Oberflächen waren Namen eingeritzt, und in der Luft lag der Geruch von leicht abgestandenem Bier.

Über dem Harkness College – sogar den fragwürdigeren Ecken – lag der Hauch von Jahrhunderten. Weil das College wirklich alt war. Das gefiel mir hier besonders. Obwohl ich erst seit einer Woche hier war, hatte ich diese Beständigkeit bereits ins Herz geschlossen. Der Gedanke, nur ein Zahnrad im Getriebe der Geschichte zu sein, behagte mir. Meine Probleme erschienen mir so weniger groß.

Als ich den Vorraum durchquerte, sah ich keinen der Hockeyspieler. Aber mir fiel auf, dass das Capri’s so verzweigt war wie ein Kaninchenbau. Vom Servicebereich gingen zwei weitere Räume ab, doch ich musste nicht lange suchen. Denn Graham und das Mädchen mit dem Lockenkopf hatten gerade ein paar Pizzen vom Tresen gewuchtet. Sein Gesicht hätte ich auch im Profil jederzeit wiedererkannt.

Schließlich hatte ich vor langer Zeit jeden Millimeter dieses Gesichts erkundet.

Das Mädchen winkte mir mit der freien Hand und sagte über die Schulter hinweg irgendwas zu Graham. Und ich schwöre bei Gott, dass er von Kopf bis Fuß erstarrte, als er sie hörte. Für den Bruchteil einer Sekunde flog sein Blick in meine Richtung. Dann kehrte er mir den Rücken zu. Er nahm ihr die Pizzen ab und verschwand auf dem kürzesten Weg in einem der höhlenartigen Räume.

Mein erster Gedanke war: Verdammt, ich hätte nicht herkommen sollen!

Andererseits, drauf geschissen! Wenn ich diese Pizzeria meiden musste, hätte ich gar nicht erst nach Harkness kommen dürfen. Dann könnte ich mich ebenso gut mein ganzes Leben lang unter dem Bett verkriechen. Es gab weiß Gott Menschen auf der Welt, die wollten, dass ich genau das tat. Ich war nicht hier, um einen Anspruch anzumelden oder um irgendwas zu beweisen. Ich war hier, um Eishockey zu spielen und um mein verdammtes Leben zu leben. Also fing ich besser gleich damit an. Und Michael Graham konnte sich meinetwegen verpissen, wenn ihm das nicht gefiel.

Ich hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als Bella breit grinsend auf mich zukam. »Da bist du ja! Wir sind da drin …« Sie wies nickend nach links. Dann nahm sie Pappteller und Papierservietten von einem Tisch, beugte sich über den Tresen und rief: »Hey, Tony! Ein Glas für meinen neuen Freund, bitte!« Damit hob sie die Hand und klopfte mir besitzergreifend an die Brust.

Tony schnippte einen Plastikbecher in unsere Richtung, den ich aufhielt, bevor er über den Tresen hinausschoss. »Schönen Abend«, rief Tony noch und zwinkerte mir verschwörerisch zu, als ich mich abwandte, um Bella zu folgen.

Bella griff in die Vordertasche meines Sweatshirts und zerrte mich daran durch das Getöse des überfüllten Raums zu einem Tisch in einer Nische, an dem Graham und Hartley einander gegenübersaßen.

Mist, so kuschelig hatte ich es mir hier nicht vorgestellt. Es gab nicht mal mehr Platz für mich. Einen Moment lang wähnte ich mich wieder in der siebten Klasse, als ich nicht gewusst hatte, wohin ich mich setzen sollte.

Dort war ich Graham begegnet – in der Siebten, im Spanischkurs. Wir waren die beiden, die in der letzten Reihe saßen, mit furchtbarem Akzent sprachen und keine Freunde hatten. Der Lehrer ließ uns, um Dialoge zu üben, immer Paare bilden. So kamen Graham und ich zusammen.

Hola, Miguel.

Hola, Juan.

Te gusta jugar el fútbol?

Sí, me gusta jugar el fútbol.

Die erste Zeit in der Mittelstufe war das Grauen gewesen. Und das hier? Das Grauen hoch zwei.

»Ich sitze auf Grahams Schoß«, schlug Bella jetzt vor und nahm sich ein Stück Pizza vom Tablett.

»Nee, ich hol mir lieber einen Stuhl«, widersprach ich und drehte mich schnell weg. Und siehe da, ich fand tatsächlich einen freien Stuhl, der vor einem antiken Münztelefon stand. Ich stellte den Stuhl vor der Nische ab und verschaffte mir so den dringend benötigten Abstand. Bella setzte sich ans Ende der Bank und boxte Graham tiefer in die Sitzecke. Keine zwei Sekunden, nachdem ich Platz genommen hatte, fand ihre Hand mein Knie.

Jemand füllte mein Glas. »Willst du ein Stück?«, erkundigte sich Hartley.

»Danke, ich hab schon gegessen«, antwortete ich, nahm aber schnell einen großen Schluck Bier. Ziemlich dünnes Zeug zwar, aber zu einem angemessenen Preis.

»Jetzt erzähl doch mal, warum du gewechselt hast«, forderte Bella, und alle anderen beugten sich neugierig vor. »Du hast gesagt, du erzählst es beim Bier.«

Das kam zu früh. »Na ja«, wich ich aus. Ich hatte Leuten schon sehr, sehr oft gesagt, dass ich schwul war. Ich war sogar richtig gut darin. Aber so was sagt sich nicht so leicht, wenn man mit anderen an einem Tisch gefangen war. Man muss die Bombe platzen lassen, wenn die potenziellen Opfer vor einem fliehen können. Denn selbst die, die kurz darauf wieder auftauchen und einem beistehen, brauchen erst mal einen Moment, um die Neuigkeit zu verdauen.

Und dass Graham praktisch einen Meter von mir entfernt saß und auf sein Stück Pizza starrte, als könnte es ihm die Geheimnisse des Universums offenbaren, ließ den Moment ganz besonders ungeeignet erscheinen. Ich wollte vor ihm nicht verletzlich rüberkommen. Ich hatte das schon mal ausgetestet, und es war nicht gut gelaufen. Gar nicht gut.

»Ich fürchte nur, dass ich dafür noch nicht genug Bier hatte.«

»Okay, wieder so eine spannungsgeladene Einleitung«, meinte Bella, Pizza knabbernd.

»Findest du? Tja, meine Geschichten sind auch meistens sehr spannend.« Das war zwar auf ziemlich sinnlose Art gewagt, aber irgendwie auch wieder wahr.

In dem Moment fiel mein Blick zufällig auf Graham. Ich sah sogar im Dämmerlicht der Pizzeria, dass er sich versteifte, und kapierte, wie sehr selbst so ein blöder Spruch über Geschichten, die ich erzählen konnte, an seinen Nerven zerrte. Dabei hatte ich es gar nicht böse gemeint. Doch die Wirkung erfolgte sofort und machtvoll. Seine Kiefermuskeln arbeiteten, und er ballte die Fäuste auf dem Tisch.

Ruhig, Brauner. »Erzählt mir doch mal von unserem Trainingsprogramm«, wechselte ich das Thema.

Hartley entsprach meinem Wunsch, erklärte mir, was an den Nachmittagen anstand: Kraftraum, Trockenübungen, Eisbahn.

Graham leerte währenddessen sein Glas und kippte dann den Rest aus dem Pitcher hinein.

Ich zog einen Zwanziger aus meiner Gesäßtasche und legte ihn auf den Tisch. »Die nächste Runde geht auf mich.«

»Ich geh holen«, verkündete Bella und glitt aus der Nische.

»Nein«, sagte Graham rasch. »Ich gehe.« Ich hörte zum ersten Mal seit fünf Jahren seine Stimme. Ohne einen von uns eines Blickes zu würdigen, wand er seinen muskelbepackten Körper von der Bank, drückte sich um Bella und meinen Stuhl herum und eilte in Richtung Tresen.

Meinen Zwanziger ließ er liegen.

»Und du bist im zweiten Jahr«, sagte Bella und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar.

Dieser Vorstoß kam drei Biere später. Ich hatte mich eine Weile an einem anderen Tisch aufgehalten, um mit den Torhütern zu quatschen. Doch Bella fand mich und legte den nächsten Gang ein. Ich musste mir etwas einfallen lassen, um ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. Und zwar schleunigst!

»Äh, ja«, sagte ich und rutschte auf meinem Stuhl herum, um mir etwas mehr Platz zu verschaffen. Aber davon ließ sie sich nicht beirren. Stattdessen ging sie noch mehr auf Tuchfühlung. »Ich könnte schon im dritten sein, hab aber nach der Highschool ein Jahr ausgesetzt und in der US-Aufbaumannschaft gespielt.«

»Nett«, sagte einer der Torhüter.

»Nett«, wiederholte Bella leise, während ihre Finger über meinen Brustkorb schweiften.

Sie war nicht das erste Mädchen, das mich anbaggerte. Dennoch musste ich vorsichtig sein, weil ich Bella in der kommenden Saison häufig sehen würde. Außerdem war sie ein tolles Mädchen. Klug, lustig und offenbar ein Riesenfan. Sie hatte alles, was man sich nur wünschen konnte. Nur leider nicht, was ich mir wünschte.

Ich nahm Bellas Hand und stand auf. »Kannst du mal einen Moment mitkommen? Ich brauche kurz deine Hilfe.«

Einer der Torhüter schnaubte belustigt, als ich sie zu dem kleinen dunklen Alkoven führte, wo das Münztelefon hing. Sie folgte mir hoch erhobenen Hauptes und mit zufriedenem Gesicht. Ich gewann den Eindruck, dass Bella nie etwas tat, bloß weil es anderen gefiel. Sie strahlte rund um die Uhr hundertprozentige Authentizität aus. Ich kannte ein paar Menschen, die von ihr hätten lernen können. Graham zum Beispiel.

Als wir in die relative Intimität des kleinen Raums traten, legte sie mir sofort die Hände an die Taille. »Wobei brauchst du Hilfe?« Sie sah mich an und ein Grinsen umspielte ihre Lippen.

Ich nahm ihre streunenden Finger. Einen nach dem anderen. Sie strahlte, als ich ihre Hände küsste. »Hör zu, Bella, ich muss dir was sagen. Und der Mannschaft vermutlich auch. Irgendwie. Weil es sowieso rauskommen wird.« Ihr Gesicht nahm einen ernsteren Ausdruck an, ohne dass sie weggeschaut hätte. Der gelassene Blick ihrer blauen Augen gab mir den Mut, weiterzusprechen. »Die Wahrheit ist, dass ich genauso auf Schwänze stehe wie du. Vielleicht sogar mehr.«

Obwohl ich eine gewisse Übung darin hatte, anderen diese Neuigkeit beizubringen, wurde es nie leichter. Andererseits hatte ich bisher bereits jede denkbare Reaktion erlebt. Und Bella sah einen Moment lang genauso irritiert aus wie die meisten. Dann meinte ich das Feuerwerk ihrer Synapsen hinter den Augen zu sehen. Ihre Lippen zuckten, und schließlich warf sie den Kopf zurück und lachte schallend. »Oh, mein Gott. Du meinst das ernst, oder?«

Ich drückte ihre Hände, die ich immer noch hielt. »Würde ich bei so etwas lügen?«

Bella zog ihre Hände zurück, aber nur, um damit mein Gesicht zu berühren. »Du bist echt hinreißend. Und ganz ehrlich, ich weiß nicht, wieso das nicht schon früher passiert ist.«

»Wie bitte?«

»Rikker, Eishockeyspieler sind heiß. Niemand sonst ist heißer! Und ich finde es komisch, dass andere Eishockeyspieler das nicht längst mitgekriegt haben. Jetzt muss ich mir wohl Sorgen machen, dass du mir Konkurrenz machst.«

Ich lachte verblüfft auf. »Ich hab das Gefühl, du kommst ganz gut zurecht.«

»Außerdem machst du mir einen Strich durch eine fast perfekte Rechnung.«

»Ich bin sicher, deine Rechnungen gehen immer perfekt auf«, scherzte ich.

Sie verdrehte die Augen. »Du musst mir jetzt aber keine Komplimente machen. Ich bin schon ein großes Mädchen.« Sie trat zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Hat das irgendwas damit zu tun, dass du die Saint B verlassen hast?«

»Na, und ob. Als das Gerücht über mich die Runde machte, hat der Trainer die Nerven verloren und mich aus der Mannschaft geschmissen.«

Sie machte große Augen. »Was? Das ist gegen die ACAA-Bestimmungen.«

»Ding, ding, ding. Deshalb bin ich hier. Weil mein Onkel Anwalt ist. Er wollte die Saint B verklagen, aber ich habe ihm gesagt, er sollte den Hebel lieber bei den Transferbestimmungen ansetzen.«

Sie sah blinzelnd zu mir hoch. »Weil du lieber Eishockey spielen wolltest, als endlos vor Gericht zu ziehen.«

»Genau.«

Bella knuffte mich leicht am Arm. »Ich wusste, ich mag dich. Und Coach James weiß Bescheid?«

»Klar. Als mein Onkel andere Mannschaften wegen mir angerufen hat, hat er allen ohne Umschweife gesagt, warum ich an der Saint B rausgeflogen bin. Und heute habe ich die Bombe bei Hartley platzen lassen.«

»Okay, lass mich mal überlegen …« Sie blickte zur Decke. »Der Trainer ist nicht voreingenommen. Er gewinnt gerne und trinkt gerne Single Malt Scotch. In der Reihenfolge. Daher kann ich mir gut vorstellen, warum er dich genommen hat. Und Hartley kann jeden gut leiden. Also kein Problem. Wie kann ich dir helfen?«

Unglaublich! Ich wusste gleich, das Mädchen war der Hammer. »Ich brauche nur einen Rat. Ich hab immer gedacht, mein Privatleben könnte privat bleiben. Aber damit war letztes Jahr Schluss. Womöglich ist ja irgendwer in der Harkness-Mannschaft mit jemandem aus der Saint-B-Mannschaft befreundet.«

Bella nickte. »Und dann wirst du geoutet.«

»Sozusagen.«

»Richtig. Und du möchtest, dass die Mannschaft es von dir erfährt statt aus der Gerüchteküche.«

»Ja, im Prinzip schon, ich hab bloß noch keine Strategie.«

Sie machte wieder ein nachdenkliches Gesicht. »Wenn du es groß verkündest, heißt das nur, dass du es für eine große Sache hältst. Aber du willst nicht, dass es eine große Sache ist.«

Ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt eine Wahl hatte. Doch Bella erwies sich auch noch nach ein paar Bieren als ausgesprochen scharfsinnig. »Ganz genau.«

»Es einem nach dem anderen zu sagen wäre ungezwungener.«

»Ja.« Ich seufzte. »Bloß dass ich keinen von den anderen kenne.« Mit einer Ausnahme. Und der weiß es schon.

Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Tja, im Film gewinnt der Sportler erst das große Spiel. Und dann heult er bei der Pressekonferenz und verkündet der ganzen Welt, dass er schwul ist.« Sie legte eine Hand auf ihr Herz. »Und die Mannschaft sagt nur: ›Wir lieben dich so, wie du bist!‹«

»Ich bin ziemlich sicher, dass der Film noch nicht gedreht wurde.«

Sie verschränkte die Arme. »Ich will damit nur sagen, dass es nicht leichter wird, weil du der Neue bist.«

»Ach wirklich?«

Wieder versetzte sie mir spielerisch einen Schlag. Dann sagte sie mit ernster Miene: »Vielleicht wäre es besser, das Management würde das übernehmen.«

Ein sehr großzügiges Angebot, das aber einen Fehler hatte. Wenn man der Schwule in der Umkleide ist, sollte man besser vor nichts Angst haben. »Ich kann unmöglich den Eindruck erwecken, dass ich Schiss habe, es den Jungs selbst zu sagen.«

»Würdest du nicht. Was von dir rüberkommen sollte, ist nicht, dass Rikker auf Typen steht. Die Mannschaft sollte beiläufig erfahren, dass Rikker die Saint B verlassen musste, weil er schwul ist. Aber dass wir auf dem Harkness damit kein Problem haben.«

Verflucht noch mal, das hörte sich echt oberschlau an.

»Und wenn irgendwer doch ein Problem damit hat, kannst du damit guten Gewissens zum Trainer gehen. Oder dir eine andere Sportart suchen.«

Ich legte ihr die Hände auf die Schultern. »Managerin, du bist ein Genie. Und total scharf.«

»Das ich weiß ich schon, Neuer«, sagte sie. »Beides.« Damit kam sie näher, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste mich. Nicht nur so auf die Wange. Sie ließ sich Zeit, schmiegte ihre Lippen an meine und zog den Kuss in die Länge. Sie knabberte an meiner Unterlippe. Und bis zu einem gewissen Punkt erwiderte ich den Kuss. Weil ich mir wie ein Arschloch vorgekommen wäre, wenn ich einfach so zur Salzsäule erstarrt dagestanden hätte.

Schließlich trat sie zurück. »Das«, betonte sie, »war, weil ich einen Ruf zu verlieren habe.«

»Natürlich.«

»Ich kümmere mich um die Sache. Nachdem ich mit dem Trainer gesprochen habe.« Sie drückte meinen Arm und ging lächelnd davon.

Das war mein Stichwort, das kleine Zimmer im Studentenwohnheim aufzusuchen, das man mir zugewiesen hatte, und schlafen zu gehen.

Graham

Ich trank das sechste, siebte und achte Bier, während Bella und Rikker ihre kleine Unterhaltung unter vier Augen führten. Meine Geschichten sind sehr spannend, hatte er gesagt. Ich konnte mir nur ausmalen, was er Bella gerade erzählte. Den Teil der Geschichte, in dem wir nicht bloß Freunde waren? Oder schilderte er ihr in allen Einzelheiten den Tag, seit dem wir nicht mehr befreundet waren?

Wenigstens würde es, wenn er ihr den Teil erzählte, eine kurze Geschichte sein: Darin kamen eine Gasse und vier Hinterwäldler vor, die uns verfolgten und »Schnappt euch die Schwuchteln!« brüllten. Ich rannte weg, während Rikker die nächsten vier Wochen im Krankenhaus zubrachte. Ich besuchte ihn nicht und rief nicht an. Dann zog er in einen anderen Bundesstaat.

Ende.

Heißt es nicht, dass die Zeit alle Wunden heilt? Mit der Zeit hatte sich Schorf über dieser Sache gebildet, aber als Rikker hier auftauchte, wurde die Wunde sofort wieder aufgerissen. Und ich war mir sicher, dass jeder, der mich jetzt beobachtete, das Blut fließen sehen würde.

Vor dem heutigen Abend hatte ich nicht gewusst, dass man gleichzeitig betrunken sein und buchstäblich vor Angst wie Espenlaub zittern konnte.

Rikker und Bella, von der ich lediglich einen Ellbogen sehen konnte, schienen sich nun schon eine Ewigkeit da drin aufzuhalten. Schließlich reckte sie sich und umarmte ihn. Vielleicht küsste sie ihn sogar. (Schließlich war es Bella.) Dann kam sie fröhlich lächelnd wieder zum Vorschein.

Und Rikker verließ das Restaurant in die entgegengesetzte Richtung.

Ich trank noch ein Bier und fühlte mich scheußlich.

Bella setzte sich danach eine ganze Weile nicht mehr zu mir. Wenigstens kam es mir so vor. Ich nahm die Einzelheiten inzwischen ein wenig verschwommen wahr.

»Graham.«

Ich machte die Augen auf, als Bella mich schüttelte. »Was?« Irgendwie hockte ich immer noch in einer Nische im Capri’s.

»Aufwachen, Süßer! Geht’s dir gut?«

»’türlich«, versuchte ich durch meine zugeschnürte Kehle hindurchzupressen.

Bella lachte. »Wie kann man von dem Bier hier dermaßen betrunken werden? Da müsstest du schon ein ganzes Fass von der Plörre saufen!«

»Man muss sich schon echt Mühe geben«, brummte ich.

»Komm, ich bring dich jetzt besser nach Hause.« Sie dirigierte mich durch die Hintertür auf die College Street und Richtung Beaumont House.

»Moment mal.« Was rauskam, war »Menma«. Wir gingen gerade an einem Studentenverbindungshaus vorbei; ich flitzte hinter die elegant gestutzten Hecken und riss den Reißverschluss auf. Die Studentenverbindungen bestanden aus einer Bande elitärer Snobs, die gewöhnlich nichts mit mir zu schaffen haben wollten. Wenn ich mich also auf dem Heimweg von einem Besäufnis erleichtern musste, tat ich es am liebsten an ihren Gemäuern.

Ich hörte Bella auf dem Gehweg seufzen. »Führen wir nicht ein glanzvolles Leben?«

»Ja, Baby.«

Ich folgte ihr langsam wankend bis zu meiner Haustür. »Ab hier komme ich alleine klar«, lallte ich.

»Keine Widerworte! Außerdem hab ich dein Zimmer noch gar nicht gesehen.«

»Gut, wenn man ein Einzelzimmer hat«, meinte ich, in dem Versuch, nicht den Faden zu verlieren.

Als wir oben angekommen waren, fummelte ich mit dem Schlüssel herum, bis Bella ihn mir aus der Hand nahm und selbst aufschloss. Drinnen ließ sie ein leises Pfeifen vom Stapel. »Hübsch. Wo hast du das zweite Bett her?«

Ich hatte statt dem vorschriftsmäßigen Einzelbett zwei davon nebeneinandergeschoben. »Kennst du Donovan?«

»Den Footballer?« Bella kickte die Schuhe von den Füßen.

»Genau. Ich hab seins gekriegt, als er sich ein Wasserbett gekauft hat.«

Sie kicherte. »Echt? Und wie hat er das Ding gefüllt?«

»Mir egal«, gab ich zurück, indem ich die Decke auf meinem Riesenbett zurückschlug. »Ich musste doppelte Bettwäsche kaufen, also überlegt er es sich hoffentlich nicht anders.« Ich ließ meine Jeans fallen und mühte mich damit ab, aus dem Hemd herauszukommen. Dann stand ich nur in Shorts vor ihr. Schließlich kletterte ich ins Bett und machte Platz für Bella.

Ich schloss die Augen, als wäre es mir gleichgültig, ob sie sich neben mir niederließ oder nicht. In Wahrheit wollte ich auf keinen Fall allein sein. Ich wollte gar nicht wissen, wohin meine Gedanken sich heute Nacht verirren würden, wenn ich mir selbst überlassen blieb. Jedenfalls in keine gute Richtung.

Nach kurzem Zögern spürte ich, wie Bella sich aufs Bett sinken ließ. Sie plumpste in mein zweites Kissen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Seltsamer Abend«, sagte sie.

Was du nicht sagst.

»Ich arbeite gerne für die Hockeymannschaft. Auch wenn die Leute sich deswegen das Maul zerreißen.«

»Wieso?«, murmelte ich.

»Das Übliche halt. Es wird heißen, ich könnte auch gleich selbst Sport treiben, wenn ich es schon mit sämtlichen Hockeyspielern treibe.«

Ich lachte, obwohl sich das so betrunken, wie ich war, echt schwierig gestaltete. Als ich mich auf die Seite drehte, wurde mir schummerig im Kopf. Da lag Bella. Also zog ich sie an mich und gab ihr einen aller Wahrscheinlichkeit nach ziemlich feuchten Kuss. Sie machte trotzdem mit und schlang ihre Arme um mich. Als ich in ihren weichen Mund abtauchte, kam ihre Zunge mir entgegen. Das war nicht mein Plan gewesen für heute Nacht. Aber plötzlich schien es eine wunderbare Methode zu sein, um einen klaren Kopf zu behalten. Indem ich mich in Bella verlor.

Doch sie zog sich zurück. »Du bist voll wie tausend Mann«, flüsterte sie. Ich hörte den Vorwurf in ihrer Stimme.

»Bin ich doch immer«, widersprach ich. »Das hat dich bisher nie abgehalten.«

Nun klang ihre Stimme scharf. »Aber du hast mich abgehalten«, fauchte sie. »Du hast gesagt, wir würden es nicht mehr tun.«

»Ich hab es mir anders überlegt.«

So betrunken ich war, wusste ich doch, dass ich etwas Falsches gesagt hatte. Was Bella bestätigte, als sie mir einen Stoß vor die Brust versetzte. »Behandle mich nicht wie eine Schlampe, Graham.«

Shit. Ich stemmte mich unter Mühen auf einen Ellbogen, um in ihre stocksaure Miene blinzeln zu können. »So würde ich dich nie nennen, Bells. Das denke ich nämlich nicht.« Nicht gerade eine beredte Entschuldigung, aber immerhin eine aufrichtige. Bella war die Größte. Sie entschuldigte sich nie für das, was sie wollte, sie tat es einfach.

Was ich nie konnte.

Ich nahm meine unklaren Gedanken zusammen und versuchte es besser hinzukriegen. »Es tut mir wirklich leid. Ich hab es zu weit getrieben. Aber ich bin heute Abend ein totales Wrack.«

Als ich alles gesagt hatte, was ich loswerden musste, ließ ich mich wieder ins Kissen sinken und wälzte mich auf den Rücken. Bella anzumachen war saublöd gewesen. Ich hätte vermutlich selbst dann nicht mit ihr schlafen können, wenn sie jetzt nicht wütend auf mich gewesen wäre. Es gab einen bestimmten Grad der Betrunkenheit, den ich erreichen musste, um für ein Mädchen einen hochzukriegen. Betrunken genug, um das Ganze für eine gute Idee zu halten. Betrunken genug, um ein mögliches Versagen auf die Auswirkungen von Alkohol schieben zu können. Allerdings durfte ich auch nicht zu benebelt sein, weil ich mich konzentrieren musste, wenn ich es durchziehen wollte.

Im Moment wurden meine Lider zu schwer, um die Augen noch länger offen halten zu können. Dennoch nahm ich Bellas Hand, und sie ließ es zu.

Ich dämmerte in den Schlaf hinüber, als Bella aus dem Bett aufstand. Kleider raschelten. Ich hörte ihren Gürtel auf den Boden fallen. Dann öffnete sich die Schublade meiner Kommode und ging wieder zu. Wahrscheinlich nahm sich Bella eines meiner T-Shirts. Kurz darauf kam sie wieder ins Bett. Sie legte den Kopf an meine Brust und ein Knie über mein Bein. Sie schlang einen Arm um meine Taille und schmiegte sich an mich. Sie hatte immer schon gern gekuschelt.

Ich schlief mit der Hand auf ihrem glatten Knie ein.

Rikker

Sich im Juli vor dem zweiten Jahr an einem neuen College einzuschreiben hatte Vor- und Nachteile. Zu den Vorteilen zählte, dass ich ein Einzelzimmer ergattert hatte. Allerdings hatte ich kein Zimmer im Turner House bekommen, zu dem ich gehörte. Mein Zimmer befand sich in einem kleinen Wohnheim namens McHerrin, das allen Studenten Unterschlupf gewährte, die keinen Platz in dem Wohnheim bekommen hatten, zu dem sie eigentlich gehörten. Auf meinem Flur gab es zwei weitere Zimmer, in denen Austauschstudenten aus China untergebracht waren. McHerrin war nicht gerade die Partyzentrale, aber damit hatte ich kein Problem.

Nach einem Zwischenstopp im Bad, wo ich pinkelte und mir die Zähne putzte, betrat ich mein kleines Reich. Letztes Jahr hatte ich mir die Mühe gemacht, die Wände zu dekorieren und mich häuslich einzurichten. Dieses Jahr hielt ich mich damit nicht auf. Ich war vermutlich abgestumpft. Früher hatte ich geglaubt, dass man, nachdem man sich einmal für ein College entschieden hatte, vier Jahre lang dort bleiben würde. Dass man guten Gewissens den College-Wimpel über seinem Bett aufhängen konnte.

Das war voreilig gewesen.

Mein neues Quartier erinnerte an eine Mönchsklause. Oder an eine Gefängniszelle. Ich ging ins Bett und machte das Licht aus, konnte aber nicht sofort einschlafen. Was heute geschehen war, hatte mich zu sehr aufgeregt.

Gut war, dass ich mich heute auf dem Eis wacker geschlagen hatte. Und dass der Trainer und Hartley mich anständig behandelt hatten. Bella sogar fantastisch! Aber das war nur der Anfang. Es gab immer noch tausend Wege, auf denen alles den Bach runtergehen konnte.

Da war zum Beispiel Graham, der heute Abend so einladend ausgesehen hatte wie ein Atompilz. Ich wusste etwas über ihn, das andere nicht wissen sollten. Ich hoffte, er würde mich nach dem ersten Schock des Wiedersehens anrufen, um mir das selbst zu sagen. Dann könnte ich ihn damit beruhigen, dass er sich keinen Kopf machen musste. Ich würde nie jemanden outen, weil ich wusste, wie beschissen das war.

Nicht mal jemanden, der ein so lausiger Freund gewesen war wie Graham.

Andererseits, wenn er diese Versicherung von mir wollte, würde er zugeben müssen, dass wir einander kannten. Doch als wir in der Pizzeria einen Meter auseinandergesessen hatten, hatte er mir nicht mal in die Augen schauen können.

Verflucht, was für eine beschissene Situation. Einerseits war er immer noch Graham, wie ich ihn gekannt hatte, andererseits auch wieder nicht. Es war ein bisschen so, als wäre ich einem Gespenst begegnet.

Da lag ich im Dunkeln und dachte an ihn. Und nicht zum ersten Mal. Schon vor sechs Wochen, als ich für Harkness unterschrieben hatte, hatten mich die Erinnerungen überrollt. Schließlich hatten wir vor dem bitteren Ende auch gute Zeiten miteinander gehabt. Ein klarer Fall von Nostalgie. Oder Idiotie. Doch mein Unterbewusstsein zog die Erinnerung an Grahams Umarmungen der an seine Zurückweisung vor.

Außerdem waren wir damals erst fünfzehn gewesen. Alles, was ich mit Graham erlebte, war so lebhaft und neu gewesen. Kein Wunder, dass das alles noch in Technicolor auf die Innenseite meines Schädels projiziert wurde.

Auch wenn ich seit fünf Jahren nicht mehr dort gewesen war, konnte ich mir Grahams Haus noch ganz genau vorstellen. Wir trafen uns immer dort, weil er seinen Schlupfwinkel im Keller hatte, samt ramponiertem altem Sofa und XBox. In der Mittelstufe hatten wir uns noch ausschließlich für die XBox interessiert.

Und in der Neunten dann nur noch für das Sofa.

Wenn ich an diese Zeit zurückdachte, wusste ich nie, wann genau mir klar geworden war, was ich für ihn empfand. Wir waren zwei bescheuerte Teenager und nicht besonders begabt, wenn es darum ging, über unsere Gefühle zu sprechen. Wir haben nicht mal darüber gesprochen, nachdem wir begonnen hatten, auf dem Sofa rumzumachen. Kein »Stehst du auf Mädchen?« »Irgendwie nicht.« »Ich auch nicht.« Soweit ich wusste, stand Graham inzwischen ja auf Mädchen. Fragen würde ich ihn allerdings bestimmt nicht.

Aber vor fünf Jahren hatte er auf mich gestanden.

Zuerst waren wir noch die besten Freunde gewesen. Wir überstanden die Mittelstufe zusammen. Wir spielten im selben Club-Team Eishockey und besuchten dieselbe christliche Schule. Das Christentum war in der Ecke von Michigan, in der wir aufgewachsen waren, eine große Sache. Die Kinder fragten dort einander auf dem Spielplatz: »Und in welche Kirche gehst du?« Weil das eben dem Weltbild unserer Eltern entsprach.

Allerdings waren meine Eltern religiöser als Grahams Eltern. Das wurde mir klar, als sich bei Graham zu Hause keiner aufregte, wenn wir sonntags Videospiele spielten. Außerdem hatte ich mitbekommen, wie Grahams Vater sich über gewisse Dinge, die die Eltern unserer Klassenkameraden dachten, lustig machte. »Ihr fangt aber nicht an, den Teufel anzubeten, wenn ich mit euch in den Harry-Potter-Film gehe, oder, Jungs? Ach, wahrscheinlich nicht.«

Niemand fand es seltsam, dass Graham und ich uns so nahe standen. Ich auch nicht. Während der Mittelstufe ließ ich nicht zu, dass ich auf die Art an ihn dachte. Doch auch damals war ich mir seiner Gegenwart immer unglaublich bewusst. Ich wusste immer, ohne hinzusehen, wenn er einen Raum betrat. Als wir fünfzehn wurden, hatte er schon eine tiefe, rauchige Stimme, deren Klang Saiten in mir anschlug, die niemand sonst in mir zum Klingen brachte.

Mädchen lösten so etwas nie in mir aus. Manche waren echt nett, und ich unterhielt mich gerne mit ihnen. Aber keine war so wie Graham. Irgendwann fiel mir auf, dass er auch nicht besonders auf Mädchen achtete. Dann gingen wir mit ein paar Freunden auf die Schulpartys und tanzten nur zu den schnellen Liedern. Graham nahm mich nie zur Seite und fragte: »Meinst du, sie steht auf mich?«

Nie.

Inzwischen vergnügten wir uns in Grahams Keller mit Videospielen, als hinge unser beider Leben davon ab. Und sobald wir allein waren, sahen wir einander anders an. Graham war schon immer schnell rot geworden. Und mit der Zeit bekam ich mit, wie leicht es für mich war, ihn erröten zu lassen. Ich musste ihm nur ein wenig länger als nötig in die Augen schauen, und schon erschienen kleine rote Flecken auf seinen Wangen.

Es gefiel mir. Also machte ich es dauernd.

Die Phase der langen Blicke – und ihm etwas näher als nötig auf die Pelle zu rücken, wenn wir uns Filme ansahen – hielt etwa zwei Jahre an. Und dann rangelten wir eines Freitagabends während unseres ersten Monats auf der Highschool um die Fernbedienung. Graham kniete sich, um als Sieger aus dem Kampf hervorzugehen, auf meine Beine und wollte mich auf dem Boden halten. Dann streckte er sich nach meinem Arm, mit dem ich versuchte, die Fernbedienung so weit wie möglich aus seiner Reichweite zu halten. In dem Moment ging mir auf, dass Graham auf mir lag. Endlich! Da legte ich ihm, ohne nachzudenken, meine freie Hand auf die Brust.

Ich werde nie vergessen, wie sein Körper sich bei der Berührung meiner Hand aufbäumte. Dann blickte er, mit geröteten Wangen und heftig atmend, auf mich herunter. Ich hob mein Kinn ein Stück, mehr brauchte es nicht, und Graham drückte seinen Mund auf meinen.

Unser erster Kuss war heiß und ungeschickt, aber er entzündete meinen Körper wie eine Fackel.

Ja. So. Ja. Ja. Ja. Zwei Minuten dauerte das ehrfürchtige Erschrecken. Dann rief Grahams Mutter oben von der Kellertreppe: »Hey, Jungs, wollt ihr Popcorn?«

Graham fuhr zurück an sein Ende des Sofas. »Äh, ja, klar«, antwortete er.

Er stand auf und schaltete den Fernseher auf »Video« um. Bis das Popcorn fertig war, spielten wir Call of Duty.

Wir sprachen danach nicht darüber. Kein Wort. Doch ich dachte in der Woche darauf an praktisch nichts anderes und bekam jedes Mal, wenn ich ihn sah, eine Erektion. Und als ich das nächste Mal zu Graham ging, hatte ich bei dem Videospiel, das wir spielten und an das ich mich nicht erinnern kann, die ganze Zeit schweißnasse Hände. Dann rief seine Mom uns zu, dass sie einkaufen gehen wollte, und fragte, ob sie uns irgendwas mitbringen sollte.

»Nee«, erwiderte Graham.

Wir hörten noch eine Weile lang ihre Absätze auf dem Küchenfußboden, dann das Garagentor und endlich den Motor ihres Autos, als sie zurücksetzte und davonfuhr.

Im Keller blieb es einen Herzschlag lang still. Dann sagten wir beide gleichzeitig: »So.«

»Zwei Doofe, ein Gedanke!«, stellte ich fest.

Graham ließ ein nervöses Lachen hören. Er grinste schief, und seine Wangen waren flammend rot.

»Blödmann.«

Zwei Sekunden darauf hatte sich Graham auf mich gestürzt und mich auf das Sofa gedrückt. Er stöhnte, als wir uns küssten, und der Laut ging mir durch und durch.

Es gibt nichts Explosiveres als zwei Fünfzehnjährige, die endlich auf den Geschmack dessen kommen, wonach sie sich unbewusst gesehnt haben. Wir knutschten, dann saß Graham rittlings auf mir. Die Bewegung und das Gefühl seines festen Körpers, der mich nach unten drückte, waren viel besser als alles, was ich mir seit unserem ersten Kuss ausgemalt hatte.

Wahrscheinlich gerade mal fünf Minuten später schloss Graham die Augen und schnappte zweimal nach Luft. Und sein Gesichtsausdruck genügte, um mich selbst so weit zu bringen. Ich schloss die Arme um ihn und hielt ihn fest, damit ich ihn noch einmal küssen konnte – feucht, schmutzig und befriedigender, als ich es mir hätte träumen lassen.

Ich träumte damals von so vielem.

Vierzig Minuten später kam Grahams Mutter heim und fand uns vor, wie wir auf der XBox eine Runde Realstix-Hockey spielten. Ihr wäre niemals aufgefallen, dass auf dem Boden des Familienmülleimers eine Handvoll feuchter Papiertaschentücher vergraben war.

Und so fing es an.