The Journey of Humanity – Die Reise der Menschheit durch die Jahrtausende - Oded Galor - E-Book

The Journey of Humanity – Die Reise der Menschheit durch die Jahrtausende E-Book

Oded Galor

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  • Herausgeber: dtv
  • Kategorie: Fachliteratur
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Galor ist Nobelpreiskandidat. Dies ist sein großer Wurf. Oded Galor wagt die ganz große Theorie. Der renommierte Ökonom lüftet das Geheimnis von Wohlstand und Ungleichheit, indem er die Geschichte der Menschheit vom Beginn bis heute neu erzählt: Warum sind wir Menschen die einzige Spezies, die der Subsistenz entkommen ist? Wieso lebte die Masse noch bis Ende des 18. Jh. in Armut, wie gelang der Übergang von Stagnation zu Wachstum? Und: Warum haben wir so ungleiche Fortschritte gemacht, dass der Wohlstand der Nationen so unterschiedlich ausfällt? Galor verschmilzt Ideen aus der Wirtschaftswissenschaft mit Erkenntnissen aus Anthropologie, Geschichte und den Naturwissenschaften und liefert erstmals eine allumfassende, evidenzbasierte Theorie. Ein Big-Idea-Buch von fesselnder Originalität.

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Seitenzahl: 750

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Über das Buch

Oded Galor wagt den großen Wurf. Der renommierte Ökonom lüftet das Geheimnis von Wohlstand und Ungleichheit, indem er die Reise der Menschheit von Anbeginn bis heute neu erzählt.

Warum sind wir Menschen die einzige Spezies auf Erden, die der Subsistenz entkommen ist? Wieso lebte die Masse der Menschheit noch bis Ende des 18. Jh. in Armut? Wie gelang der folgenreiche Übergang von wirtschaftlicher Stagnation zu Wachstum? Und: Woher kommt es, dass der Wohlstand der Nationen derart unterschiedlich ausfällt – oder anders gefragt, warum haben wir so unterschiedliche Fortschritte gemacht, dass wir heute in einer Welt leben, in der dramatische Ungleichheit herrscht?

Galor vereint Ideen aus der Wirtschaftswissenschaft mit Erkenntnissen aus Anthropologie, Geschichte und den Naturwissenschaften, um die tief liegenden Gründe für die jahrtausendelange ökonomische Eiszeit, den rasanten Wachstum im Zuge der Industriellen Revolution und die globale Armutsschere von heute zu beschreiben. Damit liefert er erstmals eine allumfassende, evidenzbasierte Theorie über die gesamte wirtschaftliche Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Ein Big-Idea-Buch von fesselnder Originalität.

Odet Galor

The Journey of Humanity

Die Reise der Menschheit durch die Jahrtausende

Über die Entstehung von Wohlstand und Ungleichheit

Aus dem Englischen von Bernhard Jendrickeund Thomas Wollermann

Für Erica

Die rätselhafte Reise der Menschheit

Ein Eichhörnchen huscht über das Fenstersims eines Gebäudes, errichtet im Stil der venezianischen Gotik, auf dem Campus der Brown University. Einen Moment lang hält es inne und späht neugierig auf ein seltsames Menschenwesen, das seine Zeit damit vertrödelt, an einem Buch zu schreiben, anstatt – wie es sich eigentlich gehörte – eifrig Futter zu horten. Dieses Tier ist ein Nachfahre jener Eichhörnchen, die schon vor Jahrtausenden in den nordamerikanischen Urwäldern umherflitzten. Wie seine fernen Vorfahren und seine Zeitgenossen weltweit ist es zumeist damit beschäftigt, Nahrung zu sammeln, Räubern aus dem Weg zu gehen, nach Paarungspartnern Ausschau zu halten und sich vor Wetterunbilden zu schützen.

Und tatsächlich war die meiste Zeit der menschlichen Existenz, seit dem Erscheinen des Homo sapiens als eigene Spezies vor fast 300000 Jahren, der wesentliche Antrieb des menschlichen Lebens jenem des Eichhörnchens bemerkenswert ähnlich gewesen, nämlich bestimmt von Überlebensinstinkt und Vermehrungstrieb. Der Lebensstandard entsprach mehr oder weniger dem Existenzminimum und veränderte sich weltweit im Lauf der Jahrtausende kaum. Erstaunlicherweise haben sich jedoch unsere Daseinsbedingungen in den letzten paar Jahrhunderten radikal gewandelt. Im Verhältnis zur langen Geschichte unserer Spezies hat die Menschheit praktisch über Nacht eine dramatische und beispiellose Verbesserung der Lebensqualität erfahren.

Stellen wir uns vor, einige Bewohner Jerusalems zu Zeiten Jesu, also vor rund 2000 Jahren, bestiegen eine Zeitmaschine und reisten in das von den Osmanen regierte Jerusalem des Jahres 1800. Zweifellos wären sie beeindruckt von der prächtigen neuen Stadtmauer, der erheblichen Zunahme der Stadtbevölkerung und den vielen Neuerungen. Doch so sehr sich das Jerusalem des 19. Jahrhunderts von jenem unter römischer Herrschaft unterschied, unsere Zeitreisenden könnten sich verhältnismäßig leicht in ihre neue Umgebung einfinden. Natürlich müssten sie ihr Verhalten den neuen kulturellen Gegebenheiten anpassen, aber sie wären in der Lage, weiter die Gewerbe auszuführen, die sie im frühen ersten nachchristlichen Jahrhundert ausgeübt hatten, und könnten problemlos ihren Lebensunterhalt bestreiten. Denn die Kenntnisse und Fertigkeiten, die sie sich im antiken Jerusalem angeeignet hatten, waren an der Wende zum 19. Jahrhundert immer noch zeitgemäß. Unsere Abenteurer wären zudem ähnlichen Bedrohungen, Krankheiten und Naturgewalten ausgesetzt wie zu Zeiten Jesu, und auch an ihrer Lebenserwartung hätte sich nicht viel geändert.

Und jetzt stellen wir uns vor, was sie erleben würden, kämen sie 200 Jahre später an, im Jerusalem zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Sie wären restlos verblüfft. Ihre Fertigkeiten wären jetzt obsolet, für die meisten Berufe würde eine entsprechende Ausbildung verlangt, und Technologien, die ihnen wie Zauberei erschienen, wären Alltäglichkeiten. Außerdem wären zahlreiche einst todbringende Krankheiten ausgerottet, wodurch sich die durchschnittliche Lebenserwartung schlagartig verdoppelte, was wiederum eine völlig neue Einstellung zum Leben sowie eine längerfristige Lebensplanung erfordern würde.

Die enorme Diskrepanz zwischen diesen Epochen macht es schwierig, die Welt zu begreifen, die wir vor nicht allzu langer Zeit hinter uns gelassen haben. Wie der englische Philosoph Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert konstatierte, war das menschliche Leben damals ekelhaft, tierisch und kurz.[1] Zu seiner Zeit starb ein Viertel der Neugeborenen noch im ersten Lebensjahr an Kälte, Hunger oder diversen Krankheiten, viele Frauen überlebten die Entbindung nicht, und die Lebenserwartung betrug selten mehr als vierzig Jahre. Die Welt versank in Dunkelheit, sobald die Sonne hinter dem Horizont verschwand. Frauen, Männer und Kinder verbrachten lange Stunden damit, Wasser zu ihren Wohnstätten zu transportieren, sie wuschen sich selten und hausten die Wintermonate über in rauchgeschwängerten Unterkünften. Die meisten Menschen lebten in weit verstreuten Bauerndörfern, verließen kaum je ihren Geburtsort, ernährten sich von kümmerlicher und eintöniger Kost und konnten weder lesen noch schreiben. Es war eine trostlose Zeit, in der eine ökonomische Krise für die Menschen nicht einfach nur hieß, den Gürtel enger zu schnallen, sondern gleich zu massenhafter Hungersnot und Tod führte. Das meiste, was die Menschen heute plagt, ist nichts im Vergleich zu dem Elend und den Tragödien, die unsere gar nicht so fernen Vorfahren zu erdulden hatten.

Lange herrschte die Ansicht vor, die Lebensstandards seien schrittweise über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg gestiegen. Doch das ist ein verzerrtes Bild. Zwar verlief die technologische Entwicklung weitgehend graduell und beschleunigte sich im Lauf der Zeit, doch dies schlug sich nicht in einer entsprechenden Verbesserung der Lebensbedingungen nieder. Die erstaunliche Steigerung der Lebensqualität in den vergangenen zwei Jahrhunderten ist in Wahrheit das Ergebnis eines plötzlichen Wandels.

Im Grunde führten die meisten Menschen noch vor wenigen Jahrhunderten ein Leben, das eher mit dem ihrer fernen Vorfahren und der meisten anderen Menschen vor Tausenden von Jahren vergleichbar war als mit jenem ihrer heute lebenden Nachfahren. Die Lebensverhältnisse eines englischen Bauern an der Wende zum 16. Jahrhundert waren ähnlich denen eines chinesischen Leibeigenen im 11. Jahrhundert, eines Maya-Kleinbauern vor 1500 Jahren, eines griechischen Hirten im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, eines ägyptischen Bauern vor 5000 Jahren oder eines Schäfers in Jericho vor 11000 Jahren. Doch vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute – eigentlich nur ein Wimpernschlag im Vergleich zur gesamten Menschheitsgeschichte – hat sich die Lebenserwartung mehr als verdoppelt, und das Pro-Kopf-Einkommen ist in den am meisten entwickelten Weltregionen um das 20-Fache gestiegen, im weltweiten Maßstab immerhin um das 14-Fache (Abb. 1).[2]

Diese kontinuierliche Verbesserung war derart tiefgreifend, dass wir oft aus dem Blick verlieren, wie außergewöhnlich diese Periode im Vergleich zu unserer übrigen Geschichte ist. Wie lässt sich dieses Rätsel des Wachstums erklären – diese kaum begreifliche Veränderung in der Lebensqualität, was Gesundheit, Wohlstand und Bildung angeht, die während der letzten paar Jahrhunderte stattgefunden hat und sämtliche anderen Veränderungen seit dem Erscheinen des Homo sapiens in den Schatten stellt?

Im Jahr 1798 legte der englische Gelehrte Thomas Malthus eine plausible Theorie für den Mechanismus vor, der dazu führte, dass die Lebensstandards immerzu stagnierten und somit die Gesellschaften seit unvordenklichen Zeiten in Armut gefangen waren. Wann immer Gesellschaften dank technologischer Innovationen einen Überschuss an Nahrungsmitteln erwirtschafteten, so Malthus’ These, konnte die daraus resultierende Erhöhung des Lebensstandards nur vorübergehend Bestand haben, da sie unweigerlich zu einem entsprechenden Anstieg der Geburtenraten und einer Verminderung der Sterblichkeitsraten führte. Es war deshalb nur eine Frage der Zeit, dass der nachfolgende Bevölkerungszuwachs die Nahrungsüberschüsse aufzehrte, die Lebensbedingungen somit auf das Existenzminimum zurücksanken und die Gesellschaften wieder so arm waren wie vor den Innovationen.

Abb. 1: Das Rätsel des Wachstums

Der dramatische Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens in sämtlichen Weltregionen während der letzten zwei Jahrhunderte folgte auf Jahrtausende der Stagnation.[3]

Während der Periode, die man als malthusianische Epoche bezeichnet – womit letztlich die gesamte Menschheitsgeschichte bis zu dem kürzlichen dramatischen Sprung nach vorn gemeint ist –, hatte der technologische Fortschritt tatsächlich in erster Linie wachsende Bevölkerungen und eine dichtere Besiedlung zur Folge – und somit nur einen äußerst geringen Einfluss auf den langfristigen Wohlstand. Die Bevölkerungszahl stieg also bei stagnierenden Lebensbedingungen, die nahezu auf Subsistenzniveau verharrten. Regionale Unterschiede beim Einsatz von Technologie und bei den Bodenerträgen schlugen sich zwar in unterschiedlicher Bevölkerungsdichte nieder, aber die Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse waren weitgehend temporär. Doch just als Malthus seine Studien zu diesem Thema abschloss und seine »Armutsfalle« als ewiges Weltgesetz etabliert zu haben glaubte, kam der von ihm beschriebene Mechanismus mit einem Mal zum Stillstand, und die Metamorphose von der Stagnation zum Wachstum nahm ihren Anfang.

Wie schaffte es die menschliche Spezies, der Armutsfalle zu entkommen? Was waren die tiefer liegenden Ursachen dafür, dass diese Epoche der Stagnation so lange währte? Könnte ein Blick auf die Kräfte, die sowohl bei der schier endlosen ökonomischen Eiszeit als auch bei unserem Entkommen aus ihr am Werk waren, uns helfen, besser zu verstehen, warum die gegenwärtigen Lebensbedingungen auf unserem Planeten so ungleich sind?

Motiviert von der Überzeugung und von einschlägigen Belegen dafür, dass die Ursachen für das immense Wohlstandsgefälle zwischen den Nationen nur zu verstehen sind, wenn man die wesentlichen Antriebskräfte hinter dem Entwicklungsprozess als Ganzem aufspürt, habe ich eine einheitliche Theorie entwickelt, die versucht, die Reise der Menschheit in ihrer Gesamtheit zu erfassen.[4] Indem diese Theorie veranschaulicht, welche Kräfte den Übergang von einer Epoche der Stagnation zu einer Ära anhaltender Steigerung des Lebensstandards bestimmten, verdeutlicht sie den Einfluss der fernen Vergangenheit auf das Schicksal der Nationen.

Im ersten Teil unserer Reise werden wir das Rätsel des Wachstums erforschen. Dabei konzentrieren wir uns auf den Mechanismus, der die menschliche Spezies fast den gesamten Lauf ihrer Geschichte über zu einem Dasein am Rande des Existenzminimums zwang. Des Weiteren werden wir uns mit den Kräften beschäftigen, die es manchen Gesellschaften schließlich ermöglichten, aus dieser Falle auszubrechen und das beispiellose Wohlstandsniveau zu erreichen, dessen sich viele der heutigen Erdenbewohner erfreuen. Die Reise beginnt mit dem Aufbruch der Menschheit selbst – dem Erscheinen des Homo sapiens in Ostafrika vor fast 300000 Jahren – und zeichnet die wichtigsten Meilensteine nach: den Auszug des Homo sapiens aus Afrika vor Zehntausenden von Jahren, die Ausbreitung des Menschengeschlechts über die Kontinente hinweg, den anschließenden Übergang der Gesellschaften von Jäger- und Sammlerstämmen zu sesshaften landwirtschaftlichen Gemeinschaften und in jüngerer Zeit die Industrielle Revolution und den Demografischen Übergang. Einige dieser Meilensteine sind in jüngster Zeit ausgiebig diskutiert worden.[5]

Die Menschheitsgeschichte ist reich an faszinierenden Details: Da gibt es mächtige Zivilisationen, die aufstiegen und untergingen; charismatische Herrscher, die Armeen zu gewaltigen Eroberungen und in katastrophale Niederlagen führten; Künstler, die überwältigende Kulturschätze schufen; Philosophen und Wissenschaftler, die unser Verständnis des Universums erweiterten, sowie all die Gesellschaften und Milliarden von Menschen, die abseits des Rampenlichts lebten. In einem solchen Ozean von Details kann man sich, umspült von den Wellen, leicht davontreiben lassen, ohne die mächtigen Unterströmungen wahrzunehmen.

Doch gerade diese Unterströmungen – die Kräfte, die den Entwicklungsprozess bestimmten – werde ich in diesem Buch untersuchen und herausarbeiten. Es soll zeigen, wie diese Kräfte im Lauf der Menschheitsgeschichte und der langen wirtschaftlichen Eiszeit unerbittlich, wenngleich unsichtbar, wirkten und stärker wurden, bis sich schließlich der technologische Fortschritt im Zuge der Industriellen Revolution massiv beschleunigte. Denn ab einem gewissen Punkt wurde eine rudimentäre Bildung zur Voraussetzung dafür, dass sich der Einzelne an die sich verändernde technologische Umgebung anpassen konnte. Und als die Fruchtbarkeitsraten zu sinken begannen und die Steigerung des Lebensstandards von den ausgleichenden Effekten des Bevölkerungswachstums entkoppelt war, leitete dies einen langfristigen Wohlstand ein, der bis heute anhält.

Im Zentrum unserer Erkundung steht die Frage nach der Zukunftsfähigkeit unserer Spezies auf dem Planeten Erde. Während der malthusianischen Epoche trugen widrige klimatische Bedingungen und Epidemien immer wieder zu einer katastrophalen Dezimierung der Bevölkerung bei. Heute wirft die Tatsache, dass der Wachstumsprozess zur Umweltzerstörung und zum Klimawandel beiträgt, die ernste Frage auf, wie unsere Spezies nachhaltig leben und die drastischen demografischen Folgen der Vergangenheit abwenden kann. Die Reise der Menschheit bietet einen hoffnungsvollen Ausblick: Der Kipppunkt, den die Welt vor Kurzem erreichte und der zu einem anhaltenden Rückgang der Fruchtbarkeitsraten sowie zu einer Beschleunigung sowohl bei der Bildung des »Humankapitals« als auch bei den technologischen Innovationen führte, sollte die Menschheit in die Lage versetzen, die schädlichen Folgen aufzufangen und abzumildern. Für die Zukunftsfähigkeit unserer Spezies wird dies jedenfalls langfristig von zentraler Bedeutung sein.

Erstaunlicherweise fand der sprunghafte Anstieg des Wohlstands, der in den letzten Jahrhunderten zu verzeichnen war, nur in einigen Teilen der Welt statt und löste eine zweite große Transformation aus, die für unsere Spezies einzigartig ist: die Entstehung einer immensen Ungleichheit zwischen den Gesellschaften. Man könnte mutmaßen, dieses Phänomen habe vor allem damit zu tun, dass der Ausbruch aus der Epoche der Stagnation weltweit zu unterschiedlichen Zeiten stattgefunden hat. Die westeuropäischen Länder und manche ihrer Ableger in Nordamerika und Ozeanien erlebten die sprunghafte Verbesserung ihrer Lebensbedingungen bereits im 19. Jahrhundert, während sich ein entsprechender Fortschritt in den meisten Regionen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts verzögerte (Abb. 2). Woran liegt es, dass einige Teile der Welt diesen Wandel früher vollzogen haben als andere?

Ist das Rätsel des Wachstums erst einmal gelöst, werden wir im zweiten Teil unserer Reise in der Lage sein, uns mit dem Rätsel der Ungleichheit auseinanderzusetzen – mit den Ursachen der unterschiedlichen Entwicklungswege von Gesellschaften und der folgenreichen Vertiefung der Kluft, die in den letzten beiden Jahrhunderten zwischen den Nationen in Bezug auf den Lebensstandard zu beobachten war. Die Analyse der tief verwurzelten Faktoren hinter dieser weltweiten Ungleichheit wird uns dazu bringen, auf unserer Reise durch die Zeit umzukehren und in großen Schritten weit zurück in die Geschichte zu gehen, letztlich bis zu dem Punkt, an dem alles begann – dem Exodus des Homo sapiens aus Afrika vor Zehntausenden von Jahren.

Wir werden die in ferner Vergangenheit entstandenen institutionellen, kulturellen, geografischen und sozialen Faktoren betrachten, die die Gesellschaften auf ihre unterschiedlichen Entwicklungswege lenkten, den Zeitpunkt ihres Entkommens aus der Epoche der Stagnation beeinflussten und die Kluft im Wohlstand der Nationen herbeiführten. Institutionelle Reformen lotsten an zufälligen, aber entscheidenden Punkten in der Geschichte manche Länder zuweilen auf verschiedene Pfade und trugen dazu bei, dass sie im Lauf der Zeit ganz unterschiedlich gediehen. Zugleich sorgte die Verbreitung verschiedener kultureller Normen dafür, dass sich weltweit das große Räderwerk der Geschichte unterschiedlich schnell drehte.[6]

Abb. 2: Das Rätsel der Ungleichheit

Die unterschiedliche Entwicklung des Pro-Kopf-Einkommens in den verschiedenen Weltregionen im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte.[7]

Wo kulturelle Normen, politische Institutionen und technologische Neuerungen in Erscheinung traten, hatte das jedoch häufig mit tieferen, in grauer Vorzeit verwurzelten Faktoren zu tun, die das Wachstums- und Wohlstandspotenzial von Gesellschaften beeinflussten. So begünstigten geografische Umstände, wie etwa ertragreiche Böden und vorteilhafte Klimabedingungen, die Entwicklung wachstumsfördernder kultureller Eigenschaften wie –Kooperation, Vertrauen, Gleichberechtigung der Geschlechter und zukunftsorientiertes Denken. War beispielsweise ein Landstrich für große Plantagen geeignet, trug dies dort nicht nur zu Ausbeutung und Sklaverei bei, sondern begünstigte auch die Entstehung und Fortdauer extraktiver politischer Institutionen. Krankheitsfördernde Umweltfaktoren wirkten sich negativ auf die Produktivität der Landwirtschaft und der Arbeitskräfte sowie auf die Investitionen in Bildung und den langfristigen Wohlstand aus. Und die Biodiversität, die den Übergang zu sesshaften agrarischen Gemeinschaften begünstigte, hatte zwar in der vorindustriellen Zeit positive Auswirkungen auf den Entwicklungsprozess, aber diese positiven Kräfte haben sich beim Übergang der Gesellschaften in die Moderne verflüchtigt.

Hinter den heutigen institutionellen und kulturellen Ausprägungen lauert jedoch noch ein zusätzlicher Faktor, der gemeinsam mit der Geografie als grundlegender Antrieb der wirtschaftlichen Entwicklung wirkt: der Grad an Diversität innerhalb der jeweiligen Gesellschaft mit seinen positiven Auswirkungen auf Innovation und seinen negativen Folgen für den sozialen Zusammenhalt. Die Frage, welche Rolle geografische Besonderheiten spielen, führt uns zehntausend Jahre zurück bis zum Beginn der landwirtschaftlichen Revolution. Und die Analyse der Ursachen und Folgen von Diversität wird uns weitere Zehntausende von Jahren in die Vergangenheit zurückversetzen, bis zu den ersten Schritten unserer Spezies aus Afrika heraus.

Dies ist nicht der erste Versuch, das wesentliche Antriebsmoment der Menschheitsgeschichte zu beschreiben. Große Denker wie Platon, Hegel und Marx kamen zu dem Schluss, die Geschichte verlaufe nach unausweichlichen universellen Gesetzmäßigkeiten, wobei sie jedoch oft die Rolle der Gesellschaften bei der Gestaltung ihres jeweiligen Schicksals außer Acht ließen.[8] Im Unterschied dazu postuliert dieses Buch weder einen unaufhaltsamen Marsch der Menschheit Richtung Utopie oder Dystopie, noch gibt es vor, moralische Einsichten darüber abzuleiten, ob die Richtung dieser Reise und ihre Folgen wünschenswert seien. Es möge der Hinweis genügen, dass die von einer nachhaltigen Verbesserung des Lebensstandards geprägte Ära der Moderne kaum einem Garten Eden entspricht, in dem keine sozialen und politischen Konflikte mehr herrschen. Vielmehr bestehen weiterhin enorme Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten.

Dieses Buch möchte stattdessen auf interdisziplinäre, wissenschaftlich fundierte Weise die Evolution von Gesellschaften seit dem Erscheinen des Homo sapiens nachzeichnen; Ziel dabei ist, die ultimativen Ursachen der unermesslichen Ungleichheit im Wohlstand der Nationen zu verstehen und womöglich abzumildern. Entsprechend der kulturellen Tradition, die technologische Entwicklung als Fortschritt betrachtet,[9] kann der Ausblick, der sich aus unserer Untersuchung ergibt, als grundsätzlich hoffnungsvoll bezeichnet werden, was den generellen Entwicklungsweg von Gesellschaften weltweit betrifft.

Wenn ich dem Verlauf der Menschheitsreise das Hauptaugenmerk widme, so beabsichtige ich damit nicht, die Bedeutung der enormen Ungleichheit in und zwischen den Gesellschaften kleinzureden. Vielmehr geht es mir darum, in uns allen ein Verständnis für die Maßnahmen zu wecken, die Armut und Ungerechtigkeit lindern und zum Wohlstand unserer Spezies als Ganzes beitragen können. Wie wir sehen werden, wirken die großen Kräfte, die der Menschheitsreise zugrunde liegen, zwar weiterhin unerbittlich, doch sind Bildung, Toleranz und eine größere Gleichberechtigung der Geschlechter die Schlüssel zum Gedeihen unserer Spezies in den kommenden Jahrzehnten und Jahrhunderten.

IDie Odyssee der Menschheit

1Erste Schritte

Beim Aufstieg über den gewundenen Pfad hinauf zu den Höhlen des Karmel-Gebirges im heutigen Israel kann man sich leicht die majestätische Umgebung ausmalen, die diesen Ort in prähistorischer Zeit geprägt haben muss. Das mediterrane Klima mit seinen moderaten Temperaturschwankungen über die Jahreszeiten war gewiss sehr angenehm. Der Bach, der sich durch die Berge in das angrenzende grüne Tal schlängelt, hätte sich gut als Trinkwasserquelle geeignet. Die Wälder am Rand der Gebirgskette wären ein ideales Revier für die Jagd auf Hirsche, Gazellen, Nashörner und Wildschweine gewesen, und draußen in der Wildnis, im freien Gelände, das an die schmale Küstenebene und die Bergregion von Samaria angrenzt, hätten prähistorische Getreidesorten und Obstbäume wachsen können. Das warme Klima, die ökologische Vielfalt und die Rohstoffe im Umkreis der Höhlen im Karmel-Gebirge hätten diese über Jahrtausende zu einem idealen Lebensraum für zahlreiche Gruppen von Jägern und Sammlern gemacht. Und tatsächlich belegen Überreste aus diesen urzeitlichen Höhlen, die heute zum UNESCO-Weltkulturerbe der menschlichen Evolution gehören, eine Abfolge prähistorischer Siedlungen über Hunderttausende von Jahren hinweg und werfen die Frage auf, ob es hier vielleicht zu Begegnungen zwischen Homo sapiens und Neandertalern gekommen ist.[10]

Archäologische Funde von dieser und anderen Ausgrabungsstätten in aller Welt deuten darauf hin, dass Ur- und frühneuzeitliche Menschen sich langsam, aber stetig neue Fertigkeiten aneigneten, den Umgang mit Feuer meisterten, immer raffiniertere Klingen, Faustkeile und Werkzeuge aus Feuerstein und Kalkstein anfertigten sowie Kunstwerke erschufen.[11] Ein entscheidender Faktor für diese kulturellen und technologischen Fortschritte, welche die Menschheit definieren und uns von anderen Spezies unterscheiden sollten, war die Evolution des menschlichen Gehirns.

Genesis

Das menschliche Gehirn ist außergewöhnlich: groß, kompakt und komplexer als das jedes anderen Lebewesens. Im Lauf der letzten sechs Millionen Jahre hat sich seine Größe verdreifacht, wobei diese Veränderung überwiegend vor 800000 bis 200000 Jahren stattfand, also im Wesentlichen noch vor dem Erscheinen des Homo sapiens.

Warum nahm das Potenzial des menschlichen Gehirns im Lauf der Menschheitsgeschichte derart drastisch zu? Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Unser größeres Gehirn erlaubte uns, in einem Maße Sicherheit und Wohlstand zu erlangen, wie es keiner anderen Spezies möglich war. Die Sache ist jedoch wesentlich komplizierter. Wenn ein Gehirn wie das menschliche tatsächlich so vorteilhaft für das Überleben ist, warum hat sich dann in den Jahrmilliarden der Evolution bei keiner anderen Spezies auf Erden ein vergleichbares Gehirn herausgebildet?

Dieser Unterschied ist wirklich bemerkenswert, vor allem wenn man auf die Evolution anderer Organe blickt. Augen zum Beispiel entwickelten sich unabhängig voneinander auf verschiedenen Evolutionsbahnen – bei Wirbeltieren (Amphibien, Vögeln, Fischen, Säugetieren und Reptilien) ebenso wie bei Kopffüßlern (einschließlich Tintenfischen, Oktopussen und Kalmaren) und in der einfacheren Form als Ocellen bei Wirbellosen wie Bienen, Spinnen, Quallen und Seesternen. Der ferne Vorfahr all dieser Spezies, der vor mehr als 500 Millionen Jahren lebte, scheint nur über elementare Lichtrezeptoren verfügt zu haben, mit denen er hell von dunkel unterscheiden konnte.[12] Da jedoch gutes Sehvermögen einen klaren Überlebensvorteil in verschiedenen Umwelten mit sich brachte, entwickelten sich unabhängig voneinander bei manchen dieser Spezies komplexe, dem jeweiligen Lebensraum angepasste Augen.

Dieses Phänomen, dass sich ähnliche Merkmale unabhängig in verschiedenen Spezies herausbilden und nicht auf ein bereits vorhandenes Merkmal eines gemeinsamen Vorfahren zurückgehen, bezeichnet man als konvergente Evolution. Dafür gibt es zahlreiche weitere Beispiele, etwa die Entwicklung der Flügel bei Insekten, Vögeln und Fledermäusen oder die vergleichbaren Körperformen von Fischen (Haien) und Meeressäugern (Delfinen), angepasst an das Leben im Wasser. Offenkundig haben also verschiedene Spezies ähnlich vorteilhafte Merkmale unabhängig voneinander erworben – nicht jedoch Gehirne, die in der Lage wären, literarische, philosophische und künstlerische Meisterwerke zu erschaffen oder den Pflug, das Rad, den Kompass, die Druckerpresse, die Dampfmaschine, den Telegrafen, das Flugzeug und das Internet zu erfinden. Solch ein Gehirn entwickelte sich nur einmal – beim Menschen. Warum ist ein so leistungsstarkes Gehirn in der Natur so selten, trotz seiner offensichtlichen Vorteile?

Die Antwort auf dieses Rätsel liegt unter anderem in den zwei großen Nachteilen des Gehirns. Erstens benötigt unser Gehirn enorme Energiemengen. Es macht nur 2 Prozent des Körpergewichts aus, verbraucht aber 20 Prozent der Energie des Körpers. Zweitens erschwert seine Größe den Durchgang des Babykopfs durch den Geburtskanal. Folglich ist das menschliche Gehirn stärker komprimiert oder »gefaltet« als die Gehirne anderer Spezies, und Menschenbabys werden mit »unausgereiften« Gehirnen geboren, die Jahre der Feinabstimmung benötigen, um zur Reife zu gelangen. Deshalb sind menschliche Säuglinge hilflos: Während sich die Jungtiere vieler anderer Spezies schon kurz nach der Geburt selbstständig fortbewegen können und schnell in der Lage sind, sich selbst Nahrung zu beschaffen, benötigen Menschen einige Jahre, bevor sie ohne Hilfe und sicher gehen, und noch viele weitere Jahre, bis sie sich materiell selbst versorgen können.

Doch ungeachtet dieser Nachteile stellt sich die Frage, was überhaupt zur Entwicklung des menschlichen Gehirns geführt hat. Forschern zufolge könnten verschiedene Kräfte gemeinsam zu diesem Prozess beigetragen haben. Der ökologischen Hypothese nach ist die Entwicklung des menschlichen Gehirns darauf zurückzuführen, dass unsere Spezies bestimmten Herausforderungen durch die Umwelt ausgesetzt war. Da sich die klimatischen Bedingungen und die jeweils angepassten Tierpopulationen immer wieder änderten, seien prähistorische Menschen mit höher entwickelten Gehirnen besser in der Lage gewesen, neue Nahrungsquellen zu erschließen, sich Jagd- und Sammelstrategien anzueignen und Koch- und Lagertechniken auszubilden – alles Fähigkeiten, die ihnen das Überleben und Gedeihen unter den unsteten ökologischen Bedingungen ihres lokalen Lebensraums ermöglichten.[13]

Die soziale Hypothese hingegen geht davon aus, dass die zunehmende Notwendigkeit, innerhalb komplexer sozialer Strukturen mit anderen Menschen zu kooperieren, zu konkurrieren und Handel zu treiben, einem höher entwickelten Gehirn mit seiner Fähigkeit, die Motive anderer zu verstehen und ihre Reaktionen vorauszusehen, einen evolutionären Vorteil verschaffte.[14] Ebenso habe die Fähigkeit, zu überreden, zu manipulieren, zu schmeicheln, zu erzählen und zu unterhalten – was alles dem eigenen sozialen Ansehen zugutekam und Vorteile mit sich brachte –, die Entwicklung des Gehirns und der Fähigkeit zur Sprache und zum Diskurs gefördert.

Die kulturelle Hypothese schließlich betont die Eignung des menschlichen Gehirns, Informationen aufzunehmen und zu speichern, sodass sie von einer Generation an die nächste weitergegeben werden können. Demnach bestehe einer der einzigartigen Vorteile des menschlichen Gehirns in seiner Fähigkeit, effizient aus den Erfahrungen anderer zu lernen. Dadurch kann es sich Gewohnheiten und Vorlieben aneignen, die das Überleben in unterschiedlichen Umgebungen begünstigen, ohne auf den viel langsameren Prozess der biologischen Anpassung angewiesen zu sein.[15] Anders gesagt: Menschenbabys mögen körperlich hilflos sein, aber ihre Gehirne verfügen über ein unvergleichliches Lernpotenzial, einschließlich der Gabe, die Verhaltensnormen – die Kultur – zu übernehmen und zu bewahren, die zum einen ihren Vorfahren das Überleben ermöglichten und zum anderen ihren Nachkommen zu einem guten Leben verhelfen werden.

Ein Mechanismus, der darüber hinaus zur Entwicklung des Gehirns beigetragen haben könnte, ist die sexuelle Selektion. Möglich, dass die Menschen eine Vorliebe für Partner mit höher entwickelten Gehirnen ausbildeten, auch wenn das Gehirn selbst keine offensichtlichen evolutionären Vorteile bot.[16] Vielleicht zeugten komplexe Gehirne von unsichtbaren Qualitäten, die für den Schutz und die Erziehung von Kindern vorteilhaft waren, und potenzielle Partner könnten diese Qualitäten aus wahrnehmbaren Attributen wie Klugheit, guter Artikulation, schnellem Denken oder Sinn für Humor abgeleitet haben.

Die Evolution des menschlichen Gehirns war zweifellos der Hauptantrieb für den einzigartigen Aufstieg der Menschheit, nicht zuletzt weil sie dazu beitrug, den technologischen Fortschritt anzustoßen, also immer ausgefeiltere Wege zu finden, die natürlichen Materialien und Ressourcen um uns herum zu unserem Vorteil zu nutzen. Diese Fortschritte wiederum prägten künftige evolutionäre Prozesse und ermöglichten es den Menschen, sich erfolgreicher an ihre sich verändernde Umwelt anzupassen sowie neue Technologien zu entwickeln und zu nutzen – ein sich wiederholender und verstärkender Mechanismus, der zu immer größeren technologischen Sprüngen führte.

Insbesondere geht man davon aus, dass der zunehmend virtuose Umgang mit Feuer, der die frühen Menschen in die Lage versetzte, ihre Nahrung zu kochen, ein zusätzliches Wachstum des Gehirns anregte. Denn nun musste für das Kauen und Verdauen nicht mehr so viel Energie aufgewendet werden, die Kalorien wurden besser verwertet und es wurde Platz im Schädel frei, den zuvor Kieferknochen und Muskeln eingenommen hatten.[17] Das könnte zu weiteren Innovationen in der Kochtechnik geführt haben, was sich wiederum im Wachstum des Gehirns niedergeschlagen haben könnte. Ein sich selbst verstärkender Kreislauf.

Doch unser Gehirn ist nicht das einzige Organ, das uns von anderen Säugetieren unterscheidet – auch die menschliche Hand gehört dazu. In Verbindung mit unserem Gehirn entwickelten sich auch unsere Hände unter anderem in Reaktion auf die Technologie, insbesondere auf die Vorteile der Herstellung und Nutzung von Jagdwerkzeugen, Nadeln und Kochutensilien.[18] Vor allem als sich die menschliche Spezies die Technik zur Bearbeitung von Steinen und zur Herstellung hölzerner Speere aneignete, verbesserten sich die Überlebenschancen derjenigen, die diese Werkzeuge effizient einzusetzen verstanden. Bessere Jäger konnten ihre Familien zuverlässiger ernähren und somit mehr Kinder bis zum Erwachsenenalter großziehen. Die Weitergabe dieser Fähigkeiten von einer Generation an die nächste erhöhte den Anteil kompetenter Jäger in der Bevölkerung, und der Nutzen weiterer Innovationen wie stabilere Speere und – in späterer Zeit – stärkere Bögen und schärfere Pfeile, trugen zum evolutionären Vorteil dieser Jagdkompetenzen bei.

Im ganzen Verlauf unserer Geschichte bildeten sich positive Rückkopplungsschleifen ähnlicher Art heraus: Umweltveränderungen und technologische Neuerungen ermöglichten ein Bevölkerungswachstum und bewirkten die Anpassung der Menschen an ihren sich verändernden Lebensraum und ihre neuen Werkzeuge; diese Anpassungen wiederum verbesserten unsere Fähigkeit, in die Umwelt gestaltend einzugreifen und neue Technologien zu ersinnen. Wie sich zeigen wird, ist dieser Zyklus von zentraler Bedeutung dafür, wie wir die Reise der Menschheit zu verstehen haben und das Rätsel des Wachstums lösen können.

Exodus aus der Wiege der Menschheit

Über Hunderttausende von Jahren hinweg zog die menschliche Spezies in Kleingruppen von Jägern und Sammlern in Afrika umher und entwickelte dabei komplexe technologische, soziale und kognitive Fähigkeiten.[19] Als die prähistorischen Menschen zu immer besseren Jägern und Sammlern wurden, wuchs ihre Bevölkerung in den fruchtbaren Regionen Afrikas erheblich an, was letztlich den Lebensraum und die natürlichen Ressourcen, die jedem von ihnen zur Verfügung standen, verknappte. Deshalb begannen die Menschen, sobald es die klimatischen Bedingungen erlaubten, auf der Suche nach weiteren fruchtbaren Territorien auf andere Kontinente auszuweichen.

Homo erectus, womöglich die erste menschliche Spezies von Jägern und Sammlern, breitete sich vor fast zwei Millionen Jahren in Eurasien aus. Die bisher ältesten Fossilien des frühen Homo –sapiens, die außerhalb Afrikas entdeckt wurden, sind 210000 Jahre (ausgegraben in Griechenland) beziehungsweise 177000 bis 194000 Jahre alt (gefunden im Karmel-Gebirge in Nordisrael).[20] Es scheint jedoch, dass die Nachkommen dieser ersten modernen Menschen, die Afrika verließen, ausstarben oder sich aufgrund der widrigen klimatischen Bedingungen während der Eiszeit wieder nach Afrika zurückzogen.[21]

Es war demnach in Afrika, wo vor etwa 150000 Jahren die jüngste (matrilineare) Vorfahrin aller heute lebenden Menschen in Erscheinung trat, die sogenannte mitochondriale Eva. Obwohl es zu jener Zeit natürlich noch zahlreiche andere Frauen in Afrika gab, starben deren Linien schließlich alle aus. Somit stammen sämtliche heute lebenden Menschen von dieser einen afrikanischen Frau ab.[22]

Der weithin akzeptierten »Out of Africa«-Hypothese zufolge geht die heutige Population des anatomisch modernen Menschen überwiegend auf eine größere Migration des Homo sapiens aus –Afrika bereits vor 60000–90000 Jahren zurück.[23] Der Mensch wanderte dabei über zwei Routen nach Asien: Die nördliche verlief über das Nildelta und die Sinai-Halbinsel in die östliche Mittelmeerregion, Levante genannt, und die südliche über die Bab-el-Mandeb-Straße an der Mündung des Roten Meeres auf die Arabische Halbinsel (Abb. 3).[24] Die ersten modernen Menschen erreichten Südostasien vor mehr als 70000 Jahren,[25]Australien vor 47000–65000 Jahren[26] und Europa vor fast 45000 Jahren.[27] Sie besiedelten Beringia vor etwa 25000 Jahren, überquerten die Landbrücke über die Beringstraße während mehrerer Perioden des Pleistozäns und drangen vor 14000–23000 Jahren tiefer nach Amerika ein.[28]

Abb. 3: Der Auszug des Homo sapiens aus Afrika

Die mutmaßlichen Migrationsrouten des Homo sapiens und vor wie viel Jahren die Wanderungen ungefähr stattgefunden haben. (Häufig revidiert im Lichte neuer Entdeckungen.)

Diese Migrationswellen aus Afrika heraus trugen zur Größe und Vielfalt der menschlichen Bevölkerung auf dem gesamten Planeten bei. Die prähistorischen Menschen besiedelten neue ökologische Nischen, gewannen dadurch Zugang zu neuen Jagd- und Sammelgebieten und begannen, sich rascher zu vermehren. Gleichzeitig führte ihre Anpassung an die verschiedenen neuen Umgebungen zu einer größeren menschlichen und technologischen Vielfalt. Innovationen konnten sich so besser verbreiten, Ideen gegenseitig befruchten und die Bevölkerung weiter wachsen.

Doch letztlich bewirkte die Bevölkerungszunahme dieselbe Knappheit an fruchtbarem Land und Ressourcen, die die Migration aus Afrika überhaupt erst ausgelöst hatte. Trotz ihrer neuen Werkzeuge und Techniken sank der Lebensstandard der Menschen allmählich auf das Existenzminimum zurück. Die Unfähigkeit, eine stetig wachsende Bevölkerung zu ernähren, sowie klimatische Veränderungen brachten die Menschheit schließlich dazu, sich an einer alternativen Subsistenzform zu versuchen – der Landwirtschaft.

Frühe Besiedlung

Vor fast 11000 Jahren, als sich das Klima nach der letzten Eiszeit allmählich erwärmte, erlebte der Homo sapiens einen dramatischen Wandel. Weltweit tauschten die Menschen nach und nach ihre nomadische Wanderschaft gegen eine sesshafte Lebensweise ein und begannen, große Fortschritte in Kunst, Wissenschaft, Schrift und Technik zu machen.

Belege aus der Natufien-Kultur (13000–9500 v. Chr.), die in der Levante angesiedelt war, lassen vermuten, dass der Übergang zu dauerhaften Behausungen an manchen Orten dem Beginn der Landwirtschaft vorausging. Zwar waren die Natufier überwiegend Jäger und Sammler, aber sie lebten in stabilen Wohnstätten, die üblicherweise aus einem Fundament aus Trockenmauerwerk und einem Überbau aus Reisig bestanden. Jede Siedlung umfasste bis zu einigen Hundert Menschen, die für ihr Überleben auf die Jagd gingen und einheimische Wildfrüchte sammelten.[29] Für den Großteil der damaligen Weltbevölkerung jedoch war der Übergang zur Landwirtschaft der Hauptgrund, sich dauerhaft an einem Ort niederzulassen.

Die Landwirtschaftliche Revolution, auch Neolithische Revolution genannt, vollzog sich das erste Mal im Fruchtbaren Halbmond – einer Region mit üppigem Pflanzenwuchs an den Flüssen Tigris und Euphrat, entlang der östlichen Mittelmeerküste und um das ägyptische Nildelta herum –, die eine Vielzahl an kultivierbaren Pflanzen- und domestizierbaren Tierarten bot. Unabhängig davon entwickelte sich die Landwirtschaft außerdem vor etwa 10000 Jahren in Südostasien, und von diesen spezifischen Ursprungsgegenden aus erfasste sie rasch die gesamte eurasische Landmasse. Zur schnellen Expansion landwirtschaftlicher Praktiken innerhalb dieser riesigen Region trug vor allem die Ost-West-Ausrichtung dieser Kontinente bei. Sie ermöglichte es, Pflanzen, Tiere und Technologien in die besagten Himmelsrichtungen zu verbreiten, ohne dass sich dabei größere natürliche Hindernisse in den Weg stellten.

Wie der amerikanische Geograf und Historiker Jared Diamond in seinem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Buch Arm und Reich darlegt, erlebten das subsaharische Afrika und Amerika, wo es jeweils weit weniger kultivierbare Pflanzen- und domestizierbare Tierarten gab, den Übergang zur Landwirtschaft hingegen deutlich später.[30] Trotz eines frühen Beginns der Landwirtschaft in Mesoamerika und in einigen Gegenden Afrikas verlief die Verbreitung landwirtschaftlicher Praktiken dort langsamer, da die Nord-Süd-Ausrichtung dieser Kontinente große Unterschiede in Bezug auf Klima und Bodenqualität zwischen den Regionen bewirkte. Darüber hinaus dienten die Sahara und die weitgehend unpassierbaren tropischen Regenwälder in Mittelamerika als natürliche Barrieren für diesen Ausbreitungsprozess.

Dennoch, nachdem über Hunderttausende von Jahren der technologische und soziale Wandel quälend langsam verlaufen war, erlebte schließlich ein Großteil der Menschheit innerhalb weniger Tausend Jahre – den Übergang der Jäger- und Sammlerstämme zu landwirtschaftlichen Gesellschaften und von der nomadischen zur sesshaftenLebensweise. Während der Neolithischen Revolution kultivierten die Menschen weltweit eine breite Palette von Wildpflanzen und domestizierten einheimische Tiere. Weizen, Gerste, Erbsen, Kichererbsen, Oliven, Feigen und Dattelpalmen, aber auch Schafe, Ziegen, Schweine und Tauben wurden zuerst im Fruchtbaren Halbmond kultiviert beziehungsweise domestiziert. Weintrauben und Granatäpfel in der nahen transkaukasischen Region. Reis, Büffel und Seidenraupen in China, Enten in Südostasien. –Sesam, Auberginen und Zebus auf dem indischen Subkontinent. Sorghum, Yamswurzeln, Kaffee und Esel in Afrika. Zuckerrohr und Bananen in Neuguinea, Mais, Bohnen, Kürbis und Kartoffeln sowie Truthähne, Lamas und Alpakas in Amerika.[31]

Entscheidend für unsere Geschichte ist, dass die agrarischen Gesellschaften aus bedeutenden technologischen Vorteilen, die über Jahrtausende hinweg bestehen blieben, Nutzen zogen. Im Unterschied zu Jäger- und Sammlerstämmen erwirtschafteten diese Gemeinschaften wesentlich höhere Erträge, die eine wachsende Bevölkerung ernährten. Größer und besser ausgerüstet als Jäger- und Sammlerstämme, verdrängten und absorbierten Agrargesellschaften bei ihrer Ausbreitung über die Kontinente hinweg schließlich nicht-landwirtschaftliche Gruppen.

Außerdem ermöglichte die Intensivierung des Handels innerhalb jeder agrarischen Gemeinschaft den Einzelnen, sich auf einen bestimmten Beruf zu spezialisieren, etwa als Bauer, Töpfer, Weber, Werkzeugmacher, Händler oder Handwerker. Dies ließ allmählich verschiedene soziale Schichten entstehen, darunter – und das ist von besonderer Bedeutung – eine Klasse, die keine Nahrungsmittel produzierte, sondern sich der Anhäufung von Wissen widmete. Insgesamt läuteten die nachfolgenden Fortschritte in Kunst, Wissenschaft, Schrift und Technologie den Beginn der Zivilisation ein.

Die Morgendämmerung der Zivilisation

Die meisten Agrargesellschaften behielten zunächst die sozialen Strukturen bei, die schon vor der Neolithischen Revolution bestanden hatten. Der Zusammenhalt dieser kleinräumigen Stammesgesellschaften mit ihren dicht verwobenen Verwandtschaftsbindungen erleichterte die Kooperation und die Beilegung von Streitigkeiten. Die Stammesführung setzte die Regeln der Gemeinschaft durch und förderte die Zusammenarbeit, aber es bildeten sich nur selten nennenswerte soziale Schichten heraus, und fast alle Individuen waren in der Landwirtschaft oder Viehzucht tätig.

Als die Siedlungen jedoch größer wurden, die Bevölkerungsdichte zunahm und sich weitere Berufe herausbildeten, wurde eine breiter angelegte Kooperation über die Grenzen des verwandtschaftlichen Rahmens hinweg notwendig. Die komplexen politischen und religiösen Institutionen, die zu diesem Zweck entstanden, ermöglichten es unseren Vorfahren, in viel größerem Maßstab zusammenzuarbeiten, um weitläufige Bewässerungssysteme anzulegen, beeindruckende Tempel und Festungen zu bauen sowie beachtliche Armeen aufzustellen.[32] Völlig neue soziale Schichten entstanden, darunter Herrscher, Adelige, Priester, Künstler, Händler und Soldaten.

Jericho, eine der frühesten dauerhaften Siedlungen der Welt, begann um 9000 v. Chr. zu expandieren und blieb bis weit in die biblische Zeit hinein erhalten. Sie bestand aus einem dichten Häusergewirr, in dem 1000–2000 Menschen lebten, die zahlreiche Werkzeuge und rituelle Gegenstände besaßen, und war von einer 3,6 Meter hohen Steinmauer mit einem 8,25 Meter hohen Turm umgeben.[33] Eine weitere wichtige Siedlung im Fruchtbaren Halbmond – Çatalhöyük (7100–5700 v. Chr.) – stellte ein regionales Handelszentrum für Töpferwaren, Werkzeuge aus Feuerstein und Obsidian sowie Luxusgüter dar. Dieser Ort in Anatolien in der heutigen Türkei bestand aus aneinander gereihten verzierten Lehmziegelhäusern und beherbergte in ihrer Blütezeit etwa 3000–10000 Menschen, die Weizen, Gerste, Hülsenfrüchte, Sesam, Mandeln und Pistazien anbauten und Nutztiere wie Schafe, Ziegen und Rinder hielten.

Die meisten großen Städte der antiken Welt entstanden zunächst an den Ufern von Euphrat, Tigris und Nil vor 4000–6000 Jahren. Dazu zählten die Zentren der sumerischen und akkadischen Zivilisation, Uruk und Ur, in denen in dieser Zeit jeweils fast 100000 Menschen wohnten, sowie Memphis im alten Ägypten.[34] Städte in China – und später in Indien und Griechenland – erreichten vor etwa 3300 Jahren die gleiche Bevölkerungszahl wie die dominierenden Siedlungen im Fruchtbaren Halbmond, während Karthago in Nordafrika erst tausend Jahre später zu dieser Größenordnung heranwuchs. Interessanterweise gelangte erst vor 2000 Jahren eine europäische Stadt – Rom – an die Spitze der Rangliste der weltgrößten Städte, und erst im 20. Jahrhundert wurde eine Stadt auf dem amerikanischen Kontinent – New York – zur bevölkerungsreichsten Stadt der Welt.

Eines zeigt sich dabei deutlich: Wieder einmal war es der technologische Fortschritt, der diesen Übergangsmoment während der Menschheitsreise bewirkte und sich dadurch auch selbst vorantrieb. Eine plötzliche Beschleunigung der Innovationen zu dieser Zeit ermöglichte es, weitere Pflanzen und Tiere zu kultivieren beziehungsweise zu domestizieren, und verbesserte den Anbau, die Lagerung, die Kommunikation und den Transport. Zu den Anbaumethoden, die nach und nach Einzug hielten, gehörten der Gebrauch von Hacken, die Verwendung von Pflügen, die zuerst von Menschen, später dann von Tieren gezogen wurden, sowie Bewässerungssysteme und schließlich der Terrassenanbau. Die Gesellschaften fanden heraus, wie man mit Feuer Ton und Metall bearbeiten konnte, und verwendeten diese Materialien zusammen mit Zement für den Bau von Wohnstätten, Werkzeugen und Getreidespeichern. Sie lernten, die Energie des Wassers für das Mahlen von Getreide zu nutzen, sie statteten domestizierte Pferde, Esel und Kamele mit Sätteln aus, um sich von ihnen über Land transportieren zu lassen, und machten sich die Windkraft für die Fahrt über die Meere zunutze. Fünfeinhalbtausend Jahre nachdem die Bewohner von Jericho ihren beeindruckenden 8,25 Meter hohen Wachturm errichtet hatten, erschufen die Ägypter die Große Pyramide von Gizeh, die ursprünglich 146,5 Meter hoch war.

Die Technik des Schreibens tauchte zuerst vor 5500 Jahren in Sumer im südlichen Mesopotamien auf. Weitgehend unabhängig davon entstand Schrift auch in Ägypten vor 5200 Jahren, in China vor 3300 Jahren und in Mesoamerika vor 2500 Jahren. Sie wurde zunächst für Buchhaltungs- und Aufzeichnungszwecke entwickelt und später auch für Grabinschriften verwendet. Doch ebenso bedeutsam war, dass sie den Gesellschaften die Möglichkeit eröffnete, nützliches Wissen zu speichern und an zukünftige Generationen weiterzugeben sowie gemeinschaftsstiftende Mythen zu festigen.

Wie frühere Perioden des technologischen Wandels veränderte die Neolithische Revolution nicht nur die Lebensweise und die Werkzeuge der Menschen, sondern sie stimulierte damit auch biologische Anpassungen an ihre neue Umwelt. Die Koevolution von Genen und Kultur lässt sich vielleicht am besten am Beispiel einer Anpassung zeigen, die durch die Domestizierung von Tieren bewirkt wurde – die Laktasepersistenz. Laktase ist ein Enzym, das für die Verdauung von Laktose, einem Zucker in Milchprodukten, benötigt wird. Wie andere Säugetiere auch bildete der prähistorische Mensch Laktase nur im Säuglingsalter. Doch Mutationen, die in Westasien, Europa und Ostafrika bereits vor 6000–10000 Jahren auftraten, ermöglichten die Fortdauer der Laktasebildung und damit den Milchkonsum über das Säuglingsalter hinaus.[35] Vor allem in Gesellschaften von Vieh- und Schafhirten, die diese Regionen besiedelten, konnten Erwachsene, die zufällig in der Lage waren, Laktase zu bilden, ihre Tiere als bewegliche und erneuerbare Nahrungsquelle nutzen. Der evolutionäre Vorteil, der daraus erwuchs, führte im Lauf der Zeit zu einer weiteren Verbreitung dieses Merkmals in den betreffenden Populationen. So sind auf den britischen Inseln und in Skandinavien über 90 Prozent der Erwachsenen laktosetolerant, während der entsprechende Anteil in ostasiatischen Gemeinschaften, wo die Wirtschaft traditionell nicht auf Schafen und Rindern beruhte, auf unter 10 Prozent sinkt.[36]

Tiermilch ist nicht das einzige Naturprodukt, dessen Verzehr wir uns evolutionär angeeignet haben. Ähnliche Mutationen wie bei der Laktosetoleranz ermöglichten zudem die Verdauung von Stärke, wodurch die Menschen Brot in ihre Ernährung aufnehmen konnten. Doch die Anpassungen beschränkten sich nicht allein auf die Erweiterung des Nahrungsangebots. Die Zunahme der Bevölkerungsdichte und die Domestizierung von Tieren hatten zur Folge, dass sich Infektionskrankheiten stärker verbreiteten, damit aber auch Resistenzen gegen sie. In manchen Gesellschaften trugen sie zu einer angeborenen Immunität gegen Malaria bei.[37]

So schuf die Agrarrevolution die Voraussetzungen für einen Kreislauf, in dem sich technologischer Wandel und menschliche Anpassung wechselseitig verstärkten. Ausgelöst durch Bevölkerungswachstum und Klimaveränderungen sowie geprägt durch die Geografie, fand ein technologischer Wandel statt – eine Veränderung unserer materiellen Beziehung zu unserer Umwelt, zu der die vermehrte Nutzung kultivierbarer Pflanzen und domestizierter Tiere gehörte. Dies führte zu sozialen und biologischen Anpassungen, welche zum einen diesen technologischen Wandel ermöglichten und zum anderen unsere Abhängigkeit von ihm verstärkten. Letztlich war es dieser bis heute bestehende grundlegende Kreislauf, der dafür sorgte, dass die menschliche Bevölkerung und ihre Kontrolle über ihre Lebensumwelt signifikant wuchs und den Homo sapiens zur dominierenden Spezies auf der Erde machte.

Doch wie eingangs erwähnt, stagnierte trotz dieser enormen Fortschritte in puncto Wissen und Technologie der Lebensstandard der Menschen, gemessen an der Lebenserwartung, der Lebensqualität und dem Grad an materiellem Komfort und Wohlstand, aus unerfindlichen Gründen weitgehend. Um dieses Rätsel zu lösen, müssen wir uns genauer mit den Ursprüngen dieser Stagnation beschäftigen: der Armutsfalle.

2Gefangen in der Stagnation

Der anglikanische Pfarrer und Gelehrte Thomas Malthus kam 1766 als sechstes Kind einer wohlhabenden Familie der englischen Oberschicht zur Welt. In seinen wissenschaftlichen Abhandlungen kritisierte er den Utopismus zeitgenössischer Philosophen wie William Godwin und Nicolas de Condorcet – Vordenker des Zeitalters der Aufklärung –, die eine unausweichliche Entwicklung der Menschheit hin zu einer vollkommenen Gesellschaft prognostizierten. Im Jahr 1798 veröffentlichte Malthus seinen Essay on the Principle of Population (Das Bevölkerungsgesetz), in dem er seine tiefe Skepsis gegenüber diesen vorherrschenden und seiner Meinung nach naiven Ansichten bekundete. Ihnen stellte er seine pessimistische These entgegen, der zufolge sich die Menschheit auf lange Sicht nicht höher entwickeln könne, da jeder Fortschritt oder materielle Zugewinn am Ende vom Bevölkerungswachstum aufgezehrt werde.

Malthus hatte einen enormen Einfluss auf seine Zeitgenossen. Einige der prominentesten politischen Ökonomen jener Zeit, darunter David Ricardo und John Stuart Mill, waren von seinem Denken stark geprägt. Karl Marx und Friedrich Engels hingegen attackierten Malthus heftig, da er ihrer Meinung nach die Rolle der klassengeprägten Institutionen beim vorherrschenden Elend ignoriert habe. Die Väter der Evolutionstheorie wiederum, Charles Darwin und Alfred Russel Wallace, verdankten seiner Abhandlung ausdrücklich entscheidende Anregungen für die Entwicklung ihrer eigenen höchst einflussreichen Theorien.

Malthus’ Beschreibung der Welt, wie sie in der Vergangenheit existiert hatte, war durchaus korrekt. Doch seine pessimistischen Vorhersagen über die Zukunft der Menschheit sollten sich als grundlegend falsch erweisen.

Die malthusianische These

Stellen wir uns ein Dorf im vorindustriellen Zeitalter vor, dessen Bewohner eine effizientere Methode zum Anbau von Weizen mithilfe von Eisenpflügen entwickeln, sodass sie erheblich mehr Brot herstellen können. Zunächst würde sich die Ernährung der Dorfbewohner verbessern, und durch den Handel mit einem Teil des Überschusses würden auch ihre Lebensbedingungen besser. Der Überfluss an Nahrungsmitteln könnte es ihnen sogar erlauben, ihr Arbeitspensum zu verringern und sich ein wenig Freizeit zu gönnen. Vor allem aber, so Malthus, würde der Überschuss es ihnen ermöglichen, mehr überlebende Kinder zu ernähren, und dementsprechend würde die Dorfbevölkerung mit der Zeit immer weiter anwachsen. Da das für den Weizenanbau zur Verfügung stehende Land innerhalb des Dorfes zwangsläufig begrenzt sei, führte dieser Bevölkerungszuwachs allmählich zu einer Verringerung der Brotrationen für jeden einzelnen Dorfbewohner. Nach dem anfänglichen Anstieg begänne der Lebensstandard so lange zu sinken, bis das Verhältnis der Brotrationen pro Dorfbewohner wieder sein ursprüngliches Niveau erreicht hätte. Der technologische Fortschritt führte also fatalerweise langfristig zu einer größeren, aber nicht zu einer wohlhabenderen Bevölkerung.

Diese Falle droht freilich allen Lebewesen. Stellen wir uns zum Beispiel ein Wolfsrudel auf einer Insel vor. Angenommen, durch eine globale Abkühlung sinkt der Meeresspiegel und schafft eine Landbrücke zu einer anderen Insel mit einer Kaninchenpopulation. Den Wölfen erschließen sich auf diese Weise neue Jagdgebiete, und die Verfügbarkeit von zusätzlicher Beute erhöht ihren Lebensstandard. Mehr Jungtiere überleben bis zur Geschlechtsreife, was zu einem rasanten Anstieg der Wolfspopulation führt. Da sich nun jedoch mehr Wölfe eine begrenzte Menge an Kaninchen teilen müssen, fällt der Lebensstandard der Wölfe allmählich auf das Niveau vor der globalen Abkühlung zurück, während sich die Wolfspopulation auf höherem Niveau stabilisiert. Durch den Zugang zu mehr Ressourcen geht es den Wölfen auf lange Sicht nicht besser.

Die malthusianische Hypothese beruht im Wesentlichen auf zwei Annahmen. Die erste lautet, dass eine Zunahme der Ressourcen (Erträge aus Landwirtschaft, Fischfang, Jagd- und Sammeltätigkeit) dazu führt, dass die betreffenden Populationen mehr überlebende Nachkommen haben, befördert durch die biologisch, kulturell und religiös bedingte Veranlagung zur Fortpflanzung und den Rückgang der Kindersterblichkeit, der mit einer besseren Ernährung einhergeht. Die zweite Annahme besagt, dass der Bevölkerungszuwachs eine Verschlechterung der Lebensbedingungen nach sich zieht, sofern der Lebensraum begrenzt ist. Malthus zufolge passt sich die Größe einer Bevölkerung über zwei Mechanismen an die verfügbaren Ressourcen an: nachwirkende und vorbeugende Hemmnisse. Unter nachwirkenden Hemmnissen versteht Malthus den Anstieg der Sterblichkeitsrate infolge einer zunehmenden Häufigkeit von Hungersnöten, Krankheiten und Kriegen um Ressourcen in Gesellschaften, deren Bevölkerung über ihre Nahrungsmittelproduktion hinaus angewachsen ist. Mit den vorbeugenden Hemmnissen hingegen meint er den Rückgang der Geburtenrate in Zeiten der Knappheit, bedingt durch spätere Heirat und die Verwendung von Verhütungsmitteln.

Haben technologische Fortschritte in vorindustrieller Zeit zu größeren, aber nicht reicheren Bevölkerungen geführt, wie es die malthusianische These impliziert? Aus den Daten geht eindeutig hervor, dass technologischer Fortschritt und Bevölkerungsgröße damals tatsächlich in einem Zusammenhang standen. Das allein deutet jedoch noch nicht auf einen Einfluss der Technologie auf die Bevölkerungsentwicklung hin. Vielmehr waren technologische Fortschritte in dieser Zeit teilweise das Ergebnis größerer Bevölkerungen, denn größere Gesellschaften brachten zum einen mehr potenzielle Erfinder hervor und sorgten zum anderen für eine erhöhte Nachfrage nach deren Erfindungen. Außerdem ist denkbar, dass andere, unabhängige Faktoren – Kultur, Institutionen, Umwelt – sowohl zum Fortschritt der Technologie als auch zum Wachstum der Bevölkerung beitrugen und so die positive Korrelation zwischen diesen beiden Größen erklären. Anders gesagt: Diese Korrelation taugt für sich genommen nicht als Beleg für malthusianische Kräfte.

Zum Glück bietet uns die NeolithischeRevolution eine faszinierende Möglichkeit, die Gültigkeit der malthusianischen These zu überprüfen. Wie Jared Diamond überzeugend dargelegt hat, deuten die Belege stark darauf hin, dass Regionen, die die Neolithische Revolution früher durchliefen, einen technologischen Vorsprung gegenüber anderen hatten, der über Jahrtausende anhielt.[38] Wir können also aus unserem Wissen über den Zeitpunkt der Neolithischen Revolution (oder aus der Anzahl der kultivierbaren Pflanzen- und domestizierbaren Tierarten in der Region) auf den technologischen Entwicklungsstand einer Region schließen. Anders formuliert: Regionen, die die Neolithische Revolution früher vollzogen haben, sollten einen höheren technologischen Entwicklungsstand aufweisen. Wenn demnach eine Region, die die Neolithische Revolution früher durchlaufen hat, darüber hinaus größer oder reicher ist, können wir, sofern alle anderen Faktoren gleich sind, fest davon ausgehen, dass die Ursache dafür ihr technologischer Entwicklungsstand ist.

Mit diesem Ansatz lässt sich die Wirkungsweise des malthusianischen Mechanismus in der Zeit vor der Industrialisierung beobachten. Im Jahr 1500 beispielsweise führte ein höheres technologisches Niveau, wie sich aus einem früheren Beginn der Neolithischen Revolution schlussfolgern ließ, nachweislich zu einer höheren Bevölkerungsdichte, während die Auswirkungen auf das Pro-Kopf-Einkommen unerheblich waren (Abb. 4).[39]

Aus weiteren Belegen geht hervor, dass fruchtbare Böden ebenfalls zu einer höheren Bevölkerungsdichte, jedoch nicht zu einem höheren Lebensstandard beitrugen. Und betrachtet man sogar noch frühere Epochen durch die gleiche Brille, erkennt man ein beeindruckend konsistentes Muster: Technologischer Fortschritt und höhere Bodenerträge führten vor allem zu größeren, aber nicht zu reicheren Bevölkerungen. Dies bedeutet, dass vor der Industriellen Revolution die Menschen weltweit einen weitgehend ähnlichen Lebensstandard hatten.

Abb. 4: Auswirkungen des technologischen Niveaus auf die Bevölkerungsdichte und das Pro-Kopf-Einkommen in verschiedenen Ländern im Jahr 1500

Das Diagramm zeigt, basierend auf der länderspezifischen Varianz im Jahr 1500, die positiven Auswirkungen des technologischen Niveaus (berechnet anhand der seit der Neolithischen Revolution verstrichenen Zeit) auf die Bevölkerungsdichte (untere Grafik) und seine unbedeutende Auswirkung auf das Pro-Kopf-Einkommen (obere Grafik). (Jeder Kreis bezeichnet eine bestimmte Region in ihren heute gültigen Grenzen.)[40]

Der unvermeidliche Beginn der Agrarwirtschaft

Der malthusianische Mechanismus wirft ein Licht auf die Ursachen für entscheidende Ereignisse im Geschichtsverlauf, die andernfalls rätselhaft erscheinen könnten. Rätselhaft ist beispielsweise, dass menschliche Überreste aus frühen Agrargesellschaften keineswegs eine Verbesserung der Gesundheit oder des Wohlstands belegen, sondern eher eine Verschlechterung des Lebensstandards im Vergleich zu dem von Jägern und Sammlern Jahrtausende zuvor. Die Jäger und Sammler lebten offensichtlich länger, ernährten sich reichhaltiger, arbeiteten weniger intensiv und litten weniger an Infektionskrankheiten.[41] Warum hatten dann diese frühen Bauern und Hirten das relativ ertragreiche und bessere Leben der Jäger und Sammler aufgegeben?

Wie oben geschildert, hatten die prähistorischen Menschen, die Afrika verließen und neue ökologische Nischen besiedelten, Zugang zu reichhaltigen neuen Ressourcen und konnten sich schnell vermehren, ohne ihre Lebensbedingungen zu verschlechtern. Letztlich jedoch machte dieses Bevölkerungswachstum gemäß dem malthusianischen Mechanismus die Gewinne wett, da eine größere Anzahl von Menschen um den gleichen Bestand an Wildtieren und Pflanzen konkurrierte. Die Lebensbedingungen fielen allmählich auf das ursprüngliche Subsistenzniveau zurück, trotz der Fortschritte bei Werkzeugen und Techniken. In manchen Gesellschaften sank der Lebensstandard infolge des übermäßigen Bevölkerungswachstums sogar noch unter das Ausgangsniveau, sodass ein gesellschaftlicher Zusammenbruch drohte.

Besonders gravierend war dies in Regionen, die der urzeitliche Mensch, der dem Homo sapiens vorausgegangen war, nie besiedelt hatte und in denen sich die dortige Fauna nicht an die Bedrohung durch den Menschen angepasst hatte, wie etwa in Ozeanien und Amerika. Als der Homo sapiens mit seinen fortschrittlichen Waffen schließlich dort ankam, war er bei der Jagd derart erfolgreich, dass die meisten großen Säugetiere bald ausgerottet waren und folglich die zunehmende Anzahl von Stämmen um die rasch schwindenden Ressourcenkonkurrieren musste.

Ein extremes und tristes Beispiel für rasches Bevölkerungswachstum und übermäßige Ausbeutung, die schließlich zum Zusammenbruch führten, stellen die isolierten polynesischen Stämme dar, wie etwa jene, die zu Beginn des 13. Jahrhunderts die Osterinsel im Pazifik besiedelten.[42] Fast 400 Jahre lang wuchs die dortige Bevölkerung aufgrund der üppigen Vegetation und der reichen Fischgründe rasch an. Die Polynesier erschufen auf der Insel eine blühende Zivilisation und errichteten die berühmten und beeindruckenden Moai-Statuen, deren größte zehn Meter hoch ist. Doch aufgrund des Bevölkerungswachstums geriet das empfindliche Ökosystem der Insel zunehmend unter Druck. An der Wende zum 18. Jahrhundert waren der Vogelbestand auf der Osterinsel ausgerottet und die Wälder zerstört, was es den Bewohnern erschwerte, Fischerboote zu bauen und instand zu halten. Die daraus resultierenden Spannungen führten häufig zu internen Konflikten und dezimierten die lokale Bevölkerung um fast 80 Prozent.[43] Ähnliche ökologische Katastrophen, die Jared Diamond in seinem Buch Kollaps beschreibt, ereigneten sich auf den Pitcairninseln im Südpazifik, unter den amerikanischen Ureinwohnern in den Gebieten im Südwesten der heutigen Vereinigten Staaten, bei den Maya in Mittelamerika und bei den nordischen Stämmen in Grönland.[44]

Auch Jäger-Sammler-Gesellschaften im Fruchtbaren Halbmond gerieten vor fast 11000 Jahren unter vergleichbaren Druck. Das von einem Nahrungsüberangebot und technologischen Neuerungen angestoßene Bevölkerungswachstum leitete einen allmählichen Rückgang der durch Jagen und Sammeln verfügbaren Pro-Kopf-Rationen ein, bis ihr vorübergehend gesteigerter Lebensstandard auf das Subsistenzniveau zurückfiel. Die besondere Biodiversität des Fruchtbaren Halbmonds mit seinem Reichtum an kultivierbaren Pflanzen- und domestizierbaren Tierarten eröffneten diesen Gesellschaften allerdings eine Alternative, die den Bewohnern der Osterinsel größtenteils nicht zur Verfügung stand – den Übergang zur Landwirtschaft. Auch die klimatischen Bedingungen spielten dabei eine Rolle.[45] Seit dem Ende der letzten Eiszeit vor etwa 11500 Jahren verbesserten sich die Bodenverhältnisse für den Ackerbau, und die klimatischen und jahreszeitlichen Temperaturschwankungen nahmen zu. So bot der Ackerbau eine sicherere Strategie der Nahrungsmittelproduktion, auch wenn er mit einer schlechteren Qualität der Nahrung einherging, verglichen mit der reichhaltigeren, aber weniger vorhersehbaren und immer seltener angewandten Strategie des Jagens und Sammelns.

Die verlässlichen Erträge aus der Landwirtschaft trugen demnach im Fruchtbaren Halbmond dazu bei, die ökologische Krise abzuwenden, die später die Zivilisation auf der Osterinsel zerstören sollte, und ermöglichten es, dort eine wesentlich größere Bevölkerung zu ernähren. Berechnungen zufolge konnte dort ein einziger Hektar Land fast hundertmal mehr Bauern und Hirten als Jäger und Sammler ernähren.[46] Am Ende stabilisierte sich die Bevölkerungsgröße der Agrargesellschaften natürlich auf einem neuen, höheren Niveau, doch dieses Mal wurden ihre Lebensbedingungen durch die Rückkehr zum Subsistenzniveau deutlich schlechter als die der Jäger und Sammler, die Jahrtausende vor ihnen gelebt hatten, als die vorhandenen ökologischen Nischen noch nicht dicht besiedelt waren. Verglichen mit dem Lebensstandard der Jäger und Sammler, die ihre unmittelbareren Vorfahren gewesen waren, war der Übergang zum Ackerbau jedoch völlig rational, vielleicht sogar unvermeidlich; jedenfalls stellte er keine Verschlechterung dar. Dieser Wechsel von der üppigen Lebensweise früherer Jäger und Sammler zum ärmlichen Lebensstandard der dicht gedrängt hausenden Bauern könnte der Ursprung des Mythos vom verlorenen Paradies sein, der in diversen Kulturen weltweit verbreitet ist.

Aufgrund ihrer größeren Bevölkerung und ihres technologischen Vorsprungs verdrängten die Agrargesellschaften die verbliebenen Jäger und Sammler, bis schließlich die landwirtschaftlichen Praktiken in weiten Teilen des Erdballs dominierten. Eine neue Epoche war angebrochen, und es gab kein Zurück mehr.

Bevölkerungsschwankungen

Der malthusianische Mechanismus lässt sich auch an den Bevölkerungsschwankungen in der Zeit nach der Neolithischen Revolution erkennen, ausgelöst durch dramatische ökologische, epidemiologische und institutionelle Umbrüche.

Eines der verheerendsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte war der Schwarze Tod – eine Pandemie der Beulenpest, die im 14. Jahrhundert zunächst China heimsuchte und sodann mit mongolischen Truppen und Händlern auf der Seidenstraße nach Westen bis auf die Halbinsel Krim gelangte. Von dort brachten Handelsschiffe die Seuche nach Messina auf Sizilien und nach Marseille, danach verbreitete sie sich wie ein Lauffeuer in ganz Europa.[47] Zwischen 1347 und 1352 fielen 40 Prozent der europäischen Bevölkerung der Pest zum Opfer. Besonders tödlich war sie in dicht besiedelten Gebieten. In nur wenigen Jahren verloren viele Städte – darunter Paris, Florenz, London und Hamburg – mehr als die Hälfte ihrer Einwohner.[48]

Triumph des Todes

Wandbild (1448), Palermo, Italien[49]

Auch wenn der Schwarze Tod bei den Überlebenden, die viele ihrer Verwandten und Freunde verloren hatten, vermutlich ein anhaltendes psychisches Trauma hinterließ, so vernichtete die Pest doch immerhin nicht ihre Weizenfelder, Viehbestände oder Getreidemühlen. Die europäischen Bauern konnten sich also nach den schrecklichen Verwüstungen wieder an die Arbeit machen, und stellten fest, dass die Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft stark gestiegen war. Überhaupt benötigte man dringend mehr Arbeitskräfte, was dazu führte, dass ein durchschnittlicher Lohnabhängiger bald in den Genuss eines höheren Verdiensts und besserer Arbeitsbedingungen als vor dem Schwarzen Tod kam.

Abb. 5: Die Auswirkungen des Schwarzen Todes auf Löhne und Bevölkerungsgröße in England

Die Bevölkerungszahl Englands sank nach dem Wüten des Schwarzen Todes im Jahr 1348 stark, was zu einem vorübergehenden Anstieg der Reallöhne führte. Diese fielen jedoch ebenso wie die Bevölkerungszahl bis 1615 wieder auf das Niveau vor der Pest zurück.[50]

In den Jahren 1345–1500, als die Bevölkerung Englands von 5,4 Millionen auf nur noch 2,5 Millionen Menschen schrumpfte, stiegen die Reallöhne um mehr als das Doppelte (Abb. 5). Der dadurch verbesserte Lebensstandard sorgte für einen Anstieg der Geburtenrate sowie für einen Rückgang der Sterberate, und die englische Bevölkerung begann, sich langsam zu erholen. Doch dem malthusianischen Mechanismus gemäß führte dieses Bevölkerungswachstum schließlich zu einem Sinken der Durchschnittslöhne, bis innerhalb von drei Jahrhunderten sowohl die Bevölkerungszahl als auch die Löhne auf den Stand von vor der Pest zurückgegangen waren.

Eine andere folgenreiche Bevölkerungsschwankung folgte auf die Reisen des Christoph Kolumbus zum amerikanischen Kontinent in den Jahren 1492 bis 1504. In der Neuen Welt gab es reichhaltig Nutzpflanzen wie Kakao, Mais, Kartoffeln, Tabak und –Tomaten, die den Europäern bis dahin unbekannt gewesen waren und die sie bald in die Alte Welt importierten. Im Gegenzug brachte man von dort Nutzpflanzen wie Bananen, Kaffeebohnen, Zuckerrohr, Weizen, Gerste und Reis erstmals in die Neue Welt.

Die Kartoffelpflanze gelangte um 1570 nach Europa und wurde schnell zu einem Grundbestandteil der europäischen Küche. Besonders weite Verbreitung fand sie in Irland und dort vor allem bei den armen Subsistenzbauern, denn sie eignete sich ausgezeichnet für den irischen Boden und das irische Klima. Sie steigerte das Einkommen der Bauern und ermöglichte es ihnen manchmal sogar, genug zu sparen, um sich zusätzliches Vieh anzuschaffen.[51] Die ersten Bauern, die Kartoffeln anbauten, erfreuten sich einer erheblichen Steigerung ihrer Kalorienzufuhr und ihrer Lebensqualität.

Entsprechend der malthusianischen Theorie sollte diese Verbesserung jedoch nur von kurzer Dauer sein. Die Einführung der Kartoffel ließ die irische Bevölkerung von etwa 1,4 Millionen im Jahr 1600 auf 8,2 Millionen im Jahr 1841 anwachsen, weshalb der Lebensstandard nahezu auf Subsistenzniveau blieb.[52] Und die Lage verschlechterte sich sogar noch. In den Jahren 1801 bis 1845 befassten sich zahlreiche Parlamentsausschüsse mit der Situation; meist kam man zu dem Schluss, Irlands rasantes Bevölkerungswachstum und die desaströsen Lebensbedingungen würden das Land an den Rand einer Katastrophe bringen, da inzwischen ein Großteil der irischen Bevölkerung bei der Ernährung vollständig von der Kartoffel abhängig war.[53] Schlimmer noch, sie war von einer einzigen Kartoffelsorte abhängig.

Im Jahr 1844 berichteten irische Zeitungen über einen neuen Pilz – die Kraut- und Knollenfäule –, der die Kartoffelernten in den Vereinigten Staaten vernichtete. Der Pilz gelangte durch amerikanische Frachtschiffe bald schon in europäische Häfen. Von dort breitete er sich auf die Felder aus und zerstörte in Belgien, Südengland, Frankreich, Irland und den Niederlanden die Ernten. Man schätzt, dass 1845 fast die Hälfte und 1846 drei Viertel der Kartoffelernten in Irland von der Fäule befallen waren. Der Mangel an genetischer Vielfalt in den irischen Kartoffelkulturen verhinderte, dass die Bauern auf alternative Sorten ausweichen konnten. Hinzu kam, dass die britische Regierung, auf deren Politik die Abhängigkeit von der Kartoffel in erster Linie zurückging, nichts unternahm, geschweige denn Hilfe leistete. Die unvermeidliche Folge war die Große Hungersnot in den Jahren 1845–1849, während der rund eine Million Menschen an Unterernährung, Typhus und Krankheiten starben, denen die ausgezehrten Körper nicht mehr standhalten konnten. Vor allem in den ländlichen Regionen gab es viele Tote. Mehr als eine Million Menschen wanderten nach Großbritannien und nach Nordamerika aus. Einige Landstriche verloren mehr als 30 Prozent ihrer Bevölkerung. Ganze Dörfer blieben verwaist. So bewirkte die Einführung einer hochwertigen Kulturpflanze und ihre anschließende Vernichtung im Laufe von drei Jahrhunderten zunächst eine Steigerung und schließlich einen tragischen Rückgang der Bevölkerungszahl, während die Lebensbedingungen langfristig davon weitgehend unberührt blieben.

Nicht nur die Europäer übernahmen Kulturpflanzen aus der Neuen Welt, auch die Chinesen importierten Süßkartoffeln und Mais, die für ihre Böden besser geeignet waren als Kartoffeln. Mais gelangte Mitte des 16. Jahrhunderts über drei Routen nach China: von Norden über die Seidenstraße, die durch Zentralasien in die Provinz Gansu führte, von Südwesten über Indien und Birma in die Provinz Yunnan, und von Südosten an Bord portugiesischer Handelsschiffe, die an der Pazifikküste der Provinz Fujian Handel trieben.[54] Anfangs verbreitete sich der Mais relativ langsam, und sein Anbau war auf diese drei Provinzen beschränkt. Mitte des 18. Jahrhunderts jedoch wurde er beliebter, und um die Wende zum 20. Jahrhundert war er in ganz China zu einem Grundnahrungsmittel geworden. Die Einführung von Mais hatte einen derart großen Einfluss auf die landwirtschaftliche Produktion des Landes, dass chinesische Forscher später von einer zweiten »Agrarrevolution« sprachen.[55]

In vielen wissenschaftlichen Disziplinen wird durch kontrollierte Experimente die Wirkung eines bestimmten Faktors, etwa eines neuartigen Medikaments oder Impfstoffs, analysiert, indem man dessen Einfluss auf eine Versuchsgruppe im Vergleich zu einer Kontrollgruppe misst. Bei der Erforschung historischer Abläufe jedoch lassen sich die Uhren nicht zurückdrehen, indem man etwa bestimmte Menschen (und keine anderen) einem speziellen Fak-tor aussetzt, um dessen zeitliche Folgen zu beobachten. Dennoch sind quasi-natürliche historische Experimente möglich. Sie werden im Rahmen historischer Szenarien durchgeführt, die annähernd Laborbedingungen entsprechen und erlauben, die Auswirkungen eines bestimmten Faktors oder Ereignisses zu ermitteln, indem wir dessen Einfluss auf eine Bevölkerung messen, die diesem Faktor oder Ereignis ausgesetzt war, im Vergleich zu einer Kontrollbevölkerung, die ihm nicht ausgesetzt war.[56] Der Umstand, dass die Einführung von Mais in den verschiedenen Provinzen Chinas zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattfand, ermöglicht ein solches quasi-natürliches historisches Experiment, mit dem sich die malthusianische Theorie innerhalb eines Landes anstatt länderübergreifend überprüfen lässt.

Malthus’ Theorie nach müssten die chinesischen Provinzen, die den Mais früher einführten, langfristig eine höhere Bevölkerungsdichte aufweisen als die Provinzen, in denen die Einführung später geschah, nicht aber ein höheres Pro-Kopf-Einkommen oder eine höhere wirtschaftliche Entwicklung. Doch ein einfacher Vergleich der jeweiligen Bevölkerungsdichte und des Lebensstandards ist nicht sinnvoll, da die Provinzen mit der frühen Einführung möglicherweise noch weitere bedeutsame Unterschiede zu den Provinzen mit der späteren Einführung aufwiesen, die sich ebenfalls auf Bevölkerungsdichte und Lebensstandard ausgewirkt haben könnten. Tatsächlich fanden in ganz China während der fraglichen Zeit noch weitere wichtige Veränderungen statt, die womöglich unabhängig von der Einführung von Mais Einfluss auf die regionale Bevölkerungsdichte und den Lebensstandard hatten.