The World for Sale - Jack Farchy - E-Book

The World for Sale E-Book

Jack Farchy

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Beschreibung

Rohstoffhändler haben genau ein Ziel: Profit machen! Nebenbei haben sie aber auch noch enormen geopolitischen Einfluss. Mit ihren Deals können die milliardenschweren Multis Regierungen zu Fall bringen oder stützen. So finanzierten sie die Rebellen im libyschen Bür­­­­­gerkrieg oder lieferten Öl an das Apartheidregime in Südafrika. Und doch ist die Rohstoffbranche einer der am wenigsten beleuchteten und regulierten Sektoren der Wirtschaft. In einer Mischung aus Branchenanalyse, Wirtschaftsgeschichte und Thriller bringen Javier Blas und Jack Farchy nun Licht ins Dunkel. Sie stellen die Key Player vor, erklären, wie die Rohstoffhändler so mächtig werden konnten, und lassen uns an einigen der unglaublichsten Deals der Branche teilhaben.

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THE WORLD FOR SALE

Javier Blas und Jack Farchy

JAVIER BLAS JACK FARCHY

THE WORLD FOR

Geld, Macht und Geschäfte der globalen Rohstoffgiganten

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

THE WORLD FOR SALE

Money, Power and the Traders Who Barter the Earth’s Resources

ISBN 978-1-84794-265-4

Copyright der Originalausgabe 2021:

Copyright © 2021, Javier Blas and Jack Farchy

All rights reserved.

Copyright der deutschen Ausgabe 2023:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Rotkel. Die Textwerkstatt

Covergestaltung: Johanna Wack

Gestaltung und Satz: Sabrina Slopek

Landkarten: Darren Bennett

Lektorat: Christoph Landgraf

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86470-913-5

eISBN 978-3-86470-914-2

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444

E-Mail: [email protected]

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www.instagram.com/plassen_buchverlage

INHALT

EinführungDie letzten Haudegen

1 Die Pioniere

2 Der Pate des Öls

3 Die letzte Bank der Stadt

4 Papier-Barrel

5 Der Fall von Marc Rich

6 Der größte Räumungsverkauf der Geschichte

7 Kommunismus mit kapitalistischen Einflüssen

8 Big Bang

9 Petrodollar und Kleptokraten

10 Ziel Afrika

11 Hunger und Profit

12 Die Milliardärsfabrik

13 Kaufleute der Macht

SchlussfolgerungEine Menge Skelette

Danksagung

Anhänge

Endnoten

DIE LETZTEN HAUDEGEN

Das Flugzeug neigte sich stark, als es mit dem Sinkflug begann. Weit unten waren die ruhigen Gewässer des Mittelmeers der kargen Weite einer nordafrikanischen Wüste gewichen. Rauchsäulen stiegen am Horizont auf. Die Insassen des kleinen Privatjets stemmten sich mit versteinerten Gesichtern gegen ihre Sitze, als es in einer Reihe von magenumdrehenden Korkenzieherkurven abwärtsging.

Dies war keine normale Geschäftsreise, nicht einmal für Ian Taylor. In den vier Jahrzehnten, in denen Taylor mit Öl gehandelt hatte, war er an vielen Brennpunkten von Caracas bis Teheran gelandet. Doch diese Reise – Ziel Bengasi, Libyen, inmitten eines Bürgerkriegs – war eine neue Erfahrung.

Taylor brauchte nur aus dem Fenster zu schauen, um sich des Risikos bewusst zu werden, das er einging. 300 Meter unter ihm begleitete eine einsame NATO-Drohne sein Flugzeug. Taylor, Chef von Vitol, dem größten Ölhandelsunternehmen der Welt, wünschte sich, seine Kontakte in der britischen Regierung hätten ihm einen anständigen Kampfjet als Eskorte geschickt.

Es war Anfang 2011 und die gesamte Region befand sich inmitten einer Welle von Volksaufständen, die als Arabischer Frühling bekannt werden sollte. In Libyen hatten Kräfte, die sich gegen die 42 Jahre währende Diktatur von Oberst Muammar al-Gaddafi auflehnten, gerade die Kontrolle über Bengasi, die wichtigste Stadt im Osten des Landes, übernommen und eine eigene Regierung gegründet.

Die zusammengewürfelte Armee der Rebellen hatte jedoch ein großes Problem. Man hatte keinen Treibstoff mehr. Die Rebellen benötigten dringend Diesel und Benzin für ihre Militärfahrzeuge und Schweröl für den Betrieb ihrer Kraftwerke. Libyens eigene Raffinerien waren wegen des Krieges zum Stillstand gekommen, sodass nur eine minimale Menge an Treibstoff über Hunderte von Lastwagen, die die beschwerliche Reise aus Ägypten antraten, ins Land gelangte.

Wenn jemand das Risiko eingehen konnte, mitten in einem blutigen Krieg eine Rebellenarmee zu beliefern, dann war es Ian Taylor.1 Taylor, kahlköpfig, drahtig und unermüdlich, hatte Vitol von einem mittelgroßen Kraftstoffhändler in einen Ölhandelsriesen verwandelt. Dabei hatte er das Unternehmen zu einer starken Kraft in der Weltwirtschaft gemacht, die täglich so viel Öl umschlug, dass Deutschland, Frankreich, Spanien, das Vereinigte Königreich und Italien zusammen versorgt werden konnten.2 Der Mittfünfziger verband den lockeren Charme eines Mitglieds des britischen Establishments mit der Abenteuerlust, die für einen Ölhändler unabdingbar war. Er hatte sich nie gescheut, Vitol an Orte zu führen, die andere zu betreten fürchteten. Und in einer Welt, in der Öl und Geld mit der Macht Hand in Hand gehen, scheute er auch nicht vor Geschäften zurück, die von größerer geopolitischer Bedeutung waren.

Als sich einige Wochen zuvor die Möglichkeit eines Abkommens mit den libyschen Rebellen auftat, hatte Taylor nicht gezögert. Das Team von Vitol im Nahen Osten hatte einen Anruf von der Regierung von Katar erhalten. Der kleine erdgasreiche Golfstaat war zu einem wichtigen politischen und finanziellen Unterstützer der libyschen Rebellen geworden, indem er als Vermittler zwischen ihnen und den westlichen Regierungen fungierte und sie mit Waffen und Geld versorgte. Der Kauf von Tankern randvoll mit Produkten aus raffiniertem Öl und deren Lieferung in ein Kriegsgebiet überstieg jedoch die Möglichkeiten Katars. Es brauchte die Hilfe eines Rohstoffhändlers. Die Katarer wollten wissen, ob Vitol Diesel, Benzin und Heizöl nach Bengasi liefern konnte.

Vitol hatte vier Stunden Zeit, darüber nachzudenken und zu antworten. Das Handelshaus brauchte nur vier Minuten, um Ja zu sagen.

Aber es gab einen großen Haken. Die Rebellen hatten kein Bargeld. Stattdessen müsste Vitol die Bezahlung in Form von Rohöl aus den wenigen Ölfeldern, die die Rebellen kontrollieren, akzeptieren. Theoretisch hätte das kein Problem darstellen sollen: Vitol konnte Treibstoff über das Mittelmeer zum Hafen von Bengasi liefern und gleichzeitig Rohöl über eine Pipeline in die Küstenstadt Tobruk, nahe der ägyptischen Grenze und weit entfernt von den Kämpfen, erhalten (siehe Karte auf Seite 399).

Taylor und der Rest der Vitol-Oberen erarbeiteten schnell einen Vorschlag. Für ein großes Handelshaus wie Vitol war es nichts Neues, eine Ware gegen eine andere einzutauschen, insbesondere wenn es sich um einen klammen Kunden handelte. Auch andere Händler wetteiferten darum, sich an dem Geschäft mit den libyschen Rebellen zu beteiligen. Vitol war jedoch aggressiver: Das Unternehmen war nicht nur bereit, die Treibstofflieferungen abzuwickeln, sondern den libyschen Rebellen auch Kredit zu gewähren, ihnen also Geld zu leihen.3

Das Unternehmen hatte einen weiteren Vorteil: seine politischen Verbindungen in London und Washington. Taylor, ein begabter gesellschaftlicher Strippenzieher mit dem Charisma eines geborenen Politikers, war einer der wichtigsten Geldgeber für die regierende Konservative Partei. Seine Kontakte zur Londoner Wirtschafts- und Politikelite waren unübertroffen. Nur wenige Monate später nahm er zusammen mit anderen Finanziers an einem Abendessen mit dem Premierminister in der Downing Street 10 teil. „Natürlich bekam ich von den Briten die Erlaubnis, hinzufahren“, erinnerte sich Taylor später.4

Im Vereinigten Königreich arbeitete eine geheime „Öl-Zelle“ im Außenministerium daran, Gaddafis Streitkräfte daran zu hindern, Treibstoff zu beschaffen oder Rohöl international zu verkaufen. Washington gewährte eine Aufhebung der Sanktionen, damit US-Unternehmen libysches Öl von Vitol kaufen konnten. Und dann war da natürlich noch die NATO-Drohne.

London und Washington unterstützten zwar den Auftrag von Vitol, waren aber nicht bereit, allzu offenkundig zugunsten des Unternehmens einzugreifen. Als Taylor die Region anflog, die immer noch ein Kriegsgebiet war, wusste er, dass er auf sich allein gestellt war, wenn etwas schiefging.

Da eine konventionelle Landung aufgrund des möglichen Flakbeschusses durch Gaddafis Truppen zu gefährlich war, ging der Pilot so schnell wie möglich in den Sinkflug über. Taylor war allein in dem kleinen Flugzeug, abgesehen von zwei angeheuerten Leibwächtern und Chris Bake, einem untersetzten Neuseeländer, der die Geschäfte von Vitol im Nahen Osten leitete.

Wenn sich Taylor schon beim Landeanflug der Magen umdrehte, so tröstete ihn das, was er auf dem Boden vorfand, nicht gerade. Im Frühjahr 2011 war Bengasi gesetzlos und instabil. Die Stadt, eine Ansammlung staubiger Betonbauten, die sich um eine stinkende Lagune gruppierten, lag nur wenige Hundert Kilometer von der Frontlinie eines noch immer tobenden Konflikts entfernt. Die Luft war erfüllt von den Geräuschen und Gerüchen des Krieges. Die übel riechenden Krankenhäuser waren überfüllt mit Amputierten und anderen Verletzten. Die staubigen Straßen waren voll von Männern und Jungen mit Kalaschnikow-Sturmgewehren auf dem Rücken.

Nachts gab es stundenlange Stromausfälle in der Stadt. Patrouillen schwer bewaffneter Jugendlicher errichteten Kontrollpunkte an den Straßen der Stadt. Aus diesem gesetzlosen Umfeld heraus entstand der bewaffnete Mob, der ein Jahr später das US-Konsulat stürmte und Chris Stevens, den Botschafter in Libyen, tötete.

Die Bürger von Bengasi, erschöpft von jahrzehntelanger Diktatur und monatelangem Krieg, kauerten in ihren Häusern. Saif al-Islam, Gaddafis Sohn, hielt im staatlichen Fernsehen eine grauenerregende Rede, in der er weiteres Blutvergießen versprach: „Wir werden kämpfen bis zum letzten Mann, zur letzten Frau und zur letzten Kugel.“5

Bengasi war lange Zeit das Zentrum der libyschen Ölindustrie gewesen. Die größten Ölreserven des Landes befanden sich in unbewohnten Wüstengebieten im Osten des Landes – näher an Bengasi als an der Hauptstadt Tripolis, die immer noch vollständig unter Gaddafis Kontrolle stand. Die meisten Ölfelder waren während der Kämpfe im Land aufgegeben worden und die besten Geologen und Erdölingenieure Libyens trafen sich abends auf dem Hauptplatz von Bengasi, um über die Notlage ihres Landes zu diskutieren. Ein paar Kilometer weiter stand die regionale Zentrale der libyschen Ölgesellschaft neben dem rußgeschwärzten Skelett einer ehemaligen Polizeistation, die von den Rebellen in den ersten Tagen ihres Aufstands in Brand gesteckt worden war.

Taylor und Bake steuerten die Zentrale an, nachdem ihr Flugzeug gelandet war. Der Mann, der sie erwartete, war Nuri Berruien. Berruien, ein altgedienter Ingenieur, hatte sich vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs schon auf den Ruhestand vorbereitet. Im Frühjahr 2011 leitete er den Rebellenzweig der nationalen libyschen Ölgesellschaft und schloss das Geschäft ab, das die Revolution retten konnte.

Wenn Taylor mit den Rebellen verhandeln sollte, wollte er wissen, wer auf der anderen Seite der Transaktion stand. Aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung im Nahen Osten wusste er, dass eine persönliche Zusicherung mehr zählen konnte als ein sorgfältig ausgearbeiteter Vertrag. Und in jedem Fall wäre ein Vertrag von geringem Nutzen, wenn man es mit einer Rebellenregierung zu tun hatte, die in behelfsmäßigen Ministerien 1.000 Kilometer von der Hauptstadt des Landes entfernt operierte.

Taylor war zufrieden. Der Mann auf der anderen Seite eines der riskantesten Geschäfte, die Vitol je abgeschlossen hatte, war kein kriegsbegeisterter Verrückter, sondern ein Profi der Ölindustrie. Taylor schüttelte ihm die Hand und kehrte nach London zurück. „Es war ein Wagnis, aber ein vertretbares Wagnis“, sagte er später. Auf der anderen Seite war Berruien ebenfalls zufrieden: Vitol hatte ihm „die besten Konditionen“ angeboten und sich nicht einmal die Mühe gemacht, nach einer Kriegsversicherung zu fragen.6

Die Intervention von Vitol veränderte fast sofort das Gleichgewicht des Krieges. Die Sicherstellung von ausreichend Treibstoff war schon immer ein entscheidender Faktor für den Sieg in den leeren Wüstengebieten Nordafrikas. Hier ging im Zweiten Weltkrieg die Armee von Erwin Rommel, dem deutschen General, der im Volksmund als „Wüstenfuchs“ bekannt ist, unter, nachdem ihr der Treibstoff ausgegangen war.

Jetzt hatte die libysche Rebellenarmee genug Treibstoff, um Rommels Schicksal zu vermeiden. Dank Vitol konnte sie ihre Panzer und „Tacticals“ – die improvisierte Kombination aus einem Pick-up mit einem auf die Pritsche geschweißten Maschinengewehr, die das bevorzugte Fahrzeug der Rebellenarmee war – mit Kraftstoff versorgen.7

Trotz Luftunterstützung durch die NATO und finanzieller Hilfe aus Katar war es den Rebellen nicht gelungen, über ihre Hochburg in der Gegend von Bengasi hinauszukommen. Zum Zeitpunkt von Taylors Besuch im Frühjahr 2011 umfasste ihr Gebiet lediglich die östliche Region von Bengasi und einen Küstenstreifen von weiteren 150 Kilometern im Südwesten.

Das wichtigste strategische Ziel war die Einnahme der weiter westlich gelegenen Ölstädte Brega, Ras Lanuf und Es Sider, über die Gaddafi-Getreue noch immer den Zugang zu Libyens Ölreichtum kontrollierten. Nach den ersten Treibstofflieferungen von Vitol fiel Brega am 17. Juli in die Hände der Rebellen. Innerhalb weniger Wochen hatten sie Ras Lanuf und Es Sider eingenommen und von dort aus die Kontrolle über die Ölfelder im Landesinneren des Sirte-Beckens übernommen, dem Ort, an dem 1959 erstmals Öl in Libyen entdeckt worden war.

Im Oktober hatten sie die Gaddafi-Loyalisten in einem kleinen Gebiet westlich von Sirte in die Enge getrieben. Eines Tages überraschte eine Gruppe von Rebellenkämpfern Gaddafis Konvoi, und der Mann, der Libyen vier Jahrzehnte lang mit eiserner Faust regiert hatte, floh und suchte Schutz in einem Abflussrohr. Die Rebellen zerrten ihn heraus und schlugen ihn zu Tode – ein grausamer Moment des Triumphs, der mit einem Mobiltelefon gefilmt und in die ganze Welt übertragen wurde.

Für Vitol lag der Triumph jedoch noch in weiter Ferne. Die Pläne des Unternehmens begannen nur wenige Tage nach dem Händedruck zwischen Taylor und Berruien im Frühjahr in Bengasi zu scheitern. Trotz des Versprechens, die Existenz des Abkommens geheim zu halten, wurde bald bekannt, dass die Rebellen zugestimmt hatten, ihr Öl zu verkaufen und im Gegenzug Treibstoff zu erhalten. Als Reaktion darauf schickten Gaddafis Truppen Männer in die Wüste, um die wichtige Sarir-Tobruk-Pipeline zu sprengen, die die von den Rebellen kontrollierten Ölfelder mit einem Exportterminal an der Mittelmeerküste verband – dem Ort, an dem Vitol das Rohöl abnehmen wollte, das es als Bezahlung akzeptierte. „Das war für eine Weile das Ende ihrer Rohölexporte“, erinnert sich Bake mit grimmiger Miene.8

Taylor stand vor einem Dilemma. Es gab für Vitol keine Möglichkeit mehr, mit Rohöllieferungen bezahlt zu werden. Jede Ladung Treibstoff, die das Handelshaus lieferte, bedeutete ein immer größeres finanzielles Risiko, weil die Rebellen keine Regierung und keine Zentralbank hatten und nur geringes internationales Ansehen genossen. Wenn Taylor sie weiterhin belieferte, wettete er faktisch mit seiner Firma darauf, dass die Rebellen den Krieg gewinnen würden.

Er beschloss, es zu riskieren. Bis dahin hatte er 30 Jahre damit verbracht, ein Netzwerk im Nahen Osten aufzubauen. Wenn er aus dem Geschäft mit den libyschen Rebellen aussteigen würde, würde er nicht nur sie im Stich lassen, sondern auch seine langjährigen Kontakte in Katar – einem Land, das seit Langem eine lukrative Geschäftsquelle für Vitol darstellte.

Konkurrierende Händler glauben, dass es noch einen anderen Grund gegeben haben könnte, warum Taylor ohne Unbehagen an seinem Deal mit den libyschen Rebellen festhielt: Milliarden von Dollar aus dem Vermögen von Gaddafi waren auf westlichen Bankkonten eingefroren. Wäre der Krieg für das Geschäft von Vitol schlecht ausgegangen, hätten Taylors Freunde in den westlichen Regierungen dafür sorgen können, dass das Handelshaus aus den eingefrorenen Vermögenswerten entschädigt wird. (Im September 2011 wurden libysche Guthaben in Höhe von 300 Millionen Dollar im Westen freigegeben, um Vitol zu bezahlen.)9 „Wir hatten von niemandem Garantien“, betont David Fransen, Vorsitzender von Vitol in der Schweiz und einer der langjährigsten Partner von Taylor. „Wir haben nur ein paar Mal ‚Du schaffst das schon, mach es‘ gehört.“10

In den kommenden Monaten transportierten die Tanker von Vitol Ladung um Ladung. Die Schiffe liefen nachts in die libyschen Häfen ein mit dem Befehl, vor Sonnenaufgang das Entladen abzuschließen und sich wieder davonzustehlen. Zeitweise tobten die Kämpfe in Hörweite der Schiffsbesatzung, die auf Hunderttausenden von Barrel hochentzündlichem Treibstoff stand.

Mit jeder Lieferung stand für Vitol mehr auf dem Spiel. Innerhalb von fünf Monaten verschiffte das Handelshaus 30 Ladungen Benzin, Diesel, Heizöl und Flüssiggas nach Libyen. Als alle auf das Ende des Krieges und die Wiederaufnahme der Ölförderung warteten, stieg der Betrag, den die Rebellenregierung Vitol schuldete, auf mehr als eine Milliarde Dollar an – eine Summe, die groß genug war, um das Überleben des Unternehmens zu gefährden, und die es nur schwer wieder hätte eintreiben können, wäre der Krieg anders ausgegangen. „Es war ein Geschäft, das, um ehrlich zu sein, viel größer wurde, als es hätte sein sollen“, sagte Taylor. „Es hätte sehr, sehr schlimm schiefgehen können.“11

Es ist unmöglich zu sagen, wie der libysche Bürgerkrieg ausgegangen wäre, wenn Vitol sich nicht auf das Geschäft mit den Treibstofflieferungen an die Rebellen eingelassen und die Lieferungen auch dann noch fortgesetzt hätte, als sie nicht bezahlt werden konnten. Vielleicht hätte ein anderer Rohstoffhändler den Platz von Vitol eingenommen? Vielleicht hätte die katarische Regierung einen anderen Weg gefunden, die Rebellen mit Treibstoff zu versorgen?

Eines ist jedoch unbestreitbar: Ohne die Treibstofflieferungen im Wert von einer Milliarde Dollar wären die Rebellen in ihrer Notlage mit Sicherheit besiegt worden. „Der Treibstoff von Vitol war sehr wichtig für das Militär“, sagte Abdeljalil Mayuf, ein Beamter der von den Rebellen kontrollierten Arabian Gulf Oil in Bengasi, im Jahr 2011.12 Es war nicht das erste Mal, dass ein Ölhändler die Geschichte des Nahen Ostens geprägt hat, und es wird auch nicht das letzte Mal sein.

Für Libyen hatte die Geschichte jedoch kein Happy End. In den Jahren nach Taylors Flug nach Bengasi taumelte das Land von einem Konflikt zum nächsten. Der Tod Gaddafis beendete die Kämpfe nicht: Lokale Kriegsherren im Westen und Osten des Landes kämpften weiterhin um die Ölvorkommen. Im Jahr 2014 brach in Libyen ein zweiter Bürgerkrieg aus, der zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Buches immer noch schwelt. Und der Sturz Gaddafis hatte weitere destabilisierende Auswirkungen auf die gesamte Region, da das Arsenal der libyschen Armee in Konfliktgebiete wie Syrien geschmuggelt wurde, wo die Terrorgruppe Islamischer Staat Fuß zu fassen begann.13

Als sich die Leichen in Libyen häuften und die Auswirkungen des Bürgerkriegs auf den gesamten Nahen Osten übergriffen, stellte Taylor die Sinnhaftigkeit seiner Intervention infrage. „Es ist schwer zu sagen, ob wir alles richtig gemacht haben“, sagte er 2019 in einem Interview. „Ich habe neulich über Libyen nachgedacht und war sehr aufgebracht darüber – vielleicht hätten wir das nicht tun sollen.“14

▪ ▪ ▪

Die Geschäfte von Vitol in Libyen sind ein Beispiel für die enorme Macht, die Rohstoffhändler in der modernen Welt ausüben. Nur wenige von uns bekommen ihre Macht so unmittelbar zu spüren wie die Libyer, aber ob wir es wissen oder nicht, wir sind alle ihre Kunden. Für die meisten von uns ist es eine Selbstverständlichkeit, dass wir problemlos unser Auto auftanken, ein neues Smartphone kaufen oder eine Tasse kolumbianischen Kaffee bestellen können. Aber fast unser gesamter Konsum wird durch einen enorm regen internationalen Handel mit natürlichen Ressourcen gestützt. Und hinter diesem Handel stehen, in ihren Büros in verschlafenen Städten in der Schweiz oder in Neuengland, die Rohstoffhändler.

Die wenig beachteten und wenig kontrollierten Rohstoffhändler sind zu wichtigen Rädchen in der modernen Wirtschaft geworden. Ohne sie gäbe es an den Tankstellen keinen Kraftstoff mehr, die Fabriken würden stillstehen, und den Bäckereien ginge das Mehl aus. Sie sind, um es mit den Worten von Ludwig Jesselson, einem der Pioniere der Branche, zu sagen, ein „internationales Clearinghaus für lebenswichtige Güter“.15

Ihr Einfluss beschränkt sich nicht nur auf die Wirtschaft: Die Kontrolle der Rohstoffhändler über den Fluss der strategischen Ressourcen der Welt hat sie auch zu mächtigen politischen Akteuren gemacht. Um das Zusammenspiel von Geld und Macht in der modernen Welt zu begreifen, um zu sehen, wie Öl und Metalle aus rohstoffreichen Ländern abfließen und Geld in die Taschen von Magnaten und Kleptokraten fließt, muss man die Rohstoffhändler verstehen. In der Regel sagen sie, dass sie unpolitisch sind und von Profit angespornt werden statt vom Streben nach Macht. Doch wie die Geschäfte von Vitol mit den libyschen Rebellen zeigen, haben sie zweifellos die Geschichte geprägt.

Im Irak halfen die Rohstoffhändler Saddam Hussein, sein Öl zu verkaufen und so die UN-Sanktionen zu umgehen, in Kuba tauschten sie mit Fidel Castro Zucker gegen Öl und trugen so dazu bei, die kommunistische Revolution am Leben zu erhalten, und sie verkauften heimlich Millionen Tonnen US-amerikanischen Weizens und Mais an die Sowjetunion, um Moskau auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges zu stützen. Als Igor Setschin, der Chef des russischen Ölgiganten Rosneft und ein Verbündeter von Präsident Wladimir Putin, in kurzer Zeit zehn Milliarden Dollar auftreiben musste, wen rief er an? Die Rohstoffhändler.

Sie sind die letzten Haudegen des globalen Kapitalismus: Sie sind bereit, dort Geschäfte zu machen, wo sich andere Unternehmen nicht hintrauen, und gedeihen durch eine Mischung aus Rücksichtslosigkeit und persönlichem Charme. Doch obwohl die Bedeutung der Rohstoffhändler in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat, ist ihre Zahl relativ gering geblieben: Ein großer Teil der weltweit gehandelten Ressourcen wird von nur wenigen Unternehmen abgewickelt, von denen sich viele im Besitz weniger Personen befinden. Die fünf größten Ölhandelshäuser bewältigen täglich 24 Millionen Barrel Rohöl und raffinierte Produkte wie Benzin und Kerosin, was fast einem Viertel des weltweiten Erdölbedarfs entspricht.16 Die sieben führenden Agrarhändler fertigen knapp die Hälfte der weltweiten Getreide- und Ölsaatenproduktion ab.17 Auf Glencore, den größten Metallhändler, entfällt ein Drittel des weltweiten Angebots an Kobalt, einem wichtigen Rohstoff für Elektrofahrzeuge.18 Aber selbst diese Zahlen unterschätzen die Rolle der Händler: Als die schnellsten und aggressivsten Marktteilnehmer sind es oft ihre Geschäfte, die den Preis bestimmen.

Als Journalisten, die in den letzten zwei Jahrzehnten über natürliche Ressourcen berichtet haben, waren wir erstaunt über die Macht und den Einfluss, der sich in den Händen einiger weniger Rohstoffhändler konzentriert, und ebenso überrascht darüber, wie wenig über sie bekannt ist – insbesondere bei Regulierungsbehörden und Regierungen. Bis zu einem gewissen Grad ist das auch so gewollt. In den meisten Fällen handelt es sich bei den Rohstoffhändlern um Privatunternehmen, die weniger verpflichtet sind, Informationen über ihre Aktivitäten offenzulegen als ihre börsennotierten Pendants. Viele haben ihren überlegenen Zugang zu Informationen traditionell als Wettbewerbsvorteil betrachtet – und daher große Anstrengungen unternommen, um keine Informationen über sich selbst preiszugeben. So sagte der 2020 verstorbene Ian Taylor, als er sich mit uns zu einem Interview für dieses Buch zusammensetzte: „Uns wäre es lieber, Sie würden es nicht schreiben.“19

So blieb die Branche im Verborgenen, abgesehen von einem gelegentlichen Aufflackern von Interesse – in der Regel, wenn die Preise in die Höhe schießen oder wenn Skandale auftauchen. In einem Dreivierteljahrhundert wurde nur eine Handvoll Bücher über sie geschrieben. Und die Journalisten haben bis auf wenige Ausnahmen den Versuch aufgegeben, über Unternehmen zu schreiben, die ihre Fragen mit einer Mauer des Schweigens (und gelegentlich mit Drohbriefen) beantworten.

Das haben wir bei unserer Arbeit für die Financial Times und Bloomberg News am eigenen Leib erfahren. Als wir in den frühen 2000er-Jahren begannen, über Rohstoffe zu schreiben, waren wir von den Händlern fasziniert. Viele Menschen in der Rohstoffindustrie schienen zu glauben, dass sie die unsichtbare Hand hinter Preisbewegungen oder politischen Ereignissen seien. Dennoch erschienen sie fast nie in der Öffentlichkeit oder in den Zeitungen. Nur wenige unserer Kollegen hatten je von ihnen gehört, geschweige denn mit ihnen gesprochen.

Unsere Neugierde wuchs nur noch, als wir zum ersten Mal versuchten, Kontakt aufzunehmen. Glencore hatte einen seiner internen Finanziers abgeordnet, den Journalisten höflich mitzuteilen, dass sie ihre Fragen woanders stellen könnten. Zunächst versuchte er, uns davon zu überzeugen, dass unser Interesse unangebracht war. (Glencore war zu diesem Zeitpunkt bereits der größte Rohstoffhändler der Welt.) „Wir sind ein kleines Unternehmen, das niemanden interessiert“, sagte die Person. Es wäre besser, wenn wir unsere Zeit damit verbringen würden, über interessantere Unternehmen zu schreiben, empfahl er.

Louis Dreyfus, einer der größten Agrarrohstoffhändler, wandte eine noch einfachere Methode an. Die Journalisten erhielten die E-Mail-Adresse und die Telefonnummer einer Führungskraft, die sie bei Fragen kontaktieren konnten. Aber das Telefon wurde nie abgenommen, und die E-Mails wurden nicht beantwortet. Als der schwer fassbare Manager nach wochenlangen vergeblichen Versuchen endlich ans Telefon ging, sagte er, dass er unsere E-Mails natürlich gesehen habe. Warum hatte er dann nicht geantwortet, auch nicht mit „kein Kommentar“, der seit Langem bevorzugten Antwort eines mauernden PR-Mannes? Sein Ausbleiben einer Antwort, antwortete er geheimnisvoll, hätte als eine Form der Antwort an sich angesehen werden müssen. Und dann legte er auf.

Dieses Buch entstand aus dem Wunsch heraus, diese rätselhaften Unternehmen und Personen zu verstehen und zu deuten. Wir hatten Glück mit unserem Timing: Unser Interesse kam zu einem Zeitpunkt, als die Rohstoffhändler aus dem Schatten traten. Am auffälligsten war der Börsengang von Glencore im Jahr 2011, der größte, den es je auf dem Londoner Markt gab – ein Schritt, der das Unternehmen dazu zwang, seine Finanzen offenzulegen und sich den Fragen von Investoren und Medien zu stellen. Auch seine Konkurrenten begannen, PR-Berater einzustellen, Informationen über ihre Finanzen zu veröffentlichen und Journalisten Interviews zu geben.

In über einem Jahr Recherche für dieses Buch haben wir mehr als 100 aktive und pensionierte Rohstoffhändler befragt. Einige haben uns abgewiesen, aber viele andere waren gesprächsbereit, vielleicht ermutigt durch den Lauf der Zeit, ihre Welt für Außenstehende zu öffnen. Wir haben mit mehr als zwei Dutzend derzeitigen und ehemaligen Glencore-Partnern, mit allen noch lebenden Gründern von Trafigura und mit einem Dutzend derzeitigen und ehemaligen Führungskräften von Vitol gesprochen. Die Durchführung der Interviews bot eigene Einblicke in den Reichtum, den der Rohstoffhandel hervorgebracht hat. Wir haben Andy Hall, der mit Fug und Recht behaupten kann, der berühmteste lebende Ölhändler der Welt zu sein, in seinem 1.000 Jahre alten, mit moderner Kunst ausgestatteten Schloss in der Nähe von Hannover interviewt. Ein anderer Ölhändler im Ruhestand lud uns auf sein Gestüt in den englischen Home Counties ein. Ein dritter empfing uns in seinem Chalet in einem exklusiven Schweizer Skigebiet.

Viele der derzeitigen Rohstoffhändler waren uns gegenüber zurückhaltender, obwohl uns mit Ausnahme von Archer Daniels Midland alle großen Handelshäuser ein Treffen anboten. Die Vorstandsvorsitzenden der größten Öl-, Metall- und Agrarhändler gaben uns ein Interview. Einige waren entgegenkommender als andere. Ivan Glasenberg, der Chef von Glencore, gegen dessen Unternehmen zum Zeitpunkt der Recherche das US-Justizministerium im Rahmen einer Korruptions- und Geldwäscheuntersuchung ermittelte, lud uns zu einem Interview in die oberste Etage des kastenförmigen Schweizer Hauptsitzes seines Unternehmens ein. Dann parierte er mit seinem Anwalt auf der einen und seinem PR-Mann auf der anderen Seite fünf streitlustige Stunden lang unsere Fragen und bestand darauf, dass große Teile unseres Gesprächs nicht zitiert werden durften.

Die Geschichte, die in diesem Buch erzählt wird, basiert hauptsächlich auf all diesen Interviews. Wenn wir über historische Ereignisse oder Begegnungen berichten, stützen wir uns auf die Berichte mindestens einer Person, die daran beteiligt war. Wo verschiedene Personen unterschiedliche Erinnerungen an die Details haben, haben wir dies im Text vermerkt.

Sind die Händler immer völlig ehrlich zu uns gewesen? Wir überlassen es dem Leser, dies zu beurteilen. Wenn es um die eher fragwürdigen Bereiche des Rohstoffhandels geht, haben wir eine Vielzahl von Antworten erhalten. Ein ehemaliger Glencore-Händler begann sein Gespräch mit uns mit den Worten: „Was ich Ihnen erzählen werde, wird nicht die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit sein. Es gibt Dinge, die ich Ihnen einfach nicht erzählen werde.“ Ein anderer Händler weigerte sich immer dann zu antworten, wenn es um die ehrenrührigeren Momente seiner Karriere ging. Aber ein guter Pokerspieler wäre er nicht gewesen. Als wir ihn fragten, wie er es geschafft hatte, einen so lukrativen Öldeal in Nigeria oder im Iran abzuschließen, huschte ein Lächeln über sein Gesicht und seine Augen blitzten, ohne dass er etwas sagte.

Wir haben uns nicht allein auf die Selbstdarstellungen der Händler verlassen. Dieses Buch ist das Ergebnis von 20 Jahren Erfahrung mit Rohstoffhändlern. In dieser Zeit haben wir nicht nur Hunderte von Händlern getroffen und interviewt, sondern sind auch in Dutzende von Ländern gereist, vom kriegsgebeutelten Libyen bis zum US-Landwirtschaftsgürtel, um mit den Menschen zu sprechen, die mit den Händlern Geschäfte machen, mit den Regierungsbeamten, die mit ihnen zu tun haben, und mit den normalen Bürgern, die von ihren Aktivitäten betroffen sind. Wir haben auch Tausende von Seiten an Dokumenten zusammengetragen, von denen viele noch nie veröffentlicht wurden und die die Finanzen der Händler, die Netzwerke der Unternehmen, die sie besitzen, und die Struktur ihrer Geschäfte detailliert beschreiben.

Der Begriff „Rohstoffhändler“ ruft eine Vielzahl unterschiedlicher Bilder hervor, vom Geschrei in den Chicagoer Handelsboxen bis hin zu den Reihen von Computerbildschirmen auf dem Börsenparkett der Wall Street. Der Schwerpunkt dieses Buches liegt jedoch auf den Unternehmen und Einzelpersonen, deren Geschäft der Kauf und Verkauf physischer Rohstoffe ist. Sie sind es, die den Fluss der natürlichen Ressourcen in der Welt kontrollieren; in ihren Händen konzentriert sich eine fast einmalige Art von politischer und wirtschaftlicher Macht.

Diese Definition schließt die Wall-Street-Banken und -Hedgefonds aus, die riesige Summen auf Preisbewegungen setzen, ohne jemals in die Nähe eines echten Barrels Öl, eines Scheffels Weizen oder einer Tonne Kupfer zu kommen. Sie schließt auch die großen Bergbau- und Ölgesellschaften aus, die über komplexe Netzwerke in der ganzen Welt verfügen, um ihr Eisenerz, Kupfer oder Öl zu verkaufen, die es aber nicht als ihre Aufgabe ansehen würden, Rohstoffe zu kaufen und zu verkaufen, die sie nicht selbst produziert haben.

Natürlich ist die Kategorie des Rohstoffhändlers etwas unscharf: Einige große Ölgesellschaften wie BP und Shell sind auch wichtige Händler, die nicht nur mit dem Öl handeln, das auf den Feldern, die ihnen gehören, gefördert wird. Banken wie Goldman Sachs und Morgan Stanley waren zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte auch bedeutende Händler von physischen Rohstoffen. Auch in Japan gibt es seit Langem allgemeine Handelsgesellschaften, die sogo shosha, deren Hauptaufgabe darin bestand, die von der japanischen Industrie benötigten Importe natürlicher Rohstoffe zu sichern, die sich aber auch im internationalen Rohstoffhandel versuchten – gelegentlich mit katastrophalen Folgen.

Während einige von ihnen gelegentlich in unserer Geschichte vorkommen, konzentrieren wir uns auf die Unternehmen und Einzelpersonen, deren Haupttätigkeit weder die Produktion noch der Konsum von Rohstoffen ist, sondern der Handel mit ihnen. Das sind die Unternehmen, die manchmal als „unabhängige Händler“ oder „Handelshäuser“ bezeichnet werden. Selbst dann können wir nicht hoffen, eine erschöpfende Darstellung jedes Händlers jeder Ware in der Geschichte zu liefern. Stattdessen haben wir uns auf die Unternehmen konzentriert, die in den letzten 75 Jahren die Handelsmärkte für Öl, Metalle und Landwirtschaft dominiert und die eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Weltwirtschaft gespielt haben.

Viele dieser Unternehmen gehören zu einer einzigen Unternehmensdynastie. Während Glencore heute den Rohstoffhandel dominiert, waren es in den 1980er-Jahren Marc Rich + Co und in den 1960er- und 1970er-Jahren Philipp Brothers, die eine dominierende Rolle spielten. Die Unternehmen haben eine fast familiäre Beziehung zueinander: Marc Rich war ein leitender Händler bei Philipp Brothers, bevor er das Unternehmen, das seinen Namen trägt, gründete, und Marc Rich + Co wurde in Glencore umbenannt, als die Tophändler Rich aus dem Unternehmen, das er gegründet hatte, hinauswarfen.

Heute ist Glencore der größte Metallhändler, einer der drei größten Ölhändler und der größte Weizenhändler der Welt. Das Unternehmen ist aus dem Schatten von Marc Rich herausgetreten und hat sich zu einem Blue-Chip-Wert entwickelt. Von einem unscheinbaren Gebäude in einer ruhigen Schweizer Stadt aus verfolgt es Interessen, die von kanadischem Weizen über peruanisches Kupfer bis zu russischem Öl reichen. Hier sind die Händler ein Spiegelbild ihres Chefs Glasenberg – sie sprechen in demselben abgehackten Tonfall, sie begleiten ihn beim morgendlichen Joggen und nicht wenige von ihnen sind wie er Südafrikaner mit einer Ausbildung im Rechnungswesen. Und sie entsprechen der unermüdlichen Arbeitsmoral eines Mannes, der nichts dabei findet, einen Journalisten am Sonntagmorgen um sechs Uhr anzurufen, um über eine Geschichte zu sprechen.

Trafigura gehört zur gleichen Dynastie. Die Firma wurde von einer Gruppe unzufriedener ehemaliger Mitarbeiter von Marc Rich gegründet, die sich 1993 selbstständig machten. Das Unternehmen, das heute der zweitgrößte Öl- und Metallhändler der Welt ist, hat sich seine Underdog-Mentalität bewahrt, ebenso wie den französischen Sinn für Stil, den es von seinem Gründer Claude Dauphin geerbt hat.

Der führende Ölhändler ist Vitol, dessen Führungskräfte das Selbstvertrauen des britischen Establishments ausstrahlen – wie es sich für ein Unternehmen gehört, dessen Büro nur wenige Meter vom Buckingham Palace entfernt ist und dessen langjähriger CEO Ian Taylor ein regelmäßiger Besucher in Downing Street 10 war.

In der Landwirtschaft regiert Cargill. Das US-amerikanische Unternehmen, der weltgrößte Getreidehändler, tritt mit der ruhigen Selbstsicherheit von Generationen des Wohlstands im Mittleren Westen auf, auf dem es aufgebaut wurde. Als das große Handelshaus, das am längsten an der Spitze seiner Branche steht, ist es auch das am stärksten korporativ geprägte – mit einem eigenen Archivar und einer eigenen autorisierten Unternehmensgeschichte, die sich auf drei Bände mit einem Gesamtumfang von 1.774 Seiten erstreckt.

In diesen Unternehmen tummeln sich außergewöhnliche Charaktere: arbeitswütig, extrem schlau, entwaffnend sympathisch und einzig und allein darauf konzentriert, Geld zu machen. Eine „Sache“, die in der Rohstoffhandelsbranche nicht sehr verbreitet ist, sind Frauen. Die Rohstoffhandelsunternehmen lassen die Banken der Wall Street in Sachen Geschlechtervielfalt fortschrittlich aussehen. Glencore war das letzte Mitglied des britischen FTSE 100 Index der führenden Unternehmen, das einen rein männlichen Vorstand hatte, bevor es 2014 seine erste weibliche Direktorin ernannte.20 Weniger als eine von 20 Führungskräften in der Rohstoffhandelsbranche sind Frauen.21 Einige der größten Rohstoffhändler, wie Vitol und Trafigura, haben keine einzige Frau in ihren Führungsetagen. In seinem im März 2020 veröffentlichten Jahresbericht erklärte Glencore, dass das Unternehmen das von den Anlegern gesetzte Ziel, bis Ende des Jahres ein Drittel der Führungsebene mit Frauen zu besetzen, nicht erreichen würde: „Auch heute noch ist es eine Herausforderung, Führungspositionen … mit Frauen zu besetzen.“22 Nicht nur bei der Geschlechtervielfalt scheitern die Rohstoffhändler: Ihre oberen Ränge sind nicht nur überwiegend männlich, sondern auch überwiegend weiß.

Das Grundgeschäft der Rohstoffhändler ist entwaffnend einfach: natürliche Ressourcen an einem Ort und zu einer bestimmten Zeit kaufen und sie an einem anderen Ort verkaufen – und dabei hoffentlich einen Gewinn machen. Ihre Funktion beruht darauf, dass Angebot und Nachfrage bei Rohstoffen oft nicht übereinstimmen. Die meisten Minen, landwirtschaftlichen Betriebe und Ölfelder befinden sich nicht am selben Ort wie die Abnehmer ihrer Waren. Und nicht jeder Kupferminenarbeiter oder Sojabohnenbauer kann es sich leisten, ein Netz von Niederlassungen in der ganzen Welt zu unterhalten, um seine Produkte zu verkaufen. Hinzu kommt, dass die Rohstoffmärkte meist entweder über- oder unterversorgt sind. Die Händler, die stets flink und flexibel sind, sind immer bereit, einem Erzeuger eine Ware abzunehmen, solange der Preis stimmt, oder sie zu liefern, wenn ein Verbraucher bereit ist, zu zahlen.

Ein Beispiel dafür, wie das in der Praxis funktioniert, ist der Ölpreisverfall im Jahr 2020. Während sich die Coronapandemie weltweit ausbreitete, Flüge gestoppt wurden und die Menschen gezwungen waren, zu Hause zu bleiben, sank der Ölpreis immer weiter ab und notierte zum ersten Mal in der Geschichte kurz unter null. Also sprangen die Händler ein, kauften Öl zu Spottpreisen auf und lagerten es ein, bis die Nachfrage wieder anstieg. Einige kauften sogar einige Barrel zu negativen Preisen auf, was bedeutet, dass die Erzeuger sie dafür bezahlen mussten, dass sie sie ihnen abnahmen.

Die Rohstoffhändler sind Arbitrageure par excellence, die versuchen, eine Reihe von Preisunterschieden auszunutzen. Da sie ständig Kaufund Verkaufsgeschäfte tätigen, ist es ihnen oft gleichgültig, ob die Rohstoffpreise insgesamt steigen oder fallen. Was für sie zählt, sind die Preisunterschiede – zwischen verschiedenen Standorten, verschiedenen Qualitäten oder Formen eines Produkts und verschiedenen Lieferterminen. Indem sie diese Preisunterschiede ausnutzen, tragen sie dazu bei, die Märkte effizienter zu machen, indem sie die Ressourcen auf der Grundlage von Preissignalen auf ihre wertvollsten Verwendungen lenken. Sie sind, in den Worten eines Wissenschaftlers, die sichtbare Manifestation von Adam Smiths unsichtbarer Hand.23

In dem Maße, wie sie gewachsen sind, sind sie auch zu wichtigen Finanzierungskanälen für den Welthandel geworden – eine Art Schattenbankensektor, der bereit ist, Ölproduzenten im Voraus für ihr Rohöl zu bezahlen oder Kupfer an Hersteller auf Kredit zu liefern. Jim Daley, ein ehemaliger Leiter des Ölhandels bei Marc Rich + Co, drückt es so aus: „Öl ist nur eine Form von Geld.“24

Dieses Buch handelt zwar vom Aufstieg der Rohstoffhändler in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber es erzählt auch eine umfassendere Geschichte. Ihre Geschichte bietet einen Einblick in die Funktionsweise der modernen Welt – einer Welt, in der der Markt regiert, in der internationale Unternehmen anscheinend in der Lage sind, sich fast allen Regulierungsversuchen zu entziehen, und in der die Titanen der globalen Finanzwelt mehr Macht haben als manche gewählten Politiker.

Der Rohstoffhandel ist so alt wie der Handelsverkehr selbst, aber erst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Handelsbranche ihre moderne Form an. Dies war die Zeit, in der Handelsunternehmen zum ersten Mal wirklich global wurden – und vor allem, als das Öl begann ein handelbares Gut zu werden. Während ihre Vorgänger in engen Nischen operiert hatten, befanden sich die Rohstoffhändler ab den 1950er-Jahren plötzlich auf dem Kamm einer enormen Welle des globalen Wirtschaftswachstums. Als die USA den Status einer Supermacht erlangten, förderten sie den Handel in der ganzen Welt – und die frühen Händler waren ihre Abgesandten. In Dollar ausgedrückt ist der Welthandel mit Industriegütern und natürlichen Ressourcen von weniger als 60 Milliarden Dollar kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf mehr als 17 Billionen Dollar im Jahr 2017 gestiegen, wovon ein Viertel aus Rohstoffen bestand.25

Und als sich der wirtschaftliche Wohlstand über die USA und Europa hinaus ausbreitete, waren die Rohstoffhändler die Hauptakteure. Sie gehörten zu den ersten westlichen Unternehmen, die Niederlassungen in Ländern wie Indien, Russland, China und Indonesien eröffneten, viele Jahre bevor andere Investoren das Konzept der „Schwellenländer“ entdeckten. „Das ist nichts für schwache Nerven“, sagt David MacLennan, Vorstandsvorsitzender von Cargill. „Die Geschichte von Cargill ist, dorthin zu gehen, wo andere nicht hingehen. Darin liegt die Chance. Ob es eine Krise, eine Bedrohung oder ein hohes Risiko gibt, es bedeutet, dass es eine Chance gibt.“26

Im Mittelpunkt der Geschichte dieses Buches stehen vier Entwicklungen, die die Weltwirtschaft zugunsten der Rohstoffhändler gestalteten. Die erste war die Öffnung von Märkten, die zuvor streng kontrolliert worden waren – vor allem von Öl. Die Vorherrschaft der großen Ölgesellschaften, bekannt als die „Sieben Schwestern“, wurde durch die Verstaatlichungswelle, die die Länder des Nahen Ostens in den 1970er-Jahren erfasste, gebrochen. Plötzlich war das Öl, das in der Versorgungskette von der Quelle über die Raffinerie bis zur Tankstelle an ein einziges Unternehmen gebunden gewesen war, frei handelbar, und die Preise, die bis dahin feststanden, begannen sich zu bewegen. Sowohl die Oberhäupter des Nahen Ostens als auch Lateinamerikas hatten nun Öl zu verkaufen und die Rohstoffhändler handelten unterschiedslos mit ihnen. Dabei trugen sie dazu bei, eine neue Form der globalen Macht zu schaffen, den Petrostaat.

Die zweite Entwicklung war der Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991, der mit einem Schlag ein globales Netz wirtschaftlicher Beziehungen und politischer Bindungen neu entwarf. Auch hier tauchten die Rohstoffhändler auf und brachten das Gesetz des Marktes in die bis dahin planwirtschaftlich geprägten Länder. Inmitten des Chaos wurden sie zu wichtigen Lebensadern für angeschlagene Minen und Fabriken und stützten sogar ganze Regierungen. Im Gegenzug konnten sie sich den Zugang zu natürlichen Ressourcen zu äußerst günstigen Bedingungen sichern.

Die dritte war das spektakuläre Wirtschaftswachstum Chinas im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts. Mit der Industrialisierung der chinesischen Wirtschaft entstand eine enorme neue Nachfrage nach Rohstoffen. Im Jahr 1990 verbrauchte China beispielsweise die gleiche Menge an Kupfer wie Italien; heute geht jede zweite Tonne Kupfer auf der Erde an eine chinesische Fabrik.27 Und die Abwanderung der chinesischen Landbevölkerung in die Städte führte zu einem neuen Bedarf an Lebensmittel- und Brennstoffimporten. Die Folge war ein weiterer Anstieg des internationalen Rohstoffhandels, gefolgt von einem enormen Preisanstieg. Während die Rohstoffhändler die Welt nach Rohstoffen durchsuchten, um die unersättliche Nachfrage zu befriedigen, trugen sie dazu bei, neue Wirtschaftsbeziehungen zwischen China und rohstoffreichen Ländern in Lateinamerika, Asien und Afrika zu knüpfen.

Die vierte war die Finanzialisierung der Weltwirtschaft und das Wachstum des Bankensektors, die in den 1980er-Jahren begannen. Während ihre Vorgänger über genügend Kapital verfügen mussten, um jede gekaufte Metall- oder Getreideladung zu bezahlen, konnten die modernen Händler plötzlich auf geliehenes Geld und Bankgarantien zurückgreifen, sodass sie in der Lage waren, mit viel größeren Mengen zu handeln und viel größere Geldsummen aufzubringen.

Das Ergebnis dieser vier Entwicklungen war eine außergewöhnliche Ausweitung des Reichtums und der Macht einer Handvoll Unternehmen und Einzelpersonen, die den weltweiten Rohstoffhandel beherrschen. Das Ziel der Händler ist es, eine kleine Gewinnspanne bei einem großen Handelsvolumen zu erzielen. Und dieses Volumen ist wirklich enorm: 2019 erzielten die vier größten Rohstoffhändler einen Umsatz von 725 Milliarden Dollar – mehr als die gesamten Exporte Japans.28 Die Gewinne der Branche waren ähnlich beeindruckend. Marc Rich + Co verdiente in der Ölkrise 1979 so viel Geld, dass die Firma zu den zehn profitabelsten Unternehmen Amerikas gehörte. In den zehn Jahren des von China angeführten Rohstoffbooms bis 2011 waren die Gewinne der drei größten Rohstoffhändler zusammengenommen größer als die der bekannteren Giganten des globalen Handels wie Apple und Coca-Cola (siehe Tabelle auf Seite 400).

Noch bemerkenswerter ist, dass diese Gewinne unter einer sehr kleinen Gruppe von Menschen aufgeteilt wurden. Die Rohstoffhändler sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, privat geblieben, haben ihre Gewinne unter einer Handvoll von Partnern oder Gründern aufgeteilt und diesen Personen ein fantastisches Vermögen verschafft. Vitol, das sich nach wie vor ausschließlich im Besitz seiner Mitarbeiter befindet, hat allein in den letzten zehn Jahren mehr als zehn Milliarden Dollar an seine Händler-Aktionäre ausgeschüttet. In der Familie, der Cargill angehört, gibt es nicht weniger als 14 Milliardäre – mehr als in jeder anderen Familie der Welt.29 Louis Dreyfus, der historische Getreidehändler, ist fast vollständig im Besitz einer einzigen Person. Glencore hat bei seinem Börsengang im Jahr 2011 nicht weniger als sieben Milliardäre hervorgebracht.

Dieser Cocktail aus großem Geld, strategisch wichtigen Ressourcen und der Bereitschaft, dort zu agieren, wo andere sich nicht hintrauen, hat den weniger skrupellosen Mitgliedern der Rohstoffhandelsbranche reichlich Gelegenheit zu Betrügereien gegeben. Dies war vor allem dank eines bemerkenswerten Mangels an Regulierung oder staatlicher Kontrolle ihrer Aktivitäten möglich.

Einer der Gründe, warum die Aktivitäten der Rohstoffhändler so lange der Aufsicht entgangen sind, ist, dass sie in den undurchsichtigsten Ecken des internationalen Finanzsystems operieren. Die Waren, die sie transportieren, befinden sich oft auf hoher See, jenseits des Geltungsbereichs jeder nationalen Regulierungsbehörde, sie handeln in der Regel über Briefkastenfirmen in Offshore-Jurisdiktionen und die Händler haben sich an Orten wie der Schweiz oder Singapur niedergelassen, die für ihre sanfte Regulierung berühmt sind. So formuliert es eine bekannte Zürcher Anwaltskanzlei: „Rohstoffhandelsaktivitäten werden in der Schweiz kaum reguliert.“ Das fragliche Unternehmen, Pestalozzi, weiß das besser als die meisten anderen: Sein Namensgeber, Peter Pestalozzi, war drei Jahrzehnte lang als Anwalt für Marc Rich + Co und später Glencore tätig und saß bis 2011 im Verwaltungsrat des Unternehmens.30

Wenn also Rohstoffhändler in die Schlagzeilen geraten sind, dann in den meisten Fällen wegen Fehlverhaltens. Der berühmteste Fall von allen und derjenige, der die öffentliche Wahrnehmung von Rohstoffhändlern am stärksten geprägt hat, ist der von Marc Rich. Rich, der in vielerlei Hinsicht als Begründer der modernen Rohstoffhandelsbranche gilt, war fast zwei Jahrzehnte lang auf der Flucht vor der US-Justiz und hielt sich in der Schweiz versteckt, nachdem er wegen Steuerhinterziehung und Handel mit dem Iran angeklagt worden war – zur gleichen Zeit, als Dutzende Amerikaner in Teheran als Geiseln festgehalten wurden.

Einige der von uns befragten Händler äußerten sich bemerkenswert unverblümt über den Ruf der Handelsbranche für Bestechung und Korruption. „Leider ist dies etwas, das die Rohstoffindustrie belastet hat“, sagte uns Torbjörn Törnqvist, der Mitbegründer und Geschäftsführer des Ölhändlers Gunvor. „Es gibt viele Leichen im Keller, und viele von ihnen, die meisten, werden nie auftauchen.“31

Ein anderer Händler, der bis 2002 einer der ranghöchsten Partner von Glencore war, erzählte uns seelenruhig, wie er früher regelmäßig mit einem Koffer voller Bargeld nach London reiste. Natürlich war es damals für ein Schweizer Unternehmen sowohl legal als auch steuerlich absetzbar, „Provisionen“ zu zahlen, wie er betonte.32

Andere haben sich auf PR-Plattitüden zurückgezogen: Der Ruf der Branche für Fehlverhalten sei überholt, sagen sie und beharren darauf, dass sie eine „Nulltoleranzpolitik“ gegenüber Korruption verfolgen. Es ist sicherlich richtig, dass sich die Dinge geändert haben. Übersee-Provisionen“ sind nicht mehr wie früher steuerlich absetzbar; Banken stellen nun strengere Fragen an die Unternehmen, denen sie Kredite gewähren, und viele Rohstoffhändler haben Compliance-Abteilungen, die als interne Polizisten fungieren.

Doch die ständigen Meldungen – einige davon erst ganz kürzlich –, die die Branche in einem wenig schmeichelhaften Licht erscheinen lassen, deuten darauf hin, dass die Händler in zu vielen Fällen noch immer bereit sind, Moral und Recht beiseitezuschieben, um Profit zu machen. Von der Demokratischen Republik Kongo und der Elfenbeinküste bis hin zu Brasilien und Venezuela stehen viele der weltweit größten Händler im Fadenkreuz der Staatsanwälte für Korruptionsbekämpfung.

Die schlimmsten Beispiele für das Verhalten von Rohstoffhändlern definieren jedoch nicht die gesamte Branche. „So wie nicht jeder Hollywoodproduzent ein Harvey Weinstein war, ist nicht jeder Rohstoffhändler ein Bestecher“, argumentiert Mark Hansen, der ein mittelständisches Metallhandelsunternehmen führt.33

Doch Korruption ist nicht der einzige Bereich, in dem der Ruf der Rohstoffhändler alles andere als glänzend ist. Dank ihrer Niederlassungen in Niedrigsteuerländern haben viele der Händler bemerkenswert wenig Steuern auf ihre außerordentlichen Gewinne gezahlt. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat Vitol nur 13 Prozent Steuern auf seine Gewinne von mehr als 25 Milliarden Dollar gezahlt.34

Und in einer Welt, die sich der Realität des Klimawandels bewusst wird, haben die Händler nur langsam Reformen in einem Geschäft durchgeführt, das immer noch stark von umweltbelastenden Rohstoffen abhängt. Kohle ist einer der wichtigsten Gewinnbringer für Glencore, dem weltweit größten Exporteur dieses Rohstoffs. Glasenberg, der seine Karriere im Kohlegeschäft begann und einst damit prahlte, dass die Welt „verdammt geil auf Kohle“ sei,35 ist immer noch ein Fan.36 Öl und Gas sind für viele der Tophändler nach wie vor von großer Bedeutung. Niemand, den wir befragt haben, scheint dies ethisch bedenklich zu finden: Die Händler argumentieren einfach, dass sie so lange mit fossilen Brennstoffen handeln werden, wie die Welt sie verbraucht. Doch selbst wenn sie nicht besorgt über ihre eigene Bedeutung für den Klimawandel sind, stellt die sich verändernde öffentliche Debatte über fossile Brennstoffe dennoch eine Bedrohung für ihr Geschäft dar.

Was auch immer ihre Zukunft bringen mag, eines ist klar: Die Rohstoffhändler haben sich in den letzten drei Vierteln des Jahrhunderts zu enorm wichtigen und einflussreichen Akteuren in der Welt entwickelt. Viel zu lange wurden ihre Aktivitäten kaum verstanden und ihre Bedeutung wurde unterschätzt.

Wir hoffen, dass dieses Buch dazu beitragen wird, das zu ändern.

DIE PIONIERE

Als Theodor Weisser sich der sowjetischen Grenze näherte, spürte er einen Schauer der Angst.

Im Jahr 1954 von Westeuropa in die Sowjetunion zu reisen, wäre für jeden eine beängstigende Reise gewesen, aber für Weisser erforderte sie besonderen Mut. Als Soldat der deutschen Wehrmacht war er im Zweiten Weltkrieg von den sowjetischen Streitkräften gefangen genommen und an der Ostfront gefangen gehalten worden.

Er war jetzt in den Vierzigern, aber die Erinnerungen an seine Zeit in einem sowjetischen Gefangenenlager waren noch frisch und diese Reise würde seine erste nach Russland als freier Mann sein. In letzter Minute, weil er befürchtete, dass ihn jemand, dem er im Krieg begegnet war, wiedererkennen könnte, kaufte er eine rote Mütze und zog sie tief ins Gesicht.1

Weissers Unternehmung war bahnbrechend. Er reiste in die Hauptstadt des Kommunismus zu einer Zeit, als der Kalte Krieg den öffentlichen Diskurs im Westen beherrschte. Seit einem von der Sowjetunion unterstützten Umsturz in der Tschechoslowakei im Jahr 1948 war Westeuropa zunehmend beunruhigt über die Bedrohung durch eine selbstbewusste Sowjetunion vor der eigenen Haustür. Und Amerika wurde von der Roten Angst erfasst, die von Senator Joseph McCarthy durch die öffentliche Anprangerung von mutmaßlichen Kommunisten geschürt wurde.

Aber Weisser war nicht der Typ Mann, der sich leicht abschrecken ließ. Er hatte sich von Hamburg aus auf den Weg gemacht, um Öl zu kaufen, und er wollte nicht gehen, ohne ein Geschäft abgeschlossen zu haben. Er begab sich über die breiten, leeren Straßen Moskaus zu einem der wenigen Hotels, in denen Ausländer übernachten durften, und wartete darauf, dass die sowjetische Bürokratie auf ihn aufmerksam wurde.

Er brauchte nicht lange zu warten. Schon bald gelang es ihm, eine Verabredung zum Abendessen mit Evgeny Gurov zu bekommen, dem Leiter von Soyuznefteexport, der staatlichen Agentur, die den Ölhandel der Sowjetunion kontrollierte. Gurov war ein Ideologe, der früher als viele andere das Potenzial von Öl im Einsatz als strategische Waffe erkannte.2 Weisser hingegen war nicht ideologisch motiviert, sondern profitorientiert. Sein Unternehmen, Mabanaft, vertrieb Kraftstoffe in ganz Westdeutschland. Und es verlor Geld. Weisser musste neue Quellen von Öl finden, das er an seine Kunden verkaufen konnte, und das bedeutete, dorthin zu gehen, wohin sich nur wenige andere trauten.

Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, wo die beiden Männer zu Abend aßen oder was sie zu sich nahmen, aber es muss eine merkwürdige Situation gewesen sein: Einer der höchsten Handelsbeamten der Sowjetunion saß mit einem ehemaligen Kriegsgefangenen an einem Tisch und stieß unter den wachsamen Augen des KGB auf ihre neue Bekanntschaft an.

Die Verhandlungen dauerten eine Zeit lang, aber Weissers Beharrlichkeit wurde schließlich belohnt: Soyuznefteexport verkaufte ihm eine Ladung Diesel zum Weiterverkauf in Westdeutschland. Der Pioniergeist des Händlers sollte sich jedoch als kostspielig erweisen, zumindest anfangs. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde er wegen seiner Bereitschaft, mit dem Gegner des Kalten Krieges Handel zu treiben, von einem Großteil der Ölindustrie gemieden. Die Schifffahrtsgesellschaften, mit denen er seinen Treibstoff bisher durch das Land transportiert hatte, weigerten sich, mit ihm Geschäfte zu machen, da ihre anderen Kunden keine Schiffe chartern wollten, die zuvor Öl aus der Sowjetunion geladen hatten.3

Aber Weisser, ein vollendeter Netzwerker mit einem breiten, offenen Gesicht und einem gewinnenden Lächeln, wusste, dass er sich das Einzige gesichert hatte, was bei seiner Reise nach Moskau wichtig war: einen Kontakt hinter dem Eisernen Vorhang. Sein erstes Geschäft markierte den Beginn einer Beziehung, die jahrelang andauern und die Grundlage für die Gewinne seines Handelsunternehmens bilden sollte. Im Jahr 1956 besuchte Gurov Weisser und unterzeichnete in München einen Einjahresvertrag über den Verkauf von Diesel an Mabanaft. Bald kaufte der deutsche Händler auch Rohöl von den Sowjets.

Die ersten Geschäfte mit der Sowjetunion waren ein persönlicher Triumph für Weisser, ein Beweis für seinen Mut, seine Hartnäckigkeit und seinen Charme. Sie waren aber auch ein Zeichen dafür, wie sich die Welt veränderte und welche immer wichtigere Rolle Rohstoffhändler wie Weisser dabei spielen würden.

Nach Jahrzehnten der wirtschaftlichen Depression, der Stagnation und des Krieges trat die Welt in eine Ära der Stabilität und des wirtschaftlichen Wohlstands ein. Die Schrecken des Krieges waren einem Frieden gewichen, der durch die wachsende militärische Macht der USA gesichert wurde – die Pax Americana. Waren die Lebensbedingungen Mitte der 1940er-Jahre noch von Preiskontrollen und Rationierungen geprägt, so konnten sich in den 1960er-Jahren immer mehr Haushalte in den USA, Europa und Japan Fernsehgeräte, Kühlschränke und Autos leisten. Zwischen 1950 und 1955 kaufte mehr als die Hälfte der amerikanischen Haushalte einen Fernseher.4

Überall eröffneten sich neue Handelswege, da Nationalismus und Protektionismus dem Freihandel und den globalen Märkten wichen. Die Weltwirtschaft wuchs so schnell wie nie zuvor, was zu einem immer höheren Verbrauch an natürlichen Ressourcen führte. Dieser Zeitraum wurde als das Goldene Zeitalter des Kapitalismus bekannt.5 Weisser hatte verstanden, dass diese neue Welt für ein Unternehmen, dessen gesamtes Geschäft der internationale Handel war, nie da gewesene Möglichkeiten bot – niemals zuvor hatte ein Rohstoffhändler auf einer so globalen Leinwand malen können.

Er war nicht allein. Auf der ganzen Welt nutzte eine neue Generation von Rohstoffhändlern die Chancen, die sich durch die boomende Weltwirtschaft ergaben. In New York hatte Ludwig Jesselson, ein brillanter und ernsthafter junger Metallhändler, der vor dem Antisemitismus in Nazideutschland in die USA geflohen war, eine ähnliche Vision. Er führte sein Unternehmen, Philipp Brothers, zu einer derartigen Dominanz, dass es mit den größten Banken an der Wall Street konkurrierte und eine Familie von Handelsunternehmen ins Leben rief, die noch heute die globalen Rohstoffmärkte beherrscht.

In Minnesota war John H. MacMillan jr., ein Getreidehändler, der die Leitung seines Familienunternehmens übernommen hatte, fest entschlossen, dessen Geschicke zu wenden. Dieses Familienunternehmen, Cargill, wurde später zum größten Privatunternehmen Amerikas und machte MacMillans Nachkommen zu einigen der reichsten Menschen auf dem Planeten.

Diese drei Männer waren die Gründerväter der modernen Rohstoffhandelsbranche. Während sich ihre Vorgänger auf lokale Nischen konzentriert hatten, erkannten sie, dass die ganze Welt zu einem Markt wurde. Alles stand zum Verkauf; potenzielle Käufer waren überall. Jahrzehnte bevor „Globalisierung“ zu einem Modewort der Wirtschaft wurde, gründeten sie Unternehmen, die in allem mit Ausnahme des Namens darauf basierten. Als sich der internationale Handel ausweitete und zu einem zentralen Bestandteil der modernen Wirtschaft wurde, waren ihre Unternehmen die Wegbereiter, die den Handel mitgestalteten und gleichzeitig von ihm profitierten – und ein Geschäftsmodell schmiedeten, das die Rohstoffhandelsbranche für die kommenden Jahrzehnte prägen sollte.

In den nächsten 20 Jahren sollte sich der Rohstoffhandel von einem Kleingewerbe zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige der Weltwirtschaft entwickeln. Händler wie Weisser, Jesselson und MacMillan wurden zu Aushängeschildern der neuen Wirtschaftsordnung, die außergewöhnlichen Reichtum anhäuften und in Präsidentenpalästen auf der ganzen Welt als Herrscher über die natürlichen Ressourcen der Erde empfangen wurden.

Es war eine Revolution, die von Politikern und der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt blieb. Erst nach Jahrzehnten des ruhigen Wachstums wurde der Welt klar, wie zentral die Rohstoffhändler für die Weltwirtschaft geworden waren. Als in den 1970er-Jahren die Erkenntnis kam, zwang sie die reichsten Nationen der Welt in die Knie. Plötzlich wurde den politischen Entscheidungsträgern bewusst, dass die Rohstoffhändler – eine Gruppe, von deren Existenz sie kaum Notiz genommen hatten – eine beispiellose Macht über die Energie-, Metall- und Nahrungsmittelversorgung der Welt erlangt hatten.

Die Geschichte des Rohstoffhandels geht auf die Anfänge der Menschheit zurück, als die ersten sesshaften Menschen begannen, Steine und Metalle zu kaufen und zu verkaufen, vielleicht im Tausch gegen Getreide. Die Tendenz zum „Tauschhandel“ wird von Anthropologen als eine der Aktivitäten angesehen, die die Anfänge des modernen menschlichen Verhaltens kennzeichnen.6

Doch die ersten Rohstoffhandelsunternehmen, die den heutigen Händlern irgendwie ähneln, entstanden erst im 19. Jahrhundert. Über Jahrhunderte hinweg waren Scharen von Handelsabenteurern auf der Suche nach wertvollen Rohstoffen, die sie in ihrer Heimat verkaufen wollten, um die Welt gereist – die erfolgreichste von ihnen, die East India Company, beherrschte den indischen Subkontinent mehrere Jahrzehnte lang.

Mit der industriellen Revolution änderte sich jedoch der Handel mit Rohstoffen. Die Erfindung des Dampfschiffs bedeutete, dass der Fernhandel mit Rohstoffen erstmals nicht mehr von den Winden abhängig war. Die Kosten für den Gütertransport sanken jäh, sodass es rentabel wurde, nicht nur Tee, Gewürze und Edelmetalle über weite Entfernungen zu verschiffen, sondern auch geringwertige Güter wie Getreide und Erze. Und der Telegraf läutete eine Ära der nahezu sofortigen weltweiten Kommunikation ein. Im August 1858 wurde die erste Telegrafenlinie über den Atlantik eröffnet, wodurch sich die Zeit, die für die Übermittlung einer Nachricht von London nach New York benötigt wurde, von fast zwei Wochen auf wenige Minuten verkürzte.

Mit diesen technologischen Entwicklungen entstanden die ersten speziellen Rohstoffhandelsunternehmen. Im Nu entwickelten sich zahlreiche Firmen, die Metallschrott und Reststoffe an- und verkauften, die als Abfallprodukte des aufblühenden Industriezeitalters anfielen. Und Getreidehändler lieferten Lebensmittel an die wachsenden Metropolen voller hungriger Arbeiter.

Der Metallhandel des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in den industriellen Kernländern Europas und wurde von drei deutschen Unternehmen dominiert: Aron Hirsch & Sohn, Metallgesellschaft und Beer, Sondheimer & Co. Philipp Brothers, das Unternehmen, das Ludwig Jesselson später leiten sollte, ist aus dieser deutschen Tradition hervorgegangen. Sein Gründer Julius Philipp hatte 1901 von seiner Wohnung in Hamburg aus mit dem Handel begonnen und 1909 zog sein Bruder Oscar nach London, um Philipp Brothers zu gründen.

Die ersten Händler von Agrarrohstoffen waren eher verstreut, wobei verschiedene Unternehmen entstanden, die bestimmte Regionen oder Marktnischen beherrschten. In den Kornkammern der Welt wurden Getreidehandelsgesellschaften gegründet, die Weizen und Mais von den Bauernhöfen in die Städte transportierten. In den Vereinigten Staaten gehörte dazu auch Cargill, das gegründet wurde, als der Sohn eines schottischen Einwanderers 1865 sein erstes Getreidesilo eröffnete.

Während des Ersten und Zweiten Weltkriegs erlebte die Branche eine schwere Zeit. Ganze Handelsdynastien in Europa gingen verloren, und die dahinterstehenden Familien, von denen viele jüdisch waren, mussten vor der vorrückenden Naziarmee fliehen. Nicht alle kamen rechtzeitig heraus: Julius Philipp wurde in Holland gefangen genommen und starb 1944 in einem Konzentrationslager in Norddeutschland.

Als der Krieg zu Ende ging, eröffnete sich für die Rohstoffhändler ein neuer Horizont an Möglichkeiten. Die zerstörten Städte Europas und Asiens mussten wieder aufgebaut werden – und dazu brauchte man Stahl, Zement und Kupfer. Der Handel mit natürlichen Ressourcen, der von den Regierungen während des Krieges streng kontrolliert worden war, wurde im neuen Friedenszeitalter langsam liberalisiert. Und die Dominanz der USA auf der Weltbühne läutete eine neue Ära des Wachstums und der offenen Märkte ein.7

Die Pioniere des Rohstoffhandels stammten aus sehr unterschiedlichen Verhältnissen: MacMillan war in eine wohlhabende Familie im Mittleren Westen der USA hineingeboren worden, Jesselson war der Sohn eines Kaufmanns aus Süddeutschland und Weisser war in einer bürgerlichen Familie in Hamburg aufgewachsen. Was sie jedoch gemeinsam hatten, war ein Instinkt für Internationalität und die Bereitschaft, auf der Suche nach neuen Möglichkeiten die Welt zu bereisen. Nach dem Krieg machten sie sich daran, ihre Firmen zu wahrhaft internationalen Unternehmen auszubauen, profitierten von der Globalisierung der Weltwirtschaft und gestalteten diese mit.

Das bedeutete, dass sie sich eine Einstellung zu eigen machten, die viele ihrer Nachfolger in der Rohstoffhandelsbranche auch heute noch vertreten: überall hingehen und die Politik und in vielen Fällen auch die Moral beiseitelassen. Sie handelten sowohl mit kommunistischen als auch mit kapitalistischen Ländern, mit raffgierigen einheimischen Geschäftsleuten oder Regierungsbürokraten – das Ziel war es, Profit zu machen. Wie einer der frühen Händler von Philipp Brothers es ausdrückte: „Eine der Grundregeln von Philipp Brothers ist, dass das Geschäft oberste Priorität hat; politische Angelegenheiten sind keine Geschäfte.“8

Von den drei Männern war Ludwig Jesselson derjenige, der am meisten den weltumspannenden Ansatz der frühen Händler verkörperte. Mit seinem stechenden Blick, der seinen scharfen Intellekt unterstrich, war Jesselson 1937 in die USA gekommen, um dem in Europa grassierenden Antisemitismus zu entkommen. Schon bald bekam er einen Job als Schrotthändler bei Philipp Brothers in New York und auch wenn seine noch junge Karriere durch den Zweiten Weltkrieg auf Eis gelegt wurde, blieb sein Ehrgeiz ungetrübt.

Im Jahr 1946, als er bereits leitender Händler bei Philipp Brothers war und das Unternehmen zu einem globalen Unternehmen ausbauen wollte, brach er zu einer Weltreise auf. In den Verwüstungen, die der Krieg hinterlassen hatte, sah der damals 36-jährige, vor Energie sprühende Jesselson nur eine Chance. Von New York aus reiste er nach Japan und Indien, Ägypten, Deutschland und Jugoslawien. Das war Jahre, bevor geschäftliche Flugreisen über Kontinente hinweg alltäglich wurden, und die Flüge waren unregelmäßig, lang und holprig.

Aber Jesselson ließ sich durch ein wenig Unbehagen nicht aus der Ruhe bringen. Von einem Kollegen als „treibende Kraft von Philipp Brothers“ bezeichnet, hatte er größtes Vertrauen in seine Überzeugung vom bevorstehenden Wirtschaftsboom.9 Er stellte Dutzende von neuen Händlern ein und eröffnete Niederlassungen auf der ganzen Welt.

Mit seiner Glatze, seiner unbändigen Energie und dem intensiven Blick hinter seiner dickrandigen Brille flößte Jesselson seiner Gruppe junger Händler Respekt und Ergebenheit ein. „Wir alle sahen Jesselson als Vaterfigur, als jemanden, der jungen Menschen eine Chance gab“, sagt David Tendler, der unter seiner Führung aufstieg und Philipp Brothers in den 1970er- und 1980er-Jahren leitete.10

Unter Jesselson, der 1957 die Leitung des Unternehmens übernahm, entwickelte sich Philipp Brothers von einem mittelgroßen Schrott- und Erzhändler mit etwa 50 Mitarbeitern zum weltweit führenden Metallhändler. Und die DNA des Unternehmens wurde von einer Generation von Rohstoffhändlern an die nächste weitergegeben, sodass eine Familie von Handelsunternehmen entstand, die noch immer die globale Rohstoffindustrie bestimmt.

Ebenso wie Weisser im Erdölgeschäft leistete Jesselson Pionierarbeit im Metallhandel mit der kommunistischen Welt. Eine erste Beute war Jugoslawien, wohin er 1946 auf seiner Weltreise gekommen war. Philipp Brothers sicherte sich einen Vertrag mit dem staatlichen Metallmonopol Jugometal über den Verkauf der gesamten Metallproduktion und verband damit die sozialistische Regierung Titos mit dem kapitalistischen Amerika.11 Im Jahr 1950 waren das Metalle im Wert von 15 bis 20 Millionen Dollar pro Jahr – mehr als der gesamte Umsatz des Unternehmens nur wenige Jahre zuvor.12

Ende der 1950er-Jahre kaufte Philipp Brothers auch Ferrolegierungen aus der Sowjetunion und Roheisen aus Ostdeutschland. Im Jahr 1973 konnte sich das Unternehmen in seinem Jahresbericht rühmen, dass es „seit vielen Jahren einen bedeutenden Handel mit der Sowjetunion sowie mit anderen osteuropäischen Ländern betrieben hatte“. Infolgedessen gehörte es zu den ersten zehn amerikanischen Unternehmen, die in Moskau Niederlassungen eröffnen durften.13 Die Händler versorgten sogar die US-Militärbestände mit dem Metall ihrer Gegner aus dem Kalten Krieg. Für Jesselson waren die politischen Auswirkungen irrelevant: Wichtig war nur, dass es sich um ein profitables Geschäft handelte.

John H. MacMillan jr. kam aus einer anderen Welt als Jesselson – er war mehr als zehn Jahre älter und war in einer wohlhabenden Familie schottischer Herkunft im Mittleren Westen aufgewachsen. Aber die beiden Männer teilten eine Leidenschaft für das Handelsgeschäft und eine unermüdliche Energie, die jeden erschöpfte, der versuchte, mit ihnen Schritt zu halten.

MacMillan – allen als John Junior bekannt – wurde in den Rohstoffhandel hineingeboren. Sein Vater hatte vor ihm Cargill geleitet und seine Ausbildung fand auf dem Parkett der Handelskammer von Minneapolis statt, wo sich die Händler gegenseitig Bestellungen zuschrien. Es war eine harte Schule, aber eine unerlässliche: Bei Cargill gab es keine größere Beleidigung, als als „Geschäftsmann“ und nicht als „Händler“ angesehen zu werden.

Stets adrett gekleidet, mit kantigem Kiefer und gepflegtem Schnurrbart, sah er aus wie das Oberhaupt eines Familienunternehmens. Doch hinter seiner Gelassenheit aus dem Mittleren Westen verbarg sich ein umtriebiger Geschäftsmann mit einer kreativen Ader. Er war ein „enorm ruheloser Mensch, der ständig erfand und schuf“, wie sein Sohn über ihn berichtet. „Für meinen Vater kam die Firma an erster Stelle, noch vor der Familie.“14

In den frühen 1950er-Jahren erkannte er, dass das Unternehmen eine neue Ausrichtung brauchte. Cargill war ein abgeschottetes Unternehmen, das sich auf den US-Markt konzentrierte und einen Boom im internationalen Handel verpasste. „Wir sind alle furchtbar aufgeregt darüber, dass wir das große Exportgeschäft verpassen“, sagte MacMillan seinen leitenden Angestellten.15