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Dieses Buch analysiert die Warensprache der Kulturindustrie mittels kritischer Theorie. Das Interesse gilt der theoretischen Erneuerung der Kulturindustrie-Thesen der Frankfurter Schule. Dieter Prokop wirft der kritischen Theorie der Kulturindustrie vor, dass sie ihr eigenes Programm nicht einlöste. Er behauptet, dass die wichtigsten Dimensionen einer neuen Kritik der Kulturindustrie nicht in den Stücken Horkheimers und Adornos zu finden sind, die sich explizit mit Kulturindustrie befassen. Seine Theorie der Kulturindustrie baut auf anderen, entscheidenden Theoriefeldern der kritischen Theorie auf: Identisches und Nichtidentisches, Abstraktion und Produktivkräfte in der Warenstruktur, Positivismuskritik und Theorie kritischer Erfahrung. Prokops Kritik will an der Kulturindustrie nicht nur das Identische kritisieren, sondern sensibel für das Nichtidentische sein. Sie will über der Kritik am »Denken in abstrakter Allgemeinheit« die kreativen Kräfte nicht vergessen, die es in der Kulturindustrie gibt, und sie will nicht nur den »Kult des Faktischen« kritisieren. Das Buch arbeitet die auch in der Kulturindustrie präsenten Potenziale für ein kritisches Bewusstsein heraus. Das Buch kritisiert auch die übliche Verdammung der Waren und des »Warencharakters«. Es untersucht im Nichtidentischem der Waren materielle Freiheitschancen, kreative Waren-Strategien.
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Seitenzahl: 515
Veröffentlichungsjahr: 2017
THEORIE DER KULTURINDUSTRIE
DIETER PROKOP
Dieter Prokopist Professor em. für Soziologie an der Goethe-Universität in Frankfurt.
Bearbeitete Neuausgabe des Titels »Mit Adorno gegen Adorno. Negative Dialektik der Kulturindustrie«, Hamburg 2001
© 2017 Dieter Prokop
Coverillustration, Layout und Satz: Oliver Schmitt, Mainz
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN 978-3-7345-9891-3 (Paperback)
ISBN 978-3-7345-9892-0 (Hardcover)
ISBN 978-3-7345-9893-7 (e-Book)
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Die Kritik der Kulturindustrie von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno aufzunehmen ist notwendig, weil sich ihre Theorie für das Schicksal des erfahrenden und erkennenden Subjekts interessierte, für die ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen Grundlagen der Autonomie des Subjekts.
»Subjekt«,das kann eine Person sein, eine Gruppe, eine Bevölkerungsmehrheit. Sofern man eine Person meint, wäre es falsch, zu glauben, es ginge beim Subjekt um ganz individuelle Erfahrungen. Das Subjekt geht nicht in der individuellen Erfahrung auf. Denn:
1. Subjekt sind wir erst, wenn wir unsere Erfahrungen objektivieren.
2. Das Subjekt ist immer zugleich Objekt,denn es geht aus gesellschaftlichen Verhältnissen hervor.
Hier könnte man fragen:Warum ist hier nicht vom Individuum und von »Individualisierung« die Rede? Schließlich spricht ein großer Teil der Soziologie vonnichts anderem. Sind wir nicht alle individualisiert? Erhalten wir nicht punktgenau auf Zielgruppen, soziale Milieus und Lifestyles hin individualisierte Waren und Medienprodukte?
Antwort:»Individualisierte« Angebote und deren »individualisierte« Selektion schaffen keine autonomen Subjekte, sondern konformistische Konsumenten, die glauben, sie seien individualisiert, wenn ihnen geringfügige Variationen von geringfügigem Konsum »nach Lust und Laune« möglich sind. »Individualisierung« ist in Wirklichkeit Herrschaft von Waren-Anbietern. Und in der Soziologie ist »Individualisierung« ein Begriff, mit dem die profitorientierte Marktsegmentierung von Konsumenten in soziale Milieus und die flexibilisierte Niedriglohnarbeit schöngeschrieben wird. Auch für die flexibilisierten Niedriglohnarbeiter hat man einen schöneren Begriff, man nennt sie »lebensweltliche Reproduktionseinheiten des Sozialen«. (Beck 1986, S. 206)
Autonome Subjekte sind nicht »individualisiert«. sondernindividuiert.
»Sich für das Schicksal des Subjekts interessieren«,bedeutet, zu untersuchen, wie frei, wie autonom eine Person, Gruppe, Bevölkerungsmehrheit angesichts der historisch gegebenen Machtstrukturen von Wirtschaft, Politik, Gesellschaft ist oder sein kann oder sein könnte. Adorno schrieb dazu:
»Zum Subjekt wird das Individuum, insofern es kraft seines individuellen Bewusstseins sich objektiviert, in der Einheit seiner selbst wie in der seiner Erfahrungen; Tieren dürfte beides versagt sein. Weil sie in sich allgemein ist, und so weit sie es ist, reicht individuelle Erfahrung auch ans Allgemeine heran.« (1966a, S. 52)
Mit »dem Allgemeinen« ist gemeint, dass sich im Subjekt die Achsen von wirtschaftlichen, politischen, sozialen Machtstrukturen schneiden – und Freiheiten. Unautonom ist das Subjekt, wo es nur reaktiv handeln kann. Autonomie ist also nichts, was das Subjekt sich selbst idealistisch-konstruktivistischpostmodern gewähren könnte, indem es »aktiv« Warenangebote konsumiert. Adorno:
»Ob Autonomie sei oder nicht, hängt ab von ihrem Widersacher und Widerspruch, dem Objekt, das dem Subjekt Autonomie gewährt oder verweigert; losgelöst davon ist Autonomie fiktiv.« (1966a, S. 220)
Wo die Machtstrukturen keine Freiheit gestatten – die man erkämpfen muss –, ist das Subjekt nicht frei – oder gar nicht vorhanden. Letzteres war das Thema derDialektik der Aufklärung(Horkheimer und Adorno 1944), in der es um die Frage ging, warum das Subjekt-Werden des Menschen in der Geschichte – durch die Unterwerfung der Natur und durch instrumentelles Denken und Identifizieren – dazu führte, dass in heutigen Zeiten – in denen die Produktivkräfte ein besseres Leben für alle ermöglichen könnten – die Bevölkerungen nicht als autonome Subjekte auftreten, die eine vernünftige Gesellschaftsordnung durchsetzen. In diesem Kontext haben Horkheimer und Adorno auch gefragt, wie unfrei die Kulturindustrie das Subjekt macht. Diese Richtung ihres Erkenntnisinteresses ist richtig. Nicht richtig ist, dass sie Kulturindustrie pauschal als Subjekt-unterdrückend identifizierten.
(Zum Verhältnis von Subjekt und Objekt:Adorno 1966a, S. 183 ff.;über »Individualisierung«:Adorno 1951, Nr. 97, S. 195 ff., Nr. 99, S. 201 ff.;Theorie des Subjekts:Ritsert 2001; Weyand 2001)
Fast alle wissenschaftliche Richtungen – die Systemtheorie der Luhmann-Schule, der Konstruktivismus der Postmodernen, die Kommunikationstheorie der Habermas-Schule, die Cultural Studies – fallen über das Interesse der kritischen Theorie am Subjekt mit Wut her, sie tun es als »alteuropäische Bewusstseinsphilosophie« oder »traditionalistische Subjektphilosophie« ab, sie erklären das Subjekt für überflüssig, nicht neuzeitlich, obsolet etc.
Jürgen Habermas erhebt gegen Horkheimer und Adorno den Vorwurf, »Subjektphilosophie«, »Bewusstseinsphilosophie« zu sein (1981a, Bd. 1, S. 490, 517 ff.;Kritik:Rademacher 1993, S. 36 ff.). Habermas schreibt:
»Die subjektzentrierte Vernunft findet ihre Maßstäbe an Kriterien von Wahrheit und Erfolg, die die Beziehungen des erkennenden Subjekts zur Welt möglicher Objekte oder Sachverhalte regulieren.« (1985a, S. 366)
Tatsächlich hat die kritische Theorie Horkheimers und Adornos diesen Maßstab. Dennoch geht der Vorwurf, das sei »Subjektphilosophie«, an der kritischen Theorie vorbei, denn das wäre sie nur, wenn sie das Subjekt idealisieren würde. Sie versucht jedoch, die idealistische Hybris, die Selbstüberhebung des Subjekts durch Rückbezug auf die Mechanismen von Macht und Tausch kritisch-materialistisch aufzulösen. Habermas – ohnehin ein oberflächlicher Leser der Texte Adornos (Rademacher 1992, S. 108 f.) – unterstellt, dass die kritische Theorie ausschließlich vom einsam erkennenden Subjekt ausgehen, was Horkheimer und Adorno als kritische Materialisten nicht tun.
Die Postmodernen und Konstruktivisten postulieren am Subjekt, dass der »aktive Mensch« im Mittelpunkt stehe, ein anthropologisch neuer Menschentyp, der, wie schon angedeutet, alles unterschiedslos konsumiert, weil er Qualitätsurteile für politisch unkorrekt hält. In all seiner »Aktivität« sucht er (angeblich) nur eins: Anschluss. Auch die Systemtheorie hält den »Anschluss« von Institutionen und Personen an »Systeme« für den Sinn des Ganzen.
Wissenschaftliche Analyse darf jedoch den Anspruch der Wahrheitssuche keinem systemfunktionalen »Anschluss« unterordnen. Die kritische Theorie verweigert sich. Auch dort, wo sie Kulturindustrie als totalen Manipulationsapparat kritisiert (was ich für falsch halte), tut sie das mit dem Interesse, darzustellen, was der Gesellschaft, den Künstlern und Journalisten und den Konsumentenals Subjektenverloren geht(was ich für richtig halte).
Das Subjekt muss man in den Mittelpunkt der Analyse stellen, weil es notwendig ist, dieNicht-Qualitätbzw. Qualitätvon Kulturindustrie zu erörtern. Das kann man nicht in der Frage aufgehen lassen, ob das Kulturindustrieprodukt »Anschluss« bringt oder »den Anderen einbezieht«. Funktionalität ist noch keine Qualität. »Qualität« ist die Möglichkeit, ein richtiges Leben zu führen.
Wissenschaft muss sich für freiheitliche Gesellschaften und freiheitliche Kultur – auch freiheitliche Kulturindustrie – interessieren. Warum? Weil reale Autonomie der Subjekte besser ist als der opportunistische »Anschluss« an das, was den Reichen und Mächtigen nützt; weil Freiheit und Demokratie besser sind als Unfreiheit und Unterordnung.
Was ist Kulturindustrie? Horkheimer und Adorno sprachen zunächst von »Massenkultur«. Im Exil in Pacific Palisades bei Los Angeles, nicht weit von Hollywood, erschienen in ihren Schriften die Wörter »cultural industries« und »amusement industry«, schließlich »Kulturindustrie«, vielleicht, weil sich alle die Film-, Radio- Schallplatten- und später Fernsehleute im Großraum Los Angeles »the industry« nannten, was sie bis heute tun.
(»Massenkultur«:Adorno 1942; Horkheimer 1941, aber auch noch: Adorno 1955b, S. 190;»amusement industry«:Horkheimer 1941, engl. Original S. 303 f.;»Kulturindustrie«:Horkheimer und Adorno 1944)
Horkheimer und Adorno bezeichneten mit »Kulturindustrie«:
1.die kommerziellen Massenmedien und deren oligopolkapitalistische Produktionsbedingungen:Medienkonzerne und ihre kommerziell erfolgreichen Produkte. Kulturindustrie umfasste für Horkheimer und Adorno das Radio, in dem damals noch die Seifenopern liefen, Vorläufer der heutigen Fernsehserien; den Hollywood-Film (oft auch »den Film«); die Unterhaltungsmusik, die Jazz-Tanzmusik; den Klassik-Musikbetrieb; die Illustrierten; die Comics und Zeichentrickfilme; später das Fernsehen.
»Kulturindustrie«, das sind die Mainstream-Medien:die erfolgreichsten Produkte der Medienkonzerne. Es gibt sie heute wie damals. Heute gehören das interaktive Multimedia und das Internet dazu, letzteres dort, wo es kommerziell betrieben wird und das Angebot zum Mainstream gehört. Auch vieles am öffentlich-rechtlichen System ist Kulturindustrie, denn auch da gibt es Mainstream: die Fernsehserien, die Talkshows, die Unterhaltungsshows, die Versuche, Politik populär zu vermitteln. Alles kein Verbrechen. Sondern Mainstream.
KeineKulturindustrie sind Kulturmagazine im öffentlich-rechtlichen Fernsehen oderdie tageszeitung:Sie sind kein Mainstream. Es gibt sie, doch bedeutet ihre Existenz nicht – wie Rainer Erd behauptet (1989, S. 227 f.) – dass es Kulturindustrie heute nicht mehr gibt. Es gibt Kulturindustrie, solange es den Mainstream gibt.
Horkheimers und Adornos Kulturindustrie-Theorie interessierte sichnichtnurfür die Produkte, die Werke, und sie gingnicht,wie ihr oft unterstellt wird, davon aus, dass die Produkte selbst einen manipulativen Einfluss haben. Folgendes Zitat zeigt das:
»Musik, mit all den Attributen des Ätherischen und Sublimen, die ihr freigiebig gespendet werden, dient wesentlich nur noch der Reklame von [d. h. für] Waren, die man erwerben muss, um Musik hören zu können.« (Adorno 1938, S. 330, [ ] hinzugefügt)
»Reklame für Waren«: Die Kulturindustrie-Theorie interessierte sich zwar für das Manipulationsinteresse, damit aberfür den Gesamtzusammenhang,in den die Produktion und Konsumtion der Medien eingespannt ist.
Heinz Steinert lehnt es ab, Kulturindustrie unter der Rubrik Mediensoziologie zu behandeln. (1998, S. 9) Das hängt davon ab, ob man Soziologie positivistisch versteht oder supradisziplinär mit Bezug auf das Ganze von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Die kritische Medienforschung, die ich vertrete, ist alles zusammen: kritische Soziologie, Theorie der Kulturindustrie, Medienökonomie, Mediensoziologie. Es geht immer um das Ganze der Medien und der Gesellschaft.
(Zur supradisziplinären Rolle der Soziologie:Adorno 1969b, S. 67, Fußn. 60)
Horkheimer und Adorno verstanden unter »Kulturindustrie außerdem:
2.durch Kulturindustrie »deformierte« Kultur und Kunst:In diesem Sinn kann man, wie Steinert das tut, jede Form von kommerzialisierter Kultur als Kulturindustrie verstehen. (1998, S. 9)
3.den Bereich der Konsumgüter:Der späte Adorno sprach auch von der »Konsumgut- und Kulturindustrie«. (1965a, S. 242)
4.die herrschende Ideologie– heute nennt man das in den Cultural Studies »hegemoniale Kultur« –, wie sie aus ökonomischen Herrschaftsverhältnissen, der Notwendigkeit der Anpassung an das Berufsleben entsteht. Adorno nannte das auch »organisierte Kultur«. Dazu gehören auch kulturelle Institutionen, die man auf den ersten Blick nicht dazu rechnen würde, wie die Psychoanalyse. Sie sei, sagte Adorno, »fertig gelieferte Aufklärung«, die aus spontanen Reflexionen und schmerzlicher individueller Geschichte »geläufige Konventionen« macht, also ihre Kunden an die Gesellschaft anpasst. (1951, Nr. 40, S. 78) Ob diese Anpassung empirisch wirklich so geschieht, wurde selten erörtert.
Die Theorie der Kulturindustrie vertritt kein Elite-Theorem. »Kultur«– da sollte nicht die Unterscheidung von hoher versus niederer Kultur, highbrow versus lowbrow, Elite versus »Masse« draufgesetzt werden. Ich halte es lieber mit Max Horkheimer:
»Abstrakte Bestimmungen der höchsten Werte haben sich stets mit der Praxis von Scheiterhaufen und Guillotine vertragen. Eine Erkenntnis, die sich wirklich um Werte kümmert, hält nicht nach höheren Sphären Ausschau. Sie sucht vielmehr die Kulturheuchelei ihrer Zeit zu durchdringen, um hinter ihr die Züge einer enttäuschten Menschheit freizulegen. Werte sind nur so zu erschließen, dass man die historische Praxis aufdeckt, die sie zerstört.« (1941, S. 433)
Auch Adorno hat stets gegen das geistige Klima argumentiert, das das Höhere, Geistvolle idealistisch vom Niederen, Materiellen abgrenzt. (Alfred Schmidt 2002, S. 91 ff.)Daswar das Programm der Kritik der Kulturindustrie.
Gegenüber der Frankfurter Schule wird oft der Vorwurf erhoben, ihreKulturindustrie-Kritik sei elitär, highbrow, »hochgezüchtet«, ein »Elitekultur-Theorem« etc. Das ist falsch. In seiner Antrittsrede 1931 als Direktor des Instituts für Sozialforschung – in dem damals die kritische Theorie entwickelt wurde – fasste Horkheimer unter Kultur »nicht nur die sogenannten geistigen Gehalte der Wissenschaft, Kunst und Religion […], sondern auch Recht, Sitte, Mode, öffentliche Meinung, Sport, Vergnügungsweisen, Lebensstilu. s. f.« (1931, S. 32) Es ging Horkheimer und Adorno nicht darum, die hohe, bürgerliche Kultur zu retten, sondern – inDialektik der Aufklärung– um die These, dass die Kulturindustrie, mit ihrer klassifikatorischen Anhäufung von Verkaufswerten, dieFortsetzungder schlechten Tendenzen der »hohen«, bürgerlichen Kultur ist. Adorno kritisierte als Anti-Aufklärung nicht nur die Kulturindustrie, sondern auch Wagner und Strawinsky, auch hier sah er Verrat an der Aufklärung. Außerdem hat er stets argumentiert, dass auch die Elemente der »niederen« Kultur – »Reiz, Subjektivität und Profanität, die alten Widersacher der dinghaften Entfremdung« – durch Kommerzialisierung der dinghaften Entfremdung verfallen. (1938, S. 324) Und inMinima Moraliathematisierte eran aller Kulturderen weltgeschichtliche Fatalität, unausweichliche Verblendung:
»Der Doppelcharakter des Fortschritts, der stets zugleich das Potenzial der Freiheit und die Wirklichkeit der Unterdrückung entwickelte, hat es mit sich gebracht, dass die Völker immer vollständiger der Naturbeherrschung und gesellschaftlichen Organisation eingeordnet wurden, dass sie aber zugleich vermögedes Zwangs, den Kultur ihnen antat,unfähig wurden, das zu verstehen, womit Kultur über solche Integration hinausging.« (1951, Nr. 96, S. 195, Kursivierung hinzugefügt)
Das zeigt, dass Adorno keineswegs »Kultur« als etwas idealisierte, das durch »Industrie« erst zum Bösen wird. Hier wird »Kultur« selbst als repressiv angesehen – der frühe Horkheimer hätte hier, statt von »Zwang« und »Integration«, von den Kerkern und Scheiterhaufen gesprochen, die Kultur stets begleiteten. Adorno sah »Kultur« dialektisch in ihrem Doppelcharakter, sie enthält sowohl Zwang als auch Menschliches:
»Fremd ist den Menschen das Menschliche an der Kultur geworden, das Nächste, das ihre eigene Sache gegen die Welt vertritt.« (1951, Nr. 96, S. 193)
Schuld daran sind auch die Menschen, sie sind eigentümlich verbohrt:
»Sie machen mit der Welt gemeinsame Sache gegen sich, und das Entfremdetste, die Allgegenwart der Waren, ihre eigene Herrichtung zu Anhängseln der Maschinerie, wird ihnen zum Trugbild der Nähe.« (Ebd.)
Diese »unausweichliche Verblendung« sei stets von den »Lakaien des Bestehenden« ausgenutzt worden:
»Von solcher unausweichlichen Verblendung haben zu allen Zeiten städtischer Zivilisation Lakaien des Bestehenden parasitär existiert: die spätere attische Komödie, das hellenistische Kunstgewerbe sind schon Kitsch, auch wenn sie noch nicht über die Technik der mechanischen Reproduktion und jene industrielle Apparatur verfügen […]« (A. a. O., S. 194)
Dann allerdings flippte Adorno in dieserMinima Moralia-Passage völlig aus, mit einem rhetorischen Rundschlag gegen alle Unterhaltung, von Lederstrumpf bis Hollywood:
»Liest man hundert Jahre alte Unterhaltungsromane wie die Coopers, so findet man darin rudimentär das ganze Schema von Hollywood. Die Stagnation der Kulturindustrie ist wahrscheinlich nicht erst das Resultat ihrer Monopolisierung, sondern war der sogenannten Unterhaltung von Anbeginn an eigen.« (A. a. O., S. 194)
Und der Essay endet mit dem Satz: »Die Subjektlosen, kulturell Enterbten sind die echten Erben der Kultur.« (A. a. O., S. 195) Auch später schimpfte Adorno ungeniert über die von totalitären Regimes oder Riesenkonzernen gesteuerte »Massenkultur, die die Menschen zu bloßen Empfangsapparaten, Bezugspunkten von conditioned reflexes reduziert und damit den Zustand blinder Herrschaft und neuer Barbarei vorbereitet.« (1955b, S. 190)
Also doch ein »Elite-Theoriem«? Nein, deshalb nicht, weil es dabei nicht um den Gegensatz von hoher und niederer Kultur geht, sondern um den vonguter und schlechter Qualität.Schlechte Qualität gibt es in der hohen wie der niederen Kultur. Mist ist Mist, ob es eine ungekonnte Zeichnung von Goethe oder eine schlampige Talkshow von Harald Schmidt ist. Wer das ausspricht, vertritt kein »Elite-Theorem«.
Was Adorno allerdings ignorierte, war, dass es auchin der KulturindustrieQualität gibt. Qualität ist Qualität, ob es ein Gemälde von Dürer oder ein Videoclip von Michael Jackson ist.Auch in Bezug auf Kulturindustrieist die Unterscheidung von Qualität notwendig. Wer das – wie Adorno – ignoriert, vertritt kein Elite-Theorem, sondern analysiert die Kulturindustrie nicht genau genug.
Kritik macht keinen Sinn, wenn man nicht klärt, warum man überhaupt Subjekt sein soll; warum man sich nicht konformistisch anpassen soll. Aus einem einfachen Grund: Weil man nur als Subjekt objektive Qualität überhaupt erkennen, produzieren, konsumieren kann. Qualität ist etwas Objektives, Adorno beharrte darauf:
»Geistige Gebilde haben objektive Qualität, ihren objektiven Wahrheitsgehalt.« (1963c, S. 345) Und: »Immerhin, wer überhaupt einmal den Unterschied zwischen einem Stück, das etwas ausdrückt und einem, das sich anbiedert; zwischen einem, das die Konsequenzen seiner Voraussetzungen zieht, und einem, das die Konsequenz abbiegt; zwischen einem, das über die Mittel selbständig verfügt, und einem, das erprobte Wirkung imitiert – wer solche Unterschiede überhaupt einmal wahrgenommen hat und zugesteht, der gesteht damit auch die Möglichkeit objektiver Unterscheidung zu.« (A. a. O., S. 346)
Ich füge hinzu: Objektive Qualität, »Konsequenz« gibt es auch in guten Fernsehkrimis, Unterhaltungsshows, Hollywoodfilmen, im Fernsehjournalismus etc. Nicht nur »Intellektuelle« können jene erkennen, sondern auch das Medienpublikum. So weit ging Adorno nicht.
Natürlich ist »Qualität« kein unproblematischer Begriff. Er kann zu viel Falschem führen, zur Fetischisierung von »Differenz« und Einzigartigkeit, damit zu elitären Ansprüchen, nach welchen Qualität nur wenigen Reichen oder Gebildeten zugänglich sein könne. Selbst wenn es richtig ist, dass Qualität nicht allen zugänglich sein kann – wobei man dieses »kann« in Frage stellen muss –, enthält der Begriff auch die Tatsache bzw. Möglichkeit, dass auch Bevölkerungsmehrheiten erfahren, erkennen und darüber debattieren können, was gut oder schlecht ist, richtig oder falsch. Sie tun es.
Im Begriff ist auch die Möglichkeit enthalten, dass die Bevölkerung die Qualitätsfrage in sozialen Bewegungen, im Parlament und in öffentlich-rechtlichen Organisationsformen artikulieren kann bzw.können sollte, und wenn nicht selbst, dass zumindest Journalisten und Künstler das tun können bzw.können sollten. Sie tun es.
Die Postmodernen verfolgen eine andere Strategie, sie drehen den Spieß einfach um, sie lehnen diese obsolete, »alteuropäische« Kulturkritik ab und rufen alles, jeden Medien-Mist einfach zur »Kultur« aus, alles »Populäre« ist für sie »Kultur«. Diese ungemein demokratisch und politisch korrekt auftretende Position findet sich bei Cultural Studies, Konstruktivismus und Systemtheorie.
(Konstruktivismus:Faßler 2001; Maresch und Werber 1999; Rusch und Schmidt 1995; 1999; Siegfried J. Schmidt 2000; Stefan Weber 1996;Cultural Studies:Göttlich und Winter 2000; Hepp 1999; Hepp und Winter 1997;Systemtheorie:De Berg und Schmidt 2000; Luhmann 1996;Kritik der drei Ansätze:Prokop 2007)
Die Postmodernen leugnen alle Qualität. Sie übernehmen die Marotte der Philologen, alles »Text« oder »Sprachspiel« zu nennen und behaupten, es gebe keine »letzte Einheit des Textes«. (Fiske 2000, S. 59) Sie propagieren in der Medienwissenschaft einen Anti-Essenzialismus, Relativismus, Kontextualismus – und Irrationalismus. Sie glauben an flexible »Aktanten« – so nennen sie die Konsumenten –, die selbst aus den schlechtesten Medienprodukten in ihrer Fantasie das Beste machen und an Bricolage, Pastiche, Patchwork und Abgrenzung in Subkulturen viel Vergnügen haben. Systemtheoretiker halten »das System« selbst für einen Aktanten, der noch – oder gerade? – in den schlechtesten Medienprodukten nützliches Material findet, um sich selbst zwecks Selbstreproduktion, Autopoiesis, zu beobachten. Der Hinweis derkritischenMedienforschung aufobjektivschlechte Produkte der Kulturindustrie macht die Vergnügens-Wissenschaftler der Cultural Studies missvergnügt, weshalb sie den kritischen Wissenschaftlern – die sie als »Kritikerindustrie« diffamieren (Fiske 2000, S. 63) – entgegen halten, gut von schlecht, richtig von falsch zu unterscheiden, sei undemokratisch. Kritiker seien »anmaßend«, So schreibt der spätpostmoderne Andreas Dörner,
»[Horkheimer und Adorno] maßen sich an, die falschen und die richtigen Bedürfnisse der Massen zu kennen. Dies aber kommt letztlich einer Elitendiktatur gleich, in der ›Philosophenkönige‹ vorschreiben, was die ›wirklichen‹ Bedürfnisse des Volkes sind.« (2001, S. 80, [ ] hinzugefügt)
Dagegen ist zu sagen:
1. Dass verseuchte Nahrung falsch und unverseuchte richtig ist, kann auch ein Postmoderner nicht leugnen. Wer unverseuchte Nahrung will, hat einrichtigesBedürfnis, und wer glücklich verseuchte Nahrungsmittel isst, hat einfalschesBedürfnis. Also gibt es objektiv richtige und falsche Qualitäten und Bedürfnisse.
2. Es ist seltsam, dass gerade die postmodern so Korrekten, Sensiblen, die wieder von »Volk« – »the people« – sprechen, sich immer nur vorstellen können, dass die Bevölkerung nur die Wahl hat, entweder relativistisch alles zu akzeptieren oder von Diktatoren oder Königen beherrscht zu werden. Die Postmodernen ignorieren, dass die Bevölkerungdemokratisch debattieren und dann selbst entscheidenkann – oder können sollte –, was falsch und was richtig ist.
Das demokratische Debattieren ist jedoch das, was die Postmodernen eliminieren wollen. Sie tun das stets mit dem Argument, wer nach objektiver Qualität suche, könne Andersdenkenden »ein Unrecht zufügen«. (Lyotard 1989, S. 9) Deshalb plädieren sie dafür, lieber gar keine Meinung zu haben –was aber heißt, dass man die marktgängige oder sonstwie dominante Meinung akzeptiert.
Das ist nicht so unpolitisch wie es tut. Die »Politik des Vergnügens«, die die Cultural Studies propagieren (Göttlich und Winter 2000), ist eine »Politik des verkappten Elitismus«, konservative Politik, die von Meinungsfreiheit, Öffentlichkeit, mündigen Bürgern nichts hält. Statt dessen werden »Identität durch Anschluss und Orientierung« idealisiert.Dasist undemokratisch. Relativiert wird damit das Menschenrecht auf freie Meinungsbildung und Meinungsäußerung – und dazu gehören öffentliche Debatten. Adorno sprach von der befreiten Gesellschaft, Willy Brandt von »Mehr Demokratie wagen«. Die Postmodernen mögen das nicht.
Die kritische Theorie ist wichtig, weil sie die politischen, ökonomischen, sozialen Gesamtzusammenhänge beachtet. Das ist nicht selbstverständlich. In der Soziologie werden die materiellen Rahmenstrukturen oft ignoriert, vor allem von den Positivisten.
»Die Postmodernen«, »die Positivisten« – solche Unterscheidungen sind notwendig. Das sind keine Schlagworte. Es geht auch nicht um Vorurteile. Hier geht es um wissenschaftliche Positionen, Denkweisen, Verfahrensweisen. Diese sind sowohl allgemein benennbar als auch intersubjektiv nachvollziehbar, und ebenso ist eine Kritik an »den Positivisten« intersubjektiv nachvollziehbar.
(Positivismuskritik:Horkheimer 1937; Adorno et al. 1969a)
»Positivismus«,das war im frühen 19. Jahrhundert – ausgehend von Auguste Comte, dem Namensgeber der Soziologie, ein Propagandabegriff, der sich vom »Negativismus« des kritischen Denkens absetzen wollte. Das gesellschaftlich Faktische sollte so hingenommen werden, wie man Naturgesetze als unabänderlich hinnimmt. Gesellschaftliche Zustände sollten nicht grundsätzlich hinterfragt, sondern nur auf ihre Strukturen und Funktionen hin untersucht werden. Das ist nicht prinzipiell schlecht, das ermöglicht die Analyse sozialer Gesetzmäßigkeiten. Es klammert nur die kritische Analyse der Gründe und Veränderbarkeit sozialer Gesetzmäßigkeiten aus, und das ist schlecht. Ein Großteil heutiger Soziologie ist positivistisch. Heute gehören dazu auch Konstruktivismus, Systemtheorie und Cultural Studies. Auch sie befinden sich in Opposition zum kritischen Denken und Handeln.
»Kritisches Denken und Handeln«geht davon aus, dass alles Gesellschaftliche von den historischen Strukturen von Macht und Wirtschaft geprägt ist. Seitden Freiheitskämpfen gibt es neben Macht und Wirtschaft eine weitere entscheidende Struktur: Solidarität – Habermas hat das betont. (1996, S. 288 f.;siehe auch:Brunkhorst 2002) Man nennt das auch Zivilgesellschaft oder Gemeinwohl. Da geht es darum, dass alle öffentlich und gemeinsam beschließen, was für alle das Beste ist. Ohne Solidarität gibt es keine Demokratie. Wer für Demokratie ist, ist auch dafür, dass man Macht und Wirtschaft verändern kann. Dazu gehören mündige, gut ausgebildete Bürger, die zu kritischem Denken und Handeln fähig sind.
Von den Positivistenwird das kritische Vorgehen bekämpft oder mutwillig ignoriert. Ihnen ist das Gesellschaftliche als solches heilig. Weil das so ist, tragen sie lauter Mystifikationen vor sich her: Bei den einen sind das »die kulturellen Symbole« oder »Orientierungsmuster«, bei den anderen »das System«, das »Sinn« verwaltet, bei anderen »die Sprache« oder »die Zeichen«, die »Kommunikation« ermöglichen.
Positivisten beharren auf der Vorstellung, die Menschen hätten primär keinen Verstand im Kopf, sondern »Werte«, »Wertvorstellungen«. Wenn Wertvorstellungen in der Gesellschaft selbstverständlich werden – also deren kritisches Durchschauen schwieriger ist –, nennt das die positivistische Soziologie »Institutionalisierung« oder auch »objektive Sinnstrukturen«. Sie meint jedoch:subjektiveSinnstrukturen, denn für sie sind jene nur insofern objektiv, als sie allgemein verbreitet sind. Wenn in der positivistischen Soziologie ein gesellschaftlicher Tatbestand als »institutionalisiert« bezeichnet wird, bedeutet das, dass er als selbstverständlich akzeptiert ist, so wie die Luft, die man atmet. Das ist nicht falsch. Keine Gesellschaft funktioniert ohne Regeln. Diese müssen intersubjektiv anerkannt werden, und das bedeutet, dass sie normativ gelten müssen. Ohne gemeinsame Werte oder Sinnstrukturen geht es nicht. Jene müssen jedoch keine irrationalen Glaubensvorstellungen sein, wie das die Positivisten voraussetzen. Es muss Regeln geben, Normen, Sinnstrukturen, die gelten, akzeptiert werden – aber die auch stets auf ihre Geltungsberechtigung geprüft werden müssen. Die Positivisten ignorieren das. Sie verhalten sich machtkonform und wirtschaftskonform – und damit nicht immer demokratisch. Ihr Interesse giltnichtder solidarischen, rationalen Gesellschaft, sondern »dem Kollektiv«, das sie als »Orientierung« und »Sicherheit« bringend heroisieren.
Wenn es in den populären Medien um erfolgreiche kulturelle Muster wie Liebe, Superhelden, Action oder Gewalt geht, behaupten die Positivisten lauter mystisches Zeug: Das sei »der Massengeschmack« oder »der Zeitgeist« oder »das Kollektivbewusstsein«, manche sprechen sogar von »ewigen Mythen«, die im »kollektiven Unbewussten der Menschheit« verborgen sind. Sie stellen sich dumme »Massen« vor, die blindlings »Werte« vor sich hertragen oder sich »Sinnstrukturen« unterwerfen.
Heute sind die Positivisten, vor allem in Systemtheorie und Cultural Studies, in einem naiven Kollektivglauben erstarrt, hervorgegangen aus der von Durkheim beeinflussten Handlungstheorie und einem falsch verstandenen symbolischen Interaktionismus. Auch die Cultural Studies wollen mit der Betonung von »Symbolen«, »Mythen« und »Gemeinschaftsgefühlen« das Kollektiv unbedingt als nützlich und vergnüglich deuten. Der Kenner aller Horroroder Raumschiff-Enterprise-Filme; das Kind, das Pokemons sammelt: diese subkulturellen Konformisten werden zu etwas ganz Besonderem, angeblich sind sie »individualisiert« – weil sie an Gemeinschaften teilhaben und ein für die Gemeinschaft nützliches Bewusstsein haben.Hier fehlt die Beachtung des autonomen Subjekts.Wer »kollektive Ausrichtung« als etwas Positives darstellt, ist entweder naiv oder bewusst demokratiefeindlich.
Die positivistische Idealisierung von »Wertvorstellungen« wurde von Habermas und seiner Schule übernommen. Bekanntlich hatte Habermas (1976b; 1981a) die kommunikative Verständigungmittels Sprachezum Paradigma des Sozialen gemacht. Kommunikation funktioniert auch bei Habermas, wie Positivisten sich das vorstellen: im Rahmen eines »institutionalisierten Wertsystems«. Es gibt bei Habermas zwei Bereiche:
1.Das System und damit das »instrumentelle« Wertsystem:
Und damit das Drama der Naturbeherrschung und der Selbsterhaltung. Die Dialektik hieran, die Horkheimer und Adorno behandelten – die Aufklärung, die in einem instrumentellen, destruktiven Interesse an der Welt erstarrte –, interessiert Habermas nicht, für ihn ist das ein Prozess der »Evolution« – als hätte es nie Spencers Sozialdarwinismus gegeben, der die Macht der Kartelle von Industrie und Banken als »Evolution« legitimierte! Ohne Gefühl für das Üble am Sozialdarwinismus behauptet Habermas, Geschichte sei ein »sozialevolutionärer Lernprozess der Gesellschaft«, in dem »bestandsgefährdende Steuerungsprobleme« gelöst werden. (1976a, S. 169 f.;Adornos Kritik am Evolutionsbegriff:1941, S. 74) Lernprozess wodurch? Dadurch, dass absolutistische Herrscher und Päpste jede Opposition niedermachten? Dass die großen Trusts die kleinen Unternehmen mit kriminellen Mitteln kaputtmachten?
Nicht bei Habermas. Da besteht der evolutionäre »Lernprozess« in der »Ausdifferenzierung von Wertsphären«. (1985a, S. 137) Ausdifferenzierung wodurch? Durch den Oligopolkapitalismus und die zunehmende Segmentierung von Publikumsmärkten mittels Imagewerbung und Zielgruppenforschung?
Nicht bei Habermas. Da entsteht der evolutionäre Prozess der »Ausdifferenzierung« von selbst. Außerdem »lernt das System« mittels »Kommunikation«. Kommunikation habe »die Funktion«, Komplexität für Teilsysteme zu reduzieren. Diese »Funktion« besteht darin, dass bestimmte Institutionen jene Wertvorstellungen verstärken, die für das System »funktional« sind. Früher habe das die Religion effektiv geleistet, darin ist sich Habermas mit Luhmann einig. Nie werden hierzu die Folter und die Scheiterhaufen erwähnt.
Soweit ist das positivistische Systemtheorie.
2. Die Sprache, die Lebenswelt und damit die Beratschlagung:
Andererseits betont Habermas den gesellschaftlichen Kompromisscharakter von Moralvorstellungen und Rechtsnormen. Das eröffnet die Möglichkeit, dass jene zum Thema deliberativer, d. h. beratschlagender Diskurse gemacht werden können, dass sie sich also als vernünftig legitimieren müssen. »Deliberation« ist ein veraltetes Wort für Beratschlagung, Überlegung, im römischen Recht ist das die Zeit, die man zum Beispiel hat, um zu überlegen, ob man ein Erbe annimmt oder nicht. Eine Deliberationsstimme ist eine beratende Stimme, ohne Entscheidungsrecht. »Deliberative Diskurse« sind keine Diskurse, die mit Entscheidungskompetenz versehen sind.
Die Wurzeln beratschlagender Kommunikation, der »Einbeziehung desAnderen« (1996), sieht Habermas in der Grundstruktur der Sprache, der alltäglichen, »lebensweltlichen« Rede, der sprachlichen Verständigung verankert. (1976b, S. 357; 1981a, Bd. 1, S. 523) In ihr gebe es universale Geltungsansprüche, jene der Verständlichkeit, der Wahrheit, Wahrhaftigkeit und der Richtigkeit (1984, S. 138 f.), jedenfalls auf der normativen Ebene, also jener der Wertvorstellungen – und nur auf der Ebene der »Deliberation«, also der Beratschlagung, nicht auf jener der Dezision, der Entscheidung.
»Lebenswelt«,das ist bei Habermas eine Art Resudalbereich, ein Bereich der nicht instrumentellen Wertvorstellungen, mit den Unter-Rubriken: »eigensinnige kommunikative Strukturen«, »Protestpotenziale« und »Lebensweltpathologien« (1981a, Bd. 2, S. 171 ff., 575 ff.) Mit letzterem sind die human interests, die menschlichen Interessen gemeint. Sie werden von Habermas verachtet. Eigensinn und Protestpotenzial werden dagegen als Hort kritischer Vernunft und vernünftiger Kritik angesehen.
Mit diesem Interesse befindet sich Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns in der aufklärerischen Tradition, wenn auch nicht der kritischen Theorie. Claudia Rademacher stellt das aufklärerische Moment so dar:
»Die unverkürzte Aufklärungvernunft hält für Habermas damit wieder Einzug in den Alltag und die Geschichte. Es bedarf daher nur einer Entbindung der der alltäglichen Redeimmanenten Vernunftpotenziale,um die Ansprüche der instrumentellen Vernunft in Schranken zu halten und den Schein der falschen Totalisierungen aufzulösen. Das, was an ›wahrer‹ Vernunft über ihre instrumentellen Verkürzungen hinausgeht und daher erst den Maßstab liefert für die Kritik gesellschaftlicher Verdinglichungsphänomene, nimmt bei Habermas die Gestalt einerkommunikativen Rationalitätan, die als vernünftiges Potential der Rede in den kontrafaktischen Unterstellungen alltäglicher Redepraxis immanent enthalten ist.« (1993, S. 22, Kursivierung im Original)
Habermas wehrt sich damit – zu Recht – gegen alle jene vulgärmaterialistischen Tendenzen – die er allerdings auch Horkheimer und Adorno unterstellt –, die Alltagskommunikation als durch und durch vom System der Arbeit, des Kapitalismus, der Kulturindustrie durchstrukturiert anzusehen. Er schreibt:
»Die Umstellung des kommunikativen Handelns auf mediengesteuerte Interaktionen und die Verformung von Strukturen einer versehrbaren Intersubjektivität sind keineswegsvorentschiedeneProzesse, die sich auf wenige Begriffe abziehen lassen. Die Analyse von Lebensweltpathologien erfordert die unvoreingenommene Untersuchung von Tendenzen undGegentendenzen.«(1981a, Bd.2, S. 575. Kursivierung im Original)
So richtig das ist, ist einzuwenden: Wenn Habermas »Handlungsnormen«, »Normengefüge« etc. als das Allerwichtigste betrachtet, ist das falsch. Das Subjekt »verständigt« sich nicht nur, es beratschlagt nicht nur, sondern: Es produziert, es herrscht und entscheidet – oder es konsumiert, es wird beherrscht und über es wird entschieden. Betont man nur die »Werte«, blendet man à la Max Weber den ökonomisch-politischen Hintergrund der »Werte« aus (Kritik an Weber:Adorno 1969b, S. 73), und man beschränkt die analytische Perspektive aufs Herrschaftsfunktionale. Es ist nicht richtig, den Bereich der Arbeit, des Kapitalismus, der Kulturindustrie als einen des instrumentellen Handelns darzustellen und die Gegentendenzen lediglich in der »Lebenswelt« zu suchen.
Damit gerät aus dem Blickfeld, dass sich kritische Potenziale nicht nur in den Nischen des politisch protestierenden Publikums zeigen.Gegentendenzen gibt es mitten in der Struktur der Arbeit, des Kapitalismus, der Kulturindustrie.
(Kritik an Habermas:Bolte 1989; Moritz 1992; Rademacher 1993; Schweppenhäuser 1989)
So ist es nicht überzeugend, wenn der Habermas-Schüler Axel Honneth froh verkündet, Kultur sei das Ergebnis von Gruppen-Kommunikation, sie entstehe durch »kooperative Erzeugung normativer Orientierungsmuster« (1989, S. 37), oder, wie Honneth das mit habermasischem Charme ausdrückt:
»[…] diese gruppenspezifisch hervorgebrachten und kommunikativ abgestützten Orientierungsmuster vermitteln, weil in ihnen die ökonomischen Handlungszwänge alltagspraktisch uminterpretiert werden, und daher sozialisationswirksam gespeichert sind, zwischen dem System der gesellschaftlichen Arbeit und der individuellen Motivbildung. Das natürliche Potenzial der menschlichen Antriebe und der sozial verselbständigten Zwänge der ökonomischen Reproduktion brechen sich an dem Fundus von alltäglichen Interpretationsleistungen, in denen die Subjekte sich wechselseitig einer mit anderen Subjekten geteilten Sozialdeutung und Wertorientierung immer erneut versichern müssen.« (1989, S. 35 f.)
Selbst »kritisches Verhalten« ist in dieser Interpretation bloß ein Prozessdes Aushandelns von »Wertorientierungen«. So schreibt Honneth:
»Das kritische Verhalten ist nun der gerichtete Prozess einer kooperativen Überprüfung und Problematisierung von gruppenintern eingespielten Selbstverständlichkeiten; er wird angestoßen durch interpretatorisch noch nicht abgedeckte Erfahrungen, die das bisher akzeptierte Ausmaß an sozialen Belastungen und an libidinösen Versagungen in ein neues Licht rücken.« (A. a. O., S. 39)
Das Problem ist, dass »kritisches Verhalten« hier bloß das ist, was Pädagogen als ordentlich empfinden: »Anstöße«, »Problematisierung«, »Erweiterung des Horizonts«, »neue Orientierungen« etc. Alles bleibt inhaltsleer, Floskel. Honneth setzt sein Habermasianisch so fort:
»Die Unterbrechung des kulturell abgesicherten und geschützten Alltagshandelns zwingt die Gruppenmitglieder, den tradierten Orientierungshorizont an der bloßgestellten Realität zu korrigieren und zu erweitern; daher ist das kritische Verhalten die reflexive Fortsetzung einer in ihrem Selbstverständnis erschütterten Alltagskommunikation. Der soziale Kampf lässt sich auf dieser Basis als die kooperative Organisation dieser alltäglichen Kritik begreifen: er wäre der unter Bedingungen klassenspezifischer Arbeitsteilung und Belastungszumutung erzwungene Versuch sozialer Gruppen, ihren an der wiederholten Erfahrung erlittenen Unrechts gewonnenen Handlungsnormen im Normengefüge eines sozialen Lebenszusammenhangs zur Durchsetzung verhelfen.« (Ebd.)
So formal wie Honneth »kritisches Verhalten« oder »alltägliche Kritik« definiert, würden auch Fanatiker, die einen Ausländer umbringen, kritisches Verhalten zeigen, denn sie verhelfen ihren Handlungsnormen zur Durchsetzung. Weil das so ist, hat diese bürokratisch-pseudoversachlichte Heroisierung von Anschluss, Orientierung und kollektivem Normengefüge einen falschen Begriff nicht nur von Kritik, sondern von Gesellschaft. Warum? Weil das ein Versuch ist, dort Identität herzustellen, wo derart, im »Kollektiv«, keine sein kann. Adorno drückte das so aus:
»Das neue Grauen, das der Trennung [gemeint ist: Der Topos der ›neuen Orientierungslosigkeit in unserer heutigen Zeit‹], verklärt denen, die es erleben, das alte, das Chaos, und beides ist das Immergleiche. Vergessen wird über der Angst vor der Sinnlosigkeit …«
[Ich füge hinzu: und über der Glorifizierung von Anschluss und Orientierung]
»… die einst nicht geringere vor den rachsüchtigen Göttern, welche der epikureische Materialismus und das christliche Fürchtet euch nicht von den Menschen nehmen wollten. Anders nicht als durch das Subjekt ist das vollziehbar.« (1969d, S. 153, [ ] hinzugefügt)
Durch das Subjekt, das, statt sich irrational »anschließen« oder »orientieren« zu lassen, seinen Verstand gebraucht. Adorno fuhr fort:
»Würde es [das Subjekt] liquidiert, anstatt in einer höheren Gestalt aufgehoben, so bewirkte das Regression des Bewusstseins nicht bloß[,] sondern eine auf reale Barbarei. Schicksal, die Naturverfallenheit der Mythen, stammt aus totaler gesellschaftlicher Unmündigkeit, einem Zeitalter, darin Selbstbesinnung noch nicht die Augen aufschlug, Subjekt noch nicht war. Anstatt jenes Zeitalter durch kollektive Praxis zur Wiederkehr zu beschwören, wäre der Bann des alten Ungeschiedenen zu tilgen. Seine Verlängerung ist das Identitätsbewusstsein des Geistes, der repressiv sein Anderes sich gleichmacht.« (Ebd., [ ] hinzugefügt)
Solche Probleme beunruhigen Honneth nicht. Er schreibt:
»Erst durch die Filter dieser gemeinsamen Handlungsnormen hindurch, die in gruppenspezifischen Auffassungen von ›Recht‹ und ›Sitte‹ auf Dauer gestellt und in den habitualisierten Ausdrucksformen der ›Mode‹ und des ›Lebensstils‹ symbolisch dargestellt werden, fließen die von oben vorgegebenen Handlungszwänge und die von innen drängenden Handlungsantriebe wirksam in den Lebenszusammenhang vergesellschafteter Subjekte ein. Der ›Kitt‹ einer Gesellschaft […] setzt sich dann aus den kulturell erzeugten und ständig erneuerten Handlungsorientierungen zusammen, in denen soziale Gruppen die ihnen unter Bedingungen klassenspezifischer Arbeitsteilung zugemuteten Aufgaben und die je individuellen Bedürfnispotenziale interpretatorisch zur Deckung gebracht haben.« (1969d, S. 153)
»Kulturell erzeugte Handlungsorientierungen« – meint Honneth die supranationalen Medienkonzerne als deren »Erzeuger«? Nein. »Klassenspezifische Arbeitsteilung« – meint Honneth die Macht der supranationalen Konzerne? Nein. »Lebensstile« – entlarvt Honneth jene als Zweck-Konstruktionen kommerzieller Marktforschungsinstitute, die mittels Zielgruppen-Zaubers den Werbung-Auftraggebern das Geld aus der Tasche ziehen helfen? Nein. Für ihn»fließt« alles – man weiß nicht wie und warum es da »fließt« – »in den Lebenszusammenhang vergesellschafteter Subjekte ein«. Die Menschen leiden dabei nicht, sie sind nicht unzufrieden, sie werden nicht übers Ohr gehauen, sondern sie bringen »die ihnen zugemuteten Aufgaben und ihre Bedürfnispotenziale interpretatorisch zur Deckung«. Kulturindustrie, Ideologie, PR und Propaganda werden von Honneths bürokratischer Anpassungslyrik postmodern-poetisch unter den Teppich gekehrt.
Kritik an Honneth:Behrens 2002)
Es ist nicht überzeugend, wenn Honneth behauptet, es gebe ein »soziologisches Defizit« der kritischen Theorie, eine »endgültige Verdrängung des Sozialen«. (1989, S. 70 ff.) Horkheimer und Adorno haben analysiert, was sich in den »Institutionen« an qualitativen Problemen verbirgt, und welche strukturellen Mechanismen der Arbeit und des Tauschs, der Macht und der Abstraktion sich im Hintergrund der Institutionen, unbeachtet von den Positivisten, verbergen.Das erstist kritische Soziologie. Deshalb lohnt es sich, auf Horkheimers und Adornos »traditionelles Begriffsgleis« (Honneth 1989, S. 28, 36) abzubiegen, in Richtung eines negativ-dialektischen Realismus. Warum? Weil es in der Welt nicht darauf ankommt, dass Menschen »Anschluss« an »Lebensstile« oder »das Irrationale« und darin »Orientierung« finden. Es kommt darauf an, ob sie darin erstarren und wie sie sich gegen die Erstarrung zur Wehr setzen.
Der Kommunikationsbegriff der kritischen Theorie impliziert mehr als die »Einbeziehung des Anderen« in einen beratschlagenden Diskurs. Adorno sprachnichtvon »Einbeziehung«, sondern von »Versöhnung«. Bei ihm ist das Andere: die Sache, das Objekt, das Nichtidentische, das sich der durch Wissenschaftler hergestellten Identität versperrt. Adorno wusste, dass Versöhnung eine Utopie ist. Sein Begriff von Kommunikation bezeichnet kein Diskursideal des Einbeziehens des Anderen in beratschlagende Runden, sondern einen Prozess desEingehensauf das Andere. Er schrieb:
»Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt, so ließe sich in ihm weder die ununterschiedene Einheit von Subjekt und Objekt noch ihre feindselige Antithetik sich vorstellen; eher die Kommunikation des Unterschiedenen. Dann erst käme der Begriff von Kommunikation, als objektiver, an seine Stelle. Der gegenwärtige ist so schmählich, weil er das Beste,das Potenzial eines Einverständnisses von Menschen und Dingen, an die Mitteilung zwischen Subjekten nach den Erfordernissen subjektiver Vernunft verrät. An seiner rechten Stelle wäre, auch erkenntnistheoretisch, das Verhältnis von Subjekt und Objekt im verwirklichten Frieden sowohl zwischen den Menschen wie zwischen ihnen und ihrem Anderen. Friede ist der Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander.« (Adorno 1969d, S. 153, Kursivierung hinzugefügt)
DieseskritischeKommunikationsideal wird von Honneth idealistisch-sozialtherapeutisch interpretiert: Er unterstellt Horkheimer und Adorno, sie zielten darauf, dass die Subjekte der Natur
»mit der Bereitschaft zur kommunikativen Hingabe gegenübertreten, auch sich selber und den anderen zwanglos begegnen können; ein mimetisches Verhältnis zur Natur, in dem die Dinge nicht als Gegenstände manipulativer Eingriffe, sondern als Gegenspieler sinnlicher Erfahrungen gelten.« (Honneth 1989, S. 78 f.)
Hingabe? So nett war das nicht gemeint. Eine derartige Interpretation ignoriert den materialistischen Hintergrund der Kommunikations-Utopie. Sie ist nicht durch »kommunikative Hingabe« zu erreichen, auch nicht durch »zwanglose Begegnungen« und auch nicht durch ein pfäffisches »Verhältnis zur Natur«. Das missversteht – mutwillig – Kommunikationals Attitüde.
Kommunikation ist jedoch Kommunikation insofern, als sie ein Tausch ist, und zwar kein Äquivalententausch, sonderneine reale Machtstruktur.Adornos utopischer Kommunikationsbegriff greift diese materielle Grundstruktur an und zielt auf eine »rationale Identität« der Dinge.
Habermas propagiert dagegen eine »profane, nichtdefätistische Vernunft«. (1988, S. 7; 2001, S. 27 f.) Sie halte Abstand zur Religion, »ohne sich deren Perspektive zu verschließen«. (2001, S. 27 f.) Was bedeutet es, wenn Wissenschaft sich der Perspektive der Religion nicht verschließt? Ich vermute, das heißt: »Nichtdefätistische Vernunft« versteht sich als Teilsystem einer Ordnungsmacht, in der das Irrationale seine Funktion hat. So landet man mit Habermas einerseits bei einem abstrakten – wenn auch ethisch richtigen – Ideal des »Zusammenlebens in zwangloser Kommunikation« (1981b, S. 176) – und andererseits beim Lob irrationaler, jedoch »orientierender« Institutionen als integrativem Faktor.
Horkheimers Hinweis, dass »orientierende« Institutionen stets mit Scheiterhaufen und Guillotinen gearbeitet haben, wird ignoriert – deren modernere Form wird aber nicht unbedingt abgelehnt: Habermas hat auch den Krieg als Mittel akzeptiert, wenn jener sich mit der Durchsetzung von Menschenrechten als »gerecht« legitimiert – und welcher Krieg legitimiert sich nicht als gerecht?
(Rechtfertigung des Kosovo-Kriegs:Habermas 1999)
Das macht das Ziel der Habermas-Schule: die »konsensuell gesicherte Herrschaft« (Honneth 1989, S. 67) – d. h. die Milderung struktureller Gewalt durch den deliberativen, d. h. beratschlagenden Diskurs – zur Legitimationsideologie. Wer Horkheimers »objektive Vernunft« zur »Verständigungsrationalität« entqualifiziert und sich mit Religion und Krieg arrangiert, ist nicht überzeugend.
(Verständigungsrationalität:Habermas 1988, S. 67;Kritik:Rademacher 1992, S. 104 ff.)
Habermas wirft Adorno »Messianismus« und »Defätismus« vor. (2001, S. 27 f.) Dessen kritische Theorie habe eine »überanstrengte Vernunft« kultiviert, eine, die »an sich selbst verzweifelt«. Adorno habe die Maßstäbe der Kritik zu hoch gehängt. Adorno hatte inMinima Moraliageschrieben:
»Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.« (1951, Nr. 153, S. 333)
Darin sieht Habermas den »Messianismus«. Wartete Adorno auf einen Messias? Der Adorno-Text geht so weiter:
»Perspektiven müssten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Licht daliegen wird.« (A. a. O., S. 334)
Man sollte statt Erlösung »Befreiung« sagen und statt »messianischem Licht« würde es »befreite Gesellschaft« auch tun. Gemeint war: Kritik muss die Welt aus der Sicht der befreiten Gesellschaft betrachten. (Siehe auch:Horkheimer 1937, S. 270 ff.) Die kritische Theorie holte ihre Maßstäbe also nicht aus dem Himmel der Religion. Die Realisierungschancen einer befreiten Gesellschaft hielten Horkheimer und Adorno seit dem Faschismus für verspielt, und deswegen thematisierten sie »befreite Gesellschaft«als Problem, an dem Wissenschaft erst zu arbeiten hat.Das kritisch-dialektische Vorgehen versucht, die realen Möglichkeiten der Befreiung durch immanente Analyse vorhandener Gesellschaftsstrukturen zu erkennen.
Um wissenschaftlich-kritisch vorzugehen, braucht man die immanente, dialektische Analyse.
»Dialektik«ist ein objektives Erkenntnisverfahren, das versucht, reale Widersprüche in der real gegebenen Welt herauszuarbeiten – mit dem Interesse an Wahrheitsfindung, Kritik und Veränderung:
»Dialektik als Verfahren heißt, um des einmal an der Sache erfahrenen Widerspruchs willen und gegen ihn in Widersprüchen zu denken. Widerspruch in der Realität, ist sie Widerspruch gegen diese.« (Adorno 1966a, S. 146)
Wurde das dialektische Erkenntnisverfahren von Hegel in die Welt hineinprojiziert, als Bewegung des reinen Geistes, so wurde es von Marx sozioökonomisch fundiert. Bei Horkheimer und Adorno mündete das in einen kritischen Materialismus, der Wert auf die Untersuchung der »Vermittlung« der Widersprüche legt: Man betrachtet das Allgemeine als konstituiert durch das Besondere, Einzelne, Historische und umgekehrt.
Hier könnte gefragt werden:Ist nicht alle Beobachtung subjektiv? Kann es objektive Beobachtung überhaupt geben?
Antwort:Ja, es kann. Widersprüche existieren real – oder genauer gesagt, sie werden zu Recht als real existierend wahrgenommen. Allerdings sind sie
»Kein schlicht Reales: denn Widersprüchlichkeit ist eine Reflexionskategorie, die denkende Konfrontation von Begriff und Sache.« (Adorno 1966a, S. 146) Und: »Dialektik ist in den Sachen, aber wäre nicht ohne das Bewusstsein, das sie reflektiert; so wenig wie sie in es sich verflüchtigen lässt.« (A. a. O., S. 203)
Die postmodernen Konstruktivisten lassen die Sachen sich im Bewusstsein verflüchtigen, sie behaupten, dass es nur Beobachterstandpunkte gebe. Sie verstehen sich als neutrale Beobachter von Beobachtern.
(Beobachterstandpunkt:Luhmann 1996, S. 17 ff.; Siegfried J. Schmidt 1995, S. 12 ff.; 2000, S. 15 ff.)
Sie sind jedoch nicht so neutral wie sie sich geben, schließlich ist das Beobachtete immer das Ergebnis historischer Wirtschafts- und Macht-Konstellationen und Subjekt-Konstellationen. Das Beobachtete repräsentiert die »objektive Gewalt der größeren Kapitalmasse«. (Adorno 1951, Nr. 69, S. 135) Wer neutral beobachtet, hat einen Beobachterstandpunkts aus der Sicht der Macht.
Und es gibt die objektive Gewalt des Leidens. Wenn der »neutrale« Beobachter danach fragt, mit welcher Ethik es dennwissenschaftlichzu rechtfertigen sei, dass man Menschen nicht auch mit undemokratischen Mitteln beherrschen soll: Die Opfer wissen es. Wenn gefragt wird, wie man die Qualität von Medienprodukten objektiv bestimmen könne: die Zuschauer wissen es. Die Konsumenten wissen es in Bezug auf die Waren, die Bürger in Bezug auf Politik. Dass die »wertfreie« Wissenschaft sie nicht fragt, sondern sie als auf Images hereinfallende Versuchskaninchen behandelt, liegt an der Unterwerfung von Wissenschaft unter die Interessen von Auftraggebern.
Weil gesellschaftliche Widersprüche zugleich objektiv und im erkennendenSubjekt existieren, sind sie nicht, nach der Art der Naturwissenschaften, in allgemeine »Wenn-Dann«-Aussagen zu fassen. Analyse von Widersprüchen bedeutet auch das Herausarbeiten dessen, wasnichtzustande kommt, der unterdrückten Möglichkeiten, denn:
»Was ist, ist mehr als es ist. Dies Mehr wird ihm nicht oktroyiert, sondern bleibt, als das aus ihm Verdrängte, ihm immanent.« (Adorno 1966a, S. 162)
Was da mehr ist, das sind nicht bloße »Standpunkte von Beobachtern«. Das »Mehr« findet man als Wissenschaftler nicht durch subjektive, sondern durchwissenschaftlicheBeobachtung, durch objektive, intersubjektiv nachvollziehbare Analyse, historische Strukturanalyse. Adorno sah das, »was ist«, als »Fragegestalten der Realität«: »Was der historischen Erinnerung, nachträglich, zu Werten gerinnt, sind in Wahrheit Fragegestalten der Realität.« (1969b, S. 74) Das ist eine weitaus interessantere Formulierung als alle konstruktivistischrelativistischen Floskeln.
Da das, was ist, mehr ist, als es ist, muss man an dem, was ist, herausfinden, warum es ohne das, was es nicht ist, weiter besteht und warum sich das nicht ändert.Wenn man dieses Interesse hat, genügen »Wenn-Dann«-Aussagen nicht. Gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten erhalten, wenn dialektisch erfasst, dieForm»Nachdem-Muss«.Adorno:
»Die dialektische Bestimmtheit des Einzelnen als eines zugleich Besonderen und Allgemeinen verändert den gesellschaftlichen Gesetzesbegriff. Er hat nicht länger die Form des ›immer wenn – dann‹, sondern die ›nachdem – muss‹; sie gilt prinzipiell nur unter der Bedingung von Unfreiheit, weil den Einzelmomenten in sich bereits bestimmte, aus der spezifischen Gesellschaftsstruktur folgende Gesetzlichkeit innewohnt, nicht erst Produkt ihrer wissenschaftlichen Synthesis ist.« (1969b, S. 50)
Ein Beispiel:
Positivistensagen: »Wennim Fernsehen der Werbedruck durch mehr Werbeunterbrechung von Spielfilmen erhöht wird, –dannführt das zu mehr Awareness, zu mehr Aufmerksamkeit für Werbung.« Damit sind sie zufrieden, für sie ist das schon die ganze Wissenschaft.
Kritische Dialektiker sagen:
»Nachdemdie Unternehmen im stabilisierten Oligopol-Kapitalismus seit den 1930er Jahren auf eine Preis- und Qualitätskonkurrenz verzichten und statt dessen in Werbung investieren; undnachdemman weltweit keine demokratischen, öffentlich-rechtlichen, gebührenfinanzierten Mediensysteme eingerichtet hat, sondern kommerzielle, von Werbegeldern abhängige, oligopolistische Mediensysteme …
…mussdas, statt zum Interesse, mündige Bürger gut zu informieren und gut und intelligent zu unterhalten, zu einem erhöhten Interesse führen, Konsumenten durch entsprechendes Produkt-Design in Marktsegmente einzuteilen und mehr deren Stimmungen als deren Verstand anzusprechen, also sie zu manipulieren.«
Man muss sich also nichts »wertend« zusammenspinnen, wenn man kritisch analysieren will. Man muss die ökonomischen, politischen, sozialen Konstellationen analysieren, die das zu analysierende Phänomen umgeben – objektiv, a priori umgeben. Adorno:
»Die Objektivität der Struktur, für die Positivisten ein mythologisches Relikt, ist, der dialektischen Theorie zufolge, das Apriori der erkennenden subjektiven Vernunft. Würde sie dessen inne, so hätte siedie Struktur in ihrer eigenen Gesetzlichkeitzu bestimmen, nicht von sich aus nach den Verfahrensregeln begrifflicher Ordnung aufzubereiten. Bedingung und Gehalt der an Einzelsubjekten zu erhebenden sozialen Tatsachen werdenvon jener Struktur beigestellt.« (Adorno 1969b, S. 14 f., Kursivierung hinzugefügt)
Diese Beachtung aller Dimensionen, auch der historischen, der unterdrückten, führt zur Analyse dessen, was »die Sache von sich aus sein will«. Adorno hierzu:
»Die Konstruktion der Totale [d. h. der Ganzheit des zu analysierenden Phänomens] hat zur ersten Bedingung einen Begriff von der Sache, an dem die disparaten Daten sich organisieren. Sie muss, aus der lebendigen, nicht selber schon nach den gesellschaftlich installierten Kontrollmechanismen eingerichteten Erfahrung; aus dem Gedächtnis des ehemals Gedachten; aus der unbeirrten Konsequenz der eigenen Überlegung jenen Begriff immer schon ans Material herantragen und in der Fühlung mit diesen ihn wiederum abwandeln. […] Sie muss die Begriffe, die sie [die eigene Überlegung] gleichsam von außen mitbringt,umsetzen in jene, welche die Sache von sich selber hat, in das, was die Sache von sich aus sein möchte, und es konfrontieren mit dem, was sie ist.Sie muss die Starrheit des hier und heute fixierten Gegenstandesauflösen in ein Spannungsfeld des Möglichen und des Wirklichen[…].« (1957, S. 82, Kursivierung und [ ] hinzugefügt;siehe auch:1957, S. 97; 1966a, S. 150 f.)
Was die Sache von sich aus sein will, findet man durch historisch bewusste Strukturanalyse heraus, indem man untersucht, wie das Phänomen »in der Gesellschaft existiert und warum es so geworden ist«. (Adorno 1986, Bd. 8, S. 197) Das ist notwendig, nur so bewahrt man die eigene Kritik davor, ein abstraktes Vernunftideal zu verabsolutieren.
Deshalb ist es richtig, wenn Axel Honneth Horkheimers und Adornos Kritik als »rekonstruktive Gesellschaftskritik unter genealogischem Vorbehalt« charakterisiert:
»Rekonstruktion«nennt Honneth das Interesse, »an der sozialen Wirklichkeit einer gegebenen Gesellschaft diejenigen normativen Ideale freizulegen, die sich als Bezugspunkte einer begründeten Kritik deswegen anbieten, weil sie Verkörperungen gesellschaftlicher Vernunft darstellen.« (2000, S. 735) Das ist dasselbe wie »immanente Analyse« – mit der entscheidenden Ausnahme, dass Honneth immer nur anWertvorstellungendenkt, an »normative Ideale«, während die kritisch-dialektische Analyse auch an immanentemateriellePotenziale denkt, an den Stand der Produktivkräfte, die Chancen der Automation, den gesellschaftlichen Reichtum etc.
Mit»genealogischem Vorbehalt«ist die Notwendigkeit gemeint, »den tatsächlichen Verwendungskontext moralischer Normen zu studieren; denn ohne den Appendix einer solchen historischen Prüfung kann sich die Kritik nicht sicher sein, das die von ihr herangezogenen Ideale in der sozialen Praxis noch die normative Bedeutung besitzen, die sie ursprünglich einmal ausgezeichnet hatte.« (A.a..O., S. 736 f.) Auch das ist nur richtig, wenn man beachtet, dass es Honneth bloß um »moralische Normen«, »Ideale«, also um Subjektives geht, der kritischen Theorie dagegen um objektive Strukturen und Potenziale.
Ein Beispiel für die Analyse dessen, was »die Sache von sich aus sein möchte«: Nehmen wir an, wir wollen »Konsum« analysieren.
Der schlechte Kritiker, der Pauschalkritikerverachtet Konsum als Teufelswerk. Er sagt das ungefähr so: »Je kommerzialisierter die Medien werden, desto mehr geht die Informationsfunktion der Medien verloren, und desto mehr erhalten sie die Funktion, Konsumorientierung zu fördern« – und das ist dann als Kritik gemeint.
Der kritisch-dialektische Analytikerfragt, was Konsum »von sich aus sein will«, zum Beispiel, dass darin auch ein Moment von Vernunft und ein Glücksversprechen enthalten ist. Um das herauszufinden, umgibt er das Phänomen versuchsweise mit anderen Begriffen. Zum Beispiel mit dem Begriff »Schlaraffenland«. Jenes ist eine Utopie und zugleich ein Schreckensbild. Die Utopie des Überflusses kann der kritisch-dialektische Theoretiker mit der Frage verbinden, wie heute die Technik, die den Überfluss bringen könnte, die industrielle Automation, zum Nutzen aller eingesetzt werden könnte. Den Schrecken des Schlaraffenlands kann er mit dem Bild jener enorm fetten Menschen dramatisieren, wie es sie in den USA gibt. So kommt er zu Begriffen wie »Konsum als gesellschaftlichfalschrealisierte Utopie«. Das führt ihn zu Überlegungen über Konsum als gesellschaftlichrichtigrealisierte Utopie. Er kann fragen, warum in den USA zwar Raucher verfolgt werden, aber nicht enorm fette Menschen. Das führt ihn zu Überlegungen über gesellschaftlich legitimierten versus negativ sanktionierten Konsum. Der kritisch-dialektische Analytiker umgibt das Phänomen mit einer Konstellation von Begriffen.
Nun trifft der kritisch-dialektische Kritiker aber in der gegenwärtigen Realität auf einen positivistischen Begriff von Konsum:Positivistisch denkenden Marketing-Studenten, Betriebswirtschaftlern,fallen zu »Konsum« immer nur Themen ein wie »Optimierung der Konsumenten-Ansprache durch personalisierte Banner-Werbung im Internet« oder: »Verbesserung von Awareness durch Sonderwerbeformen im Fernsehen«. Weiter denken sie über »Konsum« nicht nach, ihr Interesse ist instrumentell, manipulativ und subjektivistisch. Adorno hätte dazu gesagt: »Ein Ansatz, in dem die Abhängigkeit des Konsumenten nicht dargestellt wird, ist der Realität inadäquat.« (1962b, S. 511) Das würde die Marketing-Studenten nicht stören, denn für sie hat Wissenschaft nicht den Zweck der Wahrheitssuche, sondern sie denken daran, welches Thema dem Personalchef der Werbeagentur gefallen würde, von dem sie ihren Job haben wollen.
Also muss derkritisch-dialektische Kritikeruntersuchen, wie »Konsum« historisch entstand: mit der im beginnenden Oligopolkapitalismus seit den 1880er Jahren überhaupt erst einsetzenden Massenproduktion; mit dem Fordismus, der seit den 1920er Jahren mit Üblem wie dem Fließband auch höhere Löhne und Gehälter, Kaufkraft für die Bevölkerung brachte, Konsum aber zugleich zur ökonomischen Notwendigkeit machte. Er untersucht, wie die Oligopol-Konzerne seit den 1930er Jahren verstärkt in Werbung investierten. Hierausentwickelt er Begriffe wie »objektiv nützlicher versus aufgedrängter Konsum«. Das objektiv Nützliche, die Waschmaschine, der Computer, ist etwas anderes als das Aufgedrängte, das Geldausgeben für überflüssige Statussymbole (»überflüssig«: hier hätte er zwischen die Fantasie beflügelndem Überflüssigem und fantasielosem Überflüssigem zu unterscheiden). So gelangt er zu einer immanenten Analyse, die am tatsächlichen Verwendungskontext das gesellschaftlich Vernünftige vom gesellschaftlich Repressiven unterscheidet. Dabei hütet sich derkritisch-dialektische Kritikervor professoralen, säuerlichen Plattitüden über »das Banale« und »die breite Masse«.
Das Verfahren negativer Dialektik ist das Denken in Konstellationen. Das kann fast jeder, man muss nur das Phänomen mit neugierigen Begriffen und Erkenntnisinteressen umgeben. Man muss die unterschiedlichsten Begriffe ausprobieren. Ein einziger, gebetsmühlenartig verwendeter Begriff wie »Warencharakter« oder »Entfremdung« oder »Verdinglichung« reicht nicht. Ein Begriffspaarwie »Produktivkräfte versus Produktionsverhältnisse« ist schon besser, weil damit eine Spannung sichtbar wird. »Kreative versus unkreative Waren« – solche Begriffspaare machen den diffamierend gebrauchten Begriff des »Warencharakters« bereits etwas intelligenter. Es gibt aber auch mechanistische Begriffspaare, die wenig bringen, zum Beispiel »Tauschwert versus Gebrauchswert« oder »instrumentelles Handeln versus Lebenswelt«. Wenn man die Medienwelt so einteilen würde, nützte das wenig, denn der Gebrauchswert findet sich mitten im Tauschwert, das Lebensweltliche mitten im Instrumentellen. Man muss mitBegriffs-Konstellationen experimentieren, um herauszufinden, was sie Sache istund von sich aus sein will. Adorno sagte das so:
»Konstellationen allein repräsentieren, von außen, was der Begriff im Innern weggeschnitten hat, das Mehr, das er sein will so sehr, wie er es nicht sein kann. Indem die Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potenziell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte.« Und: »Der Konstellation gewahr werden, in der die Sache steht, heißt soviel wie diejenige entziffern, die es als Gewordenes in sich trägt.« (1966a, S. 162 f.)
Wie schon erwähnt, geht das nicht ohne Interesse für die Genesis des Phänomens, für dessen Geschichte. Ohne die Analyse des Fordismus versteht man nicht, was »Konsum« ist. Adorno fuhr so fort:
»Der Chorismos [die Kluft] von draußen und drinnen …«
[damit meinte Adorno sowohl die idealistische Gepflogenheit, die Dinge als etwas zu betrachten, das sich »draußen« befindet als auch die materialistische, das »Draußen« als objektiv anzusehen]
»… ist seinerseits historisch bedingt. Nur ein Wissen vermag Geschichte im Gegenstand zu entbinden, das auch den geschichtlichen Stellenwert des Gegenstands in seinem Verhältnis zu anderen gegenwärtig hat; Aktualisierung und Konzentration eines bereits Gewussten, das es verwandelt. Erkenntnis des Gegenstands in seiner Konstellation ist die des Prozesses, den er sich aufspeichert. Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er öffnen möchte [bzw. das Phänomen], hoffend, dass er aufspringe etwa wie die Schlösser wohlverwahrter Kassenschränke nicht nur durch einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer sondern eine Nummernkombination.« (1966a, S. 163 f., [ ] hinzugefügt)
Negative Dialektik weiß mehr über die Genesis sozialer Phänomene. Dramatischer sagte Adorno das so:
»Was an Wesentlichem im Phänomen erscheint, ist das, wodurch es wurde, was es ist, was in ihm stillgestellt ward und was im Leiden seiner Verhärtung das entbindet, was es wird.« (1969b, S. 46)
Negative Dialektik soziologisiert das Verfahren der »bestimmten Negation«. Ihre Kritik bringt mittelsimmanenter AnalyseWidersprüche ans Licht. Sie malt weder Utopien aus, noch macht sie die historisch gegebenen Widersprüche zu ewigen Wesenheiten.
(Bestimmte Negation:Adorno 1966a, S. 159 ff.; Rademacher 1992, S. 78 ff.)
Wenn man dialektisch vorgeht, muss man versuchen, die jeweils unterdrückten Möglichkeiten aus den Widersprüchen der Gesellschaft heraus zu analysieren. Jedoch ist auch Dialektik – da sie sich mit ihrer Analyse notwendigerweise in die unterdrückerischen Machtverhältnisse hinein begibt – der Gefahr ausgesetzt,positiveDialektik zu werden, also »das System«, »die Machtverhältnisse« und »den Widerspruch« zu ewigen, unausweichlichen Wesenheiten zu machen, wie das die fundamentalistische Ontologie macht. Das wäre falsch. Dialektik wäre in das Falsche verstrickt. Adorno sagte das so:
»Dass es aber gleichwohl des nicht unter die Identität zu Subsumierenden – nach Marxscher Terminologie des Gebrauchswerts – bedarf, damit Leben überhaupt, sogar unter den herrschenden Produktionsverhältnissen, fortdauere, ist das Ineffabile [das Unsagbare] der Utopie. Sie reicht in das, was verschworen ist, dass sie nicht sich realisiere. Angesichts der konkreten Möglichkeiten von Utopie ist Dialektik die Ontologie des falschen Zustandes. Von ihr wäre ein richtiger befreit, System so wenig wie Widerspruch.« (Adorno 1966a, S. 20, [ ] hinzugefügt)
Beachtet werden muss, dass auch Objektivität nicht schon die Wahrheit ist; dass immer die Gefahr besteht, dass sich auch der objektive, »reale« Strukturen Analysierende den realen, von Macht geprägten Strukturen unterwirft. (Hierzu:Adorno 1951, Nr. 152, S. 330 ff.)
Ein Beispiel für Ontologie des falschen Zustands – statt wirklich dialektischer Analyse – war der orthodoxe dialektische Materialismus in der deutschen Medientheorie der 70er Jahre: Lothar Bisky, Götz Dahlmüller, Franz Dröge, Horst Holzer, Wulf D. Hund, Klaus Kreimeier (sieheLiteraturverzeichnis) setzten abstrakt Kapital und Arbeit entgegen; herrschende Klasse und Arbeiterklasse; Warenform und Gebrauchswert. Das, was ist, warvon vornhereinschlechte Realität. Das ergab sich nicht aus einer Analyse von realen, empirischen Mechanismen, sondern aus abstrakten »Ableitungen« aus den Gesetzen »des« Kapitals; »des« Profitinteresses; »des« entfremdeten Arbeitsprozesses; »der« Klasseninteressen; »der« Funktion der Werbung im Monopolkapitalismus – angeblich verwandelt jene Warenkapital in Geldkapital – etc.
Vieles war nicht falsch. Nur: In der Realität der 1970er Jahre gab es zwar Klassen – Schranken des Einkommen, der Schulbildung und der Mobilität –, abernicht »das Proletariat« und auch »die Arbeiterklasse« nicht. Und »die Warenform« ist nicht das Böse schlechthin – und um Warenkapital in Geldkapital verwandeln zu können, müsste Werbung zunächst einmalwirken,doch weiß niemand, ob Werbung wirklich Wirkungen auf das Kaufverhalten hat, vielleicht ist Werbung eine Form der Vernichtung von Kapital? Das alles ging in den »Ableitungen« unter. Die schlechte Realität erschien so »wie sie ist«, weil das angeblichzum Wesen»des Warencharakters«, »des staatsmonopolistischen Kapitalismus«, »der Zirkulation des Kapitals«, »des Verwandlungsprozesses von Warenkapital in Geldkapital«, »der Anpassung der Arbeiterklasse« etc. gehört. – Heute ist diese »vergessene Theorie« bei Jochen Robes (1990) nachzulesen, der jene umfassend abhandelt, wenn auch unkritisch und mit dem Charme eines kommunistischen Parteizentralarchivverwaltungsoberkommissars.
Diese »politökonomischen Bestimmungen« waren abstrakte Identität, Dialektik alsOntologiedes Falschen. Adorno:
»Der drohende Rückfall der Reflexion ins Unreflektierte verrät sich in der Überlegenheit, die mit dem dialektischen Verfahren schaltet und redet, als wäre sie selber jenes unmittelbare Wissen vom Ganzen, das vom Prinzip der Dialektik gerade ausgeschlossen wird.« (1951, Nr. 152, S. 330 ff.)
Dialektik muss beachten, was sich nicht unter großartige, Identität herstellende Begriffe subsumieren lässt, sie mussnegativeDialektik sein: Sie muss die empirische Realität beachten, und sie muss das in der Realität präsente Mögliche, Utopische beachten.
Allerdings war Adornos Kritik der Kulturindustrie selbst eine Ontologie des falschen Zustands: