Theorien des digitalen Kapitalismus -  - E-Book

Theorien des digitalen Kapitalismus E-Book

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Beschreibung

Verändert sich der Kapitalismus grundlegend angesichts der gegenwärtigen Digitalisierungsschübe? Konjunktur haben jedenfalls theoretische Analysen und Zeitdiagnosen, die sich der Charakterisierung eines digitalen Kapitalismus widmen. Der vorliegende Band bietet erstmals einen Überblick über diese unterschiedlichen Theorien und Debatten und lotet entlang der Felder Arbeit und Ökonomie, Politik und Subjekt die Formen und Auswirkungen des Kapitalismus im Zeitalter der Digitalisierung aus. Mit Beiträgen u. a. von Emma Dowling, Helen Hester, Ursula Huws, Kylie Jarrett, Oliver Nachtwey, Nick Srnicek, Philipp Staab und Jamie Woodcock.

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Seitenzahl: 782

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Cover

Titel

3Theorien des digitalen Kapitalismus

Arbeit, Ökonomie, Politik und Subjekt

Herausgegeben von Tanja Carstensen, Simon Schaupp und Sebastian Sevignani

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2415

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77706-0

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Sebastian Sevignani, Simon Schaupp und Tanja Carstensen

:

Einleitung: Basiskategorien und zukünftige Herausforderungen für eine Theorie des digitalen Kapitalismus

Produktivkraftentwicklung und Arbeit

Wertschöpfung und Ökonomie

Politische Regulation und Öffentlichkeit

Kulturelle Regulation und Subjekte

Zukünftige Herausforderungen

Produktivkrafttheoretische Unterfütterung

Re-/Produktion

Intersektionalität und vergleichende Forschung zum digitalen Kapitalismus

I

. Arbeit

Ursula Huws

:

Soziale Reproduktion im Kapitalismus des 21.Jahrhunderts

Der konzeptionelle Rahmen: Marx und verschiedene Typen von Arbeit

Unbezahlte Arbeit im Haushalt und in der Gemeinschaft: Subsistenzarbeit für die soziale Reproduktion

Bezahlte private Dienstleistungsarbeit in Haus und Hof: Dienstbotenarbeit

Bezahlte private Dienstleistungsarbeit für Unternehmen: kapitalistische Dienstleistungsarbeit

Bezahlte Arbeit im öffentlichen Dienstleistungssektor

Lohnarbeit für Unternehmen der Produktionsindustrie: kapitalistische Produktionsarbeit

Unbezahlte Arbeit im Haushalt und in der Gemeinschaft: Konsumarbeit

Dynamiken des Wandels der Arbeit

Primitive Akkumulation: die Erzeugung neuer Waren

Soziale Ungleichheiten und die Dynamik des Wandels in der bezahlten Dienstleistungsarbeit

Die Rekommodifizierung der öffentlichen Dienste

Die Ausweitung der »produktiven« privaten Dienstleistungen

Die Ersetzung von Dienstleistungen durch Güter

Externalisierung von Arbeit und Zunahme der unbezahlten Konsumarbeit

Der Knoten zieht sich zusammen

Politische Implikationen

Kylie Jarrett

:

Die Reproduktion des digitalen Unternehmers: Digitale Arbeit als feminisierte Arbeit

Produktion vs. Reproduktion

Das produktive Selbst

Unternehmerische Disziplin

Reflexivität und Marginalität

Feminisierung der Arbeit

Jamie Woodcock

:

Plattformarbeit

Einleitung

Was ist die Plattformökonomie?

Verschiedene Arten von Plattformen

Woher kommt die Plattformarbeit?

Schlüsselthemen der Plattformarbeit

Forschungsbedarf

Sarah T. Roberts

:

Die schmutzige Arbeit der kommerziellen Inhaltsmoderation

Was ist kommerzielle Inhaltsmoderation?

Einen guten Job in der

KIM

-Welt machen

Inhalte gehen viral

Digitalisierung der Minstrel-Show: Rassistische Inhalte verkaufen sich

Anwaltschaft für die Marginalisierten: Wenn nutzergenerierter Inhalt gegen die Regeln verstößt

Schlussfolgerung

Florian Butollo

:

Das industrielle Internet als Ort der Wertschöpfung und -aneignung: Erobert der Plattformkapitalismus die Industrie?

Plattformen als Takers

und

Makers

Eckpunkte der Analyse von Industrieplattformen

Typen von Industrieplattformen

Produktplattformen: die immaterielle Erweiterung des Produktionsprozesses

Produktionszentrierte Plattformen: (vermeintliche) Nutznießer der industriellen Datenökonomie

Distributionszentrierte Plattformen: E-Commerce in der Industrie

Fazit

Andreas Boes und Tobias Kämpf

:

Informatisierung und Informationsraum: Eine Theorie der digitalen Transformation

Einleitung: Analysen des Digitalen Kapitalismus brauchen ein theoretisch-konzeptionelles Fundament

Informatisierung – eine produktivkrafttheoretische Perspektive

Informatisierung als Entfaltung der geistigen Produktivkräfte

Zum Begriff: Information als soziale Kategorie

Informatisierung in historischer Perspektive: Vom Zeichensystem zur Digitalisierung

Produktivkraftsprung »Informationsraum«: Fundament der Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft

Information – Informationssystem – Informationsraum: Phasen der Informatisierung

Information und Zeichensystem

Informationssysteme, Bürokratisierung und Industrialisierung

Produktivkraftsprung Informationsraum

Konturen des Produktivkraftsprungs

Ausblick: Produktivkraftsprung und Kapitalismus

II

. Ökonomie

Christian Fuchs

:

Anmerkungen zum Begriff des digitalen Kapitalismus

Einleitung

Die Theoriedebatte über die Informationsgesellschaft

Was ist der Kapitalismus?

Gesellschaftstheoretische Ansätze zum Verständnis der Digitalisierung im Kapitalismus

Einige Grundlagen einer theoretischen Heuristik zum Verständnis des digitalen Kapitalismus

Nick Srnicek

:

Daten, Datenverarbeitung, Arbeit

Struktur der Branche

Daten und Monopole

KI

-Produktionsprozess

Datenverarbeitung

Arbeit

Schlussfolgerung

Emma Dowling

:

Plattform-Sorge als Care Fix

Care-Krise

Care-Fix

Die Plattformisierung von Care als Care-Fix

Digitale Selbstsorge

Online-Gesundheitsdienste

Hilfe für Menschen mit Behinderungen

Online-Pflegeagenturen

Elektronische Überwachung häuslicher Pflegedienste

Digitalisierte Nachbarschaftshilfe

Die Grenzen der Plattform-Sorge

Thomas Barth

:

Nachhaltigkeit im digitalen Kapitalismus?

I

. Verheißungen und Enttäuschungen einer nachhaltigen, digitalen Zukunft

II

. Ansatzpunkte und Grenzen einer nachhaltigen Digitalisierung

III

. Digitalisierung und kapitalistische Nichtnachhaltigkeit

Kean Birch und D.

T.

Cochrane

:

Big Tech: Vier neue Formen digitaler Rentenerträge

Einführung

Der Aufstieg von Big Tech

Vier aufkommende Formen digitaler Rentenerträge

Enklavenrenten

Erwartete Monopolrenten

Engagementrenten

Reflexivitätsrenten

Schlussfolgerung

Tilman Reitz, Sebastian Sevignani und Marlen van den Ecker

:

Eigentum im digitalen Kapitalismus. Ökonomie, Recht und Praxis

Einleitung: Informationsgüter und kapitalistische Wertschöpfung

Zur politischen Ökonomie des digitalen Kapitalismus

Die Verschärfung und Lockerung von Immaterialgüterrechten

Die Einhegung kulturellen Austauschs im Internet (und ihre Kritik)

Offene Software-Entwicklung (und öffentlich finanzierte Forschung)

Datenverwertung und informationelle Persönlichkeitsrechte

Doing Property: Eigentumspraktiken in der Informationsökonomie

Stefan Schmalz

:

Varianten des digitalen Kapitalismus: China und

USA

im Vergleich

Vergleichende Kapitalismusforschung und China

USA

und China: Spielarten des digitalen Kapitalismus

Kampf oder Konvergenz der digitalen Kapitalismen?

Forschungsperspektiven

III

. Politik und Öffentlichkeit

Philipp Staab

:

Der Konflikt um den digitalen Kapitalismus – Kein Jenseits von Markt und Technokratie

Adaptive Märkte in Privatbesitz und die liberale Marktrationalität

Vier Kritiken digitaler Marktrationalität

Kein Jenseits von Markt und Technokratie

Simon Schaupp

:

Was ist Technopolitik? Aushandlungsarenen in der digitalisierten Arbeitswelt

Die Regulationsarena

Die Implementierungsarena

Die Aneignungsarena

Schluss

Ulrich Dolata und Jan-Felix Schrape

:

Politische Ökonomie und Regulierung digitaler Plattformen

Plattformunternehmen als organisierende Kerne des heutigen Internets

Plattformen als soziale Handlungsräume in privatem Besitz

Regulierung durch Plattformen: Regelsetzung, Kuratierung, Kontrolle

Kommodifizierung: Inwertsetzung individueller Verhaltensspuren

Regulierung von Plattformen: Ansatzpunkte politischer Intervention

Resümee: Digitale Plattformen in der digitalen Transformation

Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski

:

Plattformökonomische Öffentlichkeiten und ihr Umwelt-Werden: Zur kybernetischen Bedingung sozialer Metamedien

Der plattformökonomische Infrastrukturwandel der Öffentlichkeit

Kontrolle nach der Dezentralisierung: Die Macht der Plattformen

Die Kybernetisierung des Subjekts: Das Subjekt als Schnittstelle und Black Box [1]

Die mathematische Informationstheorie der Plattformen [2]

Feedback als gouvernementale Technik [3] und die Plattform als homöostatisches System [4]

Die Environmentalisierung von Plattformöffentlichkeiten (Metaverse)

Marisol Sandoval

:

Zwischen Antikapitalismus und Unternehmertum – Genossenschaften im digitalen Kapitalismus

Zum Begriff des Plattform-Kooperativismus

Plattform-Kooperativismus als politische Strategie: präfigurative Politik

Plattform-Kooperativismus als transformative Praxis

Plattform-Kapitalismus als alternative Praxis

Konklusion

Tanja Carstensen

:

Ringen um Handlungsfähigkeit im digitalen Kapitalismus – Aushandlungsprozesse um digitale Technologien aus intersektionalen Perspektiven

Die Frage nach sozialen Ungleichheiten im Prozess der Digitalisierung

Kapitalismusanalyse intersektional

Neue und alte Ungleichheiten im digitalen Kapitalismus?

Aushandlungsprozesse um Digitalisierung aus intersektionaler Perspektive

Kämpfe um Inhalte, Sichtbarkeit und Öffentlichkeiten

Kämpfe um Design und Technikgestaltung

Ringen um Handlungsfähigkeit als Handlungsmodus des digitalen Kapitalismus

Helen Hester

:

Nach der Zukunft:

n

Hypothesen des Post-Cyber-Feminismus

Einleitung

Unser Name ist Null, denn wir sind Viele

Ketzerisch und antithetisch: Cyberfeministische Politik

Schlussfolgerung: Xenomorphisierung des Cyberfeminismus

IV

. Kultur und Subjekte

Jodi Dean

:

Neofeudalisierung: Die innere Logik des kommunikativen Kapitalismus

Zurück in die Zukunft

Kommunikativer Kapitalismus

Affektive Netzwerke

Drei Veränderungen in der Kommunikation

Neofeudalismus

Fazit

Oliver Nachtwey, Johannes Truffer und Timo Seidl

:

Der solutionistische Geist des digitalen Kapitalismus

Der Geist des Kapitalismus in soziologiegeschichtlicher Perspektive

Solutionismus als zentrale Rechtfertigungsordnung des Silicon Valley

Die Wurzeln des Solutionismus und die Ursprünge des Geistes des digitalen Kapitalismus

Fazit

Judy Wajcman

:

Technik und Zeit

Das Tempo der Moderne

Die zeitgenössische Theorie der Geschwindigkeit

Zeit als soziotechnische Praxis

Technologie und zeitliche Grenzen

Die Kultur der Optimierung

Schlussfolgerung

Felix Stalder

:

Commoning

als unvollständige Dekommodifizierung

Commons

Digitale Commons

Commons und Kapitalismus

Commons als Pflaster für Markt- und Staatsversagen

Commons als präkompetitive Kooperation

Commons als Grundlage für neue Einhegungen

Commons als akapitalistischer Rahmen

Eran Fisher

:

Algorithmen und das Selbst

Einführung

Medien als epistemische Apparate

Epistemische Medien und Subjektivität

Epistemische Medien und menschliches Interesse

Selbstreflexion in der Psychoanalyse

Algorithmische Erkenntnis und menschliches Interesse

Schlussfolgerung

Textnachweise

Fußnoten

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9Sebastian Sevignani, Simon Schaupp und Tanja Carstensen

Einleitung: Basiskategorien und zukünftige Herausforderungen für eine Theorie des digitalen Kapitalismus

Die Debatte um den digitalen Kapitalismus nimmt weiter Fahrt auf. Der Begriff soll Konturen gegenwärtigen Wandels kapitalistischer Gesellschaften bezeichnen, der sich ausgehend vom technologischen Wandel, konkret der Digitalisierung, bestimmen lässt. Wie so oft setzt sich das Gesamtbild aus der Zusammenschau einzelner Aspekte und Veränderungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zusammen. Dieses Buch bietet erstmals eine solche Zusammenschau. Dabei bringt es auch die bislang im deutschsprachigen Diskurs weitgehend sprachlos nebeneinanderstehenden Ansätze der kritischen Politischen Ökonomie und der Science and Technology Studies (STS) in Dialog miteinander. Im Überblick zeigt sich dabei dreierlei: Erstens haben wir es mit zumeist partiellen Zeitdiagnosen für einzelne gesellschaftliche Teilbereiche zu tun, deren Zusammenführung gesellschaftstheoretischer Anstrengungen bedarf. Hierfür möchten wir einen Ordnungsvorschlag anbieten, der sich an kapitalismustheoretischen Basiskategorien orientiert, die sich der Marx’schen Theorie und ihren Weiterentwicklungen entnehmen lassen. Zweitens möchten wir skizzieren, wie sich vor dem Hintergrund unseres Ordnungsvorschlages die Entwicklung verschiedener wichtiger Bereiche des digitalen Kapitalismus darstellt, namentlich Produktivkräfte, Arbeitsorganisation, Wertschöpfung, politische und kulturelle Regulation sowie seine Subjekte und Subjektivierungsweisen. Schließlich wollen wir drittens, nach Sichtung und Diskussion der versammelten Beiträge, aus unserer Sicht zentrale konzeptionelle und analytische Herausforderungen für die Theoriebildung zum digitalen Kapitalismus markieren.

Beginnen wir aber zunächst mit einer Klärung der Begriffe Informatisierung und Digitalisierung. Informatisierung als der der Digitalisierung zugrundeliegende Prozess meint zunächst, dass geistige, regulierend-orientierende Tätigkeiten von ihren Urheber:10innen geschieden werden müssen, um sie anderen zugänglich zu machen und um zu kommunizieren und zu kooperieren. Bei jeder Vergegenständlichung – egal ob in Zeichen oder Information – erlangt allerdings nur ein Teil des Wissens, der Erfahrungen und Fähigkeiten der Menschen eine eigenständige Gestalt. Andere Kommunikationspartner:innen müssen die vergegenständlichten Informationen wieder in ihr Wissen und ihre Erfahrungen einbetten. Diese kooperative »Arbeit an den Zeichen«[1]  bedient sich auch unterschiedlicher Informationstechniken. Informatisierung meint in einem zweiten Sinn die »Materialisierung des Informationsgebrauchs«[2]  in Informationssystemen. Es geht hier um den organisierten und vergegenständlichten Umgang mit Informationen.

Die Digitalisierung zunächst analoger Informationssysteme, die dann mit Hilfe von Computern gespeichert, verteilt und bearbeitet werden können, weist einige spezifische Merkmale auf. Dazu zählen eine starke Formalisierung und Reduktion von Information (bis hin zu zwei diskreten Signalzuständen), die Möglichkeit, unter Absehung »realer« Bedingungen Veränderungen und Eingriffe auf der Ebene informationeller Modelle vorzunehmen, wobei Fakten und Kontexte von Anfang an als modulierbare Datenabbilder verstanden werden und auf dieser Ebene bearbeitet werden, bevor es zu ausführenden Tätigkeiten, etwa der Re-Organisation von Arbeitsabläufen oder der Herstellung von Technik, kommt, sowie die Integration vormals getrennter Informationsbestände und deren Standardisierung. Parallel entwickeln sich auch die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Erfahrungswelten der Menschen weiter, und es entstehen neue (Lern-)Anforderungen für den Umgang mit der Informations- und Kommunikationstechnik.[3] 

Damit berührt das Digitale so gut wie alle Dimensionen der Gesellschaft und wird zu einer Herausforderung für alle Formen der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, egal welche Ebene des Sozialen diese adressieren. Eine integrative Theorie des digitalen Kapitalismus, die alle Dimensionen zugleich erfasst, scheint daher 11unmöglich. Gleichwohl ist es das Ziel dieses Bandes, Verbindungen der disparaten Ansätze auszuleuchten. Deshalb schlagen wir die Strukturierung des Feldes anhand der kapitalismustheoretischen Basiskategorien Produktivkraftentwicklung, Arbeit, Wertschöpfung, politische Regulation sowie Kultur und Subjekte vor, die den Gegenstandsbereich der in der Gliederung des Buchs bestimmten Themenbereiche Arbeit, Ökonomie, Politik und Öffentlichkeit sowie Kultur und Subjekte abstecken. Diese sich teilweise überlappenden Kategorien und Themenbereiche erlauben es, die für einen Sammelband notwendige multiparadigmatische Herangehensweise mit einer Strukturierung des Feldes zu verbinden, die Synthesepotenziale andeutet.

Produktivkraftentwicklung und Arbeit

Nachdem die digitalen Technologien der weitgehend abgeschirmten Sphäre des Militärischen entwachsen waren, breiteten sie sich zunächst in der Arbeitswelt aus. Als Startschuss kann dabei die globale Ölkrise von 1973/74 gelten, auf die ein massiver technischer Rationalisierungsschub folgte, der sich vor allem in neuen Automatisierungstechnologien und frühen Formen der digitalen Produktionssteuerung wie der Computer Numerical Control (CNC) manifestierte. So wurden Automatisierung und Informatisierung miteinander verbunden, und der Computer wurde zu einer Organisationstechnologie im Produktionsprozess.[4]  Neben der Reduzierung von Maschinenstillständen oder -fehlern ging es vor allem darum, die menschliche Arbeit als Störfaktor auszuschalten. Vor allem in der westeuropäischen Automobilindustrie konnte die Nachfrage aufgrund von streikbedingten Produktionsausfällen regelmäßig nicht befriedigt werden.[5]  Folglich wurden diejenigen Beschäftigten, die nicht ersetzt werden konnten, einem engmaschigen Regime digitaler Kontrolle unterworfen. In diesem Sinne wurden die Auswirkungen auf die Arbeitsorganisation bereits in dieser Frühphase 12der Digitalisierung als »computergestützter Neo-Taylorismus« beschrieben.[6]  Diese Diagnose wurde später angesichts immer ubiquitärer werdender digitaler Überwachungsmöglichkeiten erneut gestellt.[7] 

Insgesamt gelang es den technischen Rationalisierungen nicht, die Gewinne wieder auf das Niveau vor der Ölkrise anzuheben. Kapital wurde zunehmend von der Produktionssphäre auf die Finanzmärkte verschoben, sodass die Finanzwirtschaft in den 1990er Jahren auf nie dagewesene Dimensionen anwuchs. Das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Finanztransaktionen erforderte eine globale digitale Infrastruktur, was wiederum eine der wichtigsten Ausgangsquellen für die massenhafte Nachfrage nach digitalen Technologien schuf und den Aufstieg des Internets einläutete.[8]  Der zentrale »Transmissionsriemen«, der die Finanzialisierung in die Betriebe übertrug, war die sogenannte Lean Production. Im Kern ging es dabei um die Eliminierung von »Verschwendung« sowohl in Bezug auf Material als auch in Bezug auf Arbeitszeit. Für diese Optimierung sollten die Beschäftigten selbst verantwortlich gemacht werden. Im Rahmen der Umstellung auf »schlanke« Methoden führten die meisten großen Unternehmen neue digitale Technologien ein, um den Arbeitsprozess mit Hilfe von Key Performance Indicators (KPIs) zu messen. Dies bedeutete eine Intensivierung der Arbeit sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht, da die Arbeit nicht nur beschleunigt, sondern auch zunehmend Erfahrungswissen verlangt wurde.[9] 

Zunehmend diffundierte das »Lean«-Paradigma auch in die Büroarbeit, wo es sich mit dem um Flexibilisierung bemühten Ansatz der »agilen« Arbeit verband.[10]  Die Verbreitung mobiler und 13smarter Geräte beförderte orts- und zeitflexibles Arbeiten, (Büro-)Arbeit wurde, soweit erlaubt, ins Homeoffice und ins Café verlagert, verbunden mit mehrdimensionalen Entgrenzungen von Arbeit. Formuliert wurden in diesem Kontext häufig Hoffnungen auf eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die sich aber meist nur als eine technologisch ermöglichte Alltagsoptimierung von Frauen entpuppte – und nicht zu einer gerechteren Verteilung von Care-Arbeit führte.[11]  Der »Arbeitskraftunternehmer«[12]  als Leitbild der neuen Arbeitswelt erhielt zudem spätestens mit dem Einzug von Social-Media-Anwendungen in den Arbeitsprozess seine technologische Entsprechung, mit Tools und Software-Oberflächen, die zum Teilen von Wissen, zur Selbstpräsentation und zum Selbstmanagement auffordern.[13] 

Eine gegenwärtig beobachtbare Radikalisierung der digitalen Flexibilisierung stellt die Plattformarbeit dar. Auf Grundlage der algorithmischen Arbeitssteuerung wird dort der Betrieb als sozial-räumlicher Ort aufgelöst und durch die »Fernsteuerung« meist scheinselbstständiger Auftragnehmer:innen ersetzt.[14]  Insgesamt stellt sich die digitale Reorganisation der Arbeit als ein überaus konfliktträchtiger Prozess dar, der – insbesondere im Feld der Plattformarbeit – in großen Teilen jenseits der institutionalisierten industriellen Beziehungen ausgetragen wird.[15]  Die hier vorliegenden Beiträge beleuchten verschiedene Dimensionen dieses weiten Feldes der digitalisierten Arbeit.

Ursula Huws stellt in ihrer Analyse die soziale Reproduktion ins Zentrum. Die gegenwärtigen Umstrukturierungen des Kapitalismus angesichts von Digitalisierung und Globalisierung gehen einher mit massiven Kommodifizierungs- und Vermarktungsdynamiken im Bereich Hausarbeit, so Huws. Anknüpfend an die von sozialistischen Feminist:innen herausgearbeitete Erkenntnis der 14grundlegenden Bedeutung sozialer Reproduktion für den Kapitalismus systematisiert sie verschiedene Typen von Arbeit und deren gegenwärtigen Wandel. Dass mit dem digitalen Wandel Unterscheidungen zwischen Erwerbsarbeit und Freizeit brüchig werden, ist nicht neu; Kylie Jarrett arbeitet allerdings darüber hinausweisend heraus, wie dabei hegemoniale Männlichkeiten in Frage gestellt werden. Die Figur des Unternehmers bleibt im digitalen Kapitalismus eine gefeierte; in der für die Disziplinierung des unternehmerischen Subjektes erforderlichen Selbstreflexivität finden sich jedoch Spuren feminisierter Marginalität, die, so Jarrett, mit der Prekarität und Instabilität digitaler Arbeit zusammenhängen. Plattformen als einem Kernelement des digitalen Kapitalismus widmet sich Jamie Woodcock. Die Bedeutung der Plattformökonomie liegt in den grundlegenden Reorganisationspotenzialen für den Arbeitsprozess. Dies betrifft nicht nur die dort direkt Beschäftigten, sondern, wie Woodcock zeigt, Arbeit im Allgemeinen und hat Implikationen für prekäre Arbeit, Beschäftigungsverhältnisse, algorithmische Steuerung sowie die Möglichkeiten zum Widerstand. Tief in die Sphären der oft unsichtbaren Arbeit der Contentmoderation im Internet dringt Sarah T. Roberts mit ihrer Analyse der »Drecksarbeit« am Digitalen vor. Hierbei werden nicht nur die immensen Belastungen der alltäglichen Arbeit des Sichtens und Löschens rassistischer, sexistischer und gewalttätiger Inhalte deutlich, sondern auch, dass hinter sichtbaren rassistischen Inhalten und Verstößen gegen Nutzungsrichtlinien keinesfalls schlecht kuratierte Plattformen stehen, sondern ausgefeilte Versuche, die Rentabilität zu steigern. Der Ausgangspunkt des Beitrags von Florian Butollo ist die Auffassung, dass die Schnittstellen zwischen Digitalwirtschaft und traditioneller Ökonomie eingehend untersucht werden müssen, um bestimmen zu können, wie sich neue Geschäftsmodelle und Akkumulationsmuster auf die Gesamtökonomie auswirken. Er zeigt für digitale Plattformen in der Industrie, wie die Kombination aus Daten, Datenanalyse und Cloud-Infrastrukturen eine wachsende Bedeutung für die industrielle Wertschöpfung gewinnt, von der insbesondere die Tech-Unternehmen profitieren. Der Beitrag von Andreas Boes und Tobias Kämpf schließlich argumentiert für einen gesellschaftstheoretischen Zugriff auf die digitale Transformation der Arbeit. Ausgehend von ihrem Verständnis von Informatisierung argumentieren sie, dass der Aufstieg des Internets zu einem 15Informationsraum einen qualitativen Sprung markiert: durch neue Raum-Zeit-Strukturen, eine neue Qualität der digitalen Durchdringung einer zunehmend transparenten Welt, neue Möglichkeiten der weltgesellschaftlichen Produktion und Reproduktion von Wissen und einen digitalen, global zugänglichen Raum der Produktion.

Wertschöpfung und Ökonomie

Die Produktivkräfte entwickeln sich in spezifischen Produktionsverhältnissen, neben den Arbeits- beispielsweise auch in den Eigentums-, Verwertungs- und Verteilungsverhältnissen, die die Menschen eingehen, um zu arbeiten. Ein häufiger – wenngleich möglicherweise zu enger, weil die Reproduktionssphäre vernachlässigender – Ausgangspunkt für die Bestimmung kapitalistischer Produktionsverhältnisse wird den Marx’schen Analysen in den drei Bänden des Kapitals entnommen: Gesellschaftliche Arbeitsteilung und die (nicht grundsätzlich koordinierte) Privatproduktion machen Warentausch bzw. Märkte notwendig, auf denen produktive Güter, Ressourcen und das erwirtschaftete Surplus verteilt werden. Eine Konzentration des Privateigentums an Produktionsmitteln setzt Arbeitskräfte frei, die als besondere Ware auf Arbeitsmärkten verkauft und gekauft werden können (Marx spricht von den doppelt freien Lohnarbeiter:innen[16] ). Zusammengenommen entfaltet sich, vermittelt über Konkurrenz, eine dynamische Akkumulationslogik und systemische Profitorientierung. Geld wird eingesetzt, um Arbeitskräfte und Produktionsmittel zu kaufen und dann in produktiver Weise zu kombinieren, um die Ergebnisse an zahlungskräftige Nachfrager:innen zu verkaufen und dabei Profite zu erzielen und zur Wertschöpfung beizutragen. Dabei durchläuft das Kapital (gesamtgesellschaftlich und im Fall gelingender Akkumulation) verschiedene ineinandergreifende Sphären der Produktion, Zirkulation bzw. Distribution und der (produktiven und reproduktiven) Konsumtion.

16Differenzierten sich in der Entwicklung des Kapitalismus zunächst spezialisierte Branchen der Informationsökonomie heraus, die sektorspezifisch hohe Profite versprechen, wandert die Informationsökonomie heute in (fast) alle Wirtschaftsbereiche ein. Ihre Leitunternehmen bekommen eine hervorgehobene Stellung für die Gesamtökonomie, was sich auch in hohen finanziellen Bewertungen der prominenten US-amerikanischen GAFAM- oder der chinesischen BATH-Unternehmen widerspiegelt. Während sich der Anteil informationeller Güter an allen Produkten erhöht, sind diese zumindest schwieriger in die Form des Privateigentums zu bringen. Deshalb lässt sich eine für die Informationsökonomie typische »Dialektik von Offenheit und Schließung«[17]  beobachten, wobei auch informationelle Fähigkeiten in der Arbeit vor allem im kommunikativen Austausch effektiv prosperieren.[18] 

Die kapitalismustheoretische Frage nach der Wertschöpfung und den damit verbundenen Eigentums-, Arbeits-, Verwertungs- und Verteilungsverhältnissen stellt sich im digitalen Kapitalismus, über die systemische Rationalisierung von Arbeit mittels digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien hinaus, in grundlegender Weise. Zugespitzt: Wer sind in dieser Konstellation die Nutznießer:innen und wer sind die Wertschöpfenden?[19]  Hier gibt es durchaus konkurrierende Perspektiven. Zunächst wird der Ort der Wertschöpfung debattiert, also ob sie noch (vor allem) in privat-kapitalistischen Unternehmenskontexten stattfindet, weil diese etwa, wie den digitalen Leitunternehmen zugesprochen, besonders innovativ und/oder effektiv[20]  sind. Oder ist gar nicht die Produktion im digitalen Kapitalismus entscheidend, sondern handelt es sich bei digitalen Technologien vor allem um »Distributivkräfte«, die dafür sorgen, dass produzierte Werte sich möglichst rasch und zielsicher 17(etwa durch verbesserte Marketingmöglichkeiten) realisieren?[21]  Dann verbreitert sich der Fokus auf die funktionalen Beziehungen zwischen den Leitunternehmen und der übrigen Ökonomie. Oder ist gar die »Gesellschaft zur Fabrik«[22]  geworden, weil informationelle Arbeit nicht nur in der Ökonomie, sondern tendenziell überall, etwa von produktiven Konsument:innen,[23]  geleistet wird? Zur privaten Aneignung dieser verteilten und kooperativen informationellen Produktion sind insbesondere Überwachungstechnologien geeignet, weil sie es erlauben, periphere Lebensbereiche an kapitalistische Verwertungsabsichten anzuschließen und Verhalten entsprechend zu steuern.[24] 

Parallel zu und teilweise in logischer Bezugnahme auf die Frage des Ortes (Produktion, Zirkulation/Distribution, Konsumtion, digitale Leitunternehmen, Informations- und Kommunikationstechnologie-Sektor, Gesamt-Ökonomie) wird auch die Frage des Wie der digital-kapitalistischen Wertschöpfung und -aneignung kontrovers diskutiert. Vereinfacht stehen sich hier Positionen, die neue Formen von Ausbeutung von Arbeit, die auch jenseits des Lohnarbeitsverhältnisses passieren können, rententheoretischen Ansätzen und Positionen, die eine sekundäre Ausbeutung (also ein nachträgliches »Auffressen« der Einkommen aus Arbeit durch hohe Lebenshaltungskosten) betonen, gegenüber. In klassisch marxistischer Terminologie sind Rentenerträge Abzüge von den aus der Ausbeutung von Lohnarbeit resultierenden Profiten; sie sind dann 18möglich, wenn sich Produzent:innen von der Nutzung bestimmter Ressourcen im Vergleich zur Konkurrenz höhere Gewinne versprechen und daher bereit sind, für diese Nutzung einen Teil ihrer erwarteten Profite abzugeben. Klassischerweise ging es dabei um fruchtbare Böden; im digitalen Kapitalismus sind es aber kulturell interessante Netzwerke oder Wissensvorteile intellektueller Monopole, die manchmal patentrechtlich abgesichert werden und manchmal aufgrund strategischer Positionierungen auch ohne diesen Schutz auskommen.[25]  In dieser rententheoretischen Perspektive[26]  resultieren digital-kapitalistische Gewinne aus Wertaneignungen, die sich aus Abzügen von den Profitmargen in allen anderen Wirtschaftsbereichen ergeben, etwa weil auch dort auf die digitalen Distributivkräfte zurückgegriffen werden muss. Digital-kapitalistische Wertschöpfung, die auf Ausbeutung beruht, resultiert aus einer Intensivierung oder Extensivierung von Lohnarbeit durch den Einsatz digitaler Technologien oder spannt reproduktive Tätigkeiten in ihre Wertschöpfung ein. So kann beispielsweise der Zugriff auf Nutzungsdaten einerseits als rentenermöglichende Ressource, aber andererseits auch als Arbeitsprodukt der Konsument:innen verstanden werden. Ein weiterer Vorschlag besteht darin, die Tätigkeit der Nutzer:innen digitaler Plattformen nicht als Arbeit, sondern als Gabentausch zu verstehen, der dann zur Produktionsbedingung von Datenwaren wird.[27] 

Bei all diesen Ansätzen stellt sich zudem die Frage, ob sich typische Organisationsformen der Ökonomie im digitalen Kapitalismus, wie etwa das Netzwerk,[28]  die Plattform[29]  oder das Ökosystem, identifizieren lassen. Diese zeichnen sich dann dadurch aus, dass sie 19besonders geeignet sind, einen oder mehrere der zuvor skizzierten Wege digital-kapitalistischer Wertschöpfung oder Wertaneignung zu ermöglichen.

Christian Fuchs stellt in seinem Beitrag grundlegende Dimensionen seiner Theorie des digitalen Kapitalismus vor. Eine Theorie des digitalen Kapitalismus muss ihm zufolge die Frage nach der Kontinuität und der Diskontinuität der gesellschaftlichen Entwicklung im Kontext der Digitalisierung beantworten und sich die Frage stellen, wie neu der digitale Kapitalismus ist. Vor allem müssen Theorien des digitalen Kapitalismus auf Definitionen und Theorien des Kapitalismus aufbauen und die Frage aufgreifen, in welchen Verhältnissen Klasse, Rassismus und Patriarchat im Kontext der Digitalisierung stehen. Nick Srnicek beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Monopolisierungstendenzen im Feld der Künstlichen Intelligenz und argumentiert, dass es sich bei dieser Technologie um eine »monopolisierende« handelt. Er legt den Fokus seiner Analyse auf die Parameter Daten, Datenverarbeitungskapazitäten und Arbeit. Ohne letztere können ihm zufolge die ökonomischen Potenziale von KI gar nicht ausgeschöpft werden (etwa für Modellerstellung und -einsatz sowie für Überwachung und Umschulungen). Er zeigt, dass – entgegen verbreiteter Annahmen – nicht so sehr die Datenerfassung entscheidend ist, sondern vielmehr die Verarbeitungskapazitäten und die dafür notwendige Arbeitskraft. Emma Dowling untersucht die zurzeit massenhaft entstehenden Apps, Online-Services und digitalen Plattformen im Care-Bereich; diese analysiert sie als Versuche, die Lücken im Care-Bereich zu stopfen. Während die neoliberalen Umstrukturierungen, Privatisierungs- und Vermarktlichungsprozesse in Pflege, im Gesundheitssystem und in der Kinderbetreuung immer weiter zur Verschärfung der Care-Krise beitragen, präsentieren sich diese digitalen Angebote als Lösungen für ebendiese Krise, die aber nur scheinbar dazu beitragen, Sorgelücken zu schließen. Thomas Barth geht in seinem Beitrag auf die ökologische Dimension des digitalen Kapitalismus ein. Ihm zufolge ist die entscheidende Frage aus einer kapitalismustheoretischen Perspektive nicht, ob der digitale Kapitalismus nachhaltig werden kann oder nicht. Vielmehr muss geklärt werden, was digitale Technologien zu einer Überwindung zentraler Strukturmerkmale nichtnachhaltiger kapitalistischer Naturverhältnisse beitragen können. Kean Birch und D. T. Cochrane knüpfen an die These an, dass der digitale Kapitalis20mus ökonomisch vor allem auf Rentengewinnen basiert, und fokussieren ihre Analyse auf die großen Technologiekonzerne. Diese sind in der Lage, komplexe Ökosysteme aufzubauen, in denen es ihnen durch den Einsatz von Machtressourcen gelingt, Kontrolle auszuüben, um Rentengewinne zu realisieren. Die Autoren beschreiben vier Strategien zur Realisierung von Rentengewinnen als Enklaven-, Engagement-, Reflexivitäts- und erwartete Monopolrenten. Tilman Reitz, Sebastian Sevignani und Marlen van den Ecker werfen einen Blick auf die Eigentumsverhältnisse im digitalen Kapitalismus. Sie stellen die Frage, inwiefern Privateigentum im Kontext informationeller Produktion noch Profite ermöglicht. Neben die rechtlich sanktionierte exklusive Verfügung über informationelle Ressourcen wie Wissen, Informationen und Daten treten in einer durch die Bildung von Ökosystemen und einer damit einhergehenden typischen Dialektik von Offenheit und Schließung gekennzeichneten digitalen Ökonomie vermehrt funktionale Äquivalente zum kapitalistischen Privateigentum. Während vom digitalen Kapitalismus meist im Singular und nicht im Plural gesprochen wird, zeigt der Beitrag von Stefan Schmalz, dass sich in China und den USA unterschiedliche digitale Ökosysteme herausgebildet haben. Während bei der US-amerikanischen Variante unternehmerische Freiheit, globale Skaleneffekte und eine Empire-Logik im Vordergrund stehen, sind in China nationale Sicherheit, Merkantilismus und Überwachungstätigkeit die zentralen Regulierungsmuster und die Voraussetzungen von Wettbewerbsfähigkeit. Durch die fortschreitende Globalisierung des chinesischen digitalen Kapitalismus sind beide Modelle in eine komplexe Interaktion getreten, die zwischen einem »Kampf« und einer »Konvergenz« der digitalen Kapitalismen schwankt.

Politische Regulation und Öffentlichkeit

Dass das die Akkumulation ermöglichende Zusammenspiel von Produktion, Zirkulation bzw. Distribution, Konsumtion und nun auch Reproduktion eigentlich höchst unwahrscheinlich und höchst krisenhaft ist und deshalb einer Koordinierung bedarf, darauf hat die französische Regulationstheorie hingewiesen.[30]  Ein bestimmtes 21Akkumulationsregime funktioniert nur zusammen mit einem bestimmten Regulationsregime, das heißt einer jeweils spezifischen Konstellation von wirkmächtigen Normen und (politischen) Institutionen – bevor es von einem anderen abgelöst wird. Die Regulationstheorie denkt Regulation tendenziell von außen auf die Ökonomie einwirkend und verbleibt dabei in einer an die Basis-Überbau-Unterscheidung erinnernden gesellschaftlichen Topik; orientierend-regulative Momente sind gar nicht von der Arbeit zu trennen, und das Politische und das Kulturelle stecken sozusagen bereits in der Ökonomie – wenngleich sie dort nicht immer spezialisiert und nicht gesellschaftlich als Kultur oder Politik ausdifferenziert sind. Regulation ist – ob gesellschaftstheoretisch eher horizontal oder vertikal angelegt – eine wichtige kapitalismustheoretische Kategorie, und wir möchten hier weitergehend zwischen ihrer politischen und ihrer kulturellen Dimension unterscheiden. Letztere bezieht sich auf gesellschaftlich wirkungsmächtige Deutungs- und Wertangebote, die Akteure sowohl motivieren und orientieren, also als Subjekte anrufen und handlungsfähig machen,[31]  als auch zu den Erfordernissen der Kapitalakkumulation passen. Welche der zunächst relativ frei zirkulierenden Deutungen sich in Hegemoniekämpfen durchsetzen, welche von relevanten Akteur:innen ausgewählt und erhalten werden, welche diskursiv verstärkt und letztlich materiell verdichtet und institutionalisiert werden, hängt wiederum von gesellschaftlichen Interessenkonstellationen und Kräfteverhältnissen ab.[32]  Die politische Regulation bezieht sich dann auf diese in Hegemonie-Auseinandersetzungen verdichteten und institutionalisierten Formen, wie etwa konkrete 22Mediensysteme, Gesetze oder staatliche sozial- und wettbewerbspolitische Maßnahmen.

Neben ihrer Funktionalität für die kapitalistische Regulation geben digitale Technologien immer wieder Anlass zu Hoffnungen auf Demokratisierung, Partizipation und kritische Gegenöffentlichkeiten. Bereits Computer und Mikroelektronik wurden seit den siebziger Jahren als Befreiungstechnologien gefeiert.[33]  Auch Kabelfernsehen und »Neue Medien« waren, häufig unter Bezugnahme auf Brechts Radiotheorie, mit Hoffnungen auf eine technisierte »Kabeldemokratie« verbunden.[34]  Der Grundgedanke war dabei stets, dass monopolisierte Informationszugänge Ursache für Machtungleichheiten seien und diese mit einem gleichberechtigteren, dezentral organisierten Zugang zu Informationen verschoben werden könnten.

Die frühen Netztechnologien wurden in Teilen sozialer Bewegungen, etwa in Hackerclubs und der Mailbox-Szene, ebenfalls begeistert diskutiert; Nutzungsweisen wurden erprobt und mit selbst geschriebenen Programmen über das Telefonnetz wurden Verbindungen zwischen Rechnern hergestellt.[35]  Zugleich waren diese Technologien stets von Kritik begleitet, so gründeten sich ab 1976 »Antikabelgruppen« und es wurde zu Computerboykotten aufgerufen, nicht zuletzt in Verbindung mit den Protesten gegen die Volkszählung.[36] 

Das Internet beflügelte erneut Hoffnungen auf Demokratisierung, Partizipation und Hierarchielosigkeit.[37]  Unter der Metapher »Cyberspace« wurden mit Blick auf dessen »überquellenden, offenen, radikal heterogenen und nicht totalisierbaren Charakter«[38] 23Szenarien der Freiheit und Grenzenlosigkeit entworfen, verschiedene Manifeste wie die »Magna Charta für das Zeitalter des Wissens«[39]  und die »Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace«[40]  verkündeten die Unkontrollierbarkeit und Unregierbarkeit des Internets und darauf gründend ein neues Zeitalter sozialer Gleichheit und Grenzenlosigkeit. Charakteristisch war hierbei die von Barbrook und Cameron beschriebene und als »kalifornische Ideologie« bezeichnete »Verschmelzung« anarchistischer und neoliberaler Ideen.[41]  Dem gegenüber standen Versuche von staatlicher und industrieller Seite, das Internet zu regulieren und ökonomisch nutzbar zu machen. Al Gore propagierte 1993 den »Information Superhighway«, es begann die Suche »nach Verfahren und Regelungen, die den Wildwuchs der Netze bremsen und strukturelle Ordnung im Netz schaffen sollen«.[42] 

Durch digitale Technologien veränderte gesellschaftliche Kommunikationsverhältnisse treiben gegenwärtig einen Strukturwandel der Öffentlichkeit, also der Organisation gesellschaftlicher Erfahrung und damit der Grundlage aller Hegemoniekämpfe und der politischen und kulturellen Regulation, voran.[43]  Nach eher mühsamen Versuchen von E-Democracy und E-Participation im »ersten« Internet brachten die Sozialen Medien des Web 2.0 deutliche Dynamik in die Möglichkeiten von kritischen Gegenöffentlichkeiten. 24Beispiele wie die Facebook- und Twitter-Nutzung im Arabischen Frühling oder auch feministische Bewegungen wie der Cyberfeminismus der 1990er Jahre und #metoo-Kampagnen in den 2010er Jahren verdeutlichen die Möglichkeiten der schnellen Verbreitung von Information, der Herstellung von Solidarität und der Mobilisierung von politischem Protest.[44]  Nachdem es zunächst schien, als seien gerade die Sozialen Medien dezentral strukturiert und damit besondere Machtmittel für soziale Bewegungen, sind in den vergangenen Jahren jedoch die Probleme einer Privatisierung, Kommodifizierung und Monopolisierung digitaler Kommunikationsinfrastruktur deutlich geworden und verlangen nach politischer Re-Regulierung beispielsweise angesichts der Verbreitung und Akzeptanz von »Fake News« und Desinformation.[45] 

Philipp Staab eröffnet diesen Teil des Buches mit einem Beitrag über die Spielarten der Kritik des digitalen Kapitalismus. Dabei stellt er zwei Konvergenzen heraus: Die Kritiken plädieren entweder für eine Reinstitutionalisierung liberaler Marktrationalität oder für die technokratische Suspendierung offener Märkte mit digitalen Mitteln. Der Beitrag von Simon Schaupp stellt das Konzept der Technopolitik vor. Dabei handelt es sich um einen Mehrebenen-Analyserahmen zur Untersuchung der Aushandlung betrieblicher Digitalisierung. Damit trägt das Konzept zu einem differenzierten Verständnis von Beschäftigtenmacht in den industriellen Beziehungen des digitalen Kapitalismus bei. Der Beitrag von Ulrich Dolata und Jan-Felix Schrape entwickelt eine kurze politische Ökonomie der Regulation kommerzieller Internetplattformen: Wie verändert das kommerzielle Internet ökonomische Prozesse und Verwertungsmuster, auf welche Weise prägt und reguliert es soziale Zusammenhänge und gesellschaftliche Verhältnisse und welche Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher Einflussnahme und politischer Regulierung gibt es? Anna-Verena Nosthoff und 25Felix Maschewski stellen im Anschluss an aktuelle Überlegungen von Jürgen Habermas den gegenwärtigen, plattformökonomischen Infrastrukturwandel der Öffentlichkeit dar, um neben neuen Herausforderungen für die klassische Medienbranche die Formen der Vermachtung bzw. Oligopolisierung der Öffentlichkeit durch einzelne Technologieunternehmen nachvollziehbar zu machen. Dabei legt der Beitrag in kritisch-theoretischer Grundierung ein besonderes Augenmerk auf die kybernetischen Bedingungen der »Affektmaschine« Social Media und markiert zugleich die Fluchtlinie einer medialen »Environmentalisierung«, das heißt eines Umwelt-Werdens der (politischen) Öffentlichkeit(en). Der Beitrag von Marisol Sandoval befasst sich mit der Frage nach Alternativen zum digitalen Kapitalismus. Er fokussiert dabei auf unter dem Schlagwort »Plattform-Kooperativismus« diskutierte genossenschaftliche Betriebsmodelle und bespricht, inwieweit diese einerseits immanente Verbesserungen bewirken und andererseits auch über den digitalen Kapitalismus hinausgehende Veränderungen anstoßen können. Deutlich wird eine Reihe von Spannungen zwischen Politik und Ökonomie, Demokratie und Markt, Gemeingut und Kommerzialisierung sowie Aktivismus und Unternehmertum. Aus intersektionalen Perspektiven untersucht der Beitrag von Tanja Carstensen die Konflikte und Kämpfe um Öffentlichkeiten, Inhalte und Design der digitalen Technologien. Mit Twitter-Kampagnen gegen Rassismus und Polizeigewalt wie bei #blacklivesmatter, Petitionen für nichtbinäre Anmeldeformulare bei Sozialen Netzwerken und Initiativen gegen diskriminierende Algorithmen untersucht sie das permanente Ringen um Handlungsfähigkeit, bei dem es zentral um die Verhandlung von Ungleichheitskategorien wie gender, race oder class geht. Helen Hester nutzt ihren kritischen Rückblick auf den Cyberfeminismus, der in den 1990er Jahren mit dem frühen Internet entstand, für einen Versuch, die feministischen Herausforderungen für das 21.Jahrhundert neu zu entwerfen. In Auseinandersetzung mit den prominenten künstlerischen Interventionen des cyberfeministischen Projekts des »old boys network« entwickelt sie erste Ansatzpunkte für einen technomaterialistischen »Xenofeminismus«, der sich von der Politik der Identitätslosigkeit abwendet – bei gleichzeitiger Anerkennung der Vorläufigkeit und Kontingenz gegenwärtiger politisch-emanzipatorischer Projekte.

26Kulturelle Regulation und Subjekte

Schließlich erzeugt der digitale Kapitalismus im Einklang mit Verwertungserfordernissen spezifische Subjektivierungsweisen und motivierende sowie legitimierende kulturelle Deutungsmuster. Ob dies aber tatsächlich gelingt, ist fraglich, etwa im Fall einer neuen Formierung einer Regulationsordnung oder gar einer Krise. Zum Beispiel motivieren Rechtfertigungsordnungen, die in den US-amerikanischen Zentren des digitalen Kapitalismus wirken und zum Beispiel Investments in neue Technologien ermöglichen, nicht unbedingt auch das »Bodenpersonal« der digitalen Arbeiter:innen.[46]  Noch komplizierter wird es, wenn der digitale Kapitalismus – wie in diesem Band – als widersprüchlich, facettenreich und (regional) verteilt gefasst wird. Welche kulturellen Deutungen werden in welchen (Teil-)Bereichen wichtig oder gar hegemonial, welche Deutungen und Subjektivierungsangebote sind geeignet, verschiedene (arbeitsorganisatorische, ökonomische, politische oder regional-spezifische) Aspekte des digitalen Kapitalismus miteinander zu vermitteln? Und in welcher Weise sind solche hegemoniefähigen Deutungen selbst umstritten und kulturell umkämpft?

Während frühe Computertechnologien weitgehend von kulturpessimistischen Diskursen begleitet wurden, die für Mensch, Gesellschaft, Kultur und Bildung Verdummung, »Kulturverfall« und »Überflutung« mit »Datenmüll« befürchteten,[47]  wurde das Internet Mitte der neunziger Jahre euphorisch begrüßt. Schnell gewann die These an Popularität, dass das neue Netzmedium mit seiner (vermeintlichen) Körper- und Schwerelosigkeit einen neuartigen 27Erfahrungsraum darstelle, der Selbstbilder und Subjektivierungsweisen verändern werde. Postmoderne Konzepte von fluiden, fragmentierten und dekonstruierten Identitäten fanden in Chats und »Multi-User-Dungeons« ihre technologische Verwirklichung. Neben scheinbar völlig freien und spielerischen Ausdrucks- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten wurde ein Abbau sozialer Ungleichheiten erwartet, da sichtbare Körpermerkmale wie Geschlecht, Haut- und Haarfarbe und Alter an Relevanz verlieren sollten.[48]  Körper- und Stofflosigkeit würden die Entfaltung neuartiger, egalitärerer Identitätsformationen ermöglichen, so die Hoffnung. Figuren wie Donna Haraways Cyborg,[49]  die lange vor dem Internet theoretische Diskurse und künstlerische Praxen inspiriert hatten, sorgten für affirmative Visionen der Verschmelzung von Mensch und Netztechnologie, wenn auch meist als »inhaltsleere Anspielung auf Mensch-Maschine-Kopplungen […]. Der antikapitalistische und feministische Gehalt von Haraways Figur ist dabei verschwunden«, stellte Katja Diefenbach bereits 1997 fest.[50]  Viele dieser Hoffnungen wurden dementsprechend schnell enttäuscht, erste Untersuchungen zeigten bald, dass es in der anonymen Netzkommunikation ein vehementes Beharren auf Identitätskategorien gab, eine der ersten Fragen im Chat oft »a/s/l?« war – also die Frage nach Alter (age), Geschlecht (sex) und Wohnort (location) – und das Netz keinesfalls ein freier Experimentierraum war.[51]  Mit dem Begriff digital divide wurde zudem ebenfalls früh benannt, dass mit den Internettechnologien soziale Ungleichheiten entlang der Frage, wer online ist (und damit Zugang zu Informationen hat) und wer nicht, massiv von Geschlecht, Alter, Bildungsniveau und insbesondere auch von der Region (mit Blick auf Stadt-Land-Unterschiede und erst recht im globalen Maßstab) abhingen.

28Mit der technologischen Weiterentwicklung des Internets zum Web 2.0, zunächst insbesondere in Form von Wikis, Weblogs und sozialen Netzwerken, zeigte sich eine nächste Welle der Ausweitung von Ausdrucks- und Handlungsmöglichkeiten, sei es für queere Communities, Gruppen mit spezifischen Hobbies oder Do-it-yourself-Netzwerke, die als historisch neue Möglichkeit der Nutzung gemeinschaftlich geteilter interaktiver Medien gefeiert wurden.[52]  Kulturpessimistische Positionen warnten zugleich vor den Auswirkungen der Informationsflut auf das Denken und vor der Überforderung durch Multitasking.[53]  Neben den immensen Austausch- und Vernetzungsmöglichkeiten rückten weitere Eigenschaften des Web 2.0 in den Blick, die kritisch diskutiert wurden: die spezifischen Aufforderungen und Möglichkeiten zu Selbstführung, Self-Tracking, und akribischen Leistungsvergleichen, zu Rankings, zur Authentizität sowie zur begeisterten Selbstinszenierung – die Selbstverständlichkeit, über sich selbst Auskunft zu geben, sich als Objekt der Betrachtung in Szene zu setzen und permanent zu optimieren.[54]  Das Web 2.0 galt vielen daher als »Prototyp neoliberaler Regierungstechnologie«.[55] 

Überwogen hier zunächst Anrufungen an die Subjekte, die unternehmerisches Handeln, Ausdrucksvielfalt, Selbstregierung, Kulturen der Selbstpreisgabe und des Identitätsmanagements mit einem Zwang zur Eindeutigkeit vereinten,[56]  mischten sich mit der zuneh29menden Monopolisierung der Internetkonzerne, den Enthüllungen Edward Snowdens bezüglich der weitreichenden Überwachung des Netzes etc. deutlich pessimistischere Deutungen der Handlungsmöglichkeiten von Subjekten in die Diskussion. Zunehmend wurde die vermeintliche Handlungsmacht von Bots, Robotern, KI und Algorithmen kritisiert.[57]  In den letzten Jahren überwiegen Einschätzungen, dass menschliche Autonomie, Handlungsspielräume, Souveränität und die Eigenständigkeit von Entscheidungen angesichts von algorithmischen Kontrollmöglichkeiten, Handlungsvorschlägen, Nudging und manipulativen Fehlinformationen immer fragiler und eingeschränkter werden. Subjekte sind offenbar entweder »sorglos« oder zu bequem im Umgang mit der (unbemerkten) Erhebung personenbezogener Daten[58]  und zeigen offenbar eine hohe Bereitschaft, Entscheidungen an Internetdienste abzugeben, sich die Welt von Algorithmen, Konzernen, Apps und Plattformen organisieren zu lassen oder nur noch reflexhaft auf automatisierte Vorschläge zu reagieren,[59]  Dinge nur zu mögen, weil andere sie mögen[60]  etc. Die Texte in diesem Teil des Buches gehen auf diese verschiedenen kulturellen und subjektbezogenen Dimensionen des digitalen Kapitalismus ein.

Der Beitrag von Jodi Dean stellt das Konzept des Neofeudalismus vor. Sie zeigt, wie in den neunziger Jahren die Kommunikationstechnologien den Kapitalismus salonfähig, aufregend und cool machten und Kritiker:innen zu unzeitgemäßen Technikfeind:innen degradierten. Sie zeichnet nach, wie dieses Elixier aus Geld, Spaß und Freiheit im heutigen kommunikativen Kapitalismus abgelöst wurde von einer Dynamik, in der Beiträge kommunikativ äquivalent werden und der Zirkulationswert eines Beitrags seinen Gebrauchswert ersetzt. Oliver Nachtwey, Johannes Truffer und Timo Seidl präsentieren das Konzept des Geistes des digitalen Kapitalis30mus. Ihr Beitrag zeigt, dass sich mit der Herausbildung des digitalen Kapitalismus auch eine neue Rechtfertigungsstruktur etabliert, die diesen normativ einbettet: die Ethik der Solution. Das Konzept des digitalen Geistes offeriert so vielfältige Anknüpfungspunkte für die Analyse der kulturellen Dimension des digitalen Kapitalismus. Judy Wajcman geht es in ihrem Beitrag um den Zusammenhang von Digitalisierung und Zeit. Im Gegensatz zu technikdeterministischen Thesen der Beschleunigungsgesellschaft konzeptualisiert sie Zeit als grundlegend soziotechnisch oder soziomateriell. Dabei diskutiert sie auch, wie die Erfahrung von Zeit durch Institutionen wie Arbeit und Familie strukturiert wird und sich über soziale Unterschiede wie Geschlecht und Klasse hinweg differenziert, sowie die Besessenheit des Silicon Valley von Zeitkontrolle und Effizienz. Der Beitrag von Felix Stalder analysiert digitales Commoning als unvollständige Dekommodifizierung. Die Commons – Gemeinschaftsgüter, deren Produktion und Nutzung nicht warenförmig, sondern nutzwertorientiert sind – werden oft als Gegensatz oder Alternative zum digitalen Kapitalismus gesehen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass es diesem digitalen Kapitalismus in der Praxis weitgehend gelungen ist, Commons für seine Zwecke nutzbar zu machen und dafür einzusetzen, Güter und Dienstleistungen bereitzustellen, die er selbst nicht produzieren kann. Eran Fisher schließlich untersucht die neuartigen Formen der Selbsterkenntnis, die von Algorithmen auf digitalen Plattformen geschaffen werden, und ordnet diese historisch ein. Digitale Plattformen knüpfen an eine lange Geschichte von epistemischen Medien an, die Wissen nicht nur vermitteln, sondern auch schaffen. Da epistemische Medien eine neue Art und Weise ermöglichen, die Welt zu erkennen, ermöglichen sie Selbstreflexion. Allerdings, so Fisher, unterlaufen digitale Medien genau diesen Prozess, indem sie die Selbstreflexion erschweren und so letztlich auch die Subjektivität selbst untergraben.

Zukünftige Herausforderungen

Mit diesen vier Abschnitten und den heterogenen Perspektiven der einzelnen Beiträge bietet der vorliegende Band einen breiten Überblick über aktuelle Analysen des digitalen Kapitalismus. Gleichzeitig wird in der Zusammenschau deutlich, dass an verschiedenen 31Stellen weiterhin immenser Bedarf an Forschung und Theoretisierung besteht und dass Perspektiven noch weiter ausgearbeitet werden können und sollten. Wichtig scheinen uns hier vor allem drei Zugänge: 1. eine stärkere produktivkrafttheoretische Unterfütterung, die herausarbeitet, was das diesbezüglich Neue am digitalen Kapitalismus ist; 2. ein konsequentes Zusammendenken von Produktion und Reproduktion – auch mit Blick auf ökologische Fragen; 3. die Weiterentwicklung intersektionaler und international vergleichender Perspektiven.

Produktivkrafttheoretische Unterfütterung

Häufig wählen Theorien des digitalen Kapitalismus phänomenbezogen die digitale Technik als Ausgangspunkt. Die Kategorie der Produktivkräfte inklusive der hier getroffenen Unterscheidung in regulierend-orientierende und ausführende Tätigkeiten bietet einen aus unserer Sicht geeigneteren Ansatz zum Verständnis der Digitalisierung. Produktivkräfte umfassen dabei die Gesamtheit des menschlichen Arbeitspotenzials; neben der Technik fasst Marx darunter auch das gesellschaftliche Wissen sowie Formen der Kooperation.[61]  Arbeit vollzieht sich in einem System von Produktivkräften. Dieses besteht aus den tätigen oder arbeitenden Menschen, die bestimmte Fähigkeiten haben. Sie nutzen Arbeitsgegenstände und (zum Beispiel digitale) Arbeitsmittel bzw. Werkzeuge, um ihre Fähigkeiten in einem Objekt zu vergegenständlichen. In diesem Prozess schaffen sie ein neues Produkt, einen Gegenstand. Der Arbeits- oder Produktionsprozess kann auch als ein Prozess von Aneignung, Bildung und Vergegenständlichung beschrieben werden. Dabei handelt es sich nicht um Einbahnstraßen, Artefakte werden also nicht nur angeeignet und benutzt, sondern ihre Eigenständigkeit formt auch das Subjekt, und das Produzierte macht die Fähigkeiten der Menschen erst sicht- und teilbar. Dies ist wiederum der Ausgangspunkt für neue Arbeitsprozesse und so weiter.

In konkreten Gesellschaften kann dann untersucht werden, inwieweit dieser Prozess zerrissen, blockiert, entfremdet ist und Ausbeutung ermöglicht und auch, wie diese Arbeitsprozesse auf unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen verteilt werden und zu 32welchem Grad sie geistig-kulturelle oder materielle Produkte bzw. ganze daran gelagerte Industrien sowie spezialisierte (ökonomische, politische und kulturelle) Teilbereiche hervorbringen.[62] 

Dieser produktivkrafttheoretische Ansatz verbietet es, Digitalisierung einfach als die Nutzung digitaler Technik oder deren gesellschaftliche Ausbreitung zu fassen. Denn mit einem solchen Zugang wird zum Beispiel nicht deutlich, dass das Digitale, selbst da, wo es stark eigenlogisch oder gar als Akteur auftritt, wie im Falle einer »Künstlichen Intelligenz«, letztlich auch eine Vergegenständlichung menschlicher Fähigkeiten ist. Mit der Entwicklung der Arbeitsmittel, der Computer, entwickeln sich auch die Menschen und ihre Fähigkeiten; dies kann man beispielsweise durch die gestiegene Zahl von Informationsberufen und an den gesteigerten Anforderungen in der Arbeit deutlich machen.

Die Frage, was denn nun im Bereich der Produktivkräfte das entscheidend Neue am Digitalen ist, wurde erstaunlicherweise nur selten direkt adressiert. Erstaunlich deshalb, weil sich ja im Bereich der Produktivkräfte etwas verändert haben soll, was dem digitalen Kapitalismus seinen Namen gibt. Dabei gibt es verschiedene Kandidaten. Durch die Vernetzung der Computer, die zunehmend in allen Dingen stecken, entsteht ein neuer sozialer Raum, in dem Menschen sich bewegen können, insbesondere dann, wenn dieser Raum mittels unaufdringlicher Interfaces wie etwa Smartphones ubiquitär zugänglich ist. Da es sich um einen digitalen Raum handelt, hinterlassen Bewegungen und alle Interaktionen Datenspuren und werden bewusst (zum Beispiel aus ökonomischen Gründen) »datafiziert«. Die Zusammenführung und Triangulation der Daten zu »Big Data« bietet, zusammen mit einer kontinuierlichen Erhöhung von (zentralisierter oder dezentralisierter) Rechenleistung, die Grundlage nicht nur für zielgenaue algorithmische Anwendungen, sondern auch der Möglichkeit, aus diesen Daten maschinell zu lernen. Welches Moment oder welche Konstellation von Internet, Interface, BigData, Algorithmen oder KI ist es aber nun, die im Verbund mit neuen Fähigkeiten und Anwendungen eine qualitative Produktivkraftentwicklung anzeigt? Die »algorithmische Steuerung«, das Leben in virtuellen Welten?

33Deutlich wird, dass in der Digitalisierung die Einzelbestandteile des Marx’schen Produktivkraftbegriffs – Technik, Wissen, Kooperation – stärker verschmelzen, als dies zuvor der Fall war. Charakteristisch ist dabei zudem, dass es sich hier nicht um eine Ausweitung des menschlichen Potenzials zur Bewegung von Materie handelt, sondern vor allem um eine Ausweitung der orientierend-regulierenden Kommunikations- und Koordinationspotenziale.[63]  Diese Dimension und damit implizit auch die Möglichkeit der unvollständigen oder defizitären Ausschöpfung dieser Potenziale unter kapitalistischen Bedingungen betonen alle produktivkrafttheoretischen Ansätze zur Digitalisierung, ob diese nun von »Informatisierung«,[64]  »Distributivkräften«[65]  oder »Steuerungskräften«[66]  sprechen. Die Konkretisierung digitaler Produktivkraftpotenziale bleibt eine wichtige Aufgabe einer Kritik des digitalen Kapitalismus, die Errungenschaften digitaler Technologien nicht negiert. Diese Aufgabe stellt sich insbesondere in Hinblick auf die krisenhafte Abspaltung der sozialen und ökologischen Reproduktion von der Produktion.

Re-/Produktion

Insbesondere feministische Debatten und solche zur ungleichen Entwicklung des Kapitalismus[67]  haben zu dessen erweitertem Verständnis[68]  beigetragen. Dabei wurde mindestens zweierlei deutlich: Zum einen bleibt die kapitalistische Akkumulation auf externe Bereiche angewiesen, die aber mit dieser in Verbindung gebracht werden müssen, um Gratisleistungen für sie zu erbringen. Diese 34akkumulationsermöglichenden (natürlichen, sozialen, kulturellen, politischen, epistemischen) Reproduktionssphären sind zugleich konstitutiv mit verschiedene Achsen der Ungleichheit verbunden, etwa wenn sich ausbeutungsspezifische Einkommens- und Lohnungleichheit der doppelt freien Arbeiter:innen im Kern des Kapitalismus mit den geschlechterspezifischen Ungleichheiten in den domestizierten Reproduktionsbereichen (etwa der Familie) und den rassistischen Ungleichheiten, die kostenlos oder unter ihrem Wert enteignete Arbeit legitimiert, überschneidet.

Gerade angesichts der ökologischen Krise wird es eine zentrale Aufgabe der Theoriebildung zum digitalen Kapitalismus sein, die Dimensionen Produktion und Reproduktion stärker zusammenzudenken. Ein Großteil der Theoriebildung bezieht sich bislang auf die Produktionssphäre, insbesondere auf die Auswirkungen digitaler Technologien auf die Wertschöpfung. Dem gegenüber stehen einige wenige Ansätze, die sich auf die Digitalisierung der Reproduktionsarbeit beziehen. Im Fokus stehen dabei die Rationalisierung des Gesundheitssektors sowie Plattformen für Pflege- und Haushaltsdienstleistungen. Die Wechselwirkungen zwischen Produktion und Reproduktion im digitalen Kapitalismus blieben demgegenüber weitgehend unerforscht, obwohl genau in diesen eine zentrale Ursache der sozial-ökologischen Krise liegt.[69] 

Wenn von der Digitalisierung der Produktion die Rede ist, werden immer wieder kurz bevorstehende Automatisierungswellen angekündigt, die zu einer massiv erhöhten technologischen Arbeitslosigkeit führen sollen. All diesen Ankündigungen zum Trotz manifestiert sich die Digitalisierung der Arbeit in den Hochtechnologieländern jedoch weniger in Form einer Substitution als vielmehr einer Rationalisierung menschlicher Arbeit.[70]  Im Vordergrund steht dabei die sogenannte algorithmische Arbeitssteuerung, also die Leitung und Kontrolle menschlicher Arbeit durch Computerprogramme. Heute geben in einer repräsentativen Umfrage 3560 Prozent der Beschäftigten in Deutschland an, dass ihre Arbeit zu einem mehr oder weniger großen Teil softwaregesteuert ist. Das Rationalisierungspotenzial dieser Technologien liegt vor allem in der Beschleunigung und Verdichtung menschlicher Arbeit. Entsprechend geben in derselben Umfrage nur neun Prozent der Beschäftigten an, dass die digitalen Technologien ihre Arbeit einfacher gemacht hätten, während für 40 Prozent die Arbeitsbelastung zugenommen hat. Noch spezifischer geben 44 Prozent an, dass die Geschwindigkeit der Arbeit zugenommen hat.[71]  Diese Intensivierung der Arbeit bedeutet freilich eine wachsende Belastung für die Arbeitenden, die sich auf die körperliche und geistige Gesundheit auswirkt. Es kann in diesem Zusammenhang also von einer zunehmenden Vernutzung menschlicher Arbeitskraft gesprochen werden.

Diese Vernutzung hat wiederum Auswirkungen auf die gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung, denn unter diesen Bedingungen wird die Reproduktion der Arbeitskraft selbst arbeitsaufwändiger: Es steigt der Bedarf nach medizinischer Behandlung arbeitsbedingter Erkrankungen, es steigt der Bedarf nach außerfamiliären Pflegedienstleistungen für Kinder, Alte und Kranke, und es steigt der Bedarf nach Entlastung und Entspannung, etwa in Form von Wellnessangeboten, aber auch in Form der Externalisierung von Haushaltsarbeit.[72]  Deshalb ist es besonders wichtig, auch in Bezug auf die Digitalisierung den Zusammenhang zwischen ihren Produktions- und Reproduktionseffekten herauszuarbeiten. So haben verschiedene Studien gezeigt, dass die oben beschriebene Arbeitsverdichtung bei den betroffenen Beschäftigten unter anderem zu einem andauernden Gefühl des Zeitmangels führt. Sie haben keine Zeit mehr, sich um ihre Familie oder andere soziale Kontakte oder auch nur den eigenen Haushalt zu kümmern. Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass etwa 80 Prozent der Kund:innen von digitalen Essenslieferdiensten Zeitmangel als wichtigsten Grund für ihre Nachfrage nach der Dienstleistung angeben.[73]  Die 36allgemeine Arbeitsverdichtung, die ein zentrales Element der gegenwärtigen Welle der Digitalisierung in der Arbeitswelt darstellt, trägt also zur Kommodifizierung der Haushaltsarbeit bei, in diesem Fall dem Kochen. Diese Kommodifizierung ist ihrerseits nur dann möglich, wenn die Dienstleistung so billig angeboten werden kann, dass ein großer Teil der gestressten Beschäftigten sie sich auch leisten kann. Das erfordert wiederum ein sehr niedriges Lohnniveau bei den Plattformarbeiter:innen, das seinerseits unter anderem durch digitale Rationalisierung hergestellt wird. Die Plattformarbeit bietet daher keine Alternative zu den »traditionellen« Branchen. Stattdessen ist ihre Entstehung aufs Engste mit den digitalen Rationalisierungsdynamiken in der Industrie- und Büroarbeit selbst verbunden. Das zeigt sich nicht nur bei den Essenslieferdiensten, sondern auch bei den plattformvermittelten Haushalts- und Pflegedienstleistungen. Auch diese stellen eine digitale Kommodifizierung bislang unbezahlter Arbeit dar, erweisen sich jedoch im Vergleich zur Kurierarbeit als schwerer algorithmisch rationalisierbar.

Eine in der Debatte um den digitalen Kapitalismus besonders unterbelichtete Dimension der Verbindung zwischen Produktion und Reproduktion ist die ökologische. Auch hier ist die Verbindung keineswegs neu. So hat etwa James O’Connor gezeigt, dass der Kapitalismus aufgrund der radikalen Trennung zwischen Produktion und Reproduktion seine eigenen ökologischen Produktionsbedingungen unterminiert. Dies führe zu strukturellen Konflikten um die – meist staatliche – Organisation von Reparationsarbeiten und Präventionsmaßnahmen.[74]  In der digitalen Ökonomie ist dieser Widerspruch keineswegs verschwunden, da es sich bei der digitalisierten Arbeit nicht, wie oft angenommen, um »immaterielle« Arbeit handelt. Stattdessen hat die digitale Infrastruktur immense ökologische Kosten. Diese bestehen zum Beispiel in Verheerungen infolge des Abbaus der für digitale Geräte notwendigen seltenen Erden oder auch in dem immensen Energieverbrauch der Rechenzentren. So verbraucht etwa der Konzern Alphabet mehr Strom als die gesamte Volkswirtschaft Sri Lankas. Darüber hinaus verbrauchen die Rechenzentren sehr große Mengen an Wasser, vor allem, 37um die Kühlung der Server zu gewährleisten.[75]  Sowohl Energie als auch Wasser werden jedoch im Zuge des Klimawandels zu immer knapperen Ressourcen. So sind Konflikte, etwa über die Verteilung von Wasser zwischen Lokalbevölkerung und Tech-Konzernen, vorprogrammiert, wie zuletzt etwa in der US-Stadt The Dalles, wo Alphabet mehr als ein Viertel des Wassers verbraucht.[76]  Diese Ressourcenknappheit macht wiederum den Einsatz von zusätzlicher digitaler Infrastruktur notwendig, denn diese verspricht, durch umfassende Datenerhebung und Big-Data-Berechnungen, eine effizientere Allokation von Ressourcen und eine planerische Berücksichtigung von möglichen Umweltauswirkungen.[77] 

Intersektionalität und vergleichende Forschung zum digitalen Kapitalismus

Die dritte Herausforderung betrifft die Frage nach der Relevanz und Verschränkung von Ungleichheitsdimensionen wie gender, race und class. Teile von Kapitalismusanalysen sind, wenn auch unterschiedlich intensiv und systematisch, seit den 1970er Jahren mit der Frage beschäftigt, welche Bedeutung diese Dimensionen im Kapitalismus haben – als Dimensionen von Ungleichheit, als Differenzierungs- und Diskriminierungsmerkmale und als Ausbeutungsverhältnisse. Die kapitalistische Gesellschaft, so resümiert Christian Fuchs in seinem Beitrag, ist eben nicht nur eine Klassengesellschaft – auch Patriarchat und Rassismus sind tief in sie eingelassen. Diese drei Verhältnisse seien relevant, weil sie »wirtschaftliche Entfremdung, politische Entfremdung und kulturelle Entfremdung miteinander verbinden«. Augenscheinlich konstitutiv sind sie für die bereits im vorangegangenen Abschnitt behandelte Trennung in Produktion und Reproduktion. Über sie werden zudem Niedriglöhne und Nichtbezahlung von Arbeit gerechtfer38tigt[78]  sowie gesellschaftliche Arbeitsteilungen legitimiert, die entlang von Geschlecht, Herkunft, Migration und Sprachbarrieren, aber auch von globalen Wertschöpfungsketten organisiert sind.[79]  Viele dieser Dynamiken setzen sich im digitalen Kapitalismus fort: Gerade die Tech-Kultur des Silicon Valley ist bis heute eine toxisch-männliche. Der Fortbestand der Relevanz von race, class und gender im digitalen Kapitalismus betrifft aber auch die Erstellung und Moderation von Inhalten – bei denen, wie Sarah T. Roberts eindrücklich zeigt, nicht selten Rassismus gegen Profitorientierung abgewogen wird. In Alltagsanwendungen digitaler Technologien ist zudem längst deutlich geworden, dass Algorithmen und Datensätze häufig einen Bias haben, was unter anderem dazu führt, dass KI-gestützte Gesichtserkennungssoftware Probleme hat, Gesichter von nichtweißen Menschen zu erkennen, oder dass Genderstereotype bei Autocomplete-Funktionen reproduziert werden.[80] 

In den Kontinuitäten, in denen diese Ungleichheitskategorien auch im digitalen Kapitalismus relevant bleiben, identifizieren mehrere Beiträge im Band aber auch Verschiebungen. So weist Kylie Jarrett auf das neujustierte Verhältnis von Unternehmertum und hegemonialer Männlichkeit hin, das durch feminisierte Elemente überformt wird. Tanja Carstensen und Helen Hester zeigen, wie sich soziale Bewegungen, insbesondere innerhalb des Feminismus, angesichts der Veralltäglichung des Digitalen neu formieren – sei es der Cyberfeminismus der 1990er Jahre oder der Xenofeminismus, den Hester in ihrem Beitrag in kritisch-produktiver Auseinandersetzung mit dem Cyberfeminismus skizziert, oder seien es Bewegungen, die für ihre Kritik an rassistischen und sexistischen Vorfällen die digitalen Medien als kritische Gegenöffentlichkeiten nutzen (#blacklivesmatter, #metoo).

Den Blick auf den Sexismus und Rassismus des digitalen Kapitalismus teilen somit viele Analysen, gleichzeitig bleibt der Forschungsbedarf angesichts der Unsichtbarkeit vieler neuer Diskriminierungsmechanismen und Arbeiten im und am Digitalen weiterhin groß. Ein umfassendes Bild der globalen Liefer- und 39Wertschöpfungsketten dieser Arbeit[81]  – von der Hebung seltener Erden für die Herstellung der Informations- und Kommunikationstechnik über das Programmieren und Implementieren von (Organisations-)Software bis hin zur Produktion kultureller Artefakte – lässt die Möglichkeit einer Vielzahl von unterschiedlichen politisch und kulturell regulierten Varianten des digitalen Kapitalismus erahnen. Darüber hinaus sehen wir Forschungsbedarf zu Regionen, denen bisher weniger Aufmerksamkeit zuteilwird. Dies wäre gleichzeitig ein Auftakt und die Grundlage für eine vergleichende Forschung zum digitalen Kapitalismus, wie sie Stefan Schmalz in seinem Beitrag für China und die USA durchführt. Variationen des Produktions- und Akkumulationsmodells (schon innereuropäisch etwa zwischen deutscher Industrie 4.0-Strategie und britischer Kreativwirtschaft, aber auch global) sollten die zukünftige Forschung beschäftigen – dies ist nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des erwähnten Desiderates zu Re-/Produktion im digitalen Kapitalismus und der Abhängigkeit der Entwicklung der europäischen, US-amerikanischen und chinesisch-süd-ost-asiatischen Zentren von den Peripherien gefordert. Dabei gewinnen auch de- oder postkoloniale sowie indigene Perspektiven auf das Digitale zunehmend an Relevanz, wie Initiativen wie die Indigenous Protocol and Artificial Intelligence Working Group zeigen.[82]  Zukünftige Analysen sollten sich deshalb noch stärker Arbeitsbedingungen, sozialen Bewegungen und politischen Regulierungen in anderen Ländern und in den unterschiedlichen Teilen der Welt widmen und auch an intersektionale Debatten um den digitalen Kapitalismus anschließen.

41I. Arbeit

43Ursula Huws

Soziale Reproduktion im Kapitalismus des 21.Jahrhunderts[1] 

Es ist eine Binsenweisheit des sozialistischen Feminismus, dass die Reproduktion des Kapitalismus entscheidend von der unbezahlten Hausarbeit abhängt. Diese Arbeit zieht die nächste Generation von Beschäftigten heran und pflegt, ernährt und schult sie in den sozialen und kulturellen Fähigkeiten, die sie zum Überleben auf dem Arbeitsmarkt benötigen. Einmal in den Arbeitsmarkt eingetreten, wie langfristig auch immer, wird ihr Körper gepflegt, ihre Kleidung gewaschen, ihr Essen zubereitet und ihre Wohnung instandgehalten. Wenn sie zu behindert, zu krank oder zu alt sind, um einer bezahlten Arbeit nachzugehen, sorgt diese Care-Arbeit ebenso für sie. Diese Arbeit der körperlichen und der sozialen Reproduktion wird von Menschen für sich selbst und für andere verrichtet und ist in eine gesellschaftliche Arbeitsteilung eingebettet, die geschlechtsspezifisch, aber auch durch Klasse und ethnische Zugehörigkeit geprägt ist.[2]