Thronräuber - Sharon Penman - E-Book

Thronräuber E-Book

Sharon Penman

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Beschreibung

»Eine Geschichte von Königinnen und Königen, einzigartigen Schicksalen und heimtückischen Intrigen.« Kirkus Review

England, 1135. Als die Kirchenglocken den Tod von König Henry I. verkünden, sehen sich seine Fürsten mit einer unliebsamen Vorstellung konfrontiert: einer Frau auf dem englischen Thron. Kaiserin Maude ist aufbrausend und gebieterisch, aber die rechtmäßige Erbin des Königreichs ihres Vaters. Ihr Gegenspieler, Stephen von Blois, ist ritterlich, beliebt, unentschlossen, aber ein brillanter Befehlshaber – und ein Mann. Ein blutiger Konflikt voll von Chaos und Entbehrungen bricht aus, ausgetragen auf dem bewegten und intrigenreichen Schachbrett des mittelalterlichen Europas. Am Ende wird nur einer der beiden auf dem Thron sitzen.

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Seitenzahl: 980

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


SHARON PENMAN

THRONRÄUBER

HISTORISCHER ROMAN

Aus dem Englischen von Julian Haefs

Die Originalausgabe When Christ and his Saints slept (Seite 1-392 + Anhang) erschien erstmals 1995 bei Henry Holt & Co, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 05/2025

Copyright © 1995 by Sharon Penman

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Tamara Rapp

Umschlaggestaltung © Nele Schütz Design unter Verwendung von Huis van het Boek & National Library of the Netherlands, The Hague. Source: manuscripts.kb.nl – [https://manuscripts.kb.nl/search/simple/71a24%253A123r]; Shutterstock.com (Hein Nouwens, lookus, Devotion, Hein Nouwens)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-33090-3V001

www.heyne.de

Für Valerie Ptak LaMont

Dramatis Personae

Henry I. – König von England und Herzog der Normandie, herrschte von 1100 bis 1135, Sohn von Wilhelm dem Eroberer, zu Lebzeiten bekannt als Wilhelm der Bastard

Adeliza – Henrys deutsche Witwe, Gemahlin des Wilhelm d’Aubigny, Graf von Arundel

Maude – Henrys Tochter und Erbin, Witwe des deutschen Kaisers Heinrich und Gemahlin des Geoffrey Plantagenet, Graf von Anjou

Ihre Söhne: Henry, Geoffrey, William

Robert Fitz Roy – Graf von Gloucester, Maudes unehelicher Bruder

Amabel – Gräfin von Gloucester, seine Frau

Rainald Fitz Roy – Graf von Cornwall, Maudes unehelicher Bruder

Ranulf Fitz Roy – fiktiver unehelicher Bruder

Stephen – Graf von Mortain und Boulogne, Neffe von Henry I.

Matilda – Erbin von Boulogne, Stephens Gemahlin

Ihre Kinder: Baldwin, Matilda, Eustace, William, Mary

Henry von Blois – Bischof von Winchester, Stephens jüngerer Bruder

Theobald – Graf von Blois und Champagne, Stephens älterer Bruder

Randolph de Gernons – Graf von Chester

Maud – Gräfin von Chester, seine Gemahlin sowie Tochter von Robert Fitz Roy

David – König von Schottland, Onkel sowohl von Maude als auch von Matilda

Louis VII. – König von Frankreich

Eleonore – Herzogin von Aquitanien, seine Königin

Constance – Louis’ Schwester, schon als Kind mit Stephens Sohn Eustace verheiratet

Petronilla – Gräfin von Vermandois, Eleonores jüngere Schwester

William de Ypres – flämischer Söldner, unehelicher Sohn des Grafen von Ypern

Brien Fitz Count – Herr von Wallingford, unehelicher Sohn des Herzogs der Bretagne

Miles Fitz Walter – Graf von Hereford

Simon de Senlis – Graf von Northampton

Geoffrey de Mandeville – Graf von Essex

Waleran Beaumont – Graf von Meulan

John Marshal – Herr von Marlborough

Baldwin de Redvers – Graf von Devon

William de Roumare – Graf von Lincoln, Bruder des Grafen von Chester

Rhodri ap Rhys – Ranulfs walisischer Onkel

Rhiannon und Eldri – Ranulfs walisische Vettern

Annora de Bernay – Ranulfs Verlobte

Ancel de Bernay – ihr Bruder und Ranulfs Freund

Gilbert Fitz John – Ranulfs Freund

Vorwort

Sharon Penman – oder genauer gesagt, einer ihrer Romane – trat Mitte der Neunzigerjahre in mein Leben und rettete mein Examen.

Schon damals von den politischen Dramen und Verwicklungen im mittelalterlichen England fasziniert, hatte ich The Song of Lewes als Prüfungsthema gewählt, ein Gedicht über die größte Schlacht im Zweiten Krieg der Barone, die sich 1264 zutrug. Leider hatte ich bei dieser Themenwahl jedoch unterschätzt, wie viel Aufwand es bedeutete, den historischen Kontext des Gedichts zu recherchieren. Bis einer meiner Dozenten mir ein fettes Taschenbuch auf den Tisch legte und sagte: »Lies das mal, und dann weißt du alles über die Hintergründe der Schlacht von Lewes.« Es war Sharon Penmans Falls the Shadow.

Ich fiel über diese Literaturempfehlung aus allen Wolken, denn damals mehr noch als heute fremdelten Mediävistinnen und Mediävisten (die Gelehrten der Geschichte, Kultur und Sprachen des Mittelalters) mit historischer Unterhaltungsliteratur und betrachteten sie mit größtem Argwohn. Doch Sharon Penman, erklärte mein Dozent, zählte eben zu den Autorinnen und Autoren historischer Romane, auf deren Faktentreue man sich verlassen kann. Das rettete nicht nur mein Examen, sondern schärfte meinen Blick für die Bedeutung historischer Genauigkeit im Roman.

Ein paar Jahre später las ich The Sunne in Splendour, Penmans Romanbiografie über König Richard III. (jenen höchst umstrittenen englischen König, dessen sterbliche Überreste 2015 unter einem Parkplatz in Leicester gefunden wurden). Und ich erfuhr die erschütternde Entstehungsgeschichte dieses Romans: Die Autorin hatte das Manuskript über Nacht im Auto gelassen. Als sie am nächsten Morgen in den Wagen steigen wollte, war er aufgebrochen und ihr Manuskript gestohlen – vermutlich nur wegen der schicken Ledermappe, in der es steckte. Das war 1972, als man Bücher noch auf der Schreibmaschine tippte, und es existierte keine Kopie. Es war Penmans erstes Romanmanuskript und das Ergebnis jahrelanger akribischer Arbeit neben Studium und Berufstätigkeit. Aber trotz Zeitungsannoncen und ausgelobter Belohnung blieb das Manuskript verschwunden. Viele Monate lang trauerte sie um das verlorene Werk und konnte kein Wort schreiben. Dann begann sie Richards Biografie von Neuem. Das Manuskript, welches dabei herauskam, wurde doppelt so lang wie das gestohlene und der Grundstein ihres Erfolges. Diese Anekdote ist vielleicht der eindrucksvollste Beleg für die große Leidenschaft, die Sharon Penman auszeichnet. Sie brannte für die mittelalterliche Geschichte Englands und Wales’, und sie brannte für die Menschen, die diese Geschichte prägten. Obwohl doch schon seit Jahrhunderten zu Staub zerfallen, war die Rehabilitierung Richards III. ihr wichtig genug, um ein verlorenes Manuskript von vorn zu beginnen und noch einmal etliche Jahre zu investieren. Und auch wenn ich diametral anderer Meinung über diesen König bin und Richard III. für genau den Schurken halte, der er schon bei Shakespare war, so finde ich Sharon Penmans Engagement und Mut doch ebenso imponierend wie inspirierend.

Engagement und Mut gehören natürlich zur Jobbeschreibung, wenn man historische Romane schreiben will, weil man am Anfang eines neuen Werks nie wirklich weiß, wo man landet, welch eine fiktionalisierte Version der Vergangenheit man aus historischen Fakten und der eigenen Phantasie zu erschaffen in der Lage sein wird. Sharon Penmans Leitstern auf diesen gefahrvollen Reisen war, so glaube ich, stets die Menschlichkeit ihrer Figuren. Kaiserin Maude und König Stephen, die in Thronräuber um die englische Krone ringen, sind hier eben weit mehr als die erbitterten Rivalen, die einen der grausamsten Kriege auf englischem Boden zu verantworten haben, sondern sorgfältig ausgearbeitete Figuren fernab aller Mittelalterklischees. Sie sind Menschen, die Sharon Penman ihren Leserinnen und Lesern so ans Herz zu schreiben vermochte, dass wir auch dann noch mit ihnen fühlen und mit ihnen fiebern, wenn sie zur Verfolgung ihrer Machtansprüche Städte niederbrennen und ganze Landstriche verwüsten. Und obgleich uns fast neunhundert Jahre, Humanismus und Aufklärung von diesen Menschen trennen, klappen wir das Buch am Ende mit einem Hauch von Melancholie zu, weil wir Abschied von Freunden nehmen müssen. Und wir blicken zurück über die Geschichte, die der Roman uns erzählt hat, und stellen vielleicht fest, dass wir nicht nur gut unterhalten worden sind, sondern etwas über die Vergangenheit und über das Wesen der menschlichen Natur gelernt haben.

Ich glaube, mehr kann man sich von einem historischen Roman nicht wünschen.

Rebecca Gablé

»Nie zuvor hatte solches Elend im Land geherrscht … Und die Menschen klagten unverhohlen, dass Christus und seine Heiligen schliefen.«

Aus der Peterborough Chronicle

Prolog

Januar 1101

Kathedrale von Chartres, Frankreich

Seinen fünften Geburtstag sollte Stephen nie vergessen, denn es war der Tag, an dem er seinen Vater verlor. Eigentlich war dies faktisch nicht ganz richtig, nur werden Kindheitserinnerungen nicht allein aus Fakten gewoben, und später erinnerte er sich stets unter ebendiesem Vorzeichen daran.

Zusammen mit seinen Eltern und seinen beiden älteren Brüdern war er zu dieser gewaltigen Kirche der heiligen Maria gekommen, um eine Predigt des Bischofs über die Kreuzzüge zu hören. Er wusste nicht, wer dieser Bischof war, aber sein Sermon war lang und öde gewesen, und Stephen hatte die meiste Zeit über auf der Sitzbank herumgezappelt und sich gewunden, denn außer Reichweite seiner Mutter konnte er sich das erlauben. Sie hatte kein Verständnis für kindlichen Unfug, kein Verständnis für überhaupt irgendeinen Unfug. »Denk daran, wer du bist«, war ihre liebste mütterliche Zurechtweisung, und ihre älteren Kinder hatten schnell gelernt, dass sie sich dieser Warnung auf eigene Gefahr widersetzten.

Stephen hingegen wunderte sich darüber. Warum hätte er vergessen sollen, wer er war? Er wusste es doch sehr gut: Stephen von Blois, Sohn und Namensvetter des Grafen von Blois und seiner Gemahlin Adela, der Tochter von Wilhelm dem Eroberer, König von England und Herzog der Normandie. Stephen hatte seinen viel gerühmten Großvater nicht mehr kennengelernt, wusste aber, dass er ein großer Mann gewesen war. Seine Mutter erwähnte das recht häufig.

Auch über den Kreuzzug wusste Stephen Bescheid, denn die Leute redeten über kaum etwas anderes. Sein Vater hatte den Kreuzfahrereid abgelegt und war losgezogen, das Heilige Land von den Ungläubigen zu befreien. Da hatte Stephen noch in der Wiege gelegen, und als sein Vater zurückkehrte, war er zwei Jahre alt gewesen. Dieser Rückkehr hatte jedoch irgendetwas Schändliches angehaftet. Stephen verstand das nicht, denn er war überzeugt davon, dass sein Vater nichts Unrechtes tun konnte, nicht dieser Mann, der so viel lachte, kleine Missetaten mit einem Augenzwinkern vergab und Stephen zu seinem lange herbeigesehnten fünften Geburtstag ein weißes Pony versprochen hatte. Stephen hatte sich sogar schon einen Namen ausgesucht – Schneeball –, so sicher war er sich, dass sein Vater es nicht vergessen und dieses Pony bereits auf ihn warten würde, sobald sie in die Burg zurückkehrten.

Tatsächlich hatte Stephen gehofft, dass sie direkt nach der Messe nach Hause zurückkehren würden. Stattdessen hatten sie in Begleitung des Bischofs draußen im Kreuzgang verweilt und angeregt über das neue Kreuzfahrerheer diskutiert, das sich anschickte, sich den Glaubensbrüdern im Heiligen Land anzuschließen. Von den Erwachsenen unbeachtet, langweilte Stephen sich schrecklich und schlich bald zurück ins Innere der Kathedrale.

Dort war alles von Schatten und Stille erfüllt. Jetzt, da die Kerzen gelöscht und die Mitglieder der Pfarre gegangen waren, wirkte die Kathedrale auf Stephen ganz fremd – wie eine riesige dunkle Höhle. Von der nachwirkenden Sonne geblendet, stolperte er über ein Gebetskissen und schlug der Länge nach auf den glatten Steinfliesen hin. Ohne sich von dem aufgeschürften Knie entmutigen zu lassen, kam er schnell wieder auf die Beine und tastete sich durch das Mittelschiff zum Altarraum vor.

Er wollte gern einen genaueren Blick auf die Sancta Camisia werfen, die ausgebreitet über dem Reliquienschrein auf dem Hochaltar lag. Aus der Nähe stellte sie sich allerdings als Enttäuschung heraus – bloß ein verblichenes Hemd, ausgefranst und zerknittert. Er hatte etwas Prächtigeres erwartet, vielleicht ein Tuch aus Gold oder verzierter Seide, denn immerhin war dieses schäbige Kleidungsstück eine der meistverehrten Reliquien der ganzen Christenheit, getragen von der Jungfrau Maria höchstselbst, als sie das heilige Christuskind gebar. So hieß es zumindest. Stephens ältester Bruder Will hatte einmal zu fragen gewagt, wie es denn so viele Jahrhunderte hatte überdauern können, und prompt hatte seine Mutter ihm einen Schlag auf den Mund versetzt für diese lästerlichen Worte. Sorgfältig wischte Stephen sich die Hände an seiner Tunika ab und streckte sie soeben nach der Sancta Camisia aus, als plötzlich die Tür aufging und Sonnenlicht das Kirchenschiff flutete.

Er duckte sich hinter den Hochaltar in der Hoffnung, dass die Eindringlinge rasch wieder verschwanden. Stattdessen näherten sich Schritte. Als er seitlich um den Rand der Altardecke spähte, keuchte er vor Entsetzen auf. Es wäre schlimm genug gewesen, hier von einem Priester entdeckt zu werden. Den Zorn seiner Mutter aber fürchtete er mehr als den aller Priester und Bischöfe zusammen, sogar mehr als den Zorn Gottes, denn Er war droben im Himmel – Mama hingegen hier in Chartres.

Adela blieb vor dem Hochaltar stehen. Sie war ihm so nah, dass er fast den Saum ihres Kleides hätte berühren können. Das zweite Paar Schritte klang schwerer, doch genauso vertraut. Ein Teil der Angst wich von Stephen, jetzt, da sein Vater ebenfalls in der Nähe war. Trotzdem fürchtete er sich noch immer vor Entdeckung, denn für Züchtigungen war seine Mutter zuständig.

»Ich kann nicht fassen, dass dir mein Leben so wenig wert ist, Adela.« Stephen wusste, dass sich seine Eltern schon seit Tagen stritten, nun aber klang sein Vater nicht verärgert, sondern eher müde, fast ein wenig traurig.

»Ich bin deine Frau, Stephen. Natürlich ist mir dein Leben viel wert. Deine Ehre allerdings auch … Und unglücklicherweise scheint sie mir mehr zu bedeuten als dir.«

»Das ist ungerecht! Als der Kreuzzug zum ersten Mal gepredigt wurde, habe ich das Kreuz genommen, mehr deinetwegen als Gott zuliebe, wenn ich ehrlich bin. Und jetzt verlangst du von mir, ich soll noch einmal dorthin zurück? Bist du so begierig darauf, zur Witwe zu werden?«

»Ich will dich nicht zum Sterben zurückschicken, Stephen, sondern um deine Ehre wiederzuerlangen. Das bist du deinen Söhnen schuldig. Das bist du mir schuldig. Du musst deinen Kreuzrittereid erfüllen. Tust du es nicht, wird dich die Schmach von Antiochia bis ans Ende deiner Tage verfolgen.«

»Jesus Christus, Weib … Ich habe dir immer und immer wieder erklärt, warum ich die Belagerung verlassen habe. Ich war krank und entmutigt und angeekelt von all dem sinnlosen Gemetzel …«

»Wie kannst du so etwas sagen? Was könnte es für einen größeren Ruhm geben, als für die Befreiung Jerusalems zu sterben?«

»Jerusalem ist befreit worden, Adela, schon vor über einem Jahr.«

»Ja, aber du warst nicht dabei, oder? Nein, du warst zu Hause in Chartres und hast es dir gut gehen lassen, während dort Christen von den Feinden des rechten Glaubens erschlagen wurden!«

Stille folgte ihren Worten. Sie währte so lange, dass der kleine Junge einen verstohlenen Blick über den Rand des Hochaltars wagte. Seine Eltern standen nur wenige Schritte entfernt und starrten einander an.

»Du hast nahezu zwanzig Jahre lang mein Bett geteilt, Adela. Du kennst alle Narben, die mein Körper trägt, jede einzelne von ihnen in der Schlacht errungen. Du müsstest die Letzte sein, die meine Tapferkeit in Zweifel zieht. Stattdessen warst du eine der Ersten. So sei es. Ich werde tun, was du von mir verlangst. Ich werde abermals das Kreuz nehmen, zurück in dieses verfluchte Land ziehen und dich stolz machen.« Die Stimme des Grafen klang so tonlos, dass sein Sohn erschauderte.

Stephen hörte die Antwort seiner Mutter nicht, denn er hatte sich die Faust in den Mund gesteckt und biss sich auf den Daumen. Sein Blickfeld verschwamm, als er erfolglos die Tränen fortzublinzeln suchte. Schritte entfernten sich, eine Tür fiel hallend ins Schloss. Stephen kam auf die Füße, verließ den Schutz des Hochaltars und sah sich seinem Vater gegenüber.

Der Graf von Blois war sichtlich bestürzt. Sein Atem stockte halb in einer Verwünschung, und seine Stirn legte sich in Falten, als der Junge flüsterte: »Geh nicht weg, Papa …«

»Ach, mein Junge …« Und dann wurde Stephen von seinem Vater hochgehoben und eng an die Brust gedrückt, wo er sich die Tränen am weichen Wollmantel des Grafen abwischte.

»Warum musst du denn weg, Papa?« Einmal hatte er seinen Vater gefragt, wie es im Heiligen Land gewesen war. Er erinnerte sich noch gut an die schroffe Antwort: »Ein höllischer Ort.« Also sagte er jetzt: »Du willst doch nicht zurück, also bleib hier, bitte geh nicht wieder fort.«

»Ich habe keine Wahl.« Sein Vater nannte Stephen nur selten beim Namen, sondern bevorzugte »Junge« oder »Kerlchen« oder scherzhaft »Teufelchen«. Jetzt allerdings sagte er leise »Stephen« und klang dabei abermals traurig. »Ich hatte gehofft, warten zu können, bis du älter bist … Als ich im Heiligen Land war, habe ich einen Fehler gemacht. Damals kam es mir nicht wie einer vor. Aber genau das war es: der größte Fehler meines Lebens. Wir hatten Antiochia seit fast acht Monaten belagert. Ich litt an einem Fieber und habe mich ins nahe Alexandretta zurückgezogen. Am Tag nach meiner Abreise haben unsere Truppen die Stadt eingenommen. Doch dann rückte ein großes Sarazenenheer an und schloss sie in der Stadt ein. Sie schienen mir ohne Zweifel verloren, und ich … Tja, ich habe beschlossen, nach Hause zurückzukommen, nach Blois.«

Er stockte und zauste Stephen die Haare, die genauso hellbraun waren wie seine eigenen, ehe er widerwillig fortfuhr. »Aber die in Antiochia eingeschlossenen Kreuzfahrer wurden durch ein Wunder gerettet. Weißt du, mein Kleiner, sie haben in einer der Kirchen dort eine uralte Lanze entdeckt, die ihnen angeblich in einer göttlichen Vision enthüllt wurde. Ob es wirklich die Heilige Lanze war, die unserem Herrn Christus am Kreuz in den Leib gestoßen wurde, spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass die Männer daran geglaubt haben. Sie sind zu den Toren Antiochias hinausmarschiert, um sich dem Heer der Sarazenen zu stellen, und konnten allen Widrigkeiten zum Trotz einen großen Sieg erringen. So wurde Antiochia verschont, und ich … ich wurde vor der gesamten Christenheit beschämt. Was mir als gesunder Menschenverstand erschien, war für andere bloß ein Akt der Feigheit.«

Erneut stockte er und stellte Stephen wieder auf die Füße. »Ich weiß, du kannst nicht verstehen, was ich dir hier erzähle, mein Junge, aber …«

»Tu ich wohl!«, sagte Stephen energisch, obwohl er lediglich begriff, dass sein Vater wieder fortgehen würde, und das für eine lange Zeit. »Papa, versprich es mir«, fuhr er fort. »Versprich mir, dass du bald zurückkommst.« Er fand Trost in der Tatsache, dass sein Vater ihm dieses Versprechen ohne Zögern gab, denn er war noch zu jung, um sich Sorgen wegen der drei leise angefügten Worte zu machen: »So Gott will.«

*

Stephen war ganz sicher, dass sein Vater nach Hause kommen würde, sobald seine Mutter ihr nächstes Kind zur Welt brachte, denn er wusste, dass Erwachsene eine Menge Aufhebens um Säuglinge machten. Aber dann wurde sein Bruder geboren und auf den Namen Henry getauft – und sein Vater war noch immer nicht zurückgekehrt.

In jenem Sommer wurde Henry von Krupp heimgesucht. Stephen mochte Henry gern; es hatte ihm sehr gefallen, ein jüngeres Brüderchen zu haben. Obwohl er sich wegen Henrys Husten sorgte, hoffte er auch, dass dessen Krankheit ihren Vater wahrscheinlich nach Hause holen würde. Doch so kam es nicht. Henry wurde gesund, und noch immer war der Vater nicht wieder da.

Stephens Glauben konnte dies nicht erschüttern. Dann würde Papa sicher an Weihnachten wieder da sein. Aber nein. Vielleicht an seinem sechsten Geburtstag? Abermals wurde er enttäuscht. Erst zu Ostern erreichte sie endlich der Brief, den Stephen während der letzten dreizehn Monate jeden Tag herbeigesehnt hatte, der Brief, der bestätigte, dass sein Vater endlich nach Hause kommen würde.

*

Der Juli im Jahre des Herrn 1102 war heiß und trocken. Auch der August brachte keine Linderung. Der Himmel über Chartres war aus glasiertem, brüchigem Blau, die Straßen hinein in die Stadt waren von Pilgern verstopft und erstickten in Staub. Es war später Vormittag, fast Zeit fürs Mittagsmahl. Stephen war hinunter zu den Ställen gegangen, um sich einen neuen Wurf der Windhunde anzusehen. Mit Welpen zu spielen, hob seine Stimmung stets ein wenig, aber noch immer war er verstört von der kürzlichen Ankündigung seiner Mutter, ihn nach England schicken zu wollen, wo er am Hof des Königs leben sollte.

Als sie seine Bestürzung bemerkte, hatte sie ihm ungeduldig versichert, dass dies nicht sofort passieren würde, sondern erst, wenn er etwas älter war. Aber er sollte sich jetzt schon darauf vorbereiten, dass seine Zukunft in England lag. Sein ältester Bruder würde die Titel des Vaters erben, sein kleiner Bruder Henry in den Dienst der Kirche eintreten und er – Stephen – zu Mamas Bruder Henry ziehen, dem König von England.

Stephen wollte nicht so weit fort unter Fremden leben. Er ließ sich von einem Welpen die Hand ablecken und rief sich in Erinnerung, dass sein Vater bald wiederkommen würde, ganz sicher am Ende des Sommers, und Papa würde nicht zulassen, dass man ihn wegschickte. Damit fühlte er sich etwas besser und ließ sich im Stroh zwischen den kleinen zappelnden Knäueln aus hellbraun geschecktem Fell auf die Knie fallen. Er verlor jedes Zeitempfinden und war noch immer im Stall, als sich die Mutter später am Nachmittag auf die Suche nach ihm machte.

Stephen sprang erschrocken auf die Füße, als ihm aufging, dass er das Mittagsmahl vollkommen vergessen hatte. »Es … es tut mir leid, Mama«, stammelte er, aber sie schien seine aufgeregte Entschuldigung gar nicht wahrzunehmen. Selbst in diesem Dämmerlicht fiel ihm auf, wie blass sie war. Ihre Hände umklammerten einander so fest, dass sich ihre Ringe ins Fleisch drückten. Die Lippen waren so schmal zusammengepresst, als wollte sie ein Geheimnis am Entweichen hindern. »Mama?«, fragte er ängstlich. »Mama?«

»Gottes Wille ist oft unergründlich«, entgegnete sie unvermittelt, »aber man muss ihn akzeptieren. So ist es auch jetzt, Stephen. Es ist ein Brief aus dem Heiligen Land eingetroffen. Dein Herr Vater ist tot.«

Stephen starrte sie an. Sein Blick zuckte von ihrem Gesicht zu der Paternosterschnur aus Korallen, die sich um ihre verhakten Finger wand. »Aber … aber Papa wollte doch nach Hause kommen«, sagte er. »Er hat es versprochen.«

Adela blinzelte heftig und wandte den Blick ab. All ihre Söhne hatten das helle Haar des Vaters geerbt, aber nur Stephen war gesegnet – oder verflucht – mit dessen freundlichem, großherzigem Wesen, dem alle Ränke und Arglist fehlten, dem jedoch auch die eiserne Selbstdisziplin und unbeirrbare Zähigkeit abgingen, die es ihrem eigenen Vater erlaubt hatten, mit England und der Normandie gleich zwei unruhige Herrschaftsgebiete erst zu erobern und dann auch zu halten.

»Die Abreise deines Vaters in die Heimat hat sich durch schlechtes Wetter verzögert«, sagte sie und brachte es fertig, sowohl ihre Stimme als auch ihre Entschlossenheit durch schiere Willenskraft zu festigen, denn sie durfte jetzt keine Schwäche zeigen, nicht vor dem Kind. »Er war noch immer in Jaffa, als König Balduin von Jerusalem ihn um Hilfe bei der Belagerung von Ramleh ersuchte. Aber der Feind war ihnen zahlenmäßig weit überlegen. Balduin war einer der wenigen, denen die Flucht gelang. Dein Vater … er hat die Stellung gehalten und wurde erschlagen.«

Stephens Lippen bebten, seine Augen füllten sich mit Tränen. Seine Mutter streckte die Hand aus und zog ihn rasch an sich. »Nein, Stephen«, sagte sie mit der seltsam grimmigen Sanftmut, die ihr manchmal zu eigen war, »du darfst nicht weinen. Er ist einen noblen, stolzen Tod gestorben, im Dienste des allmächtigen Gottes und eines christlichen Königs. Trauere nicht um ihn, mein Junge. Sei dankbar, dass er für seine vergangenen Sünden gebüßt und mit dem Kreuzfahrertod die sichere Erlösung erlangt hat, das ewige Leben im himmlischen Königreich.«

Aber es war deine Schuld! Papa wollte nicht fort, und du hast ihn gezwungen. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte er nicht in der Ferne sterben müssen. Die Worte wollten sich unbedingt Gehör verschaffen und brannten ihm wie Feuer in der Kehle. Aber er wusste, dass er sie nicht aussprechen durfte. Um sich daran zu hindern, biss er sich auf die Zunge, bis er Blut schmeckte. Steif und stumm stand er in der Umarmung seiner Mutter, während sie von Ehre und Stolz und Christenpflicht redete.

Nach einiger Zeit berührte sie seine Wange mit einem ihrer seltenen Küsse und zog sich zurück. Stephen verschwand im tiefen Schatten einer leeren Stallbox, warf sich ins verfilzte, zertrampelte Stroh und weinte um seinen Vater, der in Ramleh gestorben war, allein und fern der Heimat.

Kapitel I

November 1120

Barfleur, Normandie

Das Langschiff zerrte an seiner Verankerung wie ein Pferd, das unbedingt losstürmen will. Berold blieb so abrupt stehen, dass er fast mit einem Matrosen zusammenstieß, denn etwas so Herrliches hatte er in seinen sechzehn Lebensjahren noch nicht gesehen. Das Schiff kam ihm riesig vor, mindestens fünfundzwanzig Schritt lang, gekrönt von einem mächtigen Mast und einem quadratischen Segel mit senkrechten Streifen in Gelb und Rot. Der Rumpf war schlank wie ein Schwan und genauso weiß, über dem Dollbord hingen die bunt bemalten Schilde, um die Ruderer vor der Gischt zu schützen. Ganz oben am Mast flatterten mehrere lange Wimpel und ein Banner mit dem Georgskreuz in Silber und Rot. Der Hafen glich einem treibenden Wald, so viele Masten schwankten und wippten auf der steigenden Flut. Mehr als zwanzig Schiffe nahmen gerade Fracht oder Passagiere auf, denn die Flotte des englischen Königs Henry, Erster seines Namens seit der Eroberung, stand kurz vor dem Auslaufen. Berold hatte allerdings nur Augen für das Weiße Schiff.

»Frisch verliebt, was, Junge?« Erschrocken fuhr Berold herum und blickte in zwei Augen, die ganz verkniffen und faltig waren vom Absuchen des Horizonts und dem ewigen Starren in die Sonne. Das Lächeln des Seemanns war zahnlos, aber freundlich, denn offenbar hatte er in dem schlaksigen Burschen, der da in einen Mantel aus Schafsfell gehüllt stand, einen Seelenverwandten erkannt. »Kann dir keinen Vorwurf machen, sie ist wirklich eine pralle Schönheit, eine seetüchtige Sirene, wie man sie sich nur wünschen kann.«

Unwillkürlich erwiderte Berold das Lächeln des Seemanns. »Das ist sie. In meinem Gasthaus haben alle nur vom Weißen Schiff geredet. Ich kann’s kaum erwarten, meinem Bruder zu erzählen, dass ich das berühmteste Schiff der englischen Flotte gesehen habe!«

»Hast du gehört, wie ihr Kapitän zum König gekommen ist? Er hat erzählt, sein Vater hätte den Vater des Königs im Jahre des Herrn 1066 nach England gesegelt, als der auszog, um seine Krone zu gewinnen. Er hat um die Ehre gebeten, den König befördern zu dürfen, wie schon sein Vater es getan hat. König Henry hatte bereits ein anderes Schiff engagiert, war von dem Gesuch aber so gerührt, dass er eingewilligt hat, seinen Sohn Lord William auf dem Weißen Schiff übersetzen zu lassen. Sobald das die Runde machte, haben sich alle anderen jungen Edelleute ebenfalls darum gedrängt, einen Platz an Bord zu bekommen. Dahinten … am Ende der Kaimauer stolzieren sie herausgeputzt herum wie eine Schar Pfauen. Der Dunkle ist der Graf von Chester, das da drüben ist Lord Richard, einer der Bastarde des Königs, und der Jüngling mit dem roten Mantel ist angeblich ein Verwandter des deutschen Kaisers. Gerüchteweise soll auch Lord Stephen, der Lieblingsvetter des Königs, mitfahren, aber noch hab ich ihn nicht entdeckt … Der würde sogar für seine eigene Totenwache zu spät kommen, liegt bestimmt noch gemütlich mit irgendeiner Dirne im Bett …«

»Lord Stephen bin ich schon mal begegnet, ich war ihm so nah wie wir beide uns jetzt«, unterbrach ihn Berold, denn er wollte nicht, dass der Seemann ihn für einen unwissenden Flegel vom Land hielt. »Ich wohne schon seit fast sechs Monaten in Rouen, denn mein Onkel betreibt da eine Fleischerei und hat mich sein Handwerk gelehrt. Zwei Mal hab ich den König mit Lord Stephen an seiner Seite durch die Straßen der Stadt reiten sehen. Die Leute konnten Stephen gut leiden, denn er hat den hübschen Mädchen schöne Augen gemacht und war immer freigiebig mit Almosen.«

»Bist den ganzen Weg von Rouen hergekommen, was? Ein weit gereister junger Mann«, murmelte der Seemann, der sich darüber amüsierte, dass der Junge seinen freundschaftlichen Spott für bare Münze nahm.

»Das war tatsächlich keine Reise für Schwächlinge«, pflichtete ihm Berold stolz bei. »Zwei Paar Schuhe hab ich auf dem Weg hierher abgenutzt, einmal hab ich mich im Nebel verlaufen, und bei Bayeux hat mich um ein Haar ein Karren überfahren! Aber ich wollte unbedingt nach Barfleur, denn ich muss mich nach England einschiffen. Ich habe eine … eine Mission zu erfüllen.«

Das weckte das Interesse des Seemanns; Fleischerlehrlinge waren nicht unbedingt die üblichsten Kandidaten für Pilgerfahrten oder gefährliche Seereisen. »Eine Mission? Hast du etwa einen heiligen Eid geschworen?«

Berold nickte feierlich. »Meine Familie ist schon lange entzweit – seit sich mein Bruder Gerard mit unserem Vater zerstritt, der ihn für seinen Eigensinn verflucht und wie Kain verstoßen hat. Fünf Winter lang haben wir nicht gewusst, ob er überhaupt noch lebt, aber dann ist an Michaeli ein Sohn unserer Nachbarn zu uns gekommen, der zur See fährt, und hat erzählt, dass er Gerard in einer englischen Stadt namens London gesehen hätte. Es war, als wären unsere innigsten Gebete erhört worden, denn Vater geht es schon seit dem Sommer sehr schlecht, er leidet an nagenden Schmerzen im Leib und will sich unbedingt mit seinem Erstgeborenen versöhnen, ehe er stirbt. Ich habe meinem Vater und dem Allerhöchsten Vater geschworen, dass ich Gerard suche und nach Hause hole.«

Der Seemann konnte nicht anders, als den Schneid dieses Burschen zu bewundern, auch wenn zu befürchten stand, dass Berolds Mission zum Scheitern verurteilt war. »Ich wünsche dir alles Gute, Junge. Aber ehrlich gesagt glaube ich, dass du heute keinen Platz für eine Überfahrt finden wirst. Die Schiffe des Königs sind schon längst vollgestopft mit seinen Edelleuten, seinen Soldaten und seinen Dienern. Die lassen ganz sicher nur noch eigene Leute an Bord.«

»Ich weiß«, sagte Berold. »Aber Gott hat mich zu einem Gasthaus geführt, wo ich Ivo kennengelernt habe – den da drüben, mit der Augenklappe. Wir sind ins Gespräch gekommen, und als er von meiner Not erfuhr, hat er versprochen, mir zu helfen. Er ist der Vetter des Steuermanns an Bord von einem der königlichen Schiffe, und sein Vetter wird mich an Bord lassen, wenn ich ihn dafür entlohne. Ah, das muss er sein, der da gerade kommt. Also, ich muss los.« Er winkte fröhlich und ging über die Straße auf seine neuen Freunde zu, mit dem herzlichen »Gott sei mit dir, Junge!« des Seemanns im Ohr.

»Bist du Mauger?« Ivos Vetter ignorierte Berolds Lächeln und knurrte bloß, als Ivo sie einander vorstellte. Er war ein Kerl mit schweren Knochen, pockennarbig und mürrisch, und Berold war froh, den liebenswerten Ivo als Mittelsmann dabeizuhaben.

Nur wirkte Ivo nicht mehr so liebenswert wie zuvor im Gasthaus. »Komm, los«, sagte er barsch. Berold musste sich ins Zeug legen, um Schritt zu halten, und immer wieder Passanten und räudigen streunenden Kötern ausweichen. Eine junge Prostituierte zupfte an seinem Ärmel, aber er ging weiter, denn sie war schmutzig und sehr betrunken. Obwohl Barfleur aufregend war, verstörte es ihn auch, denn scheinbar war alles wahr, was er über die Sündhaftigkeit von Seehäfen gehört hatte. Die Straßen waren erfüllt von streitsüchtigen, prahlerischen Burschen, die Tavernen waren randvoll, und selbst für Berolds unschuldigen Blick gab es ein Übermaß an Huren, Bettlern, Hökern und Taschendieben. Er konnte von Glück sagen, in diesem Hort von Halsabschneidern und Hübschlerinnen den guten Ivo gefunden zu haben.

Sie entfernten sich vom Hafen. Berold warf einen letzten sehnsuchtsvollen Blick auf das Weiße Schiff, dann folgte er Ivo in die Schatten einer schmalen, mit Unrat übersäten Gasse. Er ging davon aus, dass sie eine Abkürzung nahmen, aber mit einem Mal endete die Gasse an einer Hauswand. Der Gestank von Urin war überwältigend. Er machte einen Schritt zurück und sagte höflich: »Ich warte hier, während ihr pisst.« Aber ehe er einen weiteren Schritt tun konnte, krachte eine große Pranke gegen seine Schläfe, er wurde nach vorn gestoßen und fiel auf die Knie. Sein entsetzter Aufschrei riss jäh ab, als Mauger ihm eine dünne Schlinge um den Hals legte, und plötzlich drehte sich Berolds Welt nur noch um das Verlangen nach Luft. Während er würgte und keuchte und verzweifelt an der Schnur zerrte, beugte sich Ivo über ihn. Er hielt einen dunklen, flachen Gegenstand in der Hand. Das war das Letzte, was Berold sah.

Er sollte nie erfahren, wie lange er bewusstlos gewesen war. Zuerst nahm er nichts anderes wahr als Schmerz; sein Schädel pochte, und als er sich aufzusetzen versuchte, beugte er sich sofort vor und kotzte sein Abendessen heraus. Stöhnend griff er nach einem abgebrochenen Besenstiel, hielt sich daran fest und wuchtete sich auf die Beine. Da erst dachte er an das Geld, das er in einem Beutel um den Hals trug, das Geld, das ihm die Überfahrt nach England erkaufen sollte, um seinen Bruder nach Hause zu bringen. Mit zitternden Fingern tastete er danach und fummelte noch immer verzweifelt in seiner Tunika herum, als er längst begriffen hatte, dass der Beutel fort war. Für Berold war der Diebstahl der Ersparnisse seines Vaters eine Katastrophe solch epischen Ausmaßes, dass er schlicht nicht mehr weiterwusste. Was sollte er nur tun? Heilige Jungfrau, wie hatte das passieren können? Wie sollte er seiner Familie unter die Augen treten, nachdem er so schändlich versagt hatte? Sein Vater würde nicht in Frieden sterben dürfen, Gerard niemals Vergebung erfahren, und das war alles seine Schuld, Gott verfluche ihn, alles seine Schuld!

Als er schließlich zurück auf die Straße wankte, war er derart blind vor Tränen, dass er die Pferde erst bemerkte, als eines vor ihm in die Höhe stieg. Zum Glück handelte es sich um einen geschickten Reiter. Im letzten Moment gelang es ihm, auszuweichen, aber Berold war dem Unglück so knapp entronnen, dass die Hinterbacken des Hengstes seine Schulter streiften und ihn der Länge nach aufs matschige Pflaster schickten.

»Du volltrunkener Narr! Ich sollte dir deinen elenden Hals umdrehen!«

Sprachlos vor Furcht schrak Berold vor diesem neuerlichen Angriff zurück. Diese Männer, die ihn beinahe zertrampelt hätten, waren hohe Herren. Ihre feinen Gewänder und Schwerter wiesen sie als Männer von Stand aus, Männer, die einen Fleischerlehrling niederstrecken konnten, als wäre er ein streunender Hund. Der wütendste der Männer saß bereits ab, und Berold schauderte, als er sich auf eine Tracht Prügel gefasst machte – oder Schlimmeres.

»Benutz die Augen, die Gott dir gegeben hat, Adam. Der Bursche ist nicht betrunken, sondern verletzt.«

Der Mann namens Adam stierte geringschätzig auf den kauernden Jungen herab. »Ein paar Prellungen mehr würden ihm nicht schaden, Herr. Sie könnten ihn vielleicht lehren, beim nächsten Mal darauf zu achten, wohin er tritt.« Aber er hatte die Hände nicht mehr zu Fäusten geballt und war widerwillig stehen geblieben.

Verblüfft über die unverhoffte Gnadenfrist, stolperte Berold hastig auf die Beine, während sein Verteidiger absaß. Er war wacklig wie ein neugeborenes Fohlen und wäre abermals gestürzt, hätte der Mann ihn nicht beim Arm gepackt und zu einem nahen Aufsitzblock gezogen.

»Du scheinst wirklich alles daranzusetzen, überritten zu werden, Junge. Setz dich und komm zu Atem, während ich mir diese blutige Schnittwunde ansehe. Hmm … Halb so wild. Du musst einen ordentlichen Dickschädel haben! Haben dich Diebe überfallen?«

Berold nickte niedergeschlagen. »Sie haben all mein Geld genommen, und jetzt wird mein Vater sterben …« Weiter kam er nicht; zu seiner Schande begann er zu schluchzen.

Adam verzog angewidert das Gesicht. Sie hatten schon genug Zeit mit diesem erbärmlichen Taugenichts verschwendet. Ein Glück, dass sein Herr auf dem Schlachtfeld solche Kühnheit zeigte, ansonsten hätte man sich zweifellos über seine weibische Weichherzigkeit gewundert. Aber jetzt, da der Tölpel einmal die Neugier seines Herren geweckt hatte, steckten sie wahrscheinlich bis Sonnenuntergang hier fest und durften sich die ganze Leidensgeschichte dieses Narren anhören.

Wie befürchtet war die rätselhafte Bemerkung des Jungen ein Köder, dem sein Herr nicht widerstehen konnte. »Du erzählst mir besser, was passiert ist«, sagte er, und das tat Berold, während Adam stumm vor Wut schäumte.

Berold hingegen verstand die Welt nicht mehr. Warum sollte ein solch hochgeborener Mann sich auch nur im Geringsten für ihn interessieren? Denn dass es ein Hochgeborener war, daran hegte Berold keinen Zweifel; er hatte noch nie einen so eleganten Menschen gesehen. Das schulterlange strohblonde Haar war derart leuchtend und sauber, dass keine Laus es gewagt hätte, sich dort einzunisten. Ein sorgsam gestutzter Bart und ein Lächeln, das gesunde weiße Zähne zeigte – nicht ein einziger angebrochen oder faulig. Er trug einen leuchtend blauen Mantel, der sanfter wirkte als alle Wolle, die man je auf Erden gesponnen hatte, gefüttert mit prächtigem grauem Fuchsfell. Dazu passend gefärbte Rindslederstiefel, geschnürt bis unters Knie. Und einen Hut, verziert mit einem dunklen Edelstein. Links an seiner Hüfte hing leicht wie eine Feder ein Schwert, von dem Berold bezweifelte, dass er selbst es auch nur würde anheben können. Er konnte sich nicht im Entferntesten ausmalen, wie es wohl sein mochte, das Leben dieses stattlichen jungen Adligen zu führen, denn es gab keine Brücke, die ihre irdischen Lebenswelten verbunden hätte. Und doch kam ihm sein Retter seltsam vertraut vor, als wären sie einander schon einmal begegnet. Während Berold stockend von seinem Vater, dem verschollenen Bruder und Ivos niederträchtigem Verrat berichtete, versuchte er sich zu erinnern. Und als es ihm schließlich gelang, war er so überwältigt, dass er alles andere vergaß und in einem einzigen großen Satz herausplatzte: »Ihr seid der Vetter des Königs! Ihr seid Lord Stephen!«

Stephen bestätigte seine Identität mit einem Lächeln. Zwar nahm er das ungeduldige Raunen seiner Männer sehr wohl wahr, aber er hatte Mitleid mit diesem glücklosen Fleischerlehrling, verängstigt und grün hinter den Ohren und fern der Heimat. »Nun gut«, sagte er, »was machen wir jetzt mit dir, Berold?« Der Junge schaute zu ihm auf wie ein verlorener Welpe, die Augen erfüllt von stummem Flehen und Hoffnungslosigkeit. Stephen betrachtete ihn noch einen Moment länger und zuckte dann mit den Schultern. Warum nicht?

»Sag mal«, meinte er, »was hieltest du davon, an Bord des Weißen Schiffs nach England zu segeln?«

*

Stephen konnte Schiffe nicht leiden und kannte auch niemanden, der bei Verstand war und sie trotzdem schätzte. Wer sollte sich schon willentlich der dreifachen Gefahr von Stürmen, Schiffbruch und Seeungeheuern aussetzen?

Dennoch war er fasziniert von dem Anblick, der sich ihm nun bot – die Flotte des englischen Königs, die im Hafen von Barfleur vor Anker lag. Sie waren jenen Schiffen sehr ähnlich, die seinen Großvater, Wilhelm den Bastard, vor über fünfzig Jahren bei seiner Invasion nach England getragen hatten, aber weder war Stephen dies bewusst, noch hätte es ihn gekümmert; wie die meisten Leute lebte er ganz im Augenblick und hatte keinerlei Interesse an einer Geschichte, die nicht seine eigene war. Dafür schätzte er Prunk und Gepränge, hatte Vergnügen an Chaos und liebte buntes Treiben – und all das fand er im Überfluss an diesem Donnerstag, dem Tag der heiligen Katharina, im Hafen von Barfleur.

Den Strand hinauf und hinab wurden kleine Boote zu Wasser gelassen, die Passagiere zu den wartenden Schiffen beförderten. Nur jenen, die das Glück hatten, mit dem Weißen Schiff oder dem des englischen Königs zu reisen, blieben diese nasse, herbe Überfahrt und das würdelose, gefährliche Anbordgehen erspart. Sie mussten bloß die Kaimauer betreten, um ihr Gefährt sicher über eine Landungsbrücke zu erreichen.

Auf dieser Kaimauer stand Stephen nun und wartete darauf, seinem Onkel vor der Abfahrt eine gute Reise zu wünschen. Bis jetzt hatte er vergebens nach der stämmigen, eindrucksvollen Erscheinung des Königs Ausschau gehalten. Da er es nicht eilig hatte, behagte es ihm durchaus, hier an der Pier herumzuschlendern und mit Bekannten und Passanten zu plaudern. Aber seine Lässigkeit verbarg den scharfen Blick des Soldaten, und so bemerkte er allein den kleinen Jungen, der mit wackligen Schritten auf das andere Ende des Kais zuhielt. Er schubste einige Umstehende beiseite, sprang vor und bekam das Kind zu fassen, kurz bevor es das Ende des Anlegers erreichte.

Der kleine Junge stieß ein Protestgeheul aus, das allerdings verebbte, sobald er Stephen erkannte, denn Ranulf war ein Kind von sonnigem Gemüt, das zwar zum Schabernack neigte, nicht jedoch zu Trotzanfällen. Daraus hatte Stephen geschlossen, dass der Knabe nach seiner Mutter geraten war, denn nicht einmal König Henrys größte Verehrer hätten je behauptet, er sei mit einem liebenswürdigen Temperament gesegnet.

»Na, guck mal, was ich gefangen habe! Welch ein seltsamer Fisch mag das bloß sein?« Ranulf war zu jung, um den Scherz zu begreifen, hatte erst kürzlich seinen zweiten Geburtstag gefeiert. Auch war ihm nicht ganz klar, in welcher Beziehung er zu Stephen stand. Er wusste nur, dass Stephen immer lieb zu ihm war und man Spaß mit ihm haben konnte, also quietschte er vergnügt, als sein Vetter ihn hoch in die Luft schwang.

»Mehr«, verlangte er atemlos, »mehr!«

Aber Stephen ließ den Knaben wieder vorsichtig zu Boden, denn er hatte die Frauen gesehen, die in ihre Richtung eilten.

»Ranulf!« Angharad erreichte sie zuerst, das bleiche Kindermädchen war nur einen Schritt hinter ihr. Sie hob ihren Sohn auf, drückte ihn eng an sich und hielt ihn fest, bis er zu zappeln begann, dann überschüttete sie Stephen mit einem Schwall aus Dankesworten.

Er lachte und hob die Hand, um der Flut Einhalt zu gebieten. »Lady Angharad, zu viel der Ehre. Der Junge war nicht wirklich in Gefahr. Selbst wenn er ins Wasser geplumpst wäre, hätten wir ihn rasch genug herausgefischt.« Er war allerdings nicht verwundert, dass seine Versicherungen ungehört blieben; nie hatte er eine Mutter erlebt, die so in ihr Kind vernarrt war wie die junge walisische Mätresse seines Onkels.

Stephen behandelte alle Frauen zuvorkommend, die meisten von ihnen weckten seinen Beschützerinstinkt. Angharad jedoch hatte seine ritterlichen Gefühle von Anfang an in besonderer Weise erregt. Er wusste kaum etwas über ihre Herkunft – nur, dass sein Onkel sie von einem seiner Feldzüge in Wales mitgebracht hatte. Damals konnte sie nicht viel älter als fünfzehn gewesen sein, und manchmal fragte er sich, wie sie wohl darüber dachte, als Kriegsbeute von einem Mann beansprucht zu werden, der über dreißig Jahre älter war als sie. Stephen war zu diesem Zeitpunkt selbst noch sehr jung gewesen und hatte nur ein paar verschwommene Erinnerungen an ein schüchternes Mädchen vom Land, das kaum ein Wort herausbrachte, die langen Wimpern gesenkt hielt und mit manchem Seitenblick eine Scheu zeigte, die ihr als Schild dienen musste. In den sechs Jahren, die sie seitdem an Henrys Hof weilte, hatte sie jedoch Französisch gelernt, normannische Verhaltensweisen angenommen und Henry zwei Kinder geschenkt, eine Totgeburt und ihren Sohn Ranulf.

Stephen wusste, die meisten Menschen hätten Angharad beneidet und keineswegs bemitleidet, denn ihr Leben bot Annehmlichkeiten, von denen man in Wales sonst nur träumen konnte. Eine Konkubine des Königs musste nie Hunger leiden, es würde ihr nie an warmer Kleidung oder einem weichen Bett mangeln. So geizig Henry auch war, um seine Familie kümmerte er sich gut und hatte sämtliche Bastarde als seine Kinder anerkannt. Angeblich hatte er mindestens zwanzig uneheliche Kinder gezeugt, und für viele von ihnen hatte er hervorragende Ehen arrangiert. Stephen zweifelte nicht daran, dass sich Ranulf äußerst glücklich schätzen konnte, weil seine Mutter schön genug gewesen war, um die Blicke des Königs auf sich zu ziehen. Ob das jedoch auch für Angharad selbst galt, vermochte er nicht zu sagen.

Er setzte sich Ranulf auf die Schultern und eskortierte Angharad und das Kindermädchen über die Landungsbrücke, suchte ihnen einen guten Platz unter dem großen Zelttuch und wünschte ihnen eine sichere und schnelle Reise. Als er abermals die Kaimauer betrat, rief ihn eine rauchige Frauenstimme. »Stephen, du Narr! Mein Gatte wird jeden Augenblick hier sein, und wenn er sieht, wie lüstern du mir nachstellst, erschlägt er uns beide!«

Stephen verkniff sich ein Grinsen. »Wenn es je eine Frau gegeben hat, für die es sich zu sterben lohnt, dann dich, meine teuerste … teuerste … nein, sag’s mir nicht! Clemence? Nein … Rosamund?«

Das trug ihm einen heftigen Stoß in die Rippen ein. »Schuft!« Sie lachte, und er zog sie in eine Umarmung, denn sie waren beide Teil der Familie und konnten sich solche Freiheiten herausnehmen, ohne Gerüchte zu erzeugen.

Allerdings waren sie nicht wirklich verwandt, nicht vom gleichen Blut; Amabels Gatte Robert war Stephens Vetter. Obwohl sich König Henry gut um seine unehelichen Kinder kümmerte, zog er es vor, dies nicht aus eigener Tasche zu tun. So hatte er für seinen Erstgeborenen Robert Amabel Fitz Hamon gefunden, die Tochter des Grafen von Creully, eine reiche Erbin, die Robert die Herrschaft über die großen Besitzungen Glamorgan und Gloucester eingebracht hatte. Kürzlich hatte Stephen gehört, der König habe vor, Robert auch die gesamte Grafschaft Gloucester zu übertragen. Er war an sich kein neidischer Mensch, so viel Glück mochte er Robert allerdings nicht gönnen. Ein derart selbstgerechter Mann hatte auf keinen Fall eine Grafschaft und Amabel und die Gunst des Königs verdient.

»So«, sagte Amabel und hakte sich bei ihm unter, »was für Schandtaten hast du in letzter Zeit begangen? Wie ich hörte, hast du heute Nachmittag irgendeine arme Seele auf offener Straße niedergeritten?«

Stephen schüttelte den Kopf und schaute betont kummervoll drein. »Du darfst niemals auf Gerüchte hören, Liebes. Tatsächlich habe ich mich als guter Samariter erwiesen.« Und dann erzählte er ihr davon, wie er den glücklosen Fleischerlehrling Berold gerettet hatte. Als er fertig war, klatschte sie in die Hände und nannte ihn »heiliger Stephen«, aber ihre braunen Augen leuchteten in echter Bewunderung – was Stephen überaus gut gefiel.

Nicht dass er sich etwas davon versprach. Amabel kokettierte gern ein wenig, war jedoch ansonsten eine treue Gattin. Wie fast alle Vermählungen war auch die ihre eine arrangierte Verbindung gewesen, allerdings eine, die sich als überraschend erfolgreich herausgestellt hatte, denn in ihrem Fall schienen sich die Gegensätze anzuziehen. Sie selbst war so lebhaft, verspielt und extrovertiert wie Robert bedächtig, ruhig und grüblerisch. Seit dreizehn Jahren waren sie verheiratet, hatten mehrere Söhne, und Stephen wusste sehr gut, dass Amabel sich all ihren neckischen Bemerkungen und anzüglichen Blicken zum Trotz niemals in ein anderes Bett als das von Robert begeben würde. Und ihn selbst störte das durchaus nicht, denn eine Tändelei mit einer verheirateten Frau war keine kleine Sünde. Er sah aber keinen Grund, warum er und Amabel dieses unschuldige verliebte Spiel nicht fortsetzen sollten, und so standen sie da und lachten vergnügt, als Robert zu ihnen stieß.

Stephen wusste, die meisten Ehemänner hätten diese Zurschaustellung von Vertrautheit übel genommen. Er wusste auch, dass Robert es nicht tat – und konnte ihn wegen seiner fehlenden Eifersucht nicht eben besser leiden. Solche unbedeutenden Gefühle waren schlicht unter der Würde von Robert dem Reinen, dachte er und spürte sofort einen Stich der Reue, denn solch ungnädige Gedanken waren eigentlich nicht seine Art. Aber es ließ sich nicht leugnen: Robert war ihm schon immer ein Knochen im Hals gewesen.

Obwohl sie Vettern ersten Grades waren, unterschieden sich die beiden Männer in ihrem Aussehen so sehr wie in ihrem Charakter – Stephen war groß und blond, Robert fast einen halben Kopf kleiner, viel in sich gekehrter, mit braunem Haar und braunen Augen und einem schnellen, kühlen Lächeln. Er war der Ältere von ihnen, dreißig Lebensjahre im Gegensatz zu Stephens vierundzwanzig, aber oft hielten die Leute den Altersunterschied für weitaus größer, denn Robert zeigte die Würde eines geruhsamen und gesetzten Mannes, der die eigensinnigen Triebe und wilden Regungen der Jugend längst hinter sich gelassen hatte. Er war ein Ehrenmann – so viel musste Stephen ihm zugestehen. Ein tapferer Kämpfer, loyal und standhaft. Aber er war kein Zechkumpan, niemand, mit dem man Tavernen oder Bordelle besucht hätte. Stephen scherzte gern, dass nicht einmal Gott sich trauen würde, ihn »Rob« zu nennen, und wäre wahrlich erstaunt gewesen, hätte er geahnt, dass Robert für Amabel in der Intimität des Ehebetts nur ihr »holder Robin« war.

Robert hatte tadellose Manieren; er war überzeugt davon, jeder Mensch verdiene es, zuvorkommend behandelt zu werden. Allerdings machte er keine Anstalten, Herzlichkeit vorzutäuschen, als er Stephen begrüßte, denn er zog eine deutliche Grenze zwischen Höflichkeit und Heuchelei. Aber Stephen bemerkte nichts davon. Kaum hatte er das Mädchen an Roberts Seite entdeckt, hatte er seinen Vetter gänzlich vergessen.

Matilda de Boulogne war für ihn der lebende Beweis, dass unscheinbare Verpackungen verblüffende Überraschungen beinhalten konnten. Denn dieses kleine Mädchen, das ihm gerade einmal bis zur Brust reichte, so schmal und blass und zerbrechlich, dass sie ihn stets an ein zartes weißes Veilchen erinnerte, das man durch falsches Anfassen quetschen oder durch einen kalten Atem verkühlen konnte, trug das edle Blut von Königen in sich. Ihre Mutter war eine schottische Prinzessin und die Schwester von König Henrys verstorbener Königin. Ihr Vater war der Graf von Boulogne, zwei ihrer Onkel hatten nacheinander als König von Jerusalem regiert. Sie selbst war eine mächtige Erbin. Diese im Kloster erzogene Unschuld würde ihrem Gemahl nicht nur Land und Krone von Boulogne einbringen, sondern auch ausgedehnte Ländereien in Südengland. Als Stephen ihr die Hand küsste, errötete sie sehr hübsch, und als er hinab in ihre blauen Augen schaute, dachte er nicht nur an jene fruchtbaren Felder und prosperierenden Gutshöfe in Kent und Boulogne.

Amabel wusste schon seit einiger Zeit, dass Matilda in Stephen vernarrt war, und wunderte sich darüber nicht im Geringsten, denn die wenigsten jungen Mädchen waren unempfänglich für Lebensfreude, gutes Aussehen und Ritterlichkeit.

Robert bemerkte es nun ebenfalls, allerdings ohne eine Spur der wohlwollenden Billigung seiner Frau. Wahrscheinlich war zu erwarten, dass eine Jungfrau von fünfzehn Jahren nicht in der Lage war, einen bloßen goldenen Anstrich von lauterem Gold zu unterscheiden. Aber auch Frauen, die weltgewandt und erfahren genug waren, um es besser zu wissen, begingen den gleichen Fehler, und das wollte ihm nicht in den Kopf. Nicht dass er Stephen übelwollte – das durchaus nicht. Auch leugnete er nicht, dass Stephen Tapferkeit, Fröhlichkeit und Großherzigkeit in sich vereinte, alles fraglos bewundernswerte Eigenschaften. Doch Robert hielt Stephen nicht für verlässlich, und das war für ihn eines der vernichtendsten Urteile, die er über einen anderen Mann fällen konnte.

»Nun denn, ich sollte mich besser wieder an Bord des Weißen Schiffs begeben.« Stephen griff abermals nach Matildas Hand und führte sie an seine Lippen. »Gott schütze Euch, Lady Matilda. Bis zum morgigen Tag in Southampton.«

»Oh!« Es war ein ungewollter Ausruf und daher umso aufschlussreicher. »Ihr kommt nicht mit uns?« Matildas Enttäuschung war scharf genug, um sie zu ermutigen. »Ich hatte gehofft«, murmelte sie, »Ihr würdet die Überfahrt auf unserem Schiff machen. Ich habe die See schon immer verabscheut, und ich würde mich weniger ängstigen, wärt Ihr bei mir, um meine Angst zu verlachen und auch mich zum Lachen zu bringen …« Ihre Wimpern flatterten gerade lange genug empor, um Stephen einen Blick voll inständigem, ehrlichem Flehen zuzuwerfen, dann senkten sie sich wieder und beschatteten ihre Wangen wie kleine Fächer aus goldenen Federn.

Amabel unterdrückte ein Lächeln; für so eine Unschuld war das beileibe keine schlechte Vorstellung gewesen. Robert musterte seine Gemahlin von der Seite, enthielt sich aber eines Kommentars. Stephen seinerseits war so überrascht, dass er kurz um eine Antwort rang. Er wollte wirklich mit dem Weißen Schiff fahren, hatte Wetten mit mehreren Freunden abgeschlossen, dass es als Erstes in den Hafen von Southampton einlaufen würde. Jetzt aber starrte er Matildas lange helle Wimpern an; war dieses Leuchten dahinter etwa das Glitzern von Tränen?

»Weißes Schiff? Nie gehört«, sagte er und stellte sehr schnell fest, dass jedes Schiff es wert war, um ihres Lächelns willen aufgegeben zu werden.

*

Thomas Fitz Stephen, der stolze Kapitän des Weißen Schiffs, war wenig erfreut zu hören, dass Stephen zum Schiff des Königs übergelaufen war, denn je mehr Herren von hohem Stand sich bei ihm an Bord befanden, desto größer sein Ansehen. Ihm blieb jedoch keine Zeit, über Stephens Sinneswandel zu brüten, denn der Sohn des Königs war endlich eingetroffen. Lord William war hochmütig, ein großspuriger Junge von siebzehn Jahren, der von seinem Vater den stämmigen Körperbau, die schwarzen Haare und den eisernen Willen geerbt hatte. Ihm fehlten allerdings Henrys eiskalte Selbstbeherrschung und viel gerühmte Geduld, und bald schon wurde er rastlos und verließ das Schiff wieder, um sich den geselligeren Freuden der nächstbesten Hafentaverne hinzugeben. Bevor er von Bord ging, gewann er dabei noch die Besatzung für sich, indem er drei Weinfässer aus dem Laderaum holen und anbrechen ließ und anwies, sie sowohl mit den Passagieren als auch mit den Seeleuten zu teilen.

Der Großteil der Ladung war bereits verstaut: riesige Weinfässer und schwere, mit Schlössern versehene Truhen, die angeblich die Schätze des Königs enthielten. Sie waren nun mittschiffs vertäut und mit einem Tuch bedeckt. Im Bug des Schiffs wurde soeben ein großes Zelt errichtet, in dem die hochgeborenen Passagiere zumindest ein wenig Schutz vor Kälte und Gischt finden konnten. Als Berold an Bord gekommen war, hatte ihn die Geräumigkeit des Schiffs gewaltig beeindruckt. Mittlerweile füllte es sich rasch. Im Gasthaus hatte er gehört, es seien fünfzig Ruderer an Bord des Weißen Schiffs, aber sein Zahlenverständnis war eher bruchstückhaft, und so konnte er nur schätzen, wie viele Passagier wohl an Deck umherwuselten; mindestens zweihundert, schätzte er, vielleicht auch weit mehr.

Berold war bestürzt gewesen von der Nachricht, dass Stephen nicht mit ihnen segeln würde. Mit Stephen an Bord hätte er sich sicher gefühlt, hätte weder Sturm noch umherstreifende Kanalpiraten gefürchtet, nicht einmal die Geringschätzung dieser hochgeborenen Passagiere. Ohne Stephen aber, der für ihn eintreten konnte – was, wenn einer der anderen Adligen ihm befahl, das Schiff zu verlassen? Er hatte sich eine entlegene Ecke am Heck in der Nähe des Steuerruders gesucht, zog die Knie bis unters Kinn, schlang den Mantel eng um sich und versuchte, so unscheinbar wie möglich zu wirken. Trotzdem wusste er, dass sein bloßes Aussehen ihn als Eindringling in ihrer Mitte entlarvte. Das triste Grau seiner handgestrickten Tunika – weder gebleicht noch gefärbt – hob sich überdeutlich von den prachtvollen Gewändern in leuchtendem Blau, Rot und Grün ab. Und obwohl er dankbar war für die Wärme, die ihm sein Mantel aus Schafsfell bot, bemerkte er auch das Hohnlächeln, das dieses Kleidungsstück hervorrief, denn die Wolle befand sich auf der Außenseite; so liefen nur Bauern und Arme von niedriger Geburt herum. Als sich seine Befürchtung schließlich bewahrheitete und ein Ritter streitsüchtig gegen die Anwesenheit »dieses mageren Balgs« protestierte, fertigte Lord Richard Fitz Roy den Mann mit einem Scherz über »eins von Lord Stephens Straßenkindern« ab.

Voll Dankbarkeit schloss Berold die Augen und pries Lord Stephen abermals dafür, dass er seinen schützenden Schatten über ihn warf. Er ließ eine Hand unter den Mantel gleiten und drückte den Lederbeutel, der in seiner Tunika verborgen hing – sein geheimer Talisman, Stephens großzügiger Abschiedsgruß. Die Münzen klimperten leise und beruhigend. Endlich lehnte er sich ein wenig zurück in dem Gefühl, sich über sein erstaunliches Glück freuen zu können. Auf dem neuesten, schnellsten Schiff des Königs durfte er nach England segeln, umgeben von all diesen großen und mächtigen Edelleuten und ihren Damen. Was für Geschichten er Gerard zu erzählen haben würde!

Er fing an, Gespräche zu belauschen oder wenigstens Fetzen von Unterhaltungen aufzuschnappen, denn er wollte von seinen berühmten Mitreisenden so viele wie möglich identifizieren. Richard Fitz Roy war dem Aussehen nach Anfang zwanzig und wurde von seinem königlichen Vater angeblich sehr geliebt, der ihn erst kürzlich mit einer normannischen Erbin verlobt hatte. Berold fragte sich, ob sie eine der Frauen an Bord war – und ob Lord Williams junge Gemahlin ebenfalls mitsegelte. Er war restlos fasziniert von den weiblichen Passagieren, denn noch nie war er Damen von hohem Rang so nahe gewesen.

Er zählte mindestens fünfzehn dieser verlockenden Geschöpfe, allesamt sauber und in teure, prächtig bunte Gewänder gehüllt. Wann immer eine von ihnen in seiner Nähe vorbeiging, wehten auf der salzigen Seeluft die Düfte des Sommers zu ihm herüber. Ihre Kleider waren unter langen Umhängen verborgen, aber trotz der Novemberkälte trugen sie keine Kapuzen, nur zarte Schleier, die von Diademen gehalten wurden; ihr Haar fiel in langen Flechtzöpfen herab, die häufig mit Bändern verziert waren. Eine trug den kleinsten Hund, den Berold je gesehen hatte und dessen Ohren ebenfalls mit kecken roten Schleifchen verziert waren. Jede einzelne dieser Damen an Bord des Weißen Schiffs verzauberte ihn ganz und gar, vor allem aber Lady Mahault, die Gräfin von Perche, und Lady Lucia, die Gräfin von Chester. Beide waren überaus hübsche junge Damen. Mahault war schlank und dunkel, während Lucias blonde Zöpfe wie geflochtenes Sonnenlicht auf dem smaragdgrünen Umhang leuchteten und ihr fast bis zu den Knien reichten. Sobald er erfuhr, um wen es sich handelte, konnte Berold nicht mehr den Blick von ihnen wenden, denn Mahault war eine von König Henrys eigenen Töchtern und Lucia seine Nichte, Stephens Schwester.

Die Sonne hatte den ganzen Tag unbeständig und nur mit fahler Winterwärme geschienen. Als wollte sie dies nun wiedergutmachen, flammte sie plötzlich in einer spektakulären Mixtur von Rot, Gold und Purpur auf. Gerade schwanden die letzten Spuren des Lichts am Horizont, als Berold auf dem Schiff des Königs eine Lampe aufflackern sah. Während sie zum Masttop gezogen wurde, schallte eine Trompetenfanfare über das dunkle Wasser der Bucht. Das Knarren der Winden ertönte, die Anker wurden gelichtet, und ein Schrei erklang: »Segel los!« Die Flotte von Henry I., König von England und Herzog der Normandie, begab sich auf die Reise.

Das Weiße Schiff jedoch blieb an seinem Liegeplatz, denn Lord William sowie der Graf von Chester und eine Reihe anderer junger Adliger waren noch an Land. Aus der nächsten Taverne schwebte lautes Gelächter herüber, so fröhlich und verlockend, dass auch andere schon versucht gewesen waren, sich dem Gelage anzuschließen. Nur wenige Männer begaben sich ohne eine gewisse Beklemmung auf eine Seereise, und je dunkler der Nachthimmel wurde, desto mehr von ihnen stellten fest, wie einfach es war, alle Bedenken im frei fließenden Wein zu ertränken. Da auch die Besatzung Zugang zu den königlichen Weinfässern erhalten hatte, trug sie die Verzögerung durchaus mit Fassung. Einzig der Kapitän war verstimmt, dass sie nicht mit der Flut auslaufen konnten, aber als er an Land ging, um sich zu beschweren, musste er feststellen, dass es mit seiner Autorität als Schiffskapitän nicht allzu weit her war im Angesicht eines Jünglings, der eines Tages über ganz England und die Normandie herrschen würde.

Als das Weiße Schiff endlich zum Auslaufen bereit war, war die Nacht stockfinster und bitterkalt. Berold hatte die Warterei arg auf die Probe gestellt. Er hatte sich nicht einmal mit Wein trösten können wie die restlichen Passagiere, denn er wagte es nicht, sich der Zecherei der Besatzung anzuschließen, und war so einer der wenigen Nüchternen an Bord, nun, da der Kapitän endlich den Befehl zum Ablegen gab. Eine kleine Menschenmenge hatte sich eingefunden, um ihrer Abfahrt beizuwohnen, und war gebührend empört, als sich diverse junge Edelmänner gefährlich weit über die Bordwand beugten und die Priester verspotteten, die gekommen waren, um jenen ihren Segen zu erteilen, »die mit Schiffen auf dem Meere fahren«. Während die Schaulustigen nach Luft schnappten und die Priester wütend solche Gottlosigkeit verurteilten, wurden der Anker gelichtet, die Wanten festgezurrt, das Segel entfaltet. Langsam entfernte sich das Weiße Schiff von der Kaimauer und glitt hinaus in die Schwärze des Hafenbeckens.

Die Nacht war wolkenlos, der Himmel mit Sternen übersät. Der abnehmende Mond warf einen flackernd silbrigen Schein auf die Wogenkämme. Das Schiff lag tief im Wasser, und Berold stellte mit Unbehagen fest, dass der Freibord kaum drei Fuß über der Oberfläche der Bucht lag. Schon hatte er einen flauen Magen und flüsterte ein kurzes Stoßgebet an den heiligen Erasmus, der angeblich Mitleid mit allen armen Seelen hatte, die an Seekrankheit litten. Er hatte gehört, dass die Überfahrt von Barfleur nach Southampton je nach Wind und Wellen etwa einen Tag dauerte. Zwölf Stunden lagen also vor ihm, gewiss die längsten zwölf Stunden seines Lebens.

Es hätte Berold vielleicht beruhigt, zu wissen, dass die meisten hochgeborenen Mitreisenden seine Angst teilten, der Sohn des Königs eingeschlossen. William hatte den Kanal öfter überquert, als er zählen konnte, aber sein Körper reagierte auf jede Reise, als wäre es sein erstes Mal an Bord eines Schiffs. Er hatte so viele elende Erinnerungen an Seekrankheit, dass er ein Schiff bloß ansehen musste, um ein flaues Gefühl zu bekommen. Einer der Gründe dafür, dass er sich derart betrunken hatte, war die Hoffnung, der Wein möge seinen verräterischen Magen beruhigen und ihn davor bewahren, sich zum Gespött zu machen, denn mit siebzehn Jahren gab es kaum eine größere Angst als die vor öffentlicher Blamage. Dass auch andere oft mit der gleichen unwürdigen Unpässlichkeit geschlagen waren, tröstete ihn nicht im Geringsten, denn er war Englands zukünftiger König und durfte sich nicht den Schwächen gewöhnlicher Menschen ergeben. Sein Herr Vater tat das nie, und bei Gott, er würde es auch nicht tun.

Aber sowie sie aufs offene Wasser zuhielten, jagte William auch diesmal zum Bug des Schiffs, krallte sich an der Bordwand fest und spie in die Wellen, die sich am Vordersteven brachen. »So früh schon krank, Will?« Die Stimme war voller Mitgefühl, konnte allerdings auch eine Spur Belustigung nicht verhehlen, die selbstgefällige Nachsicht eines guten Seefahrers. William war allerdings zu elend zumute, um sich zu ärgern. Er ließ sich von seinem Bruder aufhelfen, der ihn zum Zeltdach steuerte, wo er auf einer Decke zusammensank, einen Haltegriff packte und sich entschlossen festklammerte. Als Richard wenig später erneut nach ihm sah, hatte er sich auf den Rücken gedreht und schnarchte leise.

»Richard … wie geht es Will?«

»Der Wein hat ihn erledigt. Mit etwas Glück schläft er die Nacht durch, armer Junge.«

Das Schiff stampfte, und Richard streckte die Hand aus, um seine Schwester und seine Nichte zu stützen. Mahault konnte sich über seinen sicheren Stand nur wundern, denn er hatte fast so viel getrunken wie William, schien davon aber in keiner Weise beeinträchtigt zu sein. Warum, fragte sie sich, waren Männer nur solche Narren?

Lucia war weniger voreingenommen. Armer Will, dachte sie, morgen früh wird es ihm nicht nur hundeelend gehen, er wird sich auch noch bloßgestellt fühlen. Sie sagte: »Ich bleibe bei ihm für den Fall, dass er aufwacht.«

Richard war in dem Moment eher an seiner verlorenen Wette interessiert, denn er hatte eine hübsche Summe darauf gesetzt, dass das Weiße Schiff