Tilman und die Nackten - Christoph Pitz - E-Book

Tilman und die Nackten E-Book

Christoph Pitz

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Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 1491: Während Meister Til am Hochaltar für die Magdalenenkirche zu Münnerstadt arbeitet, plant der Rat der Stadt Würzburg die Gestaltung der Fassade der Marienkapelle. Obwohl der Etat dafür begrenzt ist, reizt Riemenschneider diese Aufgabe. Eine Reise nach Italien und die Begegnung mit Künstlern wie Michelangelo bringen ihn auf ganz neue, verwegene Ideen, die in Würzburg allerdings auf wenig Gegenliebe stoßen. Und als er in die Auseinandersetzungen zwischen geistlichen und weltlichen Kräften der Stadt hineingezogen und seine Werkstatt verwüstet wird, scheint er sie ganz aufgeben zu müssen. Doch Adam und Eva, die Nackten am Portal der Marienkapelle, bleiben sein großer Traum.

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Tilman und die Nackten

von

CHRISTOPH PITZ

TILMAN UND DIE NACKTEN

von

CHRISTOPH PITZ

echter

Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2019

© 2019 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Cover: Büro 71a, Würzburg

Satz: Satzsystem metiTec, me-ti GmbH, Berlin

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN 978-3-429-05393-2 (Print)

ISBN 978-3-429-05039-9 (PDF)

ISBN 978-3-429-06449-5 (ePub)

DRAMATIS PERSONAE

In chronologischer Reihenfolge, historische Persönlichkeiten sind durch ein * kenntlich gemacht.

Bertoldo di Giovanni* – Ca. 1420–Dezember 1491, Schüler des Bildhauers Donatello, später Leiter und Meister der Schule im Bildhauergarten von Lorenzo de Medici.

Tilman Riemenschneider* – Ca. 1460–07.07.1531, Bildhauer, Bildschnitzer, langjähriger Ratsherr, Bürgermeister zu Würzburg an der Schwelle des späten Mittelalters zur frühen Neuzeit.

Michelangelo Buonarroti* – 06.03.1475–18.02.1564, Bildhauer, Maler, Architekt, Universalgenie. Naturereignis der Menschheit und wohl erster Rockstar der Kunst schon zu Lebzeiten.

Anna Riemenschneider* – Gestorben ca. 1495, erste Ehefrau von Tilman, welche als Witwe eines Goldschmieds 1485 das Haus in der Würzburger Franziskanergasse nebst Werkstatt sowie drei Söhne in die Ehe mit einbrachte.

Lorenzo de Medici* – 01.01.1449 – 08.04.1492, führender Staatsmann in der Republik Florenz und Förderer von Kunst und Humanismus mit einem Nachhall weit über seine Lebensspanne hinaus.

Hans Hoppinger* – Gestorben ca. 1450. In den Nürnberger Hausbüchern verzeichneter Gewandschneider und Tuchhändler.

Johann von Allendorf* – 03.10.1400 – 17.10.1496, Probst im Ritterstift St. Burkard und fürstbischöflicher Kanzler.

Endres Stein – Zunftherr in der Zunft der Weinmesser und Wirte.

Anton Mühlbach – Ratsdelegierter aus der Gauger Vorstadt und ein Freund Riemenschneiders.

Josef– Geselle der Holzwerkstatt Riemenschneiders.

Nikolaus Molitor von Ebern* – Komtur des Deutschen Ordens und ein Gegenspieler Allendorfs.

Martin Lederer – Zunftmeister St.-Lucas-Gilde und ein Konkurrent Riemenschneiders.

Maria – Hausmagd bei den Riemenschneiders.

Thomas – Geselle im Steinhauergarten Riemenschneiders.

Rudolf II. von Scherenberg* – ca. 1401 – 29.04.1495, hochbetagter Fürstbischof von Würzburg.

Anderl – Ein österreichischer Geselle in der Werkstatt Martin Lederers.

Rudi – ein Lehrbub beim Lederer.

Margaretevon Wurzbach*– Geheimnisvolle „Verwandte“ Scherenbergs.

Lorenz von Bibra*– 1459 – 06.02.1519, Domherr zu Würzburg.

Gundel–Wirtsmagd in der Sturmglocke.

Irmgard Lederer – Eheweib des Martin Lederer.

Rodrigo de Triana*– Matrose auf der Pinta, später selbst Kapitän.

Prolog

Die Sturmglocke am Alten Markt bei der Rampe zur großen Flussbrücke hin war zum Bersten gefüllt. Die Fischer von der anderen Mainseite waren da und feierten lautstark nach dem langen Winter die bevorstehenden Ausfahrten. Ebenso Bauernburschen und Marktleute, die über Nacht in der Stadt blieben, um ihren Waren und sich den Brückenzoll des Bischofs zu ersparen. Für gewöhnlich war dies jedoch eine beliebte Wirtschaft der vielen Handwerksburschen und Arbeitsknechte in der Stadt, während Händler, Zunftherren, vornehme Bürger und adelige Herrschaften sowie Ratsmänner oder gar Domherren so gut wie nie an einen derart rauen Ort kamen wie diesen, Priesterschaft und Mönche der ungezählten Kirchen und Klöster Würzburgs, der ehrwürdigen Bischofsstadt am Main, schon gleich gar nicht. Dabei hatte der alte Kasten eine besondere Geschichte, die zu Würzburg gehörte wie der Dom, die gewaltige Brücke und die verdammte Bischofsburg oben auf dem Frauenberg. Hier nämlich, wo jetzt das Burschengesindel lärmte und die feisten Wirtsmägde sich dazwischen geschickt mit Bierhumpen und Weinkanne gegen Grabscherei und Püffe behaupteten, zugleich jedoch nicht mit ihren Reizen geizten, ja genau hier war es gewesen, wo einst der erste Rat der Stadt zusammengekommen war und nach einem großen Sieg der unermesslichen Gier des Fürstbischofs getrotzt hatte. Von dem jetzt schon fast verfallenen Türmchen über dem Dach hatte man die Glocke geläutet, wenn räuberisches Gesindel vom Fluss her kam, ein Feuer ausgebrochen war oder vom Bischofsberg herab Ungemach drohte; daher hatte der Hof seinen Namen Sturmglocke erhalten. Das war lange her, wohl über zweihundert Lenze und interessierte nunmehr weder die Wirtsleute noch das lärmende Gästevolk.

Josef saß am Ende einer langen, grob gezimmerten Bank inmitten der betriebsamen Schenke und betrank sich langsam, aber unaufhaltsam. Er starrte auf das Bier in seinem schon wieder halb geleerten Krug, in dem sich gerade so ein Mistviech von geflügeltem Insekt zu ertränken versuchte. Als nichts mehr zappelte, nahm er einen tiefen Schluck und wischte sich mit dem Ärmel voller Holzstaub den Mund ab. Verdammt und zugenäht, was dachte sich sein Meister eigentlich dabei, auf große Fahrt zu gehen und ihn mit der Arbeit für den Münnerstädter Altar alleine zu lassen. Auch wenn die wichtigen Figuren bereits in größter Kunstfertigkeit ausgeführt in der Werkstatt standen und die Zeichnungen für den Aufbau des Retabels im Detail schon verfertigt waren, er konnte es unmöglich schaffen. Schon gar nicht mit dieser Bande an Schnitzknechten und Lehrbuben, die er zur Verfügung hatte. Was glaubte der Meister eigentlich, das sich vollbringen ließe, Wunder vielleicht? Josef nahm einen weiteren Zug des Bieres und rief schon leicht lallend nach einer Magd für mehr. Ein ‚Hab Dich nich so, ich werd scho bei Dir vorbeikumma‘ drang von irgendwoher an sein Ohr. Und Maria, was glaubte die eigentlich, wer sie wiederum sei? Was Besseres vielleicht? Vornehm in gutem Tuch und mit einer empfindlichen Nase? Bestimmt nicht. Er hatte ihr nun schon lange genug den Hof gemacht, hatte ihr feine Worte gesagt, Arbeiten abgenommen, hatte ihr kleine Geschenke und sogar ungewöhnliche Blumen aus den Auen draußen vor der Stadt gebracht, aber hatte sie sich von ihm jemals zum Tanz oder zu einem der öffentlichen Spiele einladen lassen? Nein, nicht einmal über den Markt hatte er sie begleiten dürfen. Verdammte Magd, dachte er, sie hatte ihn überhaupt nicht verdient. Josef leerte seinen Krug in einem langen Zug gerade in dem Moment, als eine der drallen Wirtsmägde einen frisch abgefüllten vor ihm abstellte, während sie mit der anderen Hand mehrere Gefäße gleichzeitig an ihren Henkeln balancierend in die Höhe hielt. Josef starrte unvermittelt und wie tumb auf teilweise freiliegende Rundungen ihres üppigen Busens, dessen Schnürung zum Halskragen hin vollständig offen herunter hing.

„Das reicht für heute, Josef“, sagte sie, „du hast genug. Geh nach Haus und schlaf deinen Rausch aus. Erschaffe der Mutter Gottes etwas Besonderes.“

„Du meinst Maria Magdalena“, lallte Josef trübsinnig und griff nach dem frischen Krug, „nicht die heilige Jungfrau Maria, sondern die andere von den beiden, die Dirne unseres Heilands …“ Die Wirtsmagd hörte ihn nicht mehr, sie war bereits wieder im Trubel der Gastschenke verschwunden. Josef gönnte sich noch einen Schluck. „Ach Maria, …“

Zwei Bankreihen weiter, tiefer im Inneren des großen Schankraumes, der früher einmal den Versammlungen des Rates und auch gemeinsamen Treffen der Zunftoberen gedient hatte, saß eine Gruppe von Knechten und Gesellen beieinander, die noch lauter grölte als es die feiernden Mainfischer an diesem Abend ohnehin schon taten. Sie gehörten zur Werkstatt des Martin Lederer, einem angesehenen und gar gerühmten Bildschnitzer in Holz. Die dralle Magd mit den frech hervorquellenden Brüsten stellte dort gerade die übrigen Krüge ab, als sie von vielen Händen angefasst, lüstern gekniffen wurde und sich lautstark zur Wehr setzte.

„Nehmt bloß eure Drecksflossen von mir! Ich bin Schankmagd und keine Hure!“ Der Blick ging in Richtung der offenen Küche mit dem riesigen Herd und den Fässern für Wein und Bier, aber dort sah der beschäftigte Schankwirt ihre Blicke nicht und hörte auch ihr zusehends kreischendes Flehen nicht im Lärm der Schenke. Angestachelt von ihrer Widerborstigkeit machten sich die Männer grabschend nur umso mehr an ihr zu schaffen. Die Magd suchte sich loszumachen um fortzueilen, dabei riss der Stoff und die rechte Brust sprang heraus, quittiert von Gejohle und noch mehr Grabschern. Den Stoff mit der Hand über ihre Blöße zurückdrückend, schrie die Magd spitz auf, was den Wirt der Sturmglocke nun doch aufschrecken ließ sowie auch Josef aus seiner dumpfen Biergrübelei holte.

„Ihr da! Lasst die Gundel los! Die ist ein ordentliches Schankmädel, die tut nur ihre Arbeit.“ Josef stand aufrecht, aber leicht schwankend vor der Gruppe der Lederer-Gesellen und Knechte. Und nach einer kleinen Weile der Verblüffung fügte er noch an: „Wird’s bald oder muss ich nachhelfen?“

Ein Kerl wie ein Baum nahm seine Arme hinaus aus dem Gewirr von Gliedmaßen um die Schankmagd herum und erhob sich von der Bank, sodass er Josef mehr als einen Kopf überragend sich direkt vor diesem aufbaute.

„Wie war das? Was hast du gesagt? Bist du nicht der Geselle von diesem Meister Til, der unseren heimischen Meistern mit Ketzereien und Teufelswerk die besten Aufträge stiehlt. Du kommst gerade recht, … von Gott geschickt. Mit dir und deinem Meister wollten wir uns heute Nacht sowieso noch befassen.“

Josef verstand nicht. Der randvolle Bierhumpen traf ihn krachend ohne jede Vorwarnung, ließ seinen Wangenknochen splittern, als sei er nur ein brüchiges Stück trockenen Holzes und streckte ihn zu Boden. Josef versuchte hektisch zappelnd und kämpfend wieder auf die Beine zu kommen, aber es war zu spät.

1

Bertoldo schlurfte schleppend über den mit groben Steinen gepflasterten Weg im Skulpturengarten Lorenzo di Medicis; die nackten, in einfachen Sandalen steckenden Füße hob er dabei kaum mehr vom Boden ab, er schob sie vielmehr rutschend Stück für Stück voran. Den Rücken von der Last des Alters beinahe schon zu einem Buckel gebeugt, die Haut faltig und so ledrig wie Pergament.

Nur das hellwach funkelnde Sprühen zweier in tiefen Höhlen liegenden Äuglein zeigte an, dass in der verhutzelten kleinen Gestalt noch jede Menge Leben steckte. Tilman kam nicht umhin, dem alten Mann Respekt zu zollen, denn an diesem Frühjahrstag schien die Sonne schon jetzt am Vormittag so heiß auf sie herab, dass auch ihm mit seinen kaum 30 Jahren jeder Schritt neue Schweißperlen auf die Stirn trieb.

Nun aber hatten sie ihr Ziel erreicht, die Bildhauer-Schule der Medici. Tilman war fast ebenso aufgeregt, wie er es damals als Lehrjunge bei van Leyden gewesen war, nachdem er auf der Grundlage einer Vorzeichnung zum ersten Mal den Schlegel in einen jungfräulichen Stein getrieben hatte. In den vergangenen Tagen hatte er bereits die Arbeiten Donatellos, Pisanos, Ghibertis und so vieler anderer Meister gründlich studiert, wie sie in dieser wundersamen Stadt fern seiner Heimat Würzburg offenbar zahllos aus dem Boden zu sprießen schienen. Nichts was er jemals gesehen hatte, war auch nur annähernd vergleichbar mit der unfassbaren, vielleicht gar von Gott selbst inspirierten Kunst an diesem Ort. Manche Werke, die er hier in Florenz oder auch in Pisa gesehen hatte, waren schon 200 Jahre alt und zeigten doch eine Tiefe in Ausdruck und Glauben sowie eine Meisterschaft im Handwerk, wie es diese nördlich der Alpen nie gegeben hat. Seit Tagen schon hatte Tilman ein Fieber der faszinierten Aufregung und Besessenheit befallen, in dem er in den Besitz dieser meisterlichen Kunstfertigkeit zu gelangen trachtete. Und nun war es soweit, jetzt endlich würde er den ersten Schritt hinein in eine neue Welt tun. Sie kamen zu den Werkstätten. Jeder Schüler des Bertoldo hatte dort einen ihm im Garten zugewiesenen Platz, manche mit einem groben Holzverschlag gegen Sonne und Wetter ausgestattet. Jeder Schüler arbeitete mit seinem eigenen Werkzeug und zu Tilmans Erstaunen an gänzlich unterschiedlichen Werken. Von der Büste im antiken Stil, wie er hierzulande schon viele gesehen hatte, über lebensgroße Statuen bis zu dem aus Holz konstruierten Vormodell war alles dabei. Ein überdachter Verschlag beherbergte das Material, aus dem die Schüler Bertoldos ihre Arbeiten fertigten. Tilman gab einen Ausruf der Verblüffung von sich: weiße Marmorblöcke verschiedener Größen und von einer Reinheit und Güte, die ihm geradezu den Atem raubte. Die funkelnden Augen des alten Meisters bemerkten es.

„Marmor aus den Steinbrüchen von Carrara, der würdigste Stoff auf Gottes Erdenscheibe daraus eine Skulptur zu schaffen. Sahest du ihn denn bisher nicht in den Arbeiten unserer Stadt?“

„Ich sah es, aber ich hätte nicht geglaubt, dass Schüler ihre Lehrarbeiten in einen solchen Stein hauen dürften.“

Ein zahnloses Grinsen huschte durch das faltige Gesicht des Alten. „Lorenzo wird nicht umsonst Il Magnifico genannt, er hat den Stein und alles andere bezahlt. Und nun entschuldige mich, ich muss den Jungen die Finger zurecht biegen, bevor sie ihre Werkstücke zugrunde richten und meine Tage zu Ende gehen. – Wenn du aus unserem Garten für deine Arbeit etwas mitnehmen willst, so sprich mit diesem dort. Er ist nicht sehr gesellig, lass dich also nicht abschrecken. Aber er ist die Zukunft unseres Handwerks.“

Bertoldo zeigte auf einen Arbeitsplatz etwas abseits von den anderen, an dem ein junger Mann mit ihnen zugewandtem Rücken in seine Arbeit vertieft war, fast ein Knabe noch, dann wandte der Alte sich ab und schimpfte mit unerwarteter Heftigkeit auf einen grobschlächtigen Kerl ein, der gerade im Begriff war, einem Werkstück die Seele zu nehmen.

Tilman schlenderte voll der Eindrücke hinüber zu dem ihm gehießenen Werkplatz. Der Jüngling, hinter dem er hier stand, musste ihn bemerkt haben, unterbrach seine Arbeit aber nicht, für welche er den Stein auf einem Holzgerüst vor sich unermüdlich polierte. Tilman war des italischen Zungenschlages dank seiner Erfahrungen in den Werkstätten von Straßburg und Ulm leidlich mächtig, sodass er auch hier das Wort zu ergreifen wusste.

„Bertoldo sagt, du seist die Zukunft des Bildhauens in Stein. Gerne würde ich deine Arbeit studieren. Ich bin Tilman Riemenschneider, Bildhauermeister der Sankt-Lucas-Gilde zu Würzburg von weit nördlich des hohen Alpengebirges.“

Der junge Mann mit den zarten Schultern eines Knaben wandte sich weder seinem Besucher zu noch hielt er in der Arbeit inne, die Stimme jedoch tief wie diejenige nach einem ganzen Menschenalter. „Bertoldo ist ein Greis mit einem gütigen Herzen. Ich bin der Arbeit seines Meisters Donatello und derjenigen des Ghiberti oder Brunelleschi nicht würdig. Ich werde es nie sein.“

„Wie ist dein Name?“

„Ich bin Michelangelo Buonarroti, Sohn des Ludovico Buonarroti Simoni. Il Magnifico nahm mich in seinen Haushalt auf, aber ich bin seines Vertrauens nicht würdig.“ Michelangelo wischte sich mit dem Tuch in der Hand Schweiß und Staub aus dem Gesicht, warf es sodann weg und stand auf, womit er den Blick auf seine Arbeit freigab. Tilman stockte der Atem, ihn schwindelte es. Er sah ein im Stein gerahmtes, helles Flachrelief. Die sitzende Mutter Gottes mit dem Jesuskind auf dem Schoß, welches sie säugt. Die Körper so wirklich und anrührend, das Gewand der Madonna so natürlich die Gestalt zeigend, durchsichtig und alles verhüllend zugleich. Tilman wollte etwas ausrufen, brachte aber keinen Ton heraus, stattdessen studierte er das Relief weiter, um es zu verstehen. Unfassbar fleischig war das dem Betrachter abgewandte Jesuskind gebildet. Die Mutter Gottes blickt die Treppe hinauf, an der sie sitzt und erblickt den ihrem Sohn bestimmten Leidensweg mit dem Kreuz den Berg Golgota hinauf. Zur Erlösung der Verderbnis in der Welt, was sie ebenfalls erblickt. Dabei nahm die Relieftiefe von der Madonna mit dem Kind bis hin zur Sünde der Menschen kaum merkbar ab. Tilman fand in der fremden Sprache keine Worte. Diese so klar und einfach transportierte Botschaft, die faszinierende Leiblichkeit der Körper, die unfassbare Leichtigkeit der Gewandung. Während er mit Tränen in den Augen rang, umfing er den jungen Mann in einer innigen Umarmung. Dieser stieß den Älteren von sich.

„Narr aus einem fremden Land, siehst du denn nicht, wie missraten das Werk ist? Die Hände meiner Madonna spotten der Schöpfung unseres Herrn. Ich weiß nichts über des Menschen Gestaltung! Gar nichts!“ Der junge Michelangelo lief wutentbrannt über sich selbst und ob der Bewunderung des Fremden davon. Bertoldo machte einige Schritte weiter eine Geste, als sei ihm das Verhalten seines Schülers nicht ganz fremd. Tilman Riemenschneider aber fuhr mit den Fingerspitzen vorsichtig über die Konturen des vor ihm stehenden Reliefsteins und beschloss seine eigene Kunst fortan zu erneuern.

2

„Anna, komm, wir dürfen den Prächtigen nicht warten lassen.“

Anna Riemenschneider stand im Wandelgang des Innenhofes und betrachtete das Arrangement aus kunstvollen Säulenjochen, Nischenfiguren und vor allem die im Gegensatz zur trutzigen Straßenfront hier nun so leicht getragene, fast schon schwebende Architekturgestaltung, während ihr Mann, der Bildhauer, kein Auge für diese Kunstfertigkeit fand, sondern ungeduldig an der Seite eines Dieners von einem Bein auf das andere trat.

„Nun drängel halt nicht so. Eine solche Stadt und diese Pracht hier überall werden wir nie wieder sehen.“

„Du weißt doch, was es mich gekostet hat, den Hoppinger zu dieser Empfehlung zu überreden. Jetzt eil dich.“

„Ich komm ja schon.“

Sie folgten dem Diener eine lange Treppe hinauf in das erste Obergeschoß und einen umlaufenden, breiten Gang voller Bildwerke an den Wänden entlang, bis in eine kleine Halle. Dort bat der Diener darum, dass sie sich kurz gedulden mögen und verschwand durch eine doppelflügelige Holztür. Anna nahm auf einem der bequemen Armstühle Platz, um ihre vom vielen Laufen geschundenen Füße ausruhen zu lassen. Tilman sah sich ungeduldig um, ein Bild an der gegenüberliegenden Wand zog seine Aufmerksamkeit auf sich.

„Anna, sieh nur! Diese Farben, diese Leiber, die Gewandungen! So leicht und weich dahin fließend. Kaum ein kantiger Faltenwurf. Sieh doch nur!“

Anna hob nur leicht den Kopf, blieb aber sitzen. „Bah, nix wie nackte Weiber. Da guckste wieder hin.“

„Aber nein, da ist keine so richtig nackt. Du schaust ja gar nicht her. Der Stoff umfängt sie nur wie ein leichter Wind. Diese Bildung der Körper, der Ausdruck in den Gesichtern, die Haare. Keine Figur gleicht der anderen und doch finden sie in Anmut zusammen. Was es wohl darstellt? Was meinst du, könnte es sich in der Mitte um eine Mutter Gottes handeln? Weil sie die Hand segnend erhebt …“

Die Flügeltür öffnete sich und der Diener forderte sie auf einzutreten.

„Komm schon, Til. Wir dürfen den Prächtigen nicht warten lassen.“

Das Kabinett Lorenzo de Medicis war ein überraschend kleiner, vollständig in Holz getäfelter Raum. Ein großer Arbeitstisch voller Papiere, Regale mit Büchern und noch mehr Papieren, eine gepolsterte Sitzgruppe mit mehreren kleinen Beistelltischen. Zwei große, offen stehende Fenster ließen viel Licht hinein und führten nicht etwa zum Innenhof des riesigen Palazzo, sondern zur Straße hinaus, sodass die Geräusche der lebhaften Stadt gedämpft ein wenig hereindrangen.

‚Ah, Meister Tilman. Seid willkommen. Mein Freund und Agent Hans Hoppinger hat mir Euch mit den wärmsten Worten anempfohlen, damit Ihr Euch mit den schönen Künsten unserer Meister vertraut machen könnt. Hat man Euch denn alles gezeigt zu eurer Zufriedenheit?“

Mit ihrem Eintreten hatte sich Lorenzo von seinem Stuhl erhoben und war ihnen durch den Raum gar einige Schritte entgegengekommen. Zu Tilmans Erstaunen trug der Prächtige die zwar fein gewirkte, aber doch nur gewöhnliche Tracht eines italischen Kaufmanns. Auch die Gestalt und Erscheinung des eher schmächtigen und von schlechter Gesundheit wirkenden Mannes ließen auf den ersten Blick nicht an einen Prächtigen denken. Schon gar nicht an einen der Mächtigsten ihrer Zeit. Die Stimme indess begrüßte sie mit warmer und einer sich selbst bewussten Freundlichkeit.

„Ja, Eure Exzellenz. Man behandelt uns zuvorkommend und erfüllt unsere Wünsche. Ich kann nicht genug zum Ausdruck bringen, wie dankbar ich bin, die Kunstfertigkeit eurer Stadt studieren zu dürfen. Auch entbietet Euch Herr Hoppinger die allergnädigsten Grüße. Ich habe die Ehre Euch dieses Schreiben zu überbringen.“