To My Sunflower - Marie Weis - E-Book + Hörbuch

To My Sunflower Hörbuch

Marie Weis

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Beschreibung

Die erfolgreiche Ophelia geht in ihrem Job als Illustratorin voll auf und auch mit ihrem Instagram-Profil @opheliaungeschönt, auf dem sie über Selbstliebe und psychische Erkrankungen aufklärt, hat sie sich einen Namen gemacht. Doch so selbstsicher, wie sie wirkt, ist sie ganz und gar nicht. Besonders in Sachen Liebe hat sie bisher keine Erfahrungen gemacht, was sie zunehmend verunsichert. Als Ophelia die Illustrationen für das neue Buch des Kinderbuchautors Leo gestalten soll und er ungeahnte Gefühle in ihr weckt, wird es Zeit, mutig zu sein und die eigene Komfortzone zu verlassen. Doch nicht nur der Umstand, dass Leo der Exfreund ihrer Chefin ist, erschwert das Ganze, auch ihre Vergangenheit und ihre Probleme mit dem eigenen Körperbild halten sie zurück. Werden sie es trotzdem schaffen, zueinander zu finden? Ein Own-Voice-Buch, das authentisch aufzeigt, wie psychische Hürden das gesamte Leben beeinflussen, und Mut macht, sich den eigenen Ängsten zu stellen.

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Zeit:9 Std. 12 min

Sprecher:Nina-Carissima Schönrock

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Marie Weis

To my Sunflower

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To my Sunflower

LAGO

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

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Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Originalausgabe

2. Auflage 2024

© 2024 by LAGO Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Marieke Kühne

Umschlaggestaltung: Manuela Amode

Umschlagabbildung: @heytheredevana

Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-95761-238-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-368-3

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-369-0

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

LIEBE LESER*INNEN,

ich wünsche euch viel Freude mit Ophelia und Leo!

Damit ihr mein Buch uneingeschränkt genießen könnt, möchte ich noch auf einige Themen hinweisen, die behandelt werden. Neben mentaler Gesundheit allgemein werden auch Probleme mit dem eigenen Körperbild, Hypochondrie, Mobbing und toxische Beziehungen thematisiert. Wenn ihr merkt, dass ihr von manchen Szenen getriggert werdet, gönnt euch eine Pause und sprecht mit jemandem darüber. Mir ist am wichtigsten, dass es euch beim Lesen meines Buches gut geht.

Genießt die Zeit in Blumstedt!

Für Leandra und Sophia.

Weil es dieses Buch ohne euch, eure Freundschaft, eure Unterstützung, eure Liebe, eure motivierenden Worte und euren unerschütterlichen Glauben an mich nicht geben würde. Ich hab euch so lieb.

»I have been bent and broken, but – I hope – into a better shape.«

Charles Dickens, »Great Expectations«

Inhalt

PLAYLIST

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

EPILOG

DANKSAGUNG

PLAYLIST

1.Can’t Wait To Be Pretty – Cate

2.Dear Body – Bow Anderson

3.pretty isn’t pretty – Olivia Rodrigo

4.lacy – Olivia Rodrigo

5.jealousy, jealousy – Olivia Rodrigo

6.House With No Mirrors – Sasha Alex Sloan

7.Treacherous (Taylor’s Version) – Taylor Swift

8.this is me trying – Taylor Swift

9.Enchanted (Taylor’s Version) – Taylor Swift

10.Lover – Taylor Swift

11.Fearless (Taylor’s Version) – Taylor Swift

12.Hold Me Closer – Cornelia Jakobs

13.dying on the inside – Nessa Barrett

14.tired of california – Nessa Barrett

15.idontwannabeyouanymore – Billie Eilish

16.Little Me – Little Mix

17.Gaslight – Derik Fein

18.Kreise – Johannes Oerding

19.Ohne Dich (schlaf‘ ich heut Nacht nicht ein) – Münchener Freiheit

20.Envy The Leaves – Madison Beer

21.At Your Worst – Madison Beer

22.Stained Glass – Madison Beer

23.You’re Just A Boy (And I’m Kinda The Man) – Maisie Peters

24.There It Goes – Maisie Peters

25.The List – Maisie Peters

Kapitel 1

Sonnenlicht brach sich im Glas vor mir, verteilte schimmernde Punkte im ganzen Raum und alles, was ich denken konnte, war, wie viel einfacher das Leben doch wäre, gäbe es keine Spiegel. Vielleicht würde ich mir dann nicht so oft Gedanken darüber machen, was an meinem Körper alles falsch war.

Wie jeden Morgen stand ich im Flur, bereit, mich auf den Weg zur Arbeit zu machen, und gleichzeitig so gar nicht bereit, mich unter Menschen zu begeben. Es gab Tage, an denen es nicht ganz so schlimm war. Tage, an denen ich mich nicht komplett unwohl in meiner Haut fühlte. An denen ich das Kinn in die Höhe reckte, anstatt durchgehend auf den Boden zu schauen, in der Hoffnung, mich bei jedem Schritt ein wenig mehr in Luft aufzulösen. Tage, an denen ich aufrechter ging als sonst, an denen ich nicht die Schultern hängen ließ, weil meine Selbstzweifel mich wie Gewichte in Richtung Boden zogen.

Heute war keiner dieser Tage.

Die Mitesser um meine Nase herum vermehrten sich schneller, als ich gucken konnte, der Pickel auf meiner Stirn war natürlich größer statt kleiner geworden und meine Augenringe leisteten beachtlichen Widerstand gegen den Concealer, den ich sorgfältig aufgetragen hatte. Meine türkisfarbenen Haare lagen platt und kraftlos auf den Schultern, während sich einzelne Strähnen rebellisch in die Luft reckten, als hätte ich in eine Steckdose gefasst. Meine Hose spannte über die Speckröllchen meines Bauches, ich fühlte mich aufgebläht, und war mein Doppelkinn eigentlich schon immer so auffällig gewesen? Es gab absolut gar nichts, was sich heute richtig anfühlte, ich konnte mich selbst nicht leiden und am liebsten wollte ich zurück ins Bett kriechen, mir die Decke über den Kopf ziehen und innerhalb meiner vier Wände in Frieden hässlich sein. An jedem anderen Tag hätte ich das vielleicht auch getan, hätte wie so oft aufgegeben und meinen Selbstzweifeln den Vortritt gelassen. Doch heute war das nicht möglich. Heute war der Tag, auf den ich so verdammt lange gewartet hatte, für den ich so hart gearbeitet hatte. Heute durften mein größter Feind, mein härtester Gegner und mein schärfster Kritiker nicht gewinnen. Nur leider war das leichter gesagt als getan, denn all das war ich selbst.

Ich betrachtete die kleinen schwarzen minimalistischen Tattoos, die meine Arme und Beine zierten und über die Jahre wie eine Rüstung für mich geworden waren. Anfangs hatte ich sie einfach schön gefunden, doch irgendwann hatte ich gemerkt, dass sie mich stärker wirken ließen, selbst wenn ich mich alles andere als stark fühlte. Ich holte tief Luft und versuchte, mein wie wild schlagendes Herz zu beruhigen, bevor ich mich endlich dazu aufraffte, die Sicherheit meiner vier Wände hinter mir zu lassen.

»Guten Morgen, mein Herzblatt«, ertönte die gut gelaunte Stimme meiner besten Freundin, als ich die Tür öffnete, und automatisch wanderten meine Mundwinkel nach oben. Ida wartete mit zwei dampfenden Bechern in den Händen auf mich. Ihre langen blonden Locken hatte sie zu einem Knoten hochgesteckt, ein paar Strähnen umrandeten ihr Gesicht. Sie trug dunkelroten Lippenstift, vermutlich Mac Matte Sin, und ihren braunen Lieblingsmantel, den sie bei einem unserer gemeinsamen Flohmarktnachmittage erstanden hatte. Er war etwas zu groß für ihre zierliche Statur, doch Ida füllte ihn mit ihrem Selbstbewusstsein.

»Hast du heute nicht frei?«, fragte ich, nachdem ich sie in eine kurze Umarmung geschlossen hatte, bedacht darauf, nichts zu verschütten.

»Habe ich, aber ich konnte deine nervösen Gedanken bis durch meine Wohnungstür hören.« Sie deutete zu ihrer Wohnung, die direkt gegenüber meiner lag. »Also habe ich beschlossen, eine vorbildliche beste Freundin zu sein und dich mit einem Kaffee zur Straßenbahn zu begleiten.« Sie drückte mir einen der Becher in die Hand.

»Du bist die Beste.« Wärme breitete sich in meinem Brustkorb aus.

»Weiß ich.« Grinsend hakte sie sich bei mir unter, bevor wir gemeinsam das Haus verließen. »Wie aufgeregt bist du auf einer Skala von eins bis zehn?«

»Fünfzehn, mindestens«, murmelte ich.

»Keine Sorge, du hast dich so gut auf das Meeting vorbereitet, wahrscheinlich kennst du Leo Bergers Bücher mittlerweile besser als er selbst«, bestärkte Ida mich.

Ich seufzte. »Ich weiß, ich weiß, und trotzdem mache ich mir Gedanken. Jeder in der Agentur weiß, dass eigentlich Nadja das Cover gestalten sollte, und ich habe einfach Angst, dass ich nicht gut genug bin.«

»Du bist eine der talentiertesten Illustratorinnen, die ich kenne, und wenn es jemand verdient hat, dieses Cover zu gestalten, dann bist du das. Deine Arbeit ist nicht weniger wert als die deiner Chefin und ich weiß, dass du das genauso gut, wenn nicht sogar besser machen wirst.« Sie sagte das in einem Ton, der absolut keine Widerrede erlaubte. »So, und bevor du gleich in diese Bahn steigst, sprichst du mir nach: Ich bin wertvoll, ich bin klug, ich bin stark, ich bin schön und ich schaffe das.«

Ich rümpfte die Nase und suchte bereits nach Gegenargumenten, doch Ida hob warnend den Zeigefinger und versuchte sich an einem bedrohlichen Blick. Ich seufzte leise und wiederholte ihre Worte: »Ich bin wertvoll, ich bin klug, ich bin stark, ich bin schön und ich schaffe das. Zufrieden?«

Sie lächelte und klopfte mir auf die Schulter. »An der Überzeugungskraft arbeiten wir noch, aber fürs Erste bin ich zufrieden. Ich zwinge dich einfach so lange dazu, das zu sagen, bis du selbst daran glaubst.« Sie drückte mich an sich und nun schlich sich auch auf mein Gesicht ein Lächeln. Meine beste Freundin war eine Naturgewalt, die einen mit sich riss, ob man wollte oder nicht. Sie fühlte so intensiv, dass ihre Gefühle auf einen überschwappten wie Wasserfarben, die ineinanderliefen. Und sie gab die besten, wirklich die allerbesten Umarmungen.

»Ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen würde«, murmelte ich und hatte das Gefühl, meine Worte drückten nicht annähernd die Dankbarkeit aus, die ich fühlte.

Doch Ida verstand. So war das nämlich mit uns. Wir fühlten gleich, wir dachten gleich, wir verstanden einander und wir gaben uns gegenseitig die Ratschläge, die wir selbst nicht befolgten. »Du weißt, dass ich ohne dich genauso aufgeschmissen wäre«, erwiderte Ida, als die Straßenbahn dröhnend neben uns zum Stehen kam.

»Ich hab dich lieb«, kam es gleichzeitig aus unseren Mündern. Wir grinsten uns an und ich hoffte, dass Idas Glauben an mich ein wenig abfärben würde.

Nachdem ich mir einen Platz in der Bahn erkämpft und mich darauf niedergelassen hatte, kramte ich mein Skizzenbuch und die Kopfhörer aus meiner Tasche. Tired of california von Nessa Barrett spielte und ich drehte die Lautstärke noch etwas höher, genoss das Gefühl, in der Musik zu schwimmen und alles um mich herum auszublenden. Ich griff nach einem Bleistift und musterte die Menschen um mich herum. Einen nach dem anderen, auf der Suche nach Inspiration, nach dem Funken, der dafür sorgte, dass meine Hände wie von selbst über das Papier flogen. Fast täglich zeichnete ich in der Bahn, auch wenn die Zeichnungen stets ein bisschen verwackelt und verschmiert waren, ein bisschen fehlerhaft und unsauber, so wie wir Menschen auch. Und ich liebte es, die Personen um mich herum zu beobachten und mir zu überlegen, was wohl ihre Geschichten waren. So wie die Frau, die neben mir saß, vor ihr ein leerer Kinderwagen und in ihren Armen ein kleines Kind, das fröhlich vor sich hin brabbelte. Sie sah müde aus, hatte tiefe Augenringe und bunte Flecken auf der Bluse. Und trotzdem schien das Glück aus jeder ihrer Poren zu strömen, der Blick, mit dem sie das Kind musterte, war voller Liebe und Zuneigung.

Mir gegenüber saß ein Mann im Anzug, in der einen Hand hielt er einen schwarzen Aktenkoffer, in der anderen sein Handy, in das er laut schimpfte. Seine Haare waren nach hinten gegelt, alles an ihm wirkte glattpoliert, vom Scheitel bis zu den fast schon lächerlich sauberen Schuhen. Er strahlte Rücksichtslosigkeit und Selbstgefälligkeit aus, mit den ausgebreiteten Beinen demonstrierte er seine Macht, markierte sein Revier und ließ der jungen Frau auf dem Platz daneben kaum Luft zum Atmen. Sie erwiderte meinen Blick und rollte genervt mit den Augen. Ich schüttelte den Kopf und breitete demonstrativ meine Beine aus. Sie tat es mir gleich und stieß die des Mannes an, der sich mit einem abfälligen Seitenblick kleiner machte. Die Frau und ich grinsten uns an und auch wenn es nur ein Moment war und ich sie nie wiedersehen würde, so fühlte es sich ganz kurz an wie ein gemeinsamer Kampf gegen das Patriarchat. Und genau das war der Funke, den ich benötigte. Ich fing an zu skizzieren, verwischte die Linien immer und immer wieder. Der Stift schien sich selbstständig zu machen und kurz bevor ich aussteigen musste, hatte ich meine Zeichnung fertiggestellt: die junge Frau mit einem Superheldenumhang und einem Blick, der Welten erschüttern konnte. An meiner Haltestelle angekommen, verstaute ich das Skizzenbuch schnell in meiner Tasche und reichte der Fremden die Zeichnung. Überrascht flog ihr Blick über das Papier, bevor sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Sie rief mir ein »Dankeschön« zu, ich winkte kurz und schon schlossen sich die Türen hinter mir.

Nachdem ich die Bahn verlassen hatte, beschloss ich, vor der Arbeit noch in meinem Lieblingscafé zu frühstücken und ein wenig weiter zu zeichnen. Ich hatte zu Hause nichts runtergekriegt und wusste, dass Nervosität und ein leerer Magen nicht unbedingt die beste Kombination waren. Da ich vor lauter Angst, zu spät zu kommen, sowieso viel zu früh dran war, machte ich mich direkt auf den Weg zum Kaffeebohne & Keks. Das Café war erst im letzten Jahr eröffnet worden und direkt zu meinem liebsten Ort in der ganzen Stadt geworden. Blumstedt war zwar kein Dorf, aber auch keine Großstadt wie das nahegelegene Köln, also gab es hier nicht ganz so viel Auswahl. Das Kaffeebohne & Keks hatte eine Lücke gefüllt.

Ich öffnete die Glastür und wurde direkt von dem Geruch nach frischem Kaffee und Keksteig begrüßt. Melanie, die Besitzerin, stand hinter dem Tresen und winkte mir lächelnd zu, während sie die Bestellungen abarbeitete – und das waren einige, denn das Café war immer gut gefüllt. Hier gab es nämlich nicht nur den besten Kaffee, Kuchen, frisch belegte Brote und Bowls, sondern auch selbst gemachten Keksteig zum Löffeln. Allein beim Gedanken daran lief mir das Wasser im Mund zusammen und ich musste mich daran erinnern, dass Keksteig zum Frühstück vielleicht keine gute Idee war. Die Wände waren in warmen Farben gehalten, überall standen und hingen Pflanzen und an der Decke funkelte ein Meer aus Glühbirnen, die gemütliches Licht spendeten. In jeder Ecke standen kleine Tische mit bequemen Sesseln, die dazu einluden, es sich mit einem Buch oder dem Laptop bequem zu machen. Oder in meinem Fall: dem Skizzenblock.

Schnell sicherte ich mir einen der letzten Plätze am Fenster, direkt neben dem Tresen, und bestellte mir bei Melanie einen großen Latte Macchiato sowie einen Bagel mit Frischkäse und Rucola.

»Ich bringe dir gleich alles an den Tisch«, rief mir eine Kellnerin zu und ich lächelte sie dankbar an, bevor ich mich in das weiche Polster des Sessels fallen ließ.

Die Geräuschkulisse, bestehend aus Stimmengewirr, Gelächter, Geschirrklappern sowie dem Brummen der Kaffeemaschine, beruhigte mich und sorgte dafür, dass meine Nervosität ein wenig nachließ. Das würde sich in der Agentur sofort wieder ändern, doch für einen kurzen Moment erlaubte ich mir, durchzuatmen. Ich griff nach meinem Handy, um ein schnelles Foto für Instagram zu machen, und sah nach, ob ich neue Anfragen erhalten hatte. Auf meinem Blog @opheliaungeschoent, den ich mittlerweile seit zwei Jahren führte, teilte ich mit meinen knapp 80.000 Abonnenten nicht nur meine Illustrationen, sondern auch meine Gefühlswelt. Ich sprach dort über meine Selbstzweifel, Mental Health, Body Positivity und all die Themen, über die niemand gern redete. Und da ich meine Zeichnungen hatte, musste ich auch keine Fotos von mir hochladen, was mir sehr entgegenkam. Denn wenn ich mich schon kaum im Spiegel anschauen konnte, wie sollte das dann erst bei Fotos funktionieren?

Nachdem ich meinen Bagel verputzt hatte, mein Kaffee halb leer war, ich ein paar Nachrichten auf Instagram beantwortet hatte und mein Skizzenblock um zwei Zeichnungen reicher war, riss mich das Vibrieren meines Handyweckers aus der Konzentration. Es war halb neun, in dreißig Minuten musste ich auf der Arbeit sein. Mein Herz fing an zu rasen und die Aufregung war sofort wieder da, sogar stärker als vorhin.

Mit schwitzigen Händen sammelte ich die losen Blätter auf dem Tisch zusammen und wollte sie in meiner Mappe verstauen, doch ich zitterte so sehr, dass sie mir aus der Hand rutschten und sich Dutzende meiner Zeichnungen auf dem Boden des Cafés verteilten. Ich unterdrückte ein Seufzen. Es war einer dieser Momente, in denen ich mir sehnlichst wünschte, kurzzeitig wieder ein Kleinkind zu sein, damit ich mich weinend und schreiend auf den Boden werfen konnte. Hastig bückte ich mich, um das Papier einzusammeln, da berührte ich eine warme Hand. Ich zuckte zusammen und blickte hoch, in Augen so warm und braun wie Herbstlaub getunkt in Sonnenlicht. Fünf Sommersprossen verteilten sich über der Nase und formten ihr ganz eigenes Sternbild. Für einen Moment war ich sicher, mein Herz würde stehen bleiben.

@opheliaungeschoent: Hallo, meine Kämpferherzen!

Mit dieser Illustration möchte ich euch ermutigen, euch den Platz zu nehmen, der euch zusteht. Wir neigen dazu, uns klein machen zu lassen, sowohl von anderen Menschen als auch von uns selbst. Wir denken, wir wären schwach und alle anderen so viel wichtiger, klüger, schöner und erfolgreicher als wir. Wir lassen uns zur Seite drängen, manchmal von den eigenen zweifelnden Gedanken, manchmal von zwei ausgebreiteten Männerbeinen, deren Besitzer glaubt, ihm stünde mehr Platz auf dieser Welt zu. Vor allem wir Frauen sind es gewohnt, uns herabzusetzen, nachzugeben, Platz zu machen. Genau dadurch geben wir allen anderen das Gefühl, es wäre okay, wenn sie sich breitmachen, während wir kaum Luft bekommen.

Deshalb: Nehmt Raum ein, verschafft euch Platz, erhebt die Stimme und seid laut, denn es gibt nichts, wofür ihr euch schämen müsst, nichts, was ihr verstecken müsst. Lasst niemanden seinen Schatten über euer Licht werfen!

Und falls euch das einmal schwerfällt, beschwört eure eigene kleine Superheldin oder euren eigenen kleinen Superhelden. Wo ihr die oder den findet? Na, in euch!

Kapitel 2

Bisher hatte ich immer die Augen verdreht, wenn in Büchern erzählt worden war, dass die Zeit stehen bleibe und alles um einen herum verschwinde, sobald man dieser einen Person in die Augen blicke. Aber verdammt, die Bücher hatten recht.

Ich musterte den Mann, dessen Hand noch immer meine berührte, und eine Gänsehaut überzog meine Arme. Hastig stieß ich die Luft aus, die ich offenbar angehalten hatte. Seine Haare waren dunkelbraun, an den Seiten kurz, oben etwas länger und in seiner Stirn hing eine wilde Locke, die das Verlangen in mir weckte, sie nach hinten zu streichen. Sein Gesicht war markant und ausdrucksstark, ein Kunstwerkgesicht, das man anstarren wollte und in dem man mit Sicherheit bei jedem Blick ein neues Detail entdeckte. Wie die Sternenbildsommersprossen oder seine geschwungenen Lippen, bei deren Anblick mir warm wurde – in etwa so warm wie die Hand, die ich mit meiner eigenen schwitzigen fest umklammert hielt. Das wurde mir in genau dieser Sekunde peinlich bewusst.

»O Gott, bitte entschuldige das Chaos und das Festhalten«, stammelte ich und spürte regelrecht, wie mein Gesicht die Farbe einer überreifen Tomate annahm.

Mein Gegenüber lächelte und hui, es war ein Lächeln, das einen in die Knie zwang. »Kein Problem«, erwiderte er mit dunkler Samtstimme und fuhr damit fort, das Papier auf dem Boden aufzusammeln.

Das Papier, das ich runtergeworfen hatte, wie mir wieder in den Sinn kam. Hastig begann ich damit, ihm zu helfen, bis wir alle Blätter beisammenhatten. Er hielt mir einen kleinen Stapel hin, den ich dankbar entgegennahm. »Danke schön, das ist wirklich lieb von dir«, sagte ich mit rauer Stimme und spürte, wie mir Schweißtropfen die Arme hinunterrannen. Schnell presste ich die Arme an meinen Körper, um den Blick auf potenzielle Schweißflecken zu verhindern. Ich wusste, dass ich das nicht tun sollte, weil es komplett menschlich und normal war zu schwitzen. Auf Instagram würde ich dafür plädieren, dass wir dazu stehen sollten, doch meine Unsicherheit war mal wieder stärker.

»Sind die von dir?«, fragte der Mann mit dem Kunstwerkgesicht. Für eine Millisekunde war ich mir sicher, dass er die Schweißflecken meinte, bis mir auffiel, dass sein Blick auf meinen Illustrationen lag.

»Ja, sind sie«, antwortete ich schnell und er lächelte schon wieder dieses verflixte Lächeln.

»Die sind richtig, richtig gut, wow. Ich liebe deinen Stil und die Farben, die du verwendest, um kleine Details hervorzuheben.« Da lag aufrichtige Anerkennung in seiner Stimme und mein Herz raste. »Krass, wie unterschiedlich die Illustrationen aussehen und dass man trotzdem ganz deutlich deine Handschrift erkennen kann.«

Mein Herz kriegte sich gar nicht mehr ein. »Danke, das bedeutet mir richtig viel. Wirklich. Es ist schön, wenn andere Menschen erkennen, was man versucht mit seiner Kunst auszudrücken.« Hoffentlich fiel ihm nicht auf, wie nervös ich war. Bei Männern, die ich auch nur ansatzweise interessant oder attraktiv fand, verwandelte ich mich immer in eine Statue aus Selbstzweifeln und bekam kaum ein vernünftiges Wort heraus.

»Das kenne ich«, sagte er schlicht.

»Zeichnest du auch?«, fragte ich und konnte nicht aufhören, jeden Winkel seines Gesichts zu studieren.

»Nein, ich schreibe«, sagte er und automatisch schaute ich auf seine Hände: Schreiberhände, lange Finger, die weich aussahen und gleichzeitig ein bisschen schwielig.

»Also malst du mit Worten«, stellte ich fest.

Er schmunzelte. »Kann man so sagen, ja.«

Ich hatte noch nicht ein Wort von ihm gelesen und trotzdem war ich fest davon überzeugt, dass er verdammt gut mit Worten zeichnen konnte. Für einen Augenblick sagten wir beide nichts, er musterte mich nur und ich fühlte mich seltsam entblößt. Sein Blick glitt über meine türkisfarbenen schulterlangen Haare, über meine nackten Arme und die minimalistischen Tattoos, über meine ausgefransten Mom-Jeans bis hin zu meinen schwarzen Boots und dann wieder hoch zu meinen Lippen. Dort hielt er inne, während ich die Luft anhielt.

»Man sieht, dass du Künstlerin bist«, sagte er plötzlich und ich hob verwundert eine Augenbraue.

»Wie meinst du das?« Ich umklammerte mein Skizzenbuch mit beiden Händen, damit er nicht sah, wie sehr sie zitterten.

»Alles an dir ist so bunt und strahlt. Wie ein Gemälde, das man einfach gern ansieht.«

Überrascht öffnete ich den Mund, wollte etwas erwidern, doch da kam nichts. Ich fand einfach keine Worte, versuchte zu verarbeiten, was er da gerade zu mir gesagt hatte. Alles in mir prickelte, als hätte ich ein ganzes Tütchen Ahoi Brause auf einmal verschluckt.

»Ich hoffe, das kam nicht creepy rüber«, sagte er plötzlich und runzelte die Stirn. »Tut mir leid, wenn ich dir irgendwie zu nahe getreten bin.«

Endlich gab ich mir einen Ruck. »Nein, nein, ich glaube, das ist das schönste Kompliment, das mir je gemacht wurde.« Ich stolperte über jedes Wort, als hätte ich das Sprechen verlernt.

Seine Mundwinkel hoben sich langsam und ich wollte, dass er nie wieder aufhörte zu lächeln. »Bist du häufiger hier?«, fragte er.

»Ja, das hier ist mein absolutes Lieblingscafé. Ich komme oft zum Zeichnen her. Und du?«

Er nickte und ich konnte meine Augen nicht von seinem Gesicht lösen. »Ich war früher auch häufiger hier, aber ... irgendwann nicht mehr. Und jetzt wollte ich mal wieder herkommen.« Er verzog das Gesicht bei seiner konfusen Antwort. »Sorry, normalerweise kann ich besser mit Worten umgehen.« Sein Blick hielt meinen fest und ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus.

»Ich kann das gut verstehen«, sagte ich und wir lächelten uns eine gefühlte Ewigkeit an. In Wahrheit war es vermutlich nur so lange, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings dauerte, aber dieser war ja bekanntlich in der Lage, alles auf den Kopf zu stellen.

Ein lautes Klirren durchbrach die Magie des Moments und es war, als hätte mir jemand einen Eimer Eiswasser über den Kopf geschüttet. Plötzlich wurde mir bewusst, dass wir immer noch auf dem Boden hockten. Die Geräuschkulisse, die ich komplett ausgeblendet hatte, war auf einmal viel zu laut. In dem Moment fiel mir siedend heiß ein, dass ich ja eigentlich zur Arbeit musste und ausgerechnet heute nicht zu spät kommen durfte. Abrupt stand ich auf, räumte die Blätter in meine Mappe und griff nach meiner Hemdjacke über der Stuhllehne.

»Ich muss leider zur Arbeit«, stammelte ich und scannte sein Gesicht ein letztes Mal, versuchte es mir einzuprägen, jede Sommersprosse, jede Wimper, jede Kontur und allen voran die Herbstlaubaugen.

»Ja, ich auch«, sagte er und lag da etwa Enttäuschung in seiner Stimme?

»Also dann ... hat mich gefreut«, sagte ich leise und mein Herz zog sich zusammen. Ich wollte, dass er etwas sagte, mich zurückhielt, mich nach meiner Nummer fragte, und gleichzeitig wusste ich, dass mich ein Mann wie er niemals interessant finden würde. Und selbst wenn ... Es war besser, wenn er es nicht tat, ich konnte das alles nicht, dieses Jemanden-Kennenlernen, Jemandem-Näherkommen.

»Mich hat es auch gefreut«, entgegnete er eben so leise und ich hätte jeden Penny der Welt dafür gegeben, um zu wissen, was er in diesem Moment dachte. Ich lächelte und hob unbeholfen die Hand, bevor ich mich schließlich umdrehte, um das Café zu verlassen. Es fühlte sich falsch an, ihn zurückzulassen, ihn nie mehr wiederzusehen, ja, nicht mal seinen Namen zu wissen. Einfach falsch.

Alles an dir ist so bunt und strahlt. Wie ein Gemälde, das man einfach gern ansieht, hallte es durch meinen Kopf.

Kapitel 3

»Guten Morgen, Sonnenschein!«, begrüßte mich Benny, als ich im Büro angehastet kam und meine Sachen auf dem Schreibtisch ablud.

»Guten Morgen«, erwiderte ich und sah mich hektisch um. »Ist Nadja schon da?« Meine Chefin hasste es, wenn man auch nur eine Minute zu spät kam, und dass, obwohl sie sich selbst regelmäßig verspätete. Doch was für Nadja galt, galt nun mal nicht für den Rest von uns.

»Ja, aber sie ist seit kurz vor neun in einem wichtigen Zoom-Meeting und hat dementsprechend nicht mitbekommen, dass du jetzt erst kommst«, antwortete Benny grinsend und ich atmete erleichtert auf.

»Gott sei Dank. Ich habe mich so beeilt, mein Deo hat bestimmt völlig versagt.« Seufzend schaltete ich den Rechner ein. »Ich muss mich erst mal auf der Toilette frisch machen.«

Benny stand von seinem Platz auf und sah mich verschwörerisch an. »Ich finde, danach sollten wir die neue Woche mit einem Kaffeetreffen einläuten, meinst du nicht? Gibst du auf dem Rückweg Raúl Bescheid, während ich schon mal die Kaffeemaschine starte?«

»Das klingt nach einem wunderbaren Plan.« Schnell machte ich mich mit meiner Tasche auf den Weg zur Toilette.

Dort angekommen, stellte ich meine Sachen neben dem Waschbecken ab und musterte mich im Spiegel. Meine Wangen waren rot und unter den Augen war die Wimperntusche ein wenig verschmiert, aber sonst deutete glücklicherweise nichts auf meinen kleinen Sprint zur Arbeit hin. Sofort musste ich zurück an den Grund für meine Verspätung denken und hatte das Kunstwerkgesicht des Mannes vor Augen. Als ich mich daran erinnerte, wie unsere Hände sich berührt hatten und wie er mich gemustert hatte, verspürte ich wieder dieses aufgeregte Kribbeln im Magen. Was er wohl jetzt gerade machte? Ob er auch noch an unsere Begegnung dachte? Oder hatte er sie schon längst vergessen und ging seinem Leben nach, als wäre nichts weiter passiert?

Ich machte mir über solche Situationen immer Gedanken, war die Art Mensch, die nachts schweißgebadet aufwachte und sich an eine peinliche Situation erinnerte, die vor fünf Jahren passiert war. Wie gern ich ihn nach seinem Namen gefragt oder mehr über ihn erfahren hätte, aber so etwas konnte ich einfach nicht. Dass ich mich die meiste Zeit über unwohl in meinem Körper fühlte, sorgte dafür, dass ich keine intimen Beziehungen aufbauen konnte. Für mich war es absolut unvorstellbar, dass mich jemand auch nur ansatzweise attraktiv oder interessant finden, geschweige denn lieben könnte. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, ungeküsst und Jungfrau und ich war mir erschreckend sicher, dass das für immer so bleiben würde. Es war nicht so, dass ich mich nicht danach sehnte, mir nicht wünschte, von einem Mann begehrt, geliebt und berührt zu werden. Das tat ich. Bei jedem Liebesroman, jeder Romanze auf Netflix, jedem Paar, dem ich in der Stadt begegnete, wurde ich daran erinnert. Aber Liebesgeschichten passierten anderen, nicht mir.

Seufzend setzte ich mich auf den Klodeckel und betrachtet die Wölbung meines Bauches, die gegen meine Hose drückte, als würde sie sie gleich zum Platzen bringen. Wer würde mich schon lieben können?

Nachdem ich ein wenig in Selbstmitleid gebadet hatte und mein Gesicht wieder einigermaßen vorzeigbar war, standen meine beiden Lieblingskollegen und ich schließlich neben der Kaffeemaschine, dampfende Tassen in den Händen und neben uns ein Teller mit Raúls frisch gebackenen Zimtschnecken. Seit ich vor zwei Jahren hier in der Grafikdesignagentur AtheneSolene angefangen hatte, erst noch als Praktikantin, dann als Assistentin der Geschäftsleitung und mittlerweile als Grafikdesignerin, waren die Treffen an der Kaffeemaschine unser tägliches Ritual geworden. Wir tauschten uns über die Arbeit, das Leben und vor allem den neuesten Tratsch aus, der in der Agentur die Runde machte.

»Ihr werdet nicht glauben, was ich heute für Neuigkeiten für euch habe«, sagte Benny und wackelte mit den Augenbrauen, während er ein wenig Hafermilch in seinen Kaffee schüttete. Seine dunkelblonden Haare standen wirr vom Kopf ab und er grinste so breit, dass man die Zahnlücke zwischen seinen Schneidezähnen sehen konnte. Er überragte mich mindestens einen Kopf und das, obwohl ich relativ groß war. Wie immer war seine Haut sonnengebräunt, so als hätte er zwei Wochen Urlaub hinter sich. Um seinen Hals hing eine Muschelkette, die er nie ablegte.

»Hast du endlich den Keller aufgeräumt?«, fragte Raúl trocken, woraufhin ich laut auflachte und Benny mir einen gespielt bösen Blick zuwarf. Seit Wochen beschwerte er sich darüber, dass seine Frau Sabrina von ihm verlangte, den Keller aufzuräumen, und seit Wochen drückte er sich erfolgreich davor.

»So tolle Neuigkeiten sind es nun auch wieder nicht«, erwiderte er und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Nein, ich habe vorhin von Jonas aus der IT etwas gehört, das euch umhauen wird. Es geht um unsere Lieblingschefin.« Genüsslich biss er in seine Zimtschnecke, wohl um uns noch ein wenig auf die Folter zu spannen.

»Jetzt mach es nicht so spannend«, sagte Raúl. Er war das komplette Gegenteil von Benny. Im Gegensatz zu ihm war er eher der pragmatische, ruhige Typ. Er war etwas kleiner als ich, hatte kurzgeschorene dunkelbraune Haare, durch die er sich gerade ungeduldig fuhr, und war immer so schick gekleidet, dass man ihn in einen 50er-Jahre Film hätte stecken können.

Benny grinste triumphierend. »Als der Vertrag für das Coverdesign mit unserer Agentur unterschrieben wurde, war Nadja, haltet euch fest, mit Leo Berger zusammen. Kurz danach ist die Beziehung angeblich sehr unschön in die Brüche gegangen, der Vertrag war allerdings schon unterschrieben.«

»Hör auf!«, rief Raúl.

»Unsere Chefin war mit Leo Berger zusammen?«, keuchte ich.

Benny nickte. »Ganze vier Jahre lang. Warum sie sich getrennt haben, weiß niemand, aber die beiden sind anscheinend nicht sonderlich gut aufeinander zu sprechen.«

Enttäuschung machte sich in mir breit und ich stellte meine Tasse auf der Spüle ab. »Glaubst du, ich habe den Job nur bekommen, weil der Kunde Nadjas Ex ist?«

Benny legte mir eine Hand auf die Schulter und sah mich eindringlich an. »Du arbeitest hart und bist unglaublich talentiert. Letztendlich ist es egal, wie du an den Job gekommen bist. Hauptsache, du hast ihn und somit die Möglichkeit, alle umzuhauen. Und wer weiß, vielleicht ist Nadja wirklich etwas dazwischengekommen.«

Raúl deutete mit dem Finger auf Benny und nickte zustimmend.

»Ganz genau, hör auf den weisen alten Mann.«

Benny schnaubte und schmiss das Handtuch in Raúls Richtung. »Alter Mann? Ich glaub es ja nicht!«

Ich musste lachen und eine Welle der Dankbarkeit durchspülte mich, für diese beiden Menschen, dank denen jeder Arbeitstag leichter und bunter war.

Als wir wieder auf dem Weg zurück zu unseren Arbeitsplätzen waren, hielt Benny mich kurz zurück. »Sag mal, Ophelia, kannst du Freitag nach der Arbeit vielleicht auf Peppa aufpassen?«, fragte er. »Sabrina und ich sind auf einem Geburtstag eingeladen.«

»Da fragst du noch? Natürlich!« Mein Herz hüpfte beim Gedanken an Bennys kleinen, zuckersüßen Rauhaardackel. Nach diesem turbulenten Morgen brauchte ich etwas, auf das ich mich freuen konnte.

Wir machten uns wieder an die Arbeit und ich verbrachte den ganzen Morgen und Mittag damit, Homepage und Logo für das Rebranding eines Buchverlags zu entwerfen. Als ich nach dem Mittagessen noch immer nichts von meiner Chefin gehört oder gesehen hatte, beschloss ich, sie in ihrem Büro aufzusuchen. Am Freitag hatte sie angekündigt, dass Leo Berger heute in die Agentur kommen würde, damit wir uns kennenlernen und das Projekt besprechen konnten. Die Warterei sorgte nicht gerade dafür, dass meine Nervosität besser wurde. Ich atmete also tief durch und klopfte an Nadjas verschlossene Bürotür. Ein dumpfes »Herein« ertönte und ich drückte die Klinke herunter.

Meine Chefin saß auf einem schwarzen Lederstuhl und starrte konzentriert auf den Computer vor sich. Wie immer strahlte sie Autorität und Selbstsicherheit aus, aber auch etwas, das ich nicht beschreiben konnte, das aber jedes Mal dafür sorgte, dass sich mein Bauch zusammenzog. Sie trug immer Schwarz, entweder Blazer, Bluse oder Jumpsuit, ihr schwarzer Bob umrundete ihr schmales Gesicht, ohne dass je auch nur eine Strähne abstand, und ihre Lippen waren stets dunkelrot geschminkt. Nadja Grimm war nicht nur eine großartige Illustratorin, sondern auch eine absolute Businessfrau und ich hatte den allergrößten Respekt vor ihr und der Arbeit, die sie leistete. Sie hatte die Agentur vor fünf Jahren gegründet und sie in dieser Zeit zu einer der erfolgreichsten Grafikdesignagenturen in ganz Deutschland gemacht. Wir arbeiteten hauptsächlich mit namhaften Firmen, Verlagen und Persönlichkeiten zusammen und jedem in der Branche war der Name AtheneSolene ein Begriff. Nadja war außerdem die Einzige, die mir vor zwei Jahren nach meinem abgebrochenen Studium eine Chance gegeben und mich eingestellt hatte. Und das, obwohl ich nur eine Ausbildung als Hotelfachfrau und keinerlei Berufserfahrung in dem Job vorzuweisen gehabt hatte. Dafür würde ich ihr ewig dankbar sein.

»Nadja, hi«, sagte ich vorsichtig und betrat den Raum. »Ich wollte fragen, ob das Treffen mit Leo Berger heute noch stattfinden wird.«

Nadja sah auf und deutete mir mit einer Handgeste, mich zu setzen. Ich nahm auf einem der Stühle ihr gegenüber Platz und sah sie erwartungsvoll an. »Ich bin leider noch nicht dazu gekommen, mit dir zu sprechen, aber du wirst ihn erst morgen kennenlernen. Seine Agentin hat heute Morgen angerufen und mir mitgeteilt, dass etwas dazwischengekommen ist.«

Enttäuscht ließ ich die Schultern sinken und dachte daran, wie aufgeregt ich den ganzen Tag gewesen war. »Oh, schade«, erwiderte ich mit belegter Stimme und rieb meine schwitzigen Handflächen aneinander.

Nadja massierte sich die Schläfen und seufzte. »Ich weiß, du bist enttäuscht, aber ich hatte einen wirklich harten Tag und da ist es mein geringstes Problem, dass Herr Berger und seine Agentin unzuverlässig sind. Arbeite heute an deinen anderen aktuellen Projekten und dann kümmern wir uns morgen um das Coverdesign, in Ordnung?« Sie runzelte die Stirn und das Ziehen in meinem Bauch machte sich wieder bemerkbar.

»Ja, klar, überhaupt kein Problem«, sagte ich hastig und stand auf, um Nadja nicht länger zu stören. »Ich habe genug zu tun.«

»Prima, ich danke dir«, entgegnete meine Chefin mit einem Lächeln, bei dem ich mir nie sicher war, ob es ehrlich war oder nicht. »Mach dir keine Sorgen, du wirst das ganz wunderbar meistern.«

»Danke«, murmelte ich leise, doch sie hatte sich schon längst wieder dem Bildschirm zugewandt. Mit eiligen Schritten lief ich auf die Tür zu und verließ ohne einen Blick zurück das Büro. Als ich wieder auf dem Flur stand, atmete ich erleichtert aus und der Knoten in meinem Bauch löste sich langsam auf.

Kapitel 4

»Das macht dann 15,84«, sagte die Kassiererin und ich nestelte schnell einen Zwanzig-Euro-Schein aus meinem Geldbeutel heraus. Ich hatte die 84 Cent mit Sicherheit klein, doch die Blicke der anderen Kunden in meinem Rücken sorgten jedes Mal dafür, dass ich mich nicht traute, das Kleingeld zusammenzusuchen. Nachdem ich das Rückgeld verstaut hatte, tat ich dasselbe mit der Flasche Aperol, der Packung Nudeln und den Tampons. Natürlich hatte ich zusätzlich zu all dem Stress auch noch meine Tage bekommen und mein Unterleib beglückte mich mit einem schmerzhaften Krampf nach dem anderen. Ich dankte wie jeden Monat der Person, die Schmerzmittel erfunden hatte.

Als ich den Laden verließ, wehte mir eine warme Frühlingsbrise entgegen und ich schloss für einen Moment die Augen. Die Vögel zwitscherten und es würde nicht lange dauern, bis die Natur grün und am Blühen war. Abends war es wieder länger hell und alles fühlte sich etwas leichter und beschwingter an. Ich schulterte meinen Jutebeutel und beschloss, auf die Busfahrt zu verzichten und zu Fuß nach Hause zu laufen.

Blumstedt war eine schöne Stadt. Es gab viele Altbauten in den unterschiedlichsten Farben, an jeder Ecke standen Kirschbäume und Magnolien und es war wesentlich sauberer als in einer Großstadt. Man hatte zwar dieses lebendige, pulsierende Stadtgefühl, doch ohne, dass es einen erstickte. Man konnte immer noch frei atmen, den eigenen Herzschlag spüren und verlief sich nicht andauernd.

Ich passierte die Straße, die zu meinem Wohnhaus führte und die zugleich meine liebste in der ganzen Stadt war. Die Kirschblütenallee machte ihrem Namen alle Ehre und war im Frühling eine richtige kleine Attraktion in Blumstedt. Noch dazu war jedes Haus in der Straße in einer anderen Farbe bemalt, sodass man sich fühlte wie an einem Filmset. Ich liebte diese Straße und konnte an manchen Tagen selbst nicht glauben, dass ich so ein Glück gehabt und genau hier eine Wohnung gefunden hatte. Beim Haus angekommen, steckte ich den Schlüssel in das Schloss und schob die schwere quietschende Holztür auf. Drei Stockwerke musste ich erklimmen, dann betrat ich schnaufend meine Wohnung und streifte die Schuhe ab.

Meine Wohnung war mein sicherer Hafen und ein absoluter Wohlfühlort. Sie war nicht groß, aber für mich genau richtig. Es gab ein Schlafzimmer, ein Bad, eine kleine Küche und einen kleinen Wohnbereich – also alles, was ich brauchte. Überall standen bunt zusammengewürfelte Möbel, die ich hauptsächlich mit Ida auf Flohmärkten erstanden hatte. In den Ecken stapelten sich Bücher und Zeichnungen, zur Dekoration hatte ich Repliken von antiken Statuen, Lampen, Lichterketten und natürlich jede Menge Pflanzen besorgt. Mein größter Stolz galt der Decke in meinem Schlafzimmer. Sie war dunkelblau gestrichen und in der Mitte hing ein alter Kronleuchter. Drum herum hatte ich goldene Sterne gemalt, sodass ich jeden Abend auf meinen eigenen kleinen Sternenhimmel schauen konnte. In jedem Winkel meiner Wohnung war Kunst zu finden. Über die Lichtschalter hatte ich kleine Blumenwiesen gemalt und an den Wänden hingen eingerahmte Bilder von anderen Künstlern.

Mein Lieblingsort der Wohnung war mein kleiner Balkon. Gerade mal zwei Stühle, ein kleiner Tisch und ein paar Pflanzen fanden dort Platz und dennoch hielt ich mich nirgendwo lieber auf. Auch hier hatte ich Lichterketten befestigt, genau wie hängende Blumentöpfe. Am Geländer hingen Blumenkästen, die ich immer mit bunten Blumen bepflanzte, und überall standen Kerzen. Ida und ich saßen abends gern bei einem Glas Aperol und gutem Essen hier und genossen die gemütliche Stimmung. Wenn man hinuntersah, blickte man direkt auf die Kirschblütenallee.

Ich hatte gerade das Nudelwasser aufgesetzt, mir bequeme Kleidung angezogen und eine Wärmflasche gemacht, als es an der Wohnungstür klopfte. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen und ich öffnete schnell.

»Du glaubst nicht, was heute passiert ist«, stieß meine beste Freundin aus und fegte in meine Wohnung wie ein Wirbelwind. In der Hand hatte sie ein Glas Pesto und eine Flasche Sekt und nachdem sie beides auf dem Küchentisch abgestellt hatte, drückte sie mich fest an sich. »Aber erzähl erst mal von deinem Treffen mit dem berühmten Leo Berger.« Aus limettengrünen Augen sah sie mich erwartungsvoll an.

Seufzend lehnte ich mich gegen den Kühlschrank und presste die Wärmflasche gegen meinen schmerzenden Unterleib. »Es hat nicht stattgefunden. Nachdem ich den ganzen Tag ein nervöses Wrack war, bin ich zu Nadja gegangen. Leos Agentin hat das Treffen wohl schon heute früh auf morgen verschoben.«

Ida zog die Augenbrauen hoch und verschränkte die Arme. »Und das hätte sie dir nicht schon heute Morgen mitteilen können?«

Ich zuckte mit den Schultern und gab die Nudeln in das kochende Wasser. »Du weißt doch, wie sie ist. Wahrscheinlich hatte sie einfach viel zu tun.«

Meine beste Freundin schnaubte leise, erwiderte jedoch nichts, sondern machte sich daran, Sekt und Aperol in zwei Gläsern zu mischen. Ich wusste, dass sie nicht der größte Fan von meiner Chefin war, doch ich hatte Nadja so viel zu verdanken, dass ich gern mal über ihr Verhalten hinwegsah.

Nachdem die Nudeln fertig waren, trugen wir unsere Teller und Gläser raus und machten es uns mit Decken auf dem Balkon bequem. Seit Ida und ich uns angefreundet hatten, waren die gemeinsamen Abende hier draußen unser Ritual geworden. Wir hatten uns vor etwas mehr als einem Jahr so richtig kennengelernt, als Ida eines Abends panisch an meiner Tür geklingelt hatte, weil über ihrem Bett eine dicke schwarze Spinne gesessen hatte. Vorher waren wir uns zwar immer mal wieder über den Weg gelaufen und hatten uns gegrüßt, doch meine zurückhaltende Art hatte mich davon abgehalten, mehr daraus zu machen. Ich war zwar selbst der größte Angsthase, was Spinnen betraf, doch nachdem wir fast eine Stunde gebraucht hatten, das Tier aus Idas Wohnung zu befördern, hatten wir den Rest des Abends über Gott und die Welt geredet und noch viel mehr Gemeinsamkeiten als die Angst vor Spinnen entdeckt. Seitdem war eine tiefe Freundschaft entstanden und obwohl wir uns noch nicht so lange kannten, war Ida eine der wichtigsten Menschen in meinem Leben geworden.

»Also, was wolltest du vorhin erzählen?«, fragte ich, während ich großzügig Pesto auf meinen Nudeln verteilte.

Meine beste Freundin war gerade dabei, ihre langen blonden Locken in einem Pferdeschwanz zu bändigen, und fing an zu erzählen. »Heute bei der Morgenbesprechung sollten wir berichten, woran wir gerade arbeiten. Es fing schon damit an, dass Erik, der Neue, die ganze Zeit die Augen verdreht hat, als ich meine Rezeptideen und die Fragen der Kolumne vorgestellt habe.« Idas Augen funkelten vor Zorn und sie nahm einen Schluck Aperol. Sie arbeitete für unsere Lokalzeitung Ein neuer Tag in Blumstedt und war für die Bereiche Essen und Lifestyle zuständig. Da sie leidenschaftlich gern backte, teilte sie dort ihre neuen Rezepte und Kreationen. Außerdem betreute sie die Sorgenherz-Kolumne, in der sie mal witzige, mal bewegende Fragen der Leserinnen und Leser beantwortete. Insgeheim träumte sie jedoch davon, eines Tages ihr eigenes Café zu besitzen, in dem sie all ihre gebackenen Köstlichkeiten verkaufen könnte.

»Erst habe ich seine Blicke noch wohlwollend ignoriert«, fuhr sie fort, »aber dann ging es um das Thema Hypochondrie, zu dem eine Leserin eine Frage hatte.« Sie atmete kurz durch. »Und dann hat er doch tatsächlich in die Runde geworfen, dass Hypochonder, Zitat, ›ja nur aufmerksamkeitsgeile Heulsusen sind, die versuchen, das Scheinwerferlicht auf sich zu ziehen, während es anderen Menschen wirklich schlecht geht‹.« Idas Stimme zitterte und ich sah, wie nah ihr die Aussage ihres Kollegen ging. »Und das Schlimmste war, dass mein Hirn einfach komplett leergefegt war. Ich wollte so viel sagen, aber ich konnte einfach nicht.«

Tröstend legte ich einen Arm um ihre Schulter und lehnte meinen Kopf an ihren. »Ich kann gut verstehen, dass das frustrierend war, aber jedes Wort an ihn hätte nur deine Zeit verschwendet.« Ida schwieg und ich strich ihr vorsichtig eine Haarsträhne hinters Ohr. Ich konnte regelrecht hören, wie ihre Gedanken ratterten. »Und du bist keine aufmerksamkeitsgeile Heulsuse, hörst du? Denk nicht mal daran, sonst muss ich nicht nur diesen Erik verhauen, sondern auch dich.« Sie stieß ein Schnauben aus, doch ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem leichten Lächeln. »Hypochondrie ist eine Krankheit«, sagte ich abschließend. »Sie sollte genauso ernst genommen werden wie ein gebrochenes Bein. Menschen wie Erik sind Teil des Problems.«

Ida selbst hatte schon seit ihrer Kindheit mit Hypochondrie zu kämpfen. Mittlerweile hatte sie die Krankheit ganz gut im Griff und es fiel ihr im richtigen Umfeld leicht, darüber zu sprechen, doch das war nicht immer so gewesen.

»Ich weiß«, murmelte Ida und warf mir einen dankbaren Blick zu. »Trotzdem hätte ich nichts dagegen zu sehen, wie du Erik verhaust.«

Ich stieß ein prustendes Lachen aus und zum Glück stimmte sie sofort mit ein.

Als wir unser Geschirr abgespült hatten und die Dunkelheit langsam anbrach, nahm ich all meinen Mut zusammen und berichtete ihr von meiner Begegnung mit dem Mann im Café heute Morgen.

»Und das erzählst du mir erst jetzt?«, quietschte Ida aufgeregt. »Habt ihr Nummern ausgetauscht? Werdet ihr euch wiedersehen?«

Ich sah betreten zu Boden. »Was denkst du denn?«

Ida seufzte und legte ihre Hand auf meine. »Ich weiß, Schatz. Ich weiß. Du glaubst nicht, was ich dafür geben würde, dass du dich mal aus meinen Augen sehen könntest.« Sie musterte mich eindringlich. »Ich sehen jeden Tag diese wunderschöne, kluge, starke Frau mit all ihren liebenswerten, besonderen Eigenschaften und diesem strahlenden Lächeln, das die Sonne vor Neid erblassen lässt. Du machst diese Welt zu einem so viel besseren Ort, und der Mann, der irgendwann an deiner Seite sein darf, kann sich wirklich glücklich schätzen.«

Meine Kehle wurde eng und ich wischte mir hastig über die nassen Augen. Ich war dankbar für meine beste Freundin, diese Sommersonnenperson, die mit ihren engelsgleichen Haaren und diesem Herzen aus Gold in mein Leben gestolpert war und es so viel erträglicher und schöner machte. »Danke, dass du mein Mensch bist«, krächzte ich mit zitternder Stimme und drückte Ida so fest es ging an mich.

»Immer«, erwiderte Ida und ich weiß nicht, wie lange wir dort saßen und sie mich festhielt. Ida war der Kleber, der mich zusammenhielt.

@opheliaungeschoent: Hallo, meine Kämpferherzen!

Gestern habe ich hier auf Instagram einen Beitrag gesehen, in dem es um das Thema Menstruation ging. Ich habe mich total über diese tolle, informative und sehr wertvolle Aufklärungsarbeit gefreut. Tja, und das genau so lange, bis ich in die Kommentarspalte geschaut habe. Dutzende empörte, wütende Kommentare sind mir ins Auge gefallen. Darunter auch einer, der in etwa lautete: »Wir hätten die Message des Beitrags auch sehr gut ohne die rote Ekelfarbe verstanden.«

Die Seite, die den Beitrag hochgeladen hat, besaß nämlich tatsächlich die Frechheit, einen Tampon mit rot gefärbter Spitze zu zeigen. Uhhh, igitt, wie furchtbar! Nein, jetzt mal ganz im Ernst. Wie kann es sein, dass Menstruationsblut noch immer als eklig angesehen wird, wo es doch eine der normalsten Sachen der Welt ist? Wie kann es sein, dass genau die Personen, die unter solchen Beiträgen kommentieren, wie abstoßend sie das alles finden, sich danach einen blutrünstigen Slasherfilm reinziehen oder ein Spiel zocken, bei dem das Blut nur so spritzt? Und das ist dann weniger eklig oder abstoßend? Merkt ihr selbst, oder?

Menstruation scheint leider noch immer ein Tabuthema zu sein, von dem ich dachte, wir wären mittlerweile weiter. Es ist so wichtig, dass darüber gesprochen und informiert wird, denn es gibt nun mal jede Menge menstruierender Personen auf diesem Planeten. Und das ist völlig normal, natürlich und vor allem auch gut so.

Menstruation is not a shame und deshalb gibt es heute diese Illustration für euch, mit ganz viel rot, rot, rot.

Kapitel 5

Mein Wecker klingelte zum vierten Mal und anstatt erneut die Schlummertaste zu drücken, richtete ich mich stöhnend auf und rieb mir die Augen. Die Sonne schien in mein Zimmer, traf auf die kleine Discokugel auf meinem Regal und hinterließ tanzende, funkelnde Schatten an der Wand. Ich blieb noch einen Moment sitzen und starrte gedankenverloren vor mich hin, als wartete ich darauf, dass irgendwas geschähe, damit ich mich doch wieder zurück aufs Bett fallen lassen könnte. Was natürlich nicht der Fall war, weshalb ich mich dann doch schwerfällig erhob und auf den Weg in die Küche machte.

Ich stellte meine geliebte mintgrüne Espressomaschine an und machte auf dem Herd Milch heiß. Anschließend füllte ich die Hälfte der Tasse mit Milch und den Rest mit Kaffee. Mein Vater, der seinen Kaffee komplett schwarz trank, machte sich jedes Mal über mich lustig und fragte, ob ich wieder »Milch mit Kaffee« wollte, aber so trank ich ihn nun mal am liebsten. Gedanklich machte ich mir eine Notiz, vor der Arbeit noch kurz meine Eltern anzurufen, doch vorher widmete ich mich meinem täglichen Morgenritual. Mit einer Decke und meinem Kaffee machte ich es mir auf dem Balkon gemütlich, schnappte mir mein iPad und ließ den Blick über die Kirschblütenallee schweifen. Jeden Morgen zeichnete ich etwas, das ich genau in dem Moment sehen konnte, und startete so entschleunigend in den Tag. Heute entschied ich mich für eine schwarze Katze, die im Wohnhaus gegenüber auf dem Balkon lag – auf einem Wäscheständer mit bunten Kleidungsstücken. Schmunzelnd öffnete ich meine Zeichenapp und begann zu zeichnen.

Anschließend lud ich die Illustration auf Instagram hoch und ließ meinen Abonnenten ein paar warme, aufmunternde Wort zum Start in den neuen Tag da. Auch das tat ich fast jeden Morgen in der Hoffnung, dem ein oder anderen Menschen das Aufstehen aus dem Bett ein wenig zu erleichtern. Kurz scrollte ich durch mein Newsfeed, likte ein paar Beiträge von anderen Illustratoren, denen ich folgte, und antwortete auf Kommentare unter meinem letzten Beitrag.

Ich hatte etwas zum Thema Hypochondrie hochgeladen und dafür Ida befragt. Der Beitrag war unfassbar gut angekommen, viele hatten in den Kommentaren ihre Geschichten erzählt und sich bedankt. Bei Ida für ihren Mut und ihre Offenheit und bei mir dafür, dass ich Betroffenen eine Plattform bot, um sich auszutauschen und weniger allein zu fühlen. Bei jeder dankbaren Nachricht wurde mir warm ums Herz und ich war stolz darauf, mir mit @opheliaungeschoent einen Ort aufgebaut zu haben, an dem ich nicht nur meine Illustrationen teilen, sondern auch Menschen erreichen und ihnen helfen konnte.