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München, 1961: Paula hat erreicht, wovon viele Frauen nur träumen: Sie ist Ärztin an einer renommierten Frauenklinik - ein hart erkämpfter Erfolg in einer von Männern dominierten Welt. Doch als sie sich um eine begehrte Facharztstelle bewirbt, wird ein männlicher Kollege bevorzugt - trotz ihrer überragenden Qualifikationen. Tief enttäuscht beginnt Paula, ihre Zukunft in München infrage zu stellen.
Als die Nachricht vom Tod ihres Großvaters eintrifft, beschließt sie, gemeinsam mit ihrer Mutter Johanna zur Beerdigung in deren Südtiroler Heimatdorf zu reisen. Dort, umgeben von den schroffen Gipfeln der Dolomiten, stößt Paula auf eine Mauer aus Schweigen - und auf ein Geflecht aus Vorurteilen und schmerzhaften Erinnerungen, das bis tief in die Vergangenheit reicht.
Während Johanna gezwungen ist, sich längst verdrängten Erlebnissen zu stellen, begibt sich Paula auf eine Reise zu ihren eigenen Wurzeln - und deckt ein Geheimnis auf, das ihr Leben für immer verändert.
Ein berührender und fesselnder Familiengeheimnis-Roman über Heimat, Identität und den Mut, die eigene Geschichte zu hinterfragen.
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Seitenzahl: 479
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ein Geheimnis in den Bergen. Zwei Frauen. Eine Wahrheit, die alles verändert.
München, 1961: Paula hat erreicht, wovon viele Frauen nur träumen: Sie ist Ärztin an einer renommierten Frauenklinik – ein hart erkämpfter Erfolg in einer von Männern dominierten Welt. Doch als sie sich um eine begehrte Facharztstelle bewirbt, wird ein männlicher Kollege bevorzugt – trotz ihrer überragenden Qualifikationen. Tief enttäuscht beginnt Paula, ihre Zukunft in München infrage zu stellen.
Als die Nachricht vom Tod ihres Großvaters eintrifft, beschließt sie, gemeinsam mit ihrer Mutter Johanna zur Beerdigung in deren Südtiroler Heimatdorf zu reisen. Dort, umgeben von den schroffen Gipfeln der Dolomiten, stößt Paula auf eine Mauer aus Schweigen – und auf ein Geflecht aus Vorurteilen und schmerzhaften Erinnerungen, das bis tief in die Vergangenheit reicht.
Während Johanna gezwungen ist, sich längst verdrängten Erlebnissen zu stellen, begibt sich Paula auf eine Reise zu ihren eigenen Wurzeln – und deckt ein Geheimnis auf, das ihr Leben für immer verändert.
Ein berührender und fesselnder Familiengeheimnis-Roman über Heimat, Identität und den Mut, die eigene Geschichte zu hinterfragen.
München, Juni 1961
Johanna erwartete nichts mehr vom Leben. Die Zeit der Überraschungen und Wendungen war vorüber, ihr Dasein seit Langem nur noch eine Aneinanderreihung von Pflichten und Gewohnheiten. Sie war nicht unglücklich, aber auch nicht glücklich, und manchmal erlaubte sie sich, sich vorzustellen, wie es hätte sein können, hätte sie andere Wege eingeschlagen.
An diesem Morgen stand sie wie immer früh auf, trank eine Tasse Kaffee und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Sie übte ihren Beruf seit Jahren aus – nicht besonders gern, aber sie wurde dabei geschätzt und dafür bezahlt. Um sechs Uhr abends kehrte sie zurück, öffnete wie jeden Tag den Briefkasten und sah die Post, hauptsächlich Rechnungen, durch.
Als sie den schwarz umrandeten Umschlag sah, stockte sie. Johanna las den Absender, lehnte sich an die Wand, schloss die Augen und versuchte, langsam und kontrolliert zu atmen. Sie spürte einen plötzlichen Druck in ihrer Brust. Erinnerungen an eine Zeit lange vor ihrem Leben in München stiegen in ihr hoch. Eine Zeit, in der Südtirol noch ihre Heimat gewesen war. Bilder und Gefühle blitzten auf: Wut, Tränen, Streit.
Sie lief in ihre Wohnung, schloss die Tür, legte den Brief auf den Küchentisch und starrte ihn an. Lange, vielleicht zu lange, aber solange er verschlossen blieb, blieben die Erinnerungen in einem dichten Nebel. Nach einer Weile kochte sie sich eine Kanne Tee, setzte sich und riss den Umschlag auf. Irgendwann, das hatte sie gewusst, würde dieser Tag kommen. Der Tod ließ sich nicht aufhalten. Und doch traf sie die Nachricht mit unerklärlicher Wucht.
Johanna stützte den Kopf in ihre Hände. Sie wartete, dass die Trauer sie übermannen würde, versuchte, sich an die Tage zu erinnern, in denen sie ihn geliebt hatte. Als kleines Mädchen, damals vor vielen Jahren. Als alles noch ungeschehen war, sie nicht gewusst hatte, was kommen würde. Dann kam die Wut, zu groß, um an kindlichen Erinnerungen festzuhalten. Johanna hätte gern geweint, ihren Vater betrauert, so wie es sich gehörte. Aber sie konnte es nicht. Sie wusste sofort, sie würde nicht zur Beerdigung fahren. Der Teil von ihr, der nach Südtirol gehörte, war vor langer Zeit gestorben. Sie nahm den Brief, legte ihn zu den Rechnungen ins Regal und ging zu Bett.
München, Juni 1961
Es war die Zeit, in der die Frauen nicht nachfragten, sondern taten, was zu tun war: die Kinder versorgen, den Haushalt planen, das Handbuch für die gute Ehefrau lesen. Sie trugen Kleider mit weit schwingenden Röcken, Pumps mit kleinem Absatz, das Haar akkurat in Wellen gelegt. Gehorsam, nicht dumm, aber nur so weit gebildet, um den Männern nicht den Rang abzulaufen. Es war die Zeit, in der die meisten Frauen kein anderes Ziel hatten, als Hausfrau zu sein und an der Seite eines starken Mannes zu leben. Entsprechend gehorsam und unauffällig verhielten sie sich.
Paula war nichts von alledem. Anders als die meisten Frauen in den 1960er-Jahren war sie alleinstehend, promoviert und unabhängig. Sie arbeitete als Ärztin, Fachbereich Frauenheilkunde, in einer renommierten Klinik in München. Es hatte Jahre gedauert, bis ihre männlichen Kollegen ihr das Gleiche zutrauten wie einem Mann, manche taten es bis heute nicht – allein aus Prinzip. Dabei war sie Jahrgangsbeste gewesen.
Schon in der Schule war ihr das Lernen leichtgefallen. Dennoch hatte Paula immer mehr leisten, mehr lernen, sich dafür rechtfertigen müssen, warum sie in eine Männerdomäne einbrechen wollte, nicht einfach heiratete und Kinder bekam so wie ihre Freundinnen. Sie hatte sich durchgekämpft, beharrlich, stur und zielstrebig.
Als sie mit achtzehn die Schule beendet hatte, hielt der Krieg ganz Europa gefangen. Die Nazis lehnten weiblichen Intellekt ab. Es war die Zeit des BdM und der Mutterkreuze gewesen. Also hatte Paula gewartet und in einer Fabrik gearbeitet. Sie hatte jeden Pfennig, der am Ende des Monats übrig geblieben war, für ihre Ausbildung gespart. Als endlich der Frieden über Europa gekommen und das Land von fremden Besatzern bevölkert gewesen war, hatten sich die Frauen wieder aus den Fabriken zurückgezogen und ihren naturgegebenen Aufgaben der Kindererziehung und Haushaltsführung zugewandt. Paula hatte sich an der Universität eingeschrieben.
Es brauchte Durchhaltevermögen und Schneid, vor einem Komitee weiß bemäntelter Männer ihr Wissen zu präsentieren, doch von beidem besaß Paula reichlich. Bis heute gab es zwei Gruppen von Kollegen an der Klinik: diejenigen, die Paula noch immer mit Missachtung straften, weil sie der Meinung waren, ihre Röcke und ihr hübsches Aussehen hätten sie durch die Prüfungen gebracht, und jene, die ihr den verdienten Respekt zollten. Die Ersteren, halsstarrige Vertreter der Männlichkeit, ignorierte Paula. Niemand könnte sie ändern, sie fänden immer Gründe, die darlegten, warum Männer den Beruf besser ausüben würden.
Drei Jahre zuvor hatte sie eine Wohnung gemietet und – ohne Unterschrift eines Ehemannes – einen VW-Käfer erworben. Cremeweiß, mit weißem Lenkrad, hellbraunen Kunstledersitzen und sogar einem Autoradio. Ein verschwenderischer Luxus, den sie sich gönnte.
Mit diesem Käfer hielt sie am Morgen des sechsten Junis um sieben Uhr dreißig, in roten Karottenhosen und einer weißen Bluse, vor der Tür des Wohnblocks, in dem ihre Mutter Johanna lebte. Paula stieg aus, klingelte und wartete.
Ihre Mutter zog den Vorhang zur Seite und blickte durch das kleine Kellerfenster hinauf Richtung Himmel. Ein kleines Stückchen davon konnte sie von da unten sehen, wusste Paula. Es war ein klarer Tag, sonnig, aber um das herauszufinden, hätte Johanna ihre Wohnung verlassen müssen, was sie nur tat, um zur Arbeit zu fahren oder einzukaufen.
Paula beugte sich hinunter, winkte ihrer Mutter zu. Diese hob kurz die Hand zum Gruß und zog den Vorhang wieder vor. Paula wartete, ihr Blick wanderte über die Gasse, in der sie ihre Kindheit verbracht hatte. Während der Rest Münchens nach den Kriegsjahren langsam wieder aufgebaut worden war, stand hier die Zeit still. Die Häuser waren alt, teilweise beschädigt, immer noch gab es dazwischen vereinzelt Schutthaufen, die Wohnungen waren feucht, dunkel, schlecht beheizt, dafür billig. Nicht einmal ein Badezimmer hatte das Souterrain ihrer Mutter, nur ein Gemeinschaftsbad mit kaltem Wasser im Zwischengeschoss, das drei Parteien benutzten. Als Kind hatte Paula das alles nicht gestört, es war die einzige Realität, die sie kannte, doch heute hatte sie sich längst an den Luxus einer eigenen Dusche und einer modernen Wohnung mit Zentralheizung gewöhnt.
Sie hörte den Schlüssel im Schloss. Kurz darauf zog Johanna die Tür auf.
»Paula!«
»Hallo, Mutter.«
Sie umarmte die kleine, hagere Frau und küsste sie auf die Wangen. Viel hatte sie mit ihr nicht gemeinsam, ihr Haar war dunkel, das der Mutter hell, ihre Haut von der Sonne gebräunt. Sie überragte Johanna um gut einen Kopf und liebte es, sich modisch und farbenfroh zu kleiden. Ihre Mutter hingegen war gefangen in einer konservativen, von Regeln strukturierten Welt. Das Haar trug sie immer zu einem straffen Zopf geflochten, den sie zu einem Kranz hochsteckte.
Da war aber der kleine Leberfleck über dem Ohr, genau an der gleichen Stelle wie bei Paulas Mutter, und eine gewisse Halsstarrigkeit, die bei Johanna manchmal, wenn auch selten, aufblitzte. Bei Paula indes hatte sie sich voll entfaltet. Wenn Paula lächelte, bildeten sich an den Mundwinkeln die gleichen Grübchen wie bei ihrer Mutter. Es gab Ähnlichkeiten – wenn man genau hinsah.
In all den Jahren ihrer Jugend hatte Paula sich gewünscht, Johanna hätte irgendwann den Mut gefunden, auszubrechen, mehr aus ihrem Leben zu machen. Aber Paula kannte Johannas Antworten auf ihre Fragen: damals wäre nicht die Zeit für Träume gewesen und heute sei sie zu alt. Ihre Mutter lief in einem Hamsterrad, stand jeden Tag um fünf Uhr auf, auch an den Wochenenden, arbeitete seit Jahren als Zimmermädchen in einem Hotel am anderen Ende der Stadt, hatte keinen Ehemann, der Zeitung lesend am Frühstückstisch darauf wartete, mit Kaffee und frischen Brötchen bedient zu werden. Viele Kriegswitwen zogen ihre Kinder allein auf, nur dass Paulas Mutter keine Kriegswitwe war. Sie hatte ihren Mann schon vor dem Krieg verlassen. Niemand hier wusste das, denn Johanna log, ohne zu erröten, wenn sie jemand auf Paulas Vater ansprach, was heute nur noch selten vorkam. Paula konnte sich an keine einzige Romanze ihrer Mutter erinnern. Sie lebte ein – in Paulas Augen unerträglich langweiliges, angepasstes Leben in dieser Zweizimmerwohnung im Souterrain des heruntergekommenen Mietshauses in Westend, dem Glasscherbenviertel Münchens.
»Ich wollte kurz nach dir sehen«, sagte Paula. »Das letzte Mal warst du seltsam. So nachdenklich. Ist alles in Ordnung?«
Johannas Lächeln verschwand nur für einen Augenaufschlag, dann wich sie dem Blick ihrer Tochter aus und ging voran – hinunter in ihre Wohnung. Aus dem Kofferradio, das auf einem Bord in der Wohnküche stand, schmetterte Blasmusik. Johanna drehte die Lautstärke herunter, stellte zwei Tassen auf den Küchentisch und goss Kaffee ein.
Paula beobachtete sie und ließ dann ihren Blick durch den Raum wandern. Hier änderte sich niemals etwas. Es war sauber und aufgeräumt, die wenigen Möbel waren in die Jahre gekommen, auf dem Frühstückstisch lag das alte Plastiktischtuch mit den grellroten Mohnblüten. An der Zimmerdecke prangte ein großer Schimmelfleck, der sich langsam auf die Wand darunter ausbreitete, der grüne Lack des Türrahmens blätterte ab, im Wohnzimmer stand noch das alte, beige Sofa, auf dem Johanna früher geschlafen hatte. Jetzt schlief sie in Paulas ehemaligen, fensterlosen Kinderzimmer.
Auf dem Küchenregal standen Tassen und Teller, daneben lag ein Stapel Rechnungen. Paulas Blick blieb an einem schwarz umrandeten Brief hängen, der oben auf dem Stoß lag, und griff danach.
»Wer ist gestorben?«, fragte sie und las die Zeilen, noch bevor Johanna ihr die Todesanzeige aus den Händen nehmen konnte.
»Was? Hattest du vor, mir irgendwann davon zu erzählen?«
Die Mutter schielte zu dem Schreiben, zuckte dann mit den Schultern.
»Du kanntest ihn doch gar nicht.«
»Er war mein Großvater.«
»Pah!«
Johanna setzte sich, strich über ihren geblümten Arbeitskittel, den sie über dem schlichten Baumwollkleid trug. In diesem Moment sah sie älter aus, als sie tatsächlich war. Um ihre hellen Augen gruben sich tiefe Falten in die Haut.
»Ich fahr da sowieso nicht hin«, erklärte sie mit ungewohnter Entschlossenheit.
»Ich schon! Und du solltest mitkommen. Das verlangt der Anstand!«
»Der Anstand? Seit wann kümmert dich denn so was?«
»Du musst mal hier raus!«
»Bei meinen Verwandten können wir nicht wohnen. Kein Platz!«
»Ich verdiene genug, wir können uns auch ein Gästezimmer nehmen.«
»Ein Gästezimmer! So weit kommt’s noch.«
Johanna wandte sich ab. Mit schmalen Augen blickte sie auf die Mohnblumen auf dem Tischtuch, fuhr mit dem Fingernagel die Blütenränder entlang.
»Warum ist es dir so wichtig, einen alten Mann zu beerdigen, von dem du nichts kennst außer dem Namen?«
»Das ist nicht meine Schuld. Du hast dich immer über deine Familie ausgeschwiegen.«
»Da hast du nichts verpasst.« Johanna schnaubte. »Ich habe schon meine Gründe gehabt, nicht über Südtirol zu sprechen. Nie hat sich jemand von da unten für mich interessiert, niemand außer meiner Schwester Anna.«
»Würden sie sich nicht interessieren, hätten sie uns wohl das nicht geschickt!« Paula hielt den Trauerbrief hoch.
»Das war Anna.«
»Ich nehme mir Urlaub«, sagte Paula. »Ich muss in der Klinik noch einige Dinge klären, doch dann können wir fahren.«
Als sie noch einmal betonte, dass sie auch allein fahren würde, gab Johanna nach und sagte zu, sich das erste Mal in ihrem Leben für zwei Wochen freizunehmen.
»Meine Tochter soll nicht ohne mich ins Verderben rennen«, erklärte sie.
Paula verließ die Wohnung, stieg in ihren Wagen und atmete durch. Besuche bei ihrer Mutter strengten sie an. Dieser Widerwille, etwas zu wagen, zu verändern. Und immer dieses Schweigen, wenn es um ihre Familie, um Südtirol ging. Sie umschiffte das Thema, sparte es aus, verdrehte die Wahrheit, schwindelte, nur um nicht auf ihre Heimat angesprochen zu werden. So waren Monate und Jahre vergangen, bis irgendwann weder Paula noch Johanna über das Land südlich des Brenners sprachen.
München, Juni 1961
Paula konnte sich nicht erinnern, dem Krankenhaus jemals länger als drei Tage ferngeblieben zu sein. Sogar zu Weihnachten war sie diejenige, die Notdienst schob. Sie, die keine Familie, keine Kinder hatte, nur eine Mutter, die dem Weihnachtsfest kaum Bedeutung beimaß. Einen Arbeitstag würde Paula noch hinter sich bringen, dann würden sie Richtung Süden reisen.
Paula fuhr in die Frauenklinik, parkte den Wagen und betrat das Krankenhaus. Im Aufenthaltsraum war es ruhig. Nur Alex, ein junger Assistenzarzt, goss sich frisch gebrühten Kaffee in eine Tasse, blickte auf, als sie eintrat, hob grüßend die Hand und kam auf sie zu.
»Aufgeregt?«
Paula hob die Schultern. »Das wäre überflüssig. Der Schweighofer hat mich bereits zweimal grundlos übergangen, er wird es auch dieses Mal tun.«
Sie war die beste Kandidatin, doch daran, dass sie eine Frau war, konnte sie nichts ändern. »Du bekommst die Chefarztstelle. Deine Konkurrenten stellst du allemal in den Schatten«, sagte der Kollege mit aufmunternder Stimme.
Ihre Konkurrenten waren Heinz Pfeifer, ein unzuverlässiger Mann, launenhaft, arrogant und wankelmütig und ein besonders männliches Exemplar seiner Art. Paula hätte geschworen, dass er jeden Tag ebenso viel Zeit für die Morgentoilette benötigte wie seine Frau. Er sah gut aus und wusste es – die unangenehmste Gattung von Männern. Kurt Schneider hingegen war ein freundlicher Mann, fortschrittlich, loyal, allerdings etwas schluderig und unpünktlich, und wenn es hart auf hart kam, zog er den Schwanz ein. Fachlich waren beide gut, jedoch wesentlich kürzer an der Klinik angestellt als Paula.
»Ich soll Schweighofer heute Morgen assistieren, bevor er die Entscheidung mitteilt.«
»Er ist im Hörsaal«, sagte Alex.
Sie stöhnte.
»Wird schon klappen!«
Dr. Schweighofer hatte verstaubte Ansichten. Da half es nichts, dass sie in den letzten Wochen mehr gearbeitet hatte als je zuvor. Sie hatte sich dem Chefarzt gegenüber respektvoll und zurückhaltend gezeigt, mit ihrem Wissen brilliert, sich keinen Fehler geleistet, Hilfsarbeiten kommentarlos ausgeführt, Bettpfannen geleert, Verbände gewechselt und bei der Essensausgabe geholfen. Dr. Schweighofer hatte von jeher Probleme, die Aufgaben zwischen Schwestern und Ärztinnen zu verteilen, er trennte lieber in weibliche und männliche Aufgaben.
Paula band sich ihre Haare zu einem Pferdeschwanz, zog den Arztkittel an und ging die Treppen hinauf zum Hörsaal. Sie betrat den Saal, blickte über die Sitzreihen hinab zu der Gruppe Zweitsemester, die in einem Halbkreis um eine Frau standen. Sie hatte auf einem Gynäkologenstuhl Platz genommen. Ihr Oberkörper war durch einen Vorhang abgeschirmt. Mit hochgeschobenem Klinikhemd lag sie in der sogenannten Steinschnittlage, hatte die Beine rechts und links auf Stützen gelegt. Paula atmete tief ein und ging die Stufen hinunter zu den Studenten.
»Fräulein Gruber, kommen Sie zu uns!«, rief Dr. Schweighofer.
Die Männer schauten sie interessiert an. Sie ignorierte die neugierigen Blicke, sah hinter den Vorhang und drückte der Frau die Hand.
»Guten Morgen. Geht es Ihnen gut?«
Die Frau sah sie mit vor Verlegenheit geröteten Wangen an und nickte.
»Es dauert nicht lange. Wir sind sehr dankbar, dass Sie sich für unsere Studien zur Verfügung stellen.«
Dr. Schweighofer räusperte sich.
»Wollen wir nun fortfahren? Fräulein Gruber, bitte erklären Sie den Studenten, wie wir bei einer gynäkologischen Untersuchung verfahren.«
Paula nickte, trat zu den Männern und begann, die Methode der Behandlung und die Untersuchungsgeräte zu erklären.
»Sie müssen sehr behutsam vorgehen, meine Herren. Für uns Frauen sind gynäkologische Untersuchungen sehr unangenehm. Es wäre zum Beispiel von Vorteil, wenn sie die junge Dame hier als Mensch sähen und nicht als Untersuchungsobjekt.«
Die Männer murmelten.
»Danke, Fräulein Gruber«, sagte Schweighofer. »Wir sehen uns gleich in meinem Büro.«
Paula verabschiedete sich von den Studenten, verließ den Hörsaal und wusch sich Hände und Arme. Die Aufregung wuchs langsam. Ein letzter Blick in den Spiegel, dann ging sie zum Büro, klopfte und trat ein. Ihre zwei Kontrahenten hatten bereits Platz genommen, scherzten mit dem Chefarzt, der an einer Zigarre zog und den Rauch in dicken Ringen an die Decke steigen ließ.
»Ach, Fräulein Gruber, seien Sie doch so nett, und besorgen Sie uns Kaffee!«
Irritiert blickte Paula von einem zum anderen, nickte dann aber kommentarlos und holte aus der Schwesterküche ein Tablett mit vier Tassen Kaffee, die sie vor den Männern auf den Tisch stellte.
»Nehmen Sie Platz, Fräulein Gruber!«
Sie setzte sich und verschränkte die Finger im Schoß.
»Kommen wir gleich zur Sache, meine Herrschaften. Sie haben sich für die Oberarztstelle beworben. Ich möchte betonen, dass Sie alle qualifizierte und erfahrene Assistenzärzte sind. Dennoch musste ich eine Entscheidung treffen.«
Schweighofer stand auf, blickte den dreien der Reihe nach in die Augen. Dann sah er Pfeifer an.
»Herr Pfeifer, ich gratuliere Ihnen herzlich. Sie übernehmen ab September die Oberarztstelle.« Heinz schoss hoch, lachte, schüttelte dem Chefarzt die Hand, während Paula immer weiter in ihrem Sessel versank. Pfeifer! Das kam überraschend. Paula graute davor, unter seiner Führung zu arbeiten.
»Seien Sie nicht enttäuscht, Doktor Schneider. Vielleicht das nächste Mal«, sagte Schweighofer, schüttelte Kurt die Hand und streckte sie danach auch Paula hin.
»Fräulein Gruber.«
Sie drückte seine Hand, wartete, doch mehr sagte er nicht. Keine Begründung, wie immer. Sie verließ das Büro, wütend, enttäuscht – obwohl sie geahnt hatte, was kommen würde. Aber der Hauch einer Hoffnung war immer da, so sehr sie sich auch dagegen wehrte. Sie ging in den Kaffeeraum, wo Alex saß und sie mit erwartungsvollem Blick empfing. Es war nicht nötig, etwas zu erklären. Paulas Gesichtsausdruck sprach Bände.
»Ich hätte ihm die Meinung sagen sollen«, murmelte sie und ließ sich auf den Sessel fallen.
»Er hat dich wieder übergangen?«
Sie hob die Schultern. »Ich habe es dir gesagt. Keine Chance, solange mir kein Bart wächst. Offensichtlich sind Brustbehaarung und Y-Chromosomen wichtiger als Kompetenz. Der Heinz wird es, ist das zu fassen. Dieses arrogante …«
»Pfeifer? Das ist überraschend. Auf den hätte ich am allerwenigsten getippt.«
»Ich hätte kein Problem damit, unter Kurt zu arbeiten, aber Heinz? Ich muss meine Pläne ändern, vielleicht das Krankenhaus wechseln, oder in eine andere Stadt ziehen. Den Heinz als Chef ertrage ich nicht.«
»Das würdest du tun?«
»Warum nicht? Ich bin ungebunden.«
»Wie wäre es mit einer Auslandsstelle? Die sind sehr gut bezahlt, und da hast du auf jeden Fall eine Chance. Das entscheidet nicht Schweighofer.«
»Ausland?«
»Warum nicht?«
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«
»Letzte Woche gab es ein Angebot aus Kapstadt. Für die Stelle werden noch deutsche Ärzte gesucht. Du musst eine schriftliche Bewerbung in Englisch aufsetzen. Wenn Interesse besteht, wirst du eingeladen. Und das geht ziemlich rasch, habe ich gehört.«
Paula brauchte Abstand. Ihre Gedanken überschlugen sich, mischten sich mit Wut und Enttäuschung. Der Urlaub, den sie sich für das Begräbnis ihres Großvaters genommen hatte, kam ihr gelegen. Sie hätte gern Schweighofer die Meinung gesagt. Doch mit Paulas Selbstbeherrschung war das so eine Sache. Sie verlor sie schnell in Momenten der Rage und bereute später ihre Kurzschlusshandlungen. Darum war der Urlaub gut, Zeit zum Nachdenken, sich zu sammeln, abzuspannen. Paula hatte die Bewerbung für die zwei Auslandsstellen geschrieben und abgegeben. Den Gedanken, ob sie bei einer Zusage den Schritt, allein nach Südafrika zu gehen, tatsächlich wagen würde, schob sie beiseite. Jetzt wollte sie vor allem raus aus dieser Stadt, weg von dieser Klinik, von Schweighofer, von Heinz Pfeifer und seiner selbstgefälligen Visage.
Tags darauf fuhr Paula im Morgengrauen wieder zum Haus ihrer Mutter. Johanna erwartete sie bereits. Mit einer geblümten Reisetasche aus Stoff, der Einzigen, die sie besaß, wusste Paula, stand sie vor der Haustür. Zu früh, nur um sicherzugehen, sich nicht auch nur eine Minute zu verspäten. Johanna beäugte den VW kritisch. Sie hatte das Autofahren nie gelernt. Mehr noch, Paula konnte die Male, in denen ihre Mutter in einem Wagen gesessen hatte, an beiden Händen abzählen. Johanna kam aus einer Zeit, in der man sich zu Fuß oder mit einem Pferdewagen fortbewegte. Vielleicht war ihr auch deshalb nicht in den Sinn gekommen, die weite Reise über die Alpen anzutreten. Paula hob die Tasche ihrer Mutter in den Kofferraum ihres Wagens.
»Kennst du denn den Weg? Ich kann dir da nicht weiterhelfen«, sagte Johanna.
Paula öffnete die Tür des Käfers und hielt einen Autoatlas hoch.
»Seite 89. Es ist eine lange Fahrt. Wir müssen mit acht Stunden rechnen. Ich habe die Route mit Farbe markiert.«
»Und du traust dir das zu?«
»Wieso nicht?«
»Kannst du denn überhaupt so lange von der Klinik wegbleiben?«, fragte Johanna weiter.
»Ja, das kann ich, Mutter. Man nennt das Urlaub.«
Von der Chefarztstelle hätte Paula ihr niemals erzählt, denn sie wusste, dass Johanna es als Ehre ansah, dass ihre Tochter überhaupt eine Anstellung als Ärztin bekommen hatte, und das als Frau in einem männerdominierten Beruf. Sie hätte Johannas Wunsch nach einer Beförderung als Hochmut abgelehnt. Eine Überheblichkeit, die sich für eine Frau nicht schickte. Ebenso wenig wie das teure Auto, die eng anliegenden Hosen, der Führerschein und schlicht das Unverheiratetsein. Als Paula den Motor anließ, krallte sich Johanna an dem Haltegriff der Tür fest und versteifte sich.
»Keine Sorge! Ich fahre vorsichtig!«, sagte Paula beruhigend und gab Gas.
Das Stadtgebiet hatten sie rasch hinter sich gelassen. Sie fuhren an Bad Tölz und Rosenheim vorbei und überquerten bei Kufstein die Grenze zu Österreich, wo sie die erste Rast einlegten. Paula hielt auf einem Parkplatz. Während sie die vor ihnen liegende Route über die Bundesstraßen durch das Inntal und weiter über die Brennerstraße im Autoatlas studierte, schwieg Johanna. Paulas Vorfreude auf die Reise in den Süden teilte sie nicht. Weder das prachtvolle Wetter noch die in der Ferne leuchtenden Gipfel der Alpen schienen ihr zu gefallen. Das Nörgeln wegen der Hitze und den Kreuzschmerzen wegen der langen Fahrt kommentierte Paula nur mit einem Nicken, in der Hoffnung, ihre Mutter würde schon noch auf den Geschmack kommen.
Doch auch die Straße nach Kufstein mit einem herrlichen Blick auf das Alpenpanorama verbesserte Johannas Laune nicht.
Die Route führte am Inn entlang über die kurvige Landstraße durch kleine Dörfer bis nach Innsbruck. Dort machten sie Rast, aßen ihre mitgebrachten Brote und tranken Limonade.
Paula legte sich auf die Picknickdecke, ließ die Sonne auf ihr Gesicht scheinen und bestaunte die hohen Gipfel, die vor ihr lagen. Die Anspannung der letzten Tage fiel von ihr ab, und wäre da nicht der bemüht griesgrämige Blick ihrer Mutter gewesen, hätte für Paula der Moment nicht schöner sein können.
»Diese Bergspitzen! Schau doch mal hin! Ist das nicht traumhaft schön?«
»Sind doch nur Berge. Sieh nur zu, dass dein Auto die steile Straße schafft. Der Brennerpass ist hoch«, erwiderte Johanna und schob sich das letzte Stück ihres Brotes in den Mund.
Wenig später lenkte Paula den Käfer den Alpenpass hinauf. Sie fuhren an stehenden Autos mit offenen Motorklappen vorbei, aus denen Dampfsäulen aufstiegen. Touristen, die es zu eilig gehabt hatten, über die Grenze zu kommen, den Berg hinaufgerast und jetzt zum Warten verdammt waren. In den Süden wollten sie alle, nach Italien, dem neuen Sehnsuchtsziel der Deutschen.
Paula schraubte sich die Serpentinen hinauf bis zum höchsten Punkt des Brennerpasses. Sie bewunderte die Kirchen, Gasthöfe, Bauernhäuser und die schroffen Gipfel dahinter, doch durch nichts ließ sich Johanna erweichen. Vieh, das auf den Weiden graste, Tannen und Kiefern, die auf steilen Abhängen wurzelten, satte Farbtöne. Es war atemberaubend schön, fast kitschig. Johanna wollte davon nichts wissen und versuchte erst gar nicht, ihre Ablehnung gegenüber Südtirol zu verbergen. Je näher sie Italien kamen, desto mehr versteifte sich Johanna in ihrem Sitz.
An der Wasserscheide, wie ihre Mutter die Grenze nannte, bremste Paula. Vor ihnen standen Autos mit deutschen, österreichischen und vereinzelt italienischen Kennzeichen in einer langen Schlange. Sie befanden sich auf 1 370 Metern über dem Meeresspiegel. Paula griff auf die Rückbank, holte ihre Tasche nach vorn und zog den Pass heraus.
Johanna kramte in ihrer Handtasche und reichte ihrer Tochter ihr Dokument. Repubblica Italiana, stand darauf.
»Früher war da nie was los«, brummte sie.
»Du warst doch nie da, Mutter. Jahrzehntelang nicht.«
»Trotzdem.«
»Sind halt Touristen. Die fahren in Urlaub.«
»Urlaub«, sagte Johanna, »ist etwas für Faulenzer.« Seit sie Kind war, hatte Paula das gehört. Sie wird sich schon noch entspannen, dachte sie, und anfangen, den Urlaub zu genießen. Das hoffte Paula zumindest.
Als sich der Schlagbaum hob, startete Johanna den Wagen und rollte langsam über die Grenze. ITALIA, stand auf dem leuchtend weißen Grenzstein.
Südtirol, Spätherbst 1920
Wenn Johanna sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie das Kreuz auf dem Dach des Kirchturms sehen. Dahinter die Felsnadeln der Dolomiten, deren Gipfel noch im Sonnenlicht leuchteten. Vom Tal krochen langsam Nebelfetzen den Berg herauf, blieben in den Wipfeln der Föhren hängen. Fast nie erreichten sie Johannas Hof, schon gar nicht die noch höher gelegenen Almwiesen. Der Gasserhof lag einsam auf einem Hügel, gerade so abgesondert, dass man tagsüber nie jemanden traf, aber in nur dreißig Minuten im Dorf war.
Es war der letzte Tag, an dem Johanna die Schafe hinauftrieb. Das Gras unter ihren Füßen war feucht und dort, wo die Sonne tagsüber nicht hinkam, mit einer Raureifschicht überzogen. Es war so kalt, dass sich ein Stechen von der kleinen Zehe bis hinauf in die Oberschenkel zog. Sie kannte diesen Schmerz seit der Kindheit und hatte gelernt, ihn auszuhalten, nicht daran zu denken – das beste Mittel, die letzten Tage vor dem ersten Schnee zu überstehen. Als Kind hatte sie sich die Füße in den warmen Kuhfladen gewärmt, besonders an regennassen Tagen, an denen sie bis auf die Haut durchnässt unter einem Baum gekauert hatte, den Blick auf die Dolomiten gerichtet. Dorthin, wo der Vater und die Brüder gekämpft hatten, wo der älteste Bruder gefallen war. Damals im Krieg.
Kühe besaßen sie heute keine mehr, nur noch Hühner, Schafe, zwei Widder und ein paar Schweine im Saustall. Gerade genug, um die Familie zu versorgen und trotzdem noch Schafsmilch schon vor Sonnenaufgang ins Dorf zur Sennerei bringen zu können. Johanna und ihre Schwester gingen mit und kehrten erst mittags von der Schule zurück. Fand Nachmittagsunterricht statt, verbot ihnen der Vater, daran teilzunehmen. Die Arbeit auf dem Hof machte sich schließlich nicht von allein.
Für Johanna war es das letzte Schuljahr. Ihre Zensuren waren gut. So gut, dass sie vom Lehrer für die Ausbildung zur Lehrerin vorgeschlagen worden war. Eine Lehrerbildungsanstalt gab es in Bozen. Für ihren Lebensunterhalt würde sie dann selbst aufkommen müssen. Der Gedanke, nicht ein Leben als Bergbäuerin zu führen, löste ein Glücksgefühl in Johanna aus, doch der Vater hatte für solche Flausen nichts übrig, schon gar nicht Geld. Manchmal fragte sich Johanna, wie sie überhaupt überlebten. Die Armut, der Vater, der das wenige Geld lieber vertrank, statt es nach Hause zu bringen, die Krankheiten, die Kinder und Vieh regelmäßig einholten. Sie hielten sie aus und überlebten, oder eben nicht, wie die kleine Gertrud. Sie war im letzten Jahr gestorben, hatte hoch gefiebert, wochenlang, vor Schmerz geschrien. Bis sie irgendwann blau und blass war, nichts mehr sagte, nur röchelte und bald darauf starb.
Johanna jammerte nicht über ihr Leben. Vielen ging es ebenso. Es war eben gottgegebenes, zu ertragendes Schicksal, wie ihre Mutter sagte. Sie betete immer, nicht nur vor den Mahlzeiten, auch tagsüber, küsste das Kreuz zig Male am Tag, murmelte sogar während der Arbeit Gebete. Es ist ihre Art, mit dem Leben zurechtzukommen, dachte Johanna.
Sie packte den Widder bei den Hörnern und zog ihn zur Herde, zählte die Tiere noch einmal und trieb sie die letzten paar Hundert Meter zum Hof hinunter. Die Mutter stand in ihrem Kittel in der Tür, als Johanna vom Stall kam.
Ihre Augen waren traurig, immer, seit sie den Karl, Johannas ältesten Bruder, verloren hatte. Eine Hand hatte sie in den Rücken gestützt, die andere ruhte auf ihren gewölbten Bauch. Alt sah sie aus und abgearbeitet, das Haar war grau und stumpf.
»Endlich! Wo bleibst denn? Der Vater kommt bald.«
Johanna wusch sich die schlammverkrusteten Füße, die unter dem geflickten Baumwollkleid hervorsahen, am Trog und ging an der Mutter vorbei in die Stube. Die jüngeren Geschwister saßen mit dem Großvater an dem großen Tisch. Seit sie Italiener geworden waren, vor einem Jahr, sprach er kaum noch. Stattdessen starrte er den ganzen Tag vor sich hin, murrte unverständliche Worte und rauchte seine Pfeife.
Sie waren sieben Kinder: Gustav, der Älteste, Josef, dann Johanna, Anna, die zwei Jahre jünger war, Anton, Rudolf und Therese, die Kleinste, erst drei. Fünf waren direkt zu den Engeln gegangen, und der Karl war im Krieg gestorben. Schwanger war die Mutter fast immer. Der Vater konnte seine Finger nicht von ihr lassen. Zweiundvierzig war sie jetzt. Ihr Körper war müde und erschöpft von den Strapazen, den Fehlgeburten, der Arbeit. Sie solle nicht mehr schwanger werden, hatte der Arzt gesagt, als das letzte Kind wieder tot zur Welt gekommen war. Es sei zu gefährlich, die Mutter zu schwach. Genauso schwach wie Vaters Fleisch.
Die Mutter legte sich ein Wolltuch um die Schultern und ging in den Stall. Düster war es in der Stube, seit der Vater am Petroleum sparte. Die Kerzen aus Talg gaben zu wenig Licht zum Kochen. Johanna zündete eine Lampe an, hob die gusseiserne Pfanne auf den Tischherd und schöpfte einen Löffel Schmalz hinein, dann Milch, Wasser, Grieß und Salz, rührte, bis das Mus stockte und sich am Pfannenboden anlegte. Sie bräunte etwas Butter und löffelte sie über den Brei.
Ein süßlicher Duft hatte sich in der Stube ausgebreitet, als die Männer kamen. Gustav, Josef und der Vater, der einen stöhnenden Laut ausstieß, als er sich auf der Bank niederließ. Er hatte sich bei den Holzarbeiten – die Männer arbeiteten jeden Tag im Wald – einen Leistenbruch zugezogen. Seither band er sich täglich ein Bruchband um die Hüfte, um den Schmerz erträglicher zu machen. Er humpelte trotzdem, eine Hand immer schützend auf die Leiste gelegt.
Johanna stellte das dampfende Mus auf das Pfannenbrett. Die Mutter kam zurück und goss frische Milch in eine Kanne und dann in die Becher. Dann häufte sie Sauerkraut neben den Getreidebrei und setzte sich mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf zu Tisch. Der Vater sprach das Gebet, dann löffelten die Männer stumm den Brei und ließen einen Rest für die jüngeren Geschwister und Frauen übrig, die sich alsdann gierig darüber hermachten. Schnell musste Johanna sein, denn es war immer zu wenig, um satt zu werden. Nur die Mutter wartete, bis fast alles aufgegessen war, und schob sich dann einige Löffel in den Mund.
Johanna schöpfte kochendes Wasser aus dem Wasserschiff im Tischherd in eine Schüssel, nahm Geschirr, Seife und Scheuerbürste und ging mit Anna hinaus. Sie tauchten die Hände ins heiße Wasser, schrubbten, bis ihre Hände rot waren, spülten dann im Trog. Mit dem Handrücken strich Johanna sich Strähnen aus der Stirn, setzte sich an den Rand und sah in die Dämmerung. Wenn sich der Horizont orange färbte, wirkte die Landschaft friedlich.
»In ein paar Jahren werd ich eine Lehrerin sein, Anna. Und nicht mehr Töpfe schrubben und Brennsuppe kochen.«
»Geh, hör doch auf mit der Träumerei!«
»Die Lehrerin hat gesagt, ich hätt’s Zeug dazu.«
»Aber nicht das Geld!«
»Das treib ich auf, irgendwie.«
»Nie lässt dich der Vater fort, in die Stadt. Und allein bleiben, dein ganzes Leben? Heiraten darfst du nicht als Lehrerin, Hanni!«
Sie schwieg. Ihren Traum ließ sie sich nicht nehmen. Irgendwie würde sie es schaffen. Fort von hier.
»Hanni! Lauf runter ins Dorf! Hol die Hebamme!«, rief Gustav aus der Stube. Sie ließ das Geschirr ins Wasser zurückgleiten und lief hinein. Die Mutter lag am Boden, der Vater stand daneben.
»Schnell, Hanni!«, sagte der Vater, ohne sie anzusehen.
Sie zog ihre Lederstiefel unter der Ofenbank hervor. Normalerweise trug sie die nur zum Kirchgang am Sonntag und im Winter, wenn Schnee lag, der Boden gefror und es so kalt wurde, dass sich Johannas Zehen blau verfärbten. Sie schnürte die Stiefel zu und lief los, den Berg hinunter, stürzte, rappelte sich auf, lief weiter. Viel zu früh war es für die Geburt, erst in zwei Monaten sollte das Kind kommen.
Während Johanna lief, betete sie, sprach die Worte laut vor sich hin, damit er sie hörte, der Herrgott. Sie flehte ihn um Verzeihung an für ihre Zweifel, ihren Hochmut, dafür, dass sie die Mutter für ihre Frömmigkeit belächelt hatte. Eine halbe Stunde brauchten sie normalerweise, um Milch und Eier am Morgen hinunter in den Dorfladen zu bringen. Heute schaffte sie es in fünfzehn Minuten. Im Dorf war es schon dunkel, nur aus wenigen Fenstern drang trübes Licht.
Das Haus der Hebamme lag am Ende der Dorfstraße. Johanna sprang die Treppen hinauf und hämmerte gegen die Tür. Die Hebamme öffnete mit verschlafenem Blick, im Nachthemd, die Schlafhaube auf dem Kopf und hielt die Petroleumlampe hoch, um das Gesicht des späten Gastes besser zu sehen. Als sie Johanna erkannte, verschwand sie, kehrte kurz darauf angezogen zurück, griff nach ihrer Jacke und ihrer Tasche.
»Gemma! Hopp! Hopp!«, war das Einzige, was sie sagte.
Sie saßen rund um den Stubentisch: die Geschwister, der Vater und Johanna, die den Blick auf die flackernde Kerze im Herrgottswinkel gerichtet hatte. Die Kugeln des Rosenkranzes glitten durch Vaters Finger, begleitet von dem leisen Gemurmel der Gebete. Hin und wieder schloss er die Augen, wenn von oben gedämpfte Schreie der Mutter nach unten drangen und alle in Angst versetzten. Johanna hatte die Arme um ihre zwei Schwestern gelegt und bewegte tonlos die Lippen zum Vaterunser.
Als die Hebamme nach ihr rief, lief sie die Treppe hinauf und trat ein. Blass war sie, die Mutter, so weiß. Ihre Brust hob und senkte sich schnell. Einige dunkle Strähnen klebten an ihrer Stirn, und das Laken zwischen ihren Beinen war vollgesogen mit Blut.
»Das Kind kommt, aber es hat sich noch ned gedreht. Bring das runter und hol frisches abgekochtes Wasser und Tücher. Und ich brauch mehr Licht. Habt ihr noch ein paar Lampen?«
Johanna nickte, hob die Schüssel mit der rötlichen Flüssigkeit hoch und brachte sie nach unten. Sie ging vor die Tür und kippte die Schüssel aus. Rosa Spuren verliefen im grauen Kies. In Johannas Hals bildete sich ein Kloß. Der Vater stand plötzlich hinter ihr, bekreuzigte sich.
»Bring ein paar Lampen hinauf und Kerzen, die Hebamme braucht Licht, Vater!«
Johanna drängte sich an ihm vorbei, schöpfte dampfendes Wasser aus dem Wassertank und kehrte in die Schlafkammer zurück.
»Hanni, komm her!« Die Stimme der Mutter war dünn, verklang fast in einem Röcheln. Vorsichtig stellte Johanna die Schüssel ab und nahm die Hand, die sie ihr entgegenstreckte. So heiß war die Haut. Die Augen feucht und glasig.
»Hanni, du musst dich um deine Schwestern kümmern, wenn ich es ned schaff.«
»Mutter, sag das nicht, ich bitt dich!«
»Hör jetzt zu! Der Vater kann das nicht allein. Du musst ihm helfen. Jeder Hof braucht eine Frau. Die Kleinen müssen die Schule fertig machen. Versprichst du mir das?« Johanna ließ den Kopf hängen, schloss die Finger fester um Mutters Hand.
»Hanni! Versprich’s mir!«
»Ja, Mutter.«
Sekunden, Minuten, Stunden verstrichen, während sie in der Stube zusammensaßen. Wie ein schlechter Traum, aus dem es kein Erwachen gab. Irgendwann schliefen die kleinen Geschwister vor Erschöpfung ein. Johanna fiel in einen leichten Dämmerzustand, aus dem sie immer wieder panisch hochschreckte und lauschte, ob sie Kindergeschrei oder Mutters Stimme vernahm. Doch es blieb still. Dreimal sah sie nach ihr, immer schwächer, immer blasser sah die Mutter aus.
»Leg dich hin! Ich bleib jetzt bei ihr!«, sagte der Vater gegen zwei Uhr früh.
Johanna verschränkte die Arme auf dem Tisch, bettete ihren Kopf dazwischen und schlief ein.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, waren Mutter und Kind tot. Die Hebamme hatte das Neugeborene notgetauft, dann in ein Tuch gewickelt und der toten Frau in die Arme gelegt. Ein Bub war es, winzig klein, blau verfärbt, Finger wie Mäusepfötchen. Aufgebahrt mit zwei Kerzen am Bettende lag die Mutter in der dunklen Kammer, so friedlich, als würde sie schlafen.
Therese klammerte sich an Johannas Kittel, Anna stand neben ihr, steif und blass. Brüder und Vater schwiegen. Sie starrten auf das blasse, bläuliche Gesicht der Mutter, beteten nicht mehr, nichts sagten sie. Nur Fassungslosigkeit stand in den Mienen. Johanna wischte sich mit dem Ärmel über die nassen Wangen. Draußen pfiff ein kalter Wind ums Haus, rüttelte an den Holzläden und trieb die Wolken vor sich her. Die Kälte kroch durch die Ritzen zwischen den Latten ins Zimmer. Im Winter war es hier oben immer zugig und kalt. So kalt, dass auf den Glasscheiben Eisblumen wuchsen und die Strohsäcke nicht trockneten.
»Es wird jetzt hart werden, Hanni, ohne Mutter. Wirst viel mitanpacken müssen als Älteste«, murmelte der Vater.
Johanna blickte durch das kleine Fenster der Schlafkammer hinaus. In der Nacht war der erste Schnee gefallen. Die Sonne schob sich langsam hinter den Bergen hervor und schien auf das glitzernde, unberührte Weiß. Sie war vierzehn, als die Mutter starb.
Südtirol, Juni 1961
Die steil abfallende, kurvenreiche Straße hinunter in das Etschtal war voller Autos, die Richtung Gardasee oder Adria fuhren, dicht bepackt mit Taschen und Gummibooten, die auf dem Dach festgezurrt oder zwischen die Kinder auf die Rückbank gequetscht waren. Johanna starrte regungslos aus dem Seitenfenster, wo die bergige Landschaft des Alto Adige an ihnen vorbeizog. Sie fuhren durch Sterzing und Brixen, die nun die melodisch klingenden Namen Vipiteno und Bressanone trugen, charmante Dörfer, die zum Verweilen einluden. Doch Paula verzichtete auf eine weitere Rast und folgte den Wegweisern nach Bozen.
»Da abbiegen!«, war das Einzige, was Johanna sagte, als Paula die Hauptstadt Südtirols erreichte. Sie lenkte den Wagen vorbei an der von Weinhängen gesäumten Stadt, Richtung Sarntal und dann nach links, auf eine steile Straße, die sich in engen Serpentinen einen Hügel hinaufwand. Der Motor heulte auf. Paula schaltete in den zweiten Gang, um die Steigung zu bewältigen.
»Ist es noch weit?«
»Zu Fuß waren es drei Stunden, mit dem Pferdewagen eine Stunde. Damals war da keine Straße. Nur ein Schotterweg.«
Nach der nächsten Kehre sah man in der Ferne einen Kirchturm. Muschelgraue und terrakottafarbene Sandsteinquader, Spitzhelm – an den Kirchturm konnte Paula sich noch dunkel erinnern. Der Rest des Dorfes war ihr fremd. Nur kurz hatte sie hier gelebt, als Kind, kaum alt genug, um Erinnerungen zu bewahren.
Paula trat die Kupplung durch und schaltete in den ersten Gang. Häuser, Höfe, ein Wirtshaus. Bilder blitzten in ihrem Gedächtnis auf. Sie in einem Baumwollkleid, die Schiefertafel und ein Lesebuch unterm Arm. Ein italienisches Lesebuch. Der Lehrer, ein Mann in Uniform, Angst hatte sie gehabt. Die Bilder waren verschwommen, das Gefühl präsent.
»Da musst du abbiegen, die Straße rauf!«
Sie ließen das Dorf hinter sich. Die asphaltierte Straße mündete in einen gut befestigten Schotterweg an sonnenbeschienenen Weiden vorbei, weiter hinauf durch ein langes bewaldetes Stück. Sie tauchten aus dem Schatten wieder in die Sonne. Vor ihnen breiteten sich weite Almwiesen aus. Steil, so steil, dass Paula nicht wagte, rechts hinunterzusehen. Eine letzte Biegung, dann waren sie da. Paula bremste, stützte ihr Kinn auf das Lenkrad und sah hinaus. Sie versuchte, sich zu erinnern, die Bilder aus ihrem Gedächtnis zu holen. Doch da war nichts. Nichts, was ihr bekannt vorkam.
Der Hof lag direkt vor ihnen. Er war alt, zweistöckig, aus dunklen Holzbalken gebaut, rechts ein Anbau aus unregelmäßigen Steinblöcken, links der Stall, ein Hackstock. Ein ausgeblichener Jägerzaun umgab einen Gemüsegarten. Das Haus war auf eigenwillige Art schön, das verwitterte Holz, die Blumenkästen mit den üppig blühenden Geranien. Doch es war auch alt und renovierungsbedürftig, an den in die Jahre gekommenen Fenstersprossen blätterte der Lack ab. Das romantische Bild störte das nicht.
»Schaut aus wie damals«, sagte Johanna.
Sie saß steif da, den Blick nach vorn gerichtet. Paula überkam ein plötzliches Mitgefühl, als sie ihre Mutter ansah.
»Wollen wir?«
Johanna rührte sich nicht. Sie biss sich auf die Unterlippe, ihre Brust hob und senkte sich. Dann blinzelte sie und nickte.
Circa fünfzig Schritte waren es vom Auto zum Haus. Fünfzig Schritte, die Johanna sichtlich viel abverlangten. Vor der Tür blieb sie stehen, starrte auf ihre Fußspitzen, die in braunen, ausgelatschten Halbschuhen steckten.
»Komm!«
Johanna wirkte wie gelähmt, als ziehe eine Kraft an ihr, die sie zurückhielt. Paula klopfte nach einem abwartenden Blick auf ihre Mutter an die Tür, drückte die Klinke nach unten und trat ein. In dem schmalen Lichtstrahl, der durch das kleine Fenster in den Vorraum fiel, schwirrte Staub. Ein säuerlicher Gestank, gemischt mit einem Geruch aus Staub und Tabak stieg Paula in die Nase. Ein Geruch, den sie kannte. Sie schloss die Augen, sog die Luft ein, wusste, dass sie hier schon einmal gewesen war. Auf dem Holzfußboden standen Gummistiefel und Lederschuhe, daneben zwei Paar Pantoffel. An den Haken hingen einige blaue Arbeitsschürzen.
Johanna stieß Paula an, wies wortlos auf eine kleine Tür, die zur Stube führte. Paula klopfte noch einmal, öffnete einen Spalt. Diesmal schob sie die Mutter vor und trat dicht hinter ihr ein.
Vier Augenpaare starrten sie an. Zwei Männer, zwei Frauen. Auf dem Tisch standen eine Schnapsflasche, ein Weinkrug, ein paar Gläser. Es war düster in der Stube, obwohl draußen die Sonne schien.
»Grüß euch«, sagte Johanna.
Die Blicke hafteten noch immer auf den beiden. Endlich riss sich die Ältere der Frauen aus ihrer Starre, fuhr von der Bank hoch und kam ihnen entgegen. Tante Anna, wusste Paula.
»Schau dir das an! Damals in München warst du noch ein junges Fräulein mit schlaksigen Armen und Zöpfen, und nun sieh dich an.« Sie umarmte Paula, blieb dann vor Johanna stehen, sah sie lange an und zog sie schließlich in die Arme, während sie »Hanni, Hanni« murmelte.
Die jüngere Frau stand auf und begrüßte Johanna und Paula etwas zögerlich. Tante Therese.
»Ihr hättet schreiben können, dass ihr kommt«, murrte der Ältere der Männer. Sein Bart war struppig, das graue Haar noch dicht, die buschigen Brauen wucherten über den verengten Augen. Onkel Gustav. Der andere hatte schütteres kupferblondes Haar und helle, freundliche Augen – Onkel Josef. Paula ging geradewegs auf die zwei Männer zu und reichte ihnen die Hand.
»Wir haben ganz spontan entschieden zu kommen. Ich hab meine Mutter überredet.«
»So, so!« Gustav hob den Kopf, sah Johanna an, schnalzte mit der Zunge und starrte wieder auf den Weinkrug, der vor ihm stand. Ruhig saß er da, fast ein wenig abwesend, als sähe er Johanna jeden Tag, als wäre sie gerade vom Einkaufen heimgekehrt.
»Macht euch keine Gedanken. Wir nehmen uns ein Gästezimmer im Ort«, sagte Johanna.
»Ist es dir bei uns nicht gut genug?«, fragte Gustav mit einem Hauch von Überheblichkeit in der Stimme.
Paula sah, dass die Worte ihre Mutter trafen. Nach einem kurzen Zusammenzucken hob Johanna den Kopf.
»Wir wollen nicht zur Last fallen.«
»Papperlapapp!«, rief Anna, »Ich schlafe heute auch hier. Meine Söhne kommen erst morgen aus Bozen zur Beerdigung. Da könnten wir doch wie in alten Tagen oben in unserer Kammer übernachten. Sie steht leer.«
Gustav murmelte irgendetwas.
»Heute ist das Totengebet in der Kirche unten! Ihr kommt doch mit?«, meldete sich der andere Onkel, Josef, zu Wort.
Paula nickte. Sie brachte es nicht übers Herz, zu sagen, dass sie nicht viel von der Kirche und dem Heruntersagen auswendig gelernter Gebete hielt. Sie legte keinen Wert auf Gottesdienste und Rosenkränze. Für sie war die Bibel ein von Männern geschriebenes Buch, das sich die patriarchalische Welt so zurechtrückte, wie es die Männer eben gerne wollten. Die Frau aus Adams Rippe, die ihn letztendlich zur Sünde verführt, und allgemein die überholte Rolle der Frau in der Bibel – und sie hatte sie tatsächlich gelesen, Seite für Seite – passte nicht zu Paulas Weltbild. Das hieß nicht, dass Paula nicht gläubig war. Sie hielt es nur für Unsinn, über etwas zu streiten, für das niemand einen wissenschaftlichen Beweis hatte. Doch sie respektierte trotz ihrer immer vorherrschenden Zweifel den Glauben der Menschen, hielt ihre Einwände zurück, sie beneidete die Gläubigen sogar. Es war viel einfacher, dem Tod ins Auge zu blicken, wenn man an das Paradies glaubte, viel einfacher, für alles, wofür es keine Lösung gab, Gott die Verantwortung zuzuschieben.
Hier, im Hause ihres Onkels, hatte Gott das Sagen, das sah Paula sofort. In der Ecke hing ein großes Kreuz, darunter brannten neben einer Bibel zwei Kerzen. Drei Rosenkränze hingen an einem Nagel. Paula war nicht religiös von ihrer Mutter erzogen worden, und sie hatte nie hinterfragt, wie Johanna aufgewachsen war. Zu ihrer Schande musste sie gestehen, dass sie sich nie dafür interessiert hatte.
Tante Anna beeilte sich, zwei Tassen auf den Tisch zu stellen, die sie mit Kaffee befüllte. Paula schob ihre Mutter auf die Bank und setzte sich neben sie. Die vom Rauch geschwärzte Stube strahlte wenig Gemütlichkeit aus. Kleine Fenster ließen kaum Sonnenlicht in den Raum. Es war sehr warm, da der Tischherd, der mit Holz befeuert wurde, trotz der hohen Außentemperaturen zum Kochen benutzt wurde. Esstisch, Bank und Stühle waren aus robustem dunklem Holz.
»Du bekommst natürlich dein Bett von früher, Hanni. Wie in alten Zeiten, was sagst du?« Anna stieß ihre Schwester an. Kurz herrschte angespannte Stille.
Paula sah zu ihrem Onkel, der nur die Schultern hob. Gustav bemühte sich so sehr, unsympathisch zu wirken, dass es Paula beinahe belustigte. Therese schob ein Scheit Holz in den Tischherd und wischte dann die Hände an ihrem Kittel ab.
»Warum hast dich nie sehen lassen, Hanni? Ich war so jung, als du fortgegangen bist. Besuchen hättest uns schon einmal können. Nicht mal zu meiner Hochzeit oder zur Beerdigung von Gustavs Frau warst du da!«
Johanna sah zwischen Gustav und Josef hin und her. Die Brüder wandten sich kommentarlos ab. Wieder breitete sich eine unangenehme Stille aus, die Paula so erdrückte, dass sie das Wort für ihre Mutter ergriff.
»Die Reise ist weit, und …«
Johanna legte ihre Hand auf Paulas Unterarm und brachte sie damit zum Schweigen. Dann seufzte sie und schüttelte den Kopf.
»Es tut mir leid, Therese. Es tut mir leid, dass ich nicht da war für dich. Ich hab keine Entschuldigung. Ich wollt schon … so oft wollt ich dich sehen. Die Anna hat mir immer alles über euch geschrieben, über deine Kinder, die Arbeit deiner Tochter als Küchenmädel unten in dem Hotel in Bozen«, sagte Johanna.
»Eine bessere Arbeit wollten’s ihr ned geben, trotz ihrer guten Noten. Die ganze Schul’ da oben in Deutschland war umsonst. Ich hab’s ja gleich gesagt, damals«, klagte Therese. Die Claudia habe eine Schule in Deutschland besucht, erfuhr Paula. In Baden-Württemberg. Dort habe sie sogar das Abitur mit Auszeichnung bestanden. »Aber hier interessiert das keinen.«
»Was meinst du damit?«, fragte Paula.
»Es gibt keine Arbeit für sie. Nur Hilfsarbeiten, dafür hätt sie das Abitur nicht gebraucht. Niemand wollte sie als Bürokraft anstellen.«
»Aber warum denn nicht?«
»Hast du ihr denn gar nichts erzählt?«, fuhr Gustav Johanna an.
»Wozu wäre das gut gewesen?«, erwiderte die ebenso ungehalten.
Paula schwieg. Sie hatte das Gefühl, mit jedem Wort eine Diskussion anzufachen. Zu wenig wusste sie von der Familie, zu wenig von Südtirol, zu wenig, um zu begreifen, woher der Zorn der Brüder kam. Sie wusste nur, dass sie sich das Wiedersehen anders vorgestellt hatte.
Paula war erleichtert, als die restlichen Verwandten von der Aufbahrungskapelle aus dem Dorf zurückkehrten. Es waren so viele, dass Paula Schwierigkeiten hatte, die Namen und Gesichter zu behalten: Thereses Mann, ihre erwachsenen Kinder Claudia und Klaus, Gustavs Söhne Erwin und Peter mit ihren Frauen und Kindern, Onkel Josefs Frau Elisabeth, seine zwei Töchter und zwei Söhne mit ihren Familien. Allesamt starrten sie anfangs unschlüssig auf die zwei Frauen, bis eine junge Frau endlich »Tante Hanni?«, fragte und Johanna lachend umarmte.
»Und du musst Paula sein. Die Ärztin aus München! Ich bin Thereses Tochter Claudia.« Es lagen weder Neid noch Missgunst in ihrer Stimme, eher Bewunderung, etwas tun zu können, was ihr trotz Abitur versagt geblieben war.
Paula begrüßte jeden Einzelnen der Neuankömmlinge. Mit einem Schlag war sie Teil einer großen Familie. Sie, die immer nur mit ihrer Mutter gelebt hatte, sog das Gefühl, dazuzugehören, in sich auf. Die Stube füllte sich mit Gelächter, Geplauder, einer munteren, wohltuenden Stimmung.
Als sich die Sonne langsam senkte, folgten Paula und Johanna Anna mit ihren Reisetaschen die Treppen hinauf in die ehemalige Schlafkammer der Mädchen.
»Der Erwin, Gustavs Ältester, hat den Hof übernommen, aber der schläft jetzt mit seiner Frau unten im ehemaligen Zimmer des Großvaters!«
»Und Erwins Söhne?«
»Die sind längst ausgezogen.«
»Hier hat sich aber auch gar nichts verändert«, murmelte Johanna und fuhr über den alten Holzrahmen ihres Bettes. Der Dielenboden knarrte bei jedem Schritt, Staub tanzte im Licht, das durch das kleine Fenster fiel. Paula sah sich in der Kammer um. Die Dachschrägen ließen den Raum noch kleiner wirken. Am Fenster standen eine mit Blumenbouquets bemalte Holzkommode, zwei Stühle und ein kleiner Tisch.
»Die Matratzen sind neu! Keine feuchten Strohsäcke mehr«, rief Anna, lachte und strich über die schwarze Tracht, die an einem Wandhaken hing.
»Hast du deine noch?«
Johanna öffnete die Reisetasche und holte einen Kleidersack heraus.
»Du hast eine Tracht, Mutter?«
Johanna zuckte mit den Schultern. »Mein einziges elegantes Kleid. Hab’s nie getragen in München. Ich hoffe, es passt noch.«
Paula setzte sich aufs Bett und beobachtete, wie die Schwestern sich gegenseitig beim Anlegen der Kleider halfen. Der glänzende schwarze Plisseerock war knöchellang, die langen Puffärmel schlossen mit schwarzer, gehäkelter Spitze ab. Die Spitzenapplikationen am Ende des weißen Blusenkragens waren gestärkt und gebügelt. Über das Kleid banden sie eine schwarze Schürze. Anna flocht Johanna den Zopf neu, steckte ihn zu einem Kranz und setzte einen kleinen, schwarzen Hut auf die Frisur.
»Passt wie angegossen«, sagte sie und schob ihre Schwester vor den kleinen Wandspiegel.
»Du hättest deine Mutter früher sehen sollen, Paula. Einen Spaß haben wir gehabt auf den Kirchtagen! Getanzt hat sie, die Hanni, dass sich der Rock nur so gedreht hat. Lang ist’s her, aber fesch ist sie immer noch, gell?«
Johanna streckte ihren Rücken durch, hob das Kinn und lächelte. Das erste Mal sah Paula, wie schön ihre Mutter war. Sie sah nicht mehr die kleine, schüchterne, gebückte Frau im Haushaltskittel, sie sah das Mädchen, das sie früher einmal gewesen sein musste, das hier gelebt und den jungen Männern mit ihrer Schönheit den Kopf verdreht hatte. Irgendetwas war geschehen, hatte aus Hanni Johanna gemacht, sie verändert, sie dazu gebracht, Familie und Heimat den Rücken zu kehren und all ihre Lebensfreude zu verlieren. Paula wurde das Gefühl nicht los, dass sie der Grund dafür gewesen war.
Sie ging die Treppe in ihrem engen schwarzen Bleistiftrock hinunter. Dazu trug sie Bluse und Kostümjacke und fühlte sich damit wie ein Fremdkörper in der Familie. Alle trugen Tracht.
»Na, da sieht man von Weitem, woher du kommst«, bemerkte Gustav mit seiner typischen Übellaunigkeit.
»Meine Tochter ist eine Münchnerin, und das ist gut so«, sagte Johanna, und Paula bemerkte mit Freude, dass die Anwesenheit der Südtiroler Familie ihre Mutter dazu brachte, sie zu verteidigen, was sie normalerweise nicht tat.
»Ich glaube, den Großvater wird’s nicht stören.« Paula und zwinkerte dem mürrischen Onkel zu.
Anna drängte die Familie nach draußen, wo Josef mit dem Pferdegespann auf sie wartete. Paula starrte ungläubig auf die Tiere und den Wagen. Es war grotesk, im Jahr 1961 mit einem Pferdewagen herumzufahren.
»Wir in den Bergen, wir brauchen kein Auto. Ist nur teuer und laut«, sagte Gustav, half den Frauen auf den Wagen und sprang selbst auf den Kutschbock. Der Onkel trieb die Pferde an, den steilen Schotterweg ins Dorf hinunter.
Paulas Blick wanderte über die in der Abendsonne leuchtenden Bergspitzen, die Wälder und Almwiesen und trafen Annas Augen, die auf sie gerichtet waren. Gütige Augen, um die tiefe Fältchen tanzten, wenn sie lachte. Sie hatte das gleiche dunkelblonde Haar wie Paulas Mutter, und obwohl sie sich ansonsten nicht ähnlich sahen, glichen doch Bewegungen, Gesichtsausdruck und Lächeln der Schwestern einander. Anna wandte sich ab, nahm Johannas Hand und drückte sie.
»Wird schon …«, murmelte sie.
Paula hatte das Gefühl, sie sei aus der Zeit gefallen. Nichts in dem Bergdorf erinnerte an das Jahr 1961 – eher an eine lang vergangene Zeit vor dem Krieg. Abgesehen von einigen vereinzelten Lieferwagen und Motorrädern schien die Zeit hier stillzustehen. Die kleinen Läden wirkten in Ausstattung und Warenangebot ebenso antiquiert wie die Mode der Dorfbewohner.
Viele Männer trugen Tracht, die Frauen schwarze Dirndl. Der Tod von Paulas Großvater brachte das ganze Dorf zum Totengebet in die Kirche. Als Paula vom Wagen stieg, zog sie sämtliche Blicke auf sich. Sie bemerkte das Getuschel, sah, wie manche Frauen sich anstießen und auf sie zeigten. Ein Papagei im Taubenschlag.
In der Kirche zogen schwere Schwaden von Weihrauch durch die Bankreihen. Es war düster, kühl und still. Paula folgte ihrer Familie, hielt vor dem dunklen Sarg, der mit Blumenkränzen und Kerzen geschmückt war, bekreuzigte sich und starrte auf die gerahmte Fotografie, die auf einer kleinen Staffelei aufgestellt worden war. Der Großvater, ernster Blick, dichter Bart, dichtes schlohweißes Haar. Sie erinnerte sich nicht an sein Gesicht, doch da war eine frappierende Ähnlichkeit mit Gustav. Wortlos nahm Paula zwischen ihren Verwandten Platz.
Der Priester trat neben den Sarg, verbeugte sich vor dem Verstorbenen und begann mit lauter Stimme zu beten.
»Anfang und Ende. Alles kehrt zurück zum Ursprung. Das Erste und das Letzte – Anfang und Ende. Leben und Tod berühren einander in diesem Augenblick. Wir danken dir Gott, dass Sepp mit uns gelebt hat, für die Freude, die er uns gebracht hat, für das Vertrauen, dass er uns geschenkt hat.«
Paula schielte zu ihrer Mutter, die mit ernster Miene den Worten lauschte. Ein Schwall von Stimmen erhob sich plötzlich zu einem gemeinsamen Gegrüßet seist du, Maria. Paula bewegte ihre Lippen im Chor, nach dem Amen folgte ein Vaterunser.
»Herr, gib Sepp die ewige Ruhe.«
»Und das ewige Licht leuchte ihm.« Und wieder Gegrüßet seist du, Maria, Vaterunser. Das wiederholte sich ganze zehn Mal. Paula hatte noch nie einem Rosenkranzgebet beigewohnt und fand das monotone Heruntersagen der Gebete nach einiger Zeit ermüdend, doch sie wagte nicht zu schweigen. Hier tickten die Uhren anders, hier gebot es der Anstand, mitzubeten. Paula bemerkte die Blicke, die immer wieder auf ihr ruhten. Das moderne München schien ihr noch nie so weit entfernt wie in jener Kirche in dem kleinen Bergdorf über Bozen.
Nach dem Totengebet löste sich die Gemeinschaft rasch auf. Einige kamen, schüttelten Paula und Johanna die Hand, die meisten gingen wortlos an ihnen vorüber.
»Was haben diese Leute gegen dich?«, flüsterte Paula. Ihre Mutter schüttelte den Kopf, sagte nichts und drängte sie hinaus zum Pferdewagen.
»Es sind dumme Leut. Mach dir nichts draus!«
Schweigend fuhren sie zurück zu Gustavs Hof. Längst war die Sonne hinter den Bergspitzen verschwunden. Es war kalt, die Luft feucht. Paula musterte die Gesichter ihrer zwei Cousins, Annas Söhnen.
»Wie lange bleibt ihr?«, fragte Franz, der ältere der beiden.
»Das wissen wir noch nicht, aber …«
»Nicht lange!«, fiel Johanna ihrer Tochter ins Wort, sprang von dem Wagen und ging ins Haus.
Südtirol, April 1921
Alles hatte sich verändert. Niemand sprach mehr davon, dass Johanna die Ausbildung zur Lehrerin machen wollte. Der Vater hatte sich mit der Idee nie anfreunden können, die Brüder hatten sie nur belächelt und ihre Idee als jugendliche Spinnerei abgetan. Es war eine bedrückende Stille eingekehrt. Das sonntägliche Musizieren – die Mutter hatte Hackbrett und Josef Trompete gespielt, das Einzige, was etwas Freude auf dem Hof verbreitet hatte –, war verstummt. Der Vater hatte die Zither, kaum war die Mutter unter der Erde, verkauft.
Johannas Arbeitstag begann vor Sonnenaufgang. Sie hackte Holz, befeuerte den Herd, bereitete die Brennsuppe für die Familie vor. Nach dem Frühstück verließen ihre Schwestern den Hof, um ins Dorf zur Schule zu gehen, und nicht selten sah Johanna ihnen sehnsüchtig nach, wünschte sich, in ihrer Haut zu stecken. Von einem Tag auf den anderen hatte sie Mutters Arbeiten übernommen: Stallarbeit, Melken, Wäsche, Backen, Kochen, Großvater versorgen, Socken stopfen, Stricken. Mit vierzehn konnte Johanna schon kochen, nur das Brotbacken hatte immer die Mutter allein übernommen, und wenn Johanna nun das Feuer zu heiß machte und die Laibe im Ofen verbrannten, wurde der Vater wütend. Sie kratzte dann die verbrannten Stellen von der Kruste und musste die missfälligen Kommentare der Brüder über sich ergehen lassen. Einmal sogar, als sie vergaß, Kartoffeln für die Schweine zur Seite zu legen, fing sie sich eine Ohrfeige ein.
