Tod der Höllenbrut! - Jan Gardemann - E-Book

Tod der Höllenbrut! E-Book

Jan Gardemann

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Beschreibung

Kaja Joystone, eine Frau, die furchterregende Kreaturen aus der Hölle bekämpft, unterliegt ihren Feinden. John Hackney, ihr Butler, muss nun Kajas Tochter Nelly finden, die in einem Londoner Waisenheim aufwuchs. Johns Auftrag lautet, Nelly das Vermächtnis ihrer Mutter zu überbringen, das vorsieht, dass sie in Zukunft an Kajas Stelle die Höllenbrut bekämpfen soll! Doch die siebzehnjährige Nelly lebt unter dem Namen Laura Anderson bei Adoptiveltern in London, und sie kennt ihre wahren Eltern genauso wenig wie die schrecklichen Kreaturen, die sie in Zukunft bekämpfen soll. Das wird sich allerding bald ändern, denn die Höllenbrut ist ihr bereits auf den Fersen …

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Tod der Höllenbrut!

I M P R E S S U M

Tod der Höllenbrut!

von

Jan Gardemann (Autor)

© 2017 Jan Gardemann

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Federheld.com

Inhaber: Jan Gardemann

Gänsekamp 7

29556 Suderburg

Titelgestaltung und Bild: Jan Gardemann

weitere Informationen:

www.federheld.com

facebook: Federheld.com

Vervielfältigung und Nachdruck des Textes und des Covers (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors gestattet.

Kaja Joystone, eine Frau, die furchterregende Kreaturen aus der Hölle bekämpft, unterliegt ihren Feinden. John Hackney, ihr Butler, muss nun Kajas Tochter Nelly finden, die in einem Londoner Waisenheim aufwuchs. Johns Auftrag lautet, Nelly das Vermächtnis ihrer Mutter zu überbringen, das vorsieht, dass sie in Zukunft an Kajas Stelle die Höllenbrut bekämpfen soll!

Doch die siebzehnjährige Nelly lebt unter dem Namen Laura Anderson bei Adoptiveltern in London, und sie kennt ihre wahren Eltern genauso wenig wie die schrecklichen Kreaturen, die sie in Zukunft bekämpfen soll. Das wird sich allerding bald ändern, denn die Höllenbrut ist ihr bereits auf den Fersen …

Inhalt

Smoky

Laura

Bartholomew

Imago

Kaja

Markus

John

Alina

Tatjana

Smoky

Ein Blitz zuckte grell vom Himmel und fuhr in einer Zickzack-Bahn über den nächtlichen Himmel zur Erde hinab. Für Sekundenbruchteile riss die flammende Feuerlanze die Wolkendecke, den Wald und das Castle, das sich mit seinen Türmen, Erkern und Spitzdächern über die Baumwipfel erhob, aus dem Dunkel der Nacht.

Für John Milton, den Butler, der am Salonfenster von Scorce-Castle stand und in die Gewitternacht hinaus starrte, sah es aus, als hätte sich die Wolkenmasse im Flackerschein des Blitzes in ein graues Felsmassiv verwandelt. Er fragte sich, warum die Wolken nicht auf die Erde hinab stürzten und alles, das Castle, den Wald und die Kreaturen, die darin lebten, unter Donnern und Getöse unter sich begruben.

Mit einem lauten Knall schlug der Blitz in eine alte Eiche am Rand der Burglichtung, fetzte lebendes Holz auseinander und spaltete den Baumriesen in zwei Hälften. Rinde und Holzfasern spritzen zu den Seiten weg, und von einem Moment auf den anderen stand die zerteilte Baumkrone lichterloh in Flammen. Ein Donnergrollen rollte über das Castle hinweg, ließ die Scheiben in den Fenstern und das Geschirr in den Vitrinen klirren und scheppern.

John dachte, dass es sich genau so anhören müsse, sollte das Wolkengebirge tatsächlich eines Tages auf die Erde herabstürzen.

Da fegte von Ferne plötzlich eine Sturmbö über den Wald heran. Die Wipfel bogen sich, als würde die Hand eines unsichtbaren Riesen darüber hinwegstreichen und die Bäume niederdrücken. Die Regenschleier zerrissen, Zweige peitschten, Blätter und sogar Vogelnester wirbelten durch die Luft; die Flammen der brennenden Eiche zuckten, als wären sie gezwungen, sich der Melodie eines wahnsinnigen Bauchtanzkomponisten hinzugeben.

Als die Böe das Castle erreichte, jagte sie heulend um die Ecken, schlug mit den Fensterläden und klapperte mit den Dachschindeln. Sie wirbelte die Mauern empor, stürzte in Schächte und in den Hof, zerrte an den Wasserspeiern unter den Dächern. Aus den wie im Schmerz weit aufgerissenen Mäulern der steinernen Dämonenfratzen sprudelten Regenwasserfontänen, die, von der Böe gepackt, zu feinen Nebelschleiern zerstoben und an den dunklen Mauern des Castle hinab wallten.

John verschränkte die Arme vor der Brust. In seinem altmodischen Frack mutete er wie ein Rabe an, den ein missratener Fluch in eine halbwegs menschliche Gestalt gebannt hatte. Sein Haar war schwarz und schimmerte bläulich. Der Butler hatte es zurückgestrichen, und es war so drahtig, dass es in spitz zulaufenden Strähnen hinten vom Kopf abstand. Seine Nase glich einem Schnabel; sie ragte weit aus dem Gesicht, auf dem der Schatten des Fensterkreuzes lag und es verdunkelte. Johns Augen waren kohlrabenschwarz. Das Glühen, das aus der Tiefe der Pupillen hervorschimmerte, rührte nicht bloß vom Widerschein des entflammten Baumes her, den der Butler mit gefurchter Stirn betrachtete.

John wandte den Blick von der Eiche ab und starrte, wie so oft in den letzten Nächten, in denen er vergeblich auf die Heimkunft seiner Herrin gewartet hatte, auf den Waldsaum, wo eine von Schlaglöchern durchsetzte Straße auf die kleine Burglichtung führte.

John liebte die Einsamkeit von Scorce-Castle, das in einer urwüchsigen Gegend in der Grafschaft Hampshire lag und nur etwa fünfzig Kilometer von London entfernt war. Doch jetzt sehnte er sich danach, die Scheinwerfer eines Autos durch die schwankenden Bäume und den Regen hindurchschimmern zu sehen. Mit Erleichterung und klopfendem Herzen hätte er das Näherrücken des Fahrzeuges beobachtet und dem Moment entgegenfiebert, da der schwarze Jaguar seiner Herrin aus dem Wald hervorbrach, über die Lichtung schoss und schließlich mit quietschenden Reifen vor dem Torhaus des Castles stoppte.

Aber in dem Wald blieb es dunkel, wie schon in den Nächten zuvor. John atmete tief durch, um das Gefühl der Furcht und Beklommenheit abzuschütteln. Aber es gelang ihm nicht. Die böse Vorahnung, die Besitz von ihm ergriffen hatte, hielt sein Herz umfangen, wie eine Klaue, die es jeden Moment aus seiner Brust reißen könnte.

Kaja Joystone, so der Name seiner Herrin, hätte schon vor sieben Nächten von ihrem Einsatz zurückkehren müssen. Auch eine Nachricht hatte sie nicht geschickt, wie sie es sonst immer tat, wenn Unvorhergesehenes ihre Heimkunft verzögerte. Dies tat sie zur Not auch mit technischen Hilfsmitteln, wenn es ihr auf magischem Wege nicht gelang – obwohl sie Handys verachtete und einen Computer so nützlich fand wie eine Nasenwarze.

John zog eine Taschenuhr aus seiner Weste. Der Chronometer hing an einer Silberkette; es war ein altes Schweizer Modell, das alle achtundvierzig Stunden aufgezogen werden musste. Die Zeiger verrieten, dass es drei Uhr in der Früh war! Das nächtliche Sommergewitter tobte jetzt schon seit einer halben Stunde.

John seufzte, und er fragte sich, ob er nicht zu Bett gehen und versuchen sollte zu schlafen. Unschlüssig sah er wieder aus dem Fenster – und verengte plötzlich die Augen: In der Nähe der gespaltenen Eiche, deren Flammen vom Regen inzwischen fast erstickt worden waren, löste sich ein Schatten aus dem Waldsaum und bewegte sich auf das Castle zu.

Der Butler beugte sich vor, bis seine Nasenspitze gegen die Fensterscheibe stieß. Das rauchgraue Knäuel, das da die seichte Anhöhe heraufgestolpert kam, war nicht größer als ein Fußball. Tatsächlich kullerte es auch mehr über den Boden, als dass es sich auf seinen vier Beinen fortbewegte. Es war eine Katze. Die Sturmböen rissen das arme Tier immer wieder um und trieben es als trudelndes Fellbündel auf das Castle zu.

„Smoky“, flüsterte John, als er in dem Tier den Kater seiner Herrin erkannte. Während der Einsätze befand sich Smoky stets an Kajas Seite. Die beiden waren unzertrennlich!

Hektisch stopfte John die Uhr zurück in die Westentasche; seine dürren Finger verhedderten sich dabei in der Silberkette. Er fluchte, bekam seine Hand wieder frei und eilte aus dem Salon.

Draußen auf dem Korridor war es stockdunkel. Aber John benötigte kein Licht; er kannte das Castle in und auswendig und hätte sich auch mit geschlossenen Augen sicher darin bewegen können. Er hastete an der Ahnengalerie vorbei und auf die Marmortreppe zu, deren Stufen fahl in der Dunkelheit schimmerten und in einem weiten Bogen zur Eingangshalle hinab führten.

Der Butler hielt direkt auf das Geländer zu, hüpfte hoch und landete mit ausgebreiteten Armen rittlings auf dem breiten Handlauf. Die Frackschöße flatterten und rauschte, während er, immer schneller werdend, das Geländer hinabrutschte. Bevor er der Kugel am Ende des Handlaufes zu nahe kam, glitt er geschickt vom Geländer hinab. Der Schwung trug ihn über die letzten Stufen hinweg; er kam mit den Füßen auf, ruderte mit den Armen und schlidderte auf den Schuhsohlen noch ein Stück über das gebohnerte Mosaik des Marmorfußbodens.

Als er wieder sicheren Stand hatte, stürmte er auf die Eingangstür zu: ein doppelflügeliges, düsteres Ungetüm aus massiver Eiche und von oben bis unten mit länglichen Dämonenfratzen verziert.

John riss die Türflügel mit solchem Ungestüm auf, dass die Scharniere vor Protest aufschrien. Eine Windböe erfasste den Butler, peitschte Regen und Laub in sein Gesicht und in die Eingangshalle hinein.

John riss den Arm schützend vor seinen Kopf. Dann stemmte er sich gegen den Wind und stapfte auf den Burghof hinaus.

Das Kopfsteinpflaster war glitschig und schimmerte vor Nässe; die Burgmauern, von deren Wehrgängen Sturzbäche in den Hof niederprasselten, ragten ringsum wie Klippen in den Himmel. John stolperte an seinem sandfarbenen Rolls Royce vorbei, der vor den Stallungen parkte, und warf sich schließlich in den Schutz des Torhauses.

Augenblicklich machte sich der Butler an der Kurbel für das Fallgitter zu schaffen. Trotz seines schmächtigen Körperbaus bereitete es ihm keine Schwierigkeiten die altertümliche Kurbel herumzudrehen. Eine Kette wickelte sich auf die Spule und das schmiedeeiserne Gitter, das den Durchgang des Torhauses versperrte, wurde langsam in die Höhe gehoben. Der Mechanismus rasselte, knirschte und ächzte, dass es in dem Torhaus nur so widerhallte. Als unter dem Gitter ein Durchschlupf entstanden war, arretierte John die Kurbel und tauchte unter den spitz zulaufenden Enden der Gitterstäbe hindurch.

Unter seinen Schuhen knirschte der Schotter, während er sich auf der anderen Seite des Fallgitters wieder aufrichtete. Er stemmte sich gegen den Sturm, wandte sich nach rechts und rannte außen an der Burgmauer entlang, bis er die andere Seite des Komplexes erreichte, wo sich hoch oben in der düsteren, zerfurchten Fassade das Salonfenster befand, von dem aus er das Gewitter beobachtet hatte.

Es dauerte nur wenige Augenblicke und John war bis auf das Unterzeug durchnässt. Sein Frack schimmerte bläulich, Regenwasser rann von den Schößen herab.

Ohne Atem zu schöpfen oder sich das Wasser aus dem Gesicht zu wischen stolperte John die Böschung hinab auf die brennende Eiche zu.

Im Licht des ersterbenden Feuers sah John den Kater im Gras liegen. Das Tier hatte sich zusammengerollt und regte sich nicht mehr. Der Wind fuhr durch sein klatschnasses Fell, so dass es aussah, als würde es sich unter Todesfurcht sträuben.

John warf sich neben dem Kater auf die Knie und beugte sich über das Tier. Seine Finger strichen sanft durch das triefende Fell, tasteten nach Wunden und gebrochenen Knochen.

Smoky hatte ein Auge verloren, wie John nun bemerkte. Eine frische Narbe verlief quer über das Antlitz des Katers; sie hatte eine Furche über den Nasenrücken gezogen und das Lid gespalten. Es stand halb offen, so dass John die leere Höhlung dahinter deutlich erkennen konnte.

Zudem hatte Smoky sich einige Rippen gebrochen. Auch der linke Hinterlauf schien zertrümmert. Aber der Kater atmete noch, und das ließ den Butler hoffen. Er würde ihn in wenigen Stunden wiederhergestellt haben.

Was John viel größere Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass Smoky ohne Kaja nach Scorce-Castle gekommen war. Smoky würde bis zum letzten Atemzug an der Seite seiner Herrin kämpfen, wenn es sein musste. Aber niemals würde er Kaja im Stich lassen und davonrennen!

John spähte zum Waldsaum hinüber, Regen rann ihm über das Gesicht.

„Kaja?“, brüllte er gegen das Heulen des Sturmes an. „Kaja – bist du da irgendwo?“

Da hob Smoky plötzlich eine Pfote und legte sie in Johns Hand. Mit seinem gesunden Auge blickte er zwischen halbgeschlossenen Lidern zu dem Butler auf und ließ ein klägliches Miauen vernehmen.

John starrte den Kater an und schluckte trocken. Seine bösen Vorahnungen verdichteten sich zur schrecklichen Gewissheit: irgendetwas Furchtbares musste mit seiner Herrin geschehen sein, und er tat gut daran, schnell wieder in den Schutz des Castles zurückzukehren!

Behutsam nahm er den Kater auf, schützte ihn mit seinem Körper vor Wind und Regen und stapfte auf das Castle zu. Im Schutz der Umfriedungsmauer eilte er zur Stirnseite der Burg zurück, und nachdem er unter das Fallgitter hindurchgetaucht war, löste er die Arretierung der Kurbel, indem er ihr kurzerhand einen Tritt verpasste.

Unter lautem Gerassel rauschte das Gitter herab und grub seine Spitzen mit einem Knall in die Aussparungen im Boden.

Smoky zuckte bei dem Lärm nicht einmal zusammen. Doch der Widerschein haarfeiner Blitze geisterte kurz über sein nasses Fell hinweg. Die Lichterscheinungen waren entstanden, als mit dem Zuschnappen des Fallgitters auch die magische Barriere wieder geschlossen wurde, die das Castle vor dem Feind schützte.

Für einen Moment spannte sich eine Kuppel flirrender, tanzender Blitze über das düstere Gebäude und erlosch dann wieder.

Eiligen Schrittes überquerte John den Hof und huschte wie ein Schatten in das Haupthaus. Er nahm sich nicht einmal die Zeit die Eichentür hinter sich wieder zu schließen. Stattdessen stürmte er auf eine der Türen zu, die von der Eingangshalle abzweigten, öffnete sie mit dem Ellenbogen, stolperte in das Zimmer und legte den klatschnassen Kater auf ein Kanapee, ungeachtet, dass er das antike Möbelstück dadurch wahrscheinlich ruinierte.

Smoky atmete einmal tief durch, als spürte er, dass er nun in Sicherheit war. Sein Brustkorb hob und senkte sich und seine Ohren stellten sich zitternd auf. Doch zu weiteren Regungen schien ihm die Kraft zu fehlen.

John ging vor dem Kanapee in die Knie. Vorsichtig nahm er den Kopf des Katers zwischen seine Hände und legte das gesunde Auge des Tieres bloß, indem er mit dem Daumen das Lid empor zog.

„Gleich werden wir wissen, was dir zugestoßen ist“, murmelte er.

Dann versenkte er seinen Blick tief in die ovale Katzenpupille. Das Glühen in Johns Augen wurde noch eine Spur intensiver, als er mit seinem Geist behutsam in Smokys Bewusstsein vordrang.

Der Butler krauste die Stirn, Schweißperlen traten ihm aus den Poren und vermischten sich mit dem Regenwasser auf seinem Gesicht. Doch so sehr er sich auch konzentrierte und in dem Gehirn des Katers forschte, er fand dort lediglich ein paar verwaschene Bilder von Smokys Flucht. Er sah schemenhafte Umrisse von Hügelketten, Wäldern und Gehöften, an denen der Kater sich vorbeigeschleppt hatte. Doch die Szenen waren so unbestimmt und unklar, dass John mit ihnen nichts anzufangen wusste.

Dort, wo die Erinnerung an die Geschehnisse ruhen sollte, die sich vor Smokys Flucht zugetragen hatten, herrschte in dem Gehirn des Katers nur eine schreckliche Leere!

John fruchte die Stirn: Smoky schien keinerlei Erinnerungen an die zurückliegende Mission und den Kampf zu besitzen, der sicherlich stattgefunden hatte!

Diese Erkenntnis ließ den Butler fast verzweifeln, und er überlegte fieberhaft, welche Erklärung es für das Fehlen der Erinnerungen gab.

Zwei Möglichkeiten kamen ihm in den Sinn: Entweder hatte der Feind das Gehirn des Katers manipuliert, oder Kaja hatte es selbst getan!

Da John den Feind kannte und wusste, dass er sich kaum die Mühe machen würde, einem Tier die Erinnerung zu rauben, wenn es einfacher war, es zu töten, vermutete er, dass die zweite Möglichkeit zutreffend war.

Kaja Joystone musste Smokys Erinnerung aus irgendeinem Grund ausgelöscht haben!

Ohne den Blick von dem Auge des Katers abzuwenden, bewegte John langsam seinen Kopf um die Anspannung loszuwerden, die seinen Geist gefangen hielt. Die Wirbel in seinem Nacken knackten vernehmlich.

Währenddessen versuchte er sich vorzustellen, was Kaja dazu veranlasst haben könnte, Smokys Gehirn zu beeinflussen. Die einzige Schlussfolgerung, die ihm einfiel, war, dass seine Herrin hatte verhindern wollen, dass ihr Butler erfuhr, was mit ihr geschehen war. Sie wusste von seinen übersinnlichen Fähigkeiten und hatte sich denken können, dass John versuchen würde, Smokys Erinnerungen zu ergründen, wenn er ohne Kaja zum Castle zurückkehrte.

John war verwirrt. Er konnte sich keinen Reim auf das Verhalten seiner Herrin machen. Warum wollte sie nicht, dass er erfuhr, was ihr zugestoßen war? Denn das Kaja etwas Schreckliches widerfahren war, das verriet Smokys Zustand unzweifelhaft.

Da stieß sein tastender Geist in einem dunklen Winkel in Smokys Bewusstsein plötzlich auf einen fahlen Fleck.

Eine steile Falte wuchs von der Nasenwurzel ausgehend bis zu seinem Haaransatz empor, als der Butler versuchte mit seinem Geist in den Erinnerungsfetzen einzudringen. Der Flecken war jedoch von einer mentalen Barriere umgeben, die eindeutig Kajas Handschrift trug.

John tastete den Fleck mit seinen Gedanken ab, übte mit der Kraft der Konzentration Druck auf die Barriere aus – und plötzlich gab die Mentalmembrane nach und John drang mit seinem Geist mühelos in die Helligkeit des Erinnerungsfetzens vor.

Im selben Moment vernahm John in seinem Kopf plötzlich die Stimme seiner Herrin. Wie immer klang sie, als hätte Kaja die Nacht hindurch zottige Lieder in einem verrauchten Pub gesungen. Doch die Stimme war schwach, wie das Flüstern eines Menschen, der im Sterben lag.

„Wenn du diese Nachricht erhältst, bin ich bereits tot“, wisperte es in Johns Schädel. „Du weißt, was du in diesem Fall zu tun hast: Suche meine Tochter! Sie soll meine Stelle einnehmen. Smoky wird dich zu ihr führen. Er allein vermag es, Nelly aufzuspüren. Lebe wohl, Fringer. Und viel Glück!“

Damit endete die Nachricht; der Erinnerungsfleck in Smokys Bewusstsein verblasste und war im nächsten Moment aus seinem Gehirn ausgelöscht.

Johns Hände hatten zu zittern begonnen. Er zog sie von dem Kater zurück und presste sie gegen das regennasse Gesicht.

Für ihn bestand kein Zweifel, dass die Botschaft in Smokys Gehirn wirklich von Kaja stammte und nicht von dem Feind in ihn eingepflanzt worden war, um ihn zu täuschen. Nur Kaja kannte Johns haljanischen Namen; sie hatte ihn absichtlich in die Botschaft eingebaut, um alle Zweifel über die Echtheit der Nachricht auszuräumen.

Kaja ist tot! Dieser Gedanke füllte John bis in den letzten Winkel seines Denkens aus. Ein Weinkrampf schüttelte den Butler; er sank, wie von einer Lanze gefällt, seitlich zu Boden, wo er zusammengekrümmt und wimmernd liegen blieb.

Noch nie in seinem Leben hatte John geweint. Doch jetzt sprudelten die Tränen nur so aus ihm hervor, als wollte er dem Unwetter draußen Konkurrenz machen. Johns schlimmste Befürchtung war eingetreten: Der Feind hatte Kaja Joystone besiegt und ermordet! Es gab nun niemand mehr, der den Haljanern die Stirn bieten könnte. Die Erde, sie war verloren. Die Haljaner würden sie Stück für Stück langsam in eine Hölle verwandeln!

Aber so ganz stimmte das nicht! Es dauerte allerdings, bis dieser Gedanke sich einen Weg durch die Trauer und die Verzweiflung bahnen und in Johns Bewusstsein vordringen konnte. Kaja hatte ja eine Tochter: Nelly. John musste sie finden und ihr begreiflich machen, dass sie den Kampf ihrer Mutter fortführen musste!

Langsam versiegte der Tränenstrom und John richtete sich benommen auf. Mit verquollenen Augen starrte er auf den Kater hinab. Smoky atmete flach, und nur seine Schwanzspitze zitterte ein wenig.

„Du musst mich zu Nelly führen“, kam es rau über Johns Lippen. „Scorce-Castle braucht eine neue Herrin – und die Erde eine Streiterin wider die Haljaner!“

Noch deutlich konnte John sich an Nelly, das kleine Menschenbündel, erinnern, das er vor knapp siebzehn Jahren während einer Vollmondnacht in den Schlafsaal eines Londoner Waisenheims geschmuggelt hatte.

John hatte Kaja ein Jahr vor diesem Waisenhausbesuch bei der Entbindung geholfen. Diese mutige Frau, die weder Haljaner noch sonst irgendeine Gefahr gefürchtet hatte, hatte weder einen Arzt noch eine Hebamme in ihrer Nähe geduldet. John war der einzige, dessen Gegenwart sie während der Wehen ertragen konnte.

Doch es hatte für den Butler nur wenig Arbeit gegeben. Kaja hatte instinktiv gewusst, was sie tun musste, um ihre Tochter zur Welt zu bringen.

Nachdem Nelly geboren war, hatte John die Nabelschnur durchtrennt und das kleine schreiende Bündel Kaja an die Brust gelegt.

Zwölf Monate hatte Kaja ihre Tochter bei sich behalten. Die düsteren Hallen von Scorce-Castle hatten sich in dieser Zeit mit dem Geschrei und dem glucksenden Gelächter des Babys gefüllt und dem Ort viel von seiner unheimlichen Atmosphäre genommen. John hatte Windeln waschen und Bäder zubereiten müssen. Er hatte Nelly auf dem Arm getragen und sich an ihren grünen Augen, dem rotbraunen Haar und ihrem süßen Lächeln, nicht satt sehen können.

Dann war die Nacht gekommen, in der Kaja ihm Nelly das letzte Mal überreichte. Sie hatte das Baby in eine flauschige Decke gehüllt und trug John auf, ihre Tochter heimlich in einem Londoner Waisenheim unterzubringen.

Dies alles lag nun knapp siebzehn Jahre zurück. John wusste weder, was aus Nelly geworden war, noch, ob sie der Aufgabe, die ihr nun bevorstand, überhaupt gewachsen war.

Kaja hatte ihm all die Jahre verboten, Nelly zu besuchen oder sie zu beobachten. Der Feind hätte auf sie aufmerksam werden und sie töten können. John hatte nicht den blassesten Schimmer, wo Nelly jetzt lebte.

Aber er würde es herausfinden – mit Smokys Hilfe!

Der Butler straffte sich und streckte die Hände über dem Kater aus. Dann konzentrierte er sich auf seine Kräfte und ließ sie auf Smoky einwirken.

Langsam begann sich die Narbe auf Smokys Gesicht zu schließen. Die gebrochenen Rippen wuchsen zusammen und auch der zertrümmerte Hinterlauf heilte.

Allein das verlorene Auge vermochte John mit seinen bescheidenen Kräften nicht wieder zu ersetzen.

Laura

Als Laura Anderson erwachte, spürte sie Tränen auf ihren Wangen. Sie hatte einen Traum gehabt, der so intensiv und eindringlich gewesen war, dass sie sich nun scheute, die Augen zu öffnen, aus Angst, die alltäglichen Sinneseindrücke könnten die Erinnerung an den Traum verblassen lassen.

Sie hatte vom Fliegen geträumt – wie schon so oft. Mit ausgebreiteten Armen war sie über eine wunderschöne gartenähnliche Landschaft geflogen, die sich von einem Horizont zum anderen erstreckte und von einem blitzblauen Himmel überspannt wurde.

In den Wäldern und auf den Wiesen und Seen hatte sie verschiedene fremdartige Tiere beobachtet; sie schienen in friedlicher Eintracht zusammenzuleben, grasten, tranken, tollten herum oder lagen einfach nur in der Sonne. Hier und da waren die Tiere in zärtlichem Liebesspiel gefangen oder paarten sich. Aber nirgendwo fand ein Kampf statt, oder wurden Rivalitäten ausgefochten. Es war eine friedliche, glückliche Welt. Sie hatte sogar einen Namen. Laura hatte ihn mehrmals in ihren Träumen vernommen, wenn der Wind flüsternd um ihren dahinfliegenden Körper gestrichen war:

Ejdyn!

Doch diesmal hatte der Traum ein erschreckendes Ende gefunden. In dem makellos blauen Himmel von Ejdyn hatte sich eine dunkle Wolke gebildet. Wie ein Klumpen Dreck schwamm sie in dem leuchtenden Blau. Sie ballte sich zusammen und wurde schließlich so dunkel, als hätte die Nacht sich im Himmel von Ejdyn ein Einfallsloch geschaffen. Zu spät bemerkte Laura den Sog, der von der Wolke ausging. Verzweifelt schlug sie mit den Armen und strampelte mit den Beinen, um der Anziehungskraft der Wolke zu entrinnen. Aber sie schaffte es nicht, sondern raste stattdessen hilflos zu dem nachtschwarzen Ungetüm empor.

Laura überschlug sich in ihrem Traum und trudelte durch die Luft. Ihr wurde schwindelig und sie wusste nicht mehr, wo oben und unten, links und rechts war. Im selben Moment, da die Wolke sie verschluckte, ahnte Laura, dass sie Ejdyn nie wiedersehen würde. Sie erwachte ...

Wie betäubt lag Laura auf dem Rücken in ihrem Bett und kniff die Augen zu. Sie hatte das Gefühl, soeben einen großen Verlust erlitten zu haben. Auch das Wissen, dass es doch nur ein Traum gewesen war, konnte dieses Gefühl nicht abschwächen.

„Ejdyn“, murmelte sie schlaftrunken und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen. Schließlich blinzelte sie und sah sich um.

Der vertraute Anblick ihres Zimmers übte eine ernüchternde Wirkung auf sie aus und brachte sie langsam in die Wirklichkeit zurück.

An den lachsfarbenen Wänden hingen Poster ihres Lieblings-Rappers und einiger Hip-Hop-Bands; auf dem obersten Brett eines Regals, das vor Büchern und Zeitschriften über Musik und Mode fast überquoll, waren Kuscheltiere in einer säuberlichen Reihe aufgebaut. Laura spielte schon lange nicht mehr mit diesen Tieren, schließlich war sie bereits siebzehn. Aber sie brachte es trotzdem nicht übers Herz, ihre einstigen Lieblinge in einen Karton zu sperren und auf den Dachboden zu verbannen.

Der Schreibtisch unter dem Fenster, durch dessen Vorhang trübes Morgenlicht sickerte, war mit Schulbüchern und Arbeitsheften übersät. Auch ein Computer stand darauf. An der Wand daneben hing ein gerahmtes Foto. Es zeigte Laura zwischen ihren Adoptiveltern und war erst vor einigen Wochen aufgenommen worden: Lauras rotbraunes Haar fiel glatt bis auf die Schultern herab, und an den Stellen, wo sich Sonnenstrahlen darin verfangen hatten, wirkte das Haar, als würde es glühen. Laura hatte den Kopf schief gelegt, und ihre grünen Augen waren unverwandt auf den Betrachter gerichtet.

Da bewegte sich neben Laura plötzlich etwas im Bett. Erschrocken fuhr sie herum – und starrte direkt in das Gesicht eines schlafenden Jungen. Sein dunkles Haar war zerzaust, die Bettdecke halb von seinem Oberkörper gerutscht. Seine Schultern waren ausladend und unter der Haut seiner Arme wölbten sich Muskelstränge.

„Markus“, flüsterte sie gedehnt.

Während sie diesen Namen aussprach, stieg die Erinnerung an die vergangene Nacht mit aller Macht wieder in ihr hoch. Sie errötete, und ihr Atem wurde vor Aufregung ganz flatterhaft.

Unwillkürlich hielt sie die Luft an und lauschte erschrocken auf verdächtige Geräusche im Haus. Aber aus der Küche drang weder das Geklapper von Geschirr, noch war im Wohnzimmer das Radio zu hören. Jetzt erst erinnerte sie sich, dass ihre Adoptiveltern ja seit drei Tagen fort waren. Der Chef der Softwarefirma, für die sie arbeiteten, hatte sie auf eine Fortbildung nach Liverpool geschickt. Mit ihrer Rückkehr war erst in zwei Tagen zu rechnen!

Laura atmete tief durch und versuchte sich zu entspannen. An ihren Traum verschwendete sie nun keinen Gedanken mehr. Sie war sogar ein wenig verärgert, weil der Traum ihren Geist so weit fortgetragen hatte, dass sie sich beim Erwachen nicht sofort an die Ereignisse der vergangenen Nacht erinnert hatte.

Sie drehte sich zu Markus um und kuschelte sich in das Kissen, so dass sie seinem Gesicht nun ganz nahe war. Sein fremder, herber Geruch berauschte sie, und die Wärme, die er im Schlaf ausstrahlte, gab ihr das Gefühl von Schutz und Geborgenheit.

Zärtlich legte sie einen Arm um seine Schulter und rüttelte daran.

Markus gab ein mürrisches Brummen von sich, traf aber keine Anstalten, die Augen zu öffnen. Laura vermutete, dass er noch zu schlaftrunken war, um zu begreifen, wo er sich befand. Sie reckte ihren Hals und küsste seine Lippen.

Markus zuckte zurück und riss die Augen auf. „Laura!“, sagte er und krauste die Stirn. Dann stahl sich ein Leuchten in seine Augen und er grinste breit. „Mann, war das eine Nacht“, sagte er. „Mit keinem Mädchen habe ich bisher so etwas erlebt.“

„Ich bin kein Mädchen mehr“, erklärte Laura und lächelte hintersinnig. „Seit gestern Nacht, um genau zu sein. Ich hoffe, du erinnerst dich noch daran.“

„Diese Nacht werde ich bestimmt in meinem ganzen Leben nicht vergessen“, erwiderte Markus und richtete sich in dem Bett auf. Als er den Wecker auf dem Nachtschränkchen entdeckte, griff er danach und starrte auf das Ziffernblatt. „Schon kurz nach sieben!“, rief er alarmiert. „Wir müssen los zur Schule!“

Laura nahm ihm den Wecker aus der Hand und stellte ihn mit Nachdruck zurück auf den Nachtschrank. Dabei berührten sich ihre Körper, und in Laura erwachte von neuem das Verlangen, Markus ganz nahe bei sich zu spüren.

Aber Markus schob sie von sich. „Wir müssen hoch“, sagte er bestimmt. „Die Schule fängt bald an. Uns bleibt kaum noch Zeit zum Duschen.“

Laura seufzte und ließ sich in das Kissen zurückfallen. „Wollen wir heute nicht lieber – schwänzen?“, schlug sie vor und setzte ein Cowboygrinsen auf.

„Ein andermal gerne“, erwiderte Markus zerstreut. Er schwang rasch die Beine aus dem Bett, als befürchtete er, Laura könnte ihn doch noch umstimmen. „Wir schreiben heute eine Matheklausur - schon vergessen?“

„Du bist bestimmt der einzige Kerl, der seine Geliebte wegen einer Matheklausur verschmäht.“ Laura verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sie hatte mit Bedacht bloß Geliebte und nicht Freundin gesagt, denn eigentlich ging sie gar nicht mit Markus. Vor dieser Geschichte hatten sie sich in der Schule kaum Beachtung geschenkt.

„Schmollst du jetzt etwa?“, fragte Markus und hielt nach seinen Boxershorts Ausschau, die er schließlich in einem Klamottenknäuel vor dem Fußende des Bettes entdeckte.

Laura lächelte und schüttelte das Haar. „Nicht wirklich“, sagte sie und beobachtete, wie Markus in die Boxershorts stieg. „Ich staune bloß, wie vernünftig du sein kannst. Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.“

„Ich bin in Mathe nicht gerade eine Leuchte“, rechtfertigte er sich. „Wenn ich wieder eine Klausur verhaue, werde ich die Versetzung nicht schaffen. Aber Dank deiner Hilfe habe ich jetzt eine echte Chance, meine Note zu verbessern. Ich wäre ein Idiot, wenn ich diese Gelegenheit sausen lassen würde.“

Er zuckte mit den Schultern. „Es war komisch“, meinte er dann gedankenversunken. „Alles, was du mir gestern über Algebra erklärt hast, habe ich irgendwie verstanden. Frag nicht, warum.“

„Ich hatte eher den Eindruck, du würdest dich mehr für mich, als für Mathematik interessieren“, warf Laura ein. Sie tat Markus damit Unrecht, denn schließlich war sie es gewesen, die ihn von dem Lernstoff abgelenkt hatte. Aber es machte ihr Spaß, ihn ein wenig aufzuziehen.

Markus stemmte die Hände in die Hüften. „Es fällt ja auch schwer, sich auf Zahlen zu konzentrieren, wenn einem ein hübsches Mädchen gegenüber sitzt die schmachtende Blicke verschießt.“

Laura sah verlegen zur Seite. Sie war selbst ein wenig über ihr Verhalten erschrocken. Eigentlich hatte sie mit Markus wirklich nur für die Matheklausur üben wollen. Er hatte sie inständig darum gebeten, weil sie Klassenbeste in Mathe war und seine Versetzung auf dem Spiel stand, wenn er wieder eine Arbeit in den Sand setzte. Darum hatte sie ihn zu sich nach Hause eingeladen.

Tatsächlich hatten sie sich auch mehrere Stunden intensiv mit Mathematik beschäftigt. Markus war ganz konzentriert gewesen und hatte Laura kaum eines Blickes gewürdigt. Auch Laura war in ihrer Rolle als Lehrerin voll und ganz aufgegangen. Doch dann fing sie plötzlich an, Markus mit anderen Augen zu sehen. Er kam ihr so aufregend und männlich vor – außerdem roch er so gut.

Diese Feststellung verwirrte sie anfangs, brachte ihre Nerven auf der anderen Seite aber so sehr zum Prickeln, dass sie sich schließlich eingestehen musste, dass sie sich unwiderstehlich zu Markus hingezogen fühlte. Sie sehnte sich nach seiner Nähe, wollte von ihm berührt werden, seine Haut auf der ihren spüren. Ganz wie von selbst hatte sie angefangen, ihre Verführungskünste an ihm zu proben. Das ganze endete darin, dass sie beide in ihrem Bett landeten und die ganze Nacht darin verbrachten.

„Sieh mich nicht wieder so schmachtend an“, beschwerte Markus sich in gespieltem Ernst und riss Laura aus ihren Gedanken. „Du bringst es sonst noch fertig, dass ich meine guten Vorsätze vergesse und wieder zu dir ins Bett krieche.“

„Okay!“ Laura seufzte schicksalsergeben, schlug die Bettdecke zurück und verließ das Bett. „Gehen wir also zur Penne.“

„Wir müssen so oder so zum Unterricht erscheinen“, setzte Markus noch einen obendrauf, als hätte er für heute sein Pensum an Vernunft nicht schon übererfüllt. „Jeder in der Schule wird sich denken können, was zwischen uns war, wenn wir nicht zum Mathematikunterricht kommen. Man wird sich über uns das Maul zerreißen – und schließlich werden deine Eltern Wind davon bekommen.“

Markus wies auf das zerwühlte Bett. „Was meinst du, werden Alina und Albert tun, wenn sie herausfinden, was wir gestern Nacht in deinem Zimmer getrieben haben?“

„Sie sind nicht meine Eltern“, stellte Laura trotzig richtig. „Ich bin bloß ihr Adoptivkind.“

Sie schielte zu dem Foto an der Wand hinüber, das sie zwischen ihren Adoptiveltern zeigte. Alina, ihre Ziehmutter, war blondhaarig und eine zierliche Erscheinung mit schmalem Gesicht. Albert, Alinas Mann hingegen war untersetzt, hatte dunkles schütteres Haar und breite Hände, die ihm bei der Bedienung der Computertastatur manchmal hinderlich waren.

Laura liebte die beiden; sie waren wie richtige Eltern für sie – mit all den Tief- und Höhepunkten die dazugehörten. Es ärgerte sie jedoch maßlos, dass Markus ihre Adoptiveltern erwähnte, damit sie endlich zur Vernunft kam.

„Egal, was deine Eltern für dich sind“, sagte er. „Wir werden auf jeden Fall eine Menge Ärger kriegen, wenn sie erfahren, was hier gestern Nacht los war.“

„Bist du jetzt endlich fertig?“, fragte Laura entnervt und wickelte die Bettdecke um ihren Körper. „Ich werde langsam sauer!“

Markus kam um das Bett herum, ergriff ihre Schultern und zog sie an sich. „Lass uns nicht streiten“, meinte er versöhnlich. Mit einem Kopfnicken deutete er zu der Tür, hinter der das kleine Badezimmer lag, das Albert für Laura dort einrichten ließ, als es immer unübersehbarer war, dass sie sich zu einer jungen Frau entwickelte. „Wir gehen jetzt unter die Dusche und anschließend fahren wir wie zwei ganz brave Collegeschüler in die Victoria-School.“

Laura seufzte und schlang die Arme um Markus Nacken. Von unten herauf sah sie ihm in die Augen, die braun und von geheimnisvoller Dunkelheit erfüllt waren.

„Ich hatte heute Nacht einen wunderbaren Traum“, seufzte sie. „Ich war darin genau so glücklich, wie in deinen Armen. Ich hoffe, wir können das irgendwann einmal wiederholen.“

Das traurige Ende des Traumes erwähnte sie lieber nicht.

„Klar werden wir das“, erwiderte Markus leichthin, der nicht merkte, dass Laura ein wenig schwermütig geworden war. „Ich bin doch nicht blöd und lass mir so etwas entgehen!“

„Liebst du mich denn?“ wollte sie plötzlich wissen.

Markus zuckte unschlüssig mit den Schultern. „Vielleicht“, sagte er ausweichend und grinste verlegen. „Und du? Liebst du mich denn?“

„Kommt darauf an, was die Zukunft so bringt“, erwiderte Laura. Sie ließ die Bettdecke von ihrem Körper gleiten, nahm Markus bei der Hand und zog ihn in das Badezimmer. „Beeilen wir uns lieber!“, sagte sie, froh, das Thema wieder fallenlassen zu können. „Wir werden sonst wirklich noch zu spät kommen!“

***

Schulter an Schulter saßen Laura und Markus im oberen Stockwerk des Doppeldeckerbusses und sahen verträumt auf das hektische Treiben in den Straßen von London hinab. Der Routemaster-Bus schob sich in einer langsam dahinkriechenden Kolonne hupender Autos, Lastwagen und Taxen durch den Stadtverkehr. Auf den Gehwegen hasteten Menschen an den Geschäften und Kaffees vorbei. Männer und Frauen in feinen Anzügen und mit Aktentaschen unter dem Arm waren dort ebenso anzutreffen, wie Mädchen und Jungen in modischen Klamotten. Obdachlose hatten ihre Habe geschultert und schlenderten noch leicht benommen durch die Menge, während sie von den Passanten, die es weitaus eiliger hatten als diese, Stöße und Knuffe einstecken mussten. Laura sah Kids mit schrill gefärbtem Haar und Piercingringen in Nasen und Augenbrauen; andere waren eher einfach oder konservativ gekleidet. Es gab Leute mit dunkler Haut und welche, die so bleich wie Gespenster waren.

Laura liebte den Anblick der überfüllten Straßen und fühlte sich inmitten des brodelnden Großstadtlebens pudelwohl. Sie lebte gern in London, wenn ihr der Lärm der Stadt manchmal auch auf die Nerven ging.

In diesem Moment blieb der Bus vor einer roten Ampel stehen. Müßig folgte Laura mit ihren Blicken einer jungen Frau. Sie trug einen eleganten Herrenanzug und hatte einen Homburg, einen runden, altmodischen Hut, aufgesetzt. Unter der hochgebogenen Hutkrempe lugten blonde Korkenzieherlocken hervor, die bei jedem Schritt lustig auf und nieder wippten.

Da bemerkte Laura inmitten der Menschenmenge plötzlich eine seltsame Gestalt. Es handelte sich um einen älteren Herrn in einem abgewetzten schwarzen Butlerfrack, dessen Schöße so lang waren, dass sie dem Mann bis über die Kniekehlen reichten. Er trug eine graue Katze auf dem Arm, der er mit der freien Hand kosend über den Kopf strich.

Plötzlich bleckte die Katze die Zähne und verzog das Gesicht. Der Mann blieb abrupt stehen und blickte sich aufmerksam um, als würde er nach jemand Ausschau halten.

Laura erstarrte, als sie einen Blick in das Gesicht des Mannes erhaschte. Sein schwarzes, blauschillerndes Haar war ihr schon merkwürdig vorgekommen, denn es war streng zurückgekämmt und stand hinten weit vom Kopf ab. Das Haar war so starr, dass Laura sich fragte, ob es überhaupt echt war und nicht in Wahrheit eine Kappe aus schwarzlackiertem Metall, an dessen spitzen Enden sich jeder verletzen musste, der damit in Berührung kam.

Noch viel merkwürdiger aber war das Gesicht des Mannes. Laura fiel zuerst die Nase auf. Mit ihrem langen Rücken, der zur Spitze hin leicht gekrümmt war, erinnerte sie Laura an einen Rabenschnabel. Unter den buschigen Brauen ruhten zwei kohlschwarze Augen. Sie lagen tief in den Höhlen und schienen von innen heraus zu glühen, als befänden sich Leuchtdioden darin.

Skurrile Falten übersäten das Gesicht des Mannes; sie waren so tief, dass die Haut in Lappen und Fransen herabhing; sie schlackerten hin und her, während der Mann sich unter den vorbeihastenden Menschen umblickte.

„Was hast du?“, fragte Markus, dem aufgefallen war, dass Laura sich in ihrem Sitz versteift hatte.

Sie deutete mit dem Zeigefinger nach draußen. „Kuck dir nur einmal diesen Mann an“, sagte sie unbehaglich. „Er sieht entsetzlich aus. Aber keiner schenkt ihm Beachtung.“

Markus beugte sich über Laura und schaute in die angegebene Richtung. „Wen meinst du?“

Laura warf Markus einen skeptischen Blick zu. „Willst du mich verarschen?“, fragte sie. „Ich spreche von dem Kerl, mit der Katze auf dem Arm!“

Sie konnte es nicht fassen, dass Markus der Mann nicht sofort aufgefallen war, denn er sah wirklich zum Fürchten aus.

„Ach, den“, sagte Markus nun und lehnte sich wieder in seinen Sitz zurücken. „Das ist doch bloß ein alter Knacker, der seine Katze spazieren führt.“

Laura war wie vor den Kopf gestoßen: Da lief eine Schreckensgestalt, die einem Raben ähnlicher sah, als einem Menschen, und dessen Gesicht von merkwürdigen Falten verunziert war, durch Londons Straßen, und Markus tat so, als wäre das völlig normal!

Sie drehte sich wieder zum Fenster um. Vielleicht haben meine Sinne mir bloß einen Streich gespielt, dachte sie. Doch als sie den Alten in seinem Frack wieder erblickte, erhielt sie umgehend den Beweis, dass sie sich auf ihre Augen verlassen konnte.

Der unheimliche Mann hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und blickte sich so hektisch um, dass die Hautlappen in seinem Gesicht wie Hahnenkämme hin und her schlackerten. Die Haarspitzen kamen den Köpfen der Passanten dabei so nahe, dass Laura befürchtete, es müsse jeden Moment Blut fließen. Außerdem war das Glühen in den Augen des sonderbaren Alten jetzt so intensiv, dass ihr rötlicher Widerschein über die Gesichter der ihn umgebenden Passanten geisterte.

Die Katze auf dem Arm des Mannes richtete sich plötzlich auf. Auf allen Vieren stand sie auf dem vor der Brust angewinkelten Arm. Ihr Fell war gesträubt und der Schwanz steil aufgerichtet.

Laura erkannte nun, dass das Tier nur ein Auge besaß. Plötzlich machte die Katze einen Buckel und schielte zu Laura empor. Auch der furchteinflößende Alte wandte sein Gesicht nun in Lauras Richtung.

Im selben Moment, da sich sein Blick in ihre Augen senkte, hatte Laura das Gefühl, in den Strahl eines Laserpointers zu starren. Sein Blick schien durch ihre Sehnerven direkt in ihr Gehirn zu dringen und sich dort in rasender Geschwindigkeit durch die Windungen zu wühlen – bis in die abgelegensten Winkel ihres Bewusstseins hinein.

Mit einem Aufschrei wich Laura von dem Fenster zurück und stieß mit Markus zusammen.

„Was ist los?“, fragte er und rieb sich seinen Schädel, gegen den Laura mit dem Hinterkopf gestoßen war.

„Der Alte – er ... er hat mich so seltsam angestarrt!“, stammelte sie.

Markus krauste verärgert die Stirn. Er schaute an Laura vorbei auf den überfüllten Gehweg hinab und streckte dem Butler den Mittelfinger entgegen. „Glotz nicht so - Alter“, rief er. „Hast wohl noch nie ein schönes Mädchen gesehen!“

Er lachte rau. „Pass auf, dir fallen gleich die Augen aus dem Kopf. Wie es aussieht, könnte deine Katze sogar eines brauchen.“

Abrupt setzte sich der Bus wieder in Bewegung. Der Mann im Frack versuchte hinter dem Fahrzeug herzurennen. Doch der Passantenstrom ließ ihn nicht schnell genug vorankommen, sodass er zurückfiel und schließlich aus Lauras Blickfeld verschwand.

Laura schüttelte sich und bedachte Markus mit einem düsteren Blick. „Wie kannst du bloß im Angesicht eines solchen Monsters noch Scherze machen?“, fragte sie vorwurfsvoll.

„Wieso Monster?“, erwiderte Markus und lachte gepresst. „Mein Großvater wäre echt beleidigt, wenn du ihn ein Monster nennst, nur weil er alt und senil ist.“

„Dieser Mann war nicht alt und senil“, erwiderte Laura und beschrieb aufgeregt, was sie gesehen hatte.

Markus schüttelte befremdet den Kopf. „Für mich sah dieser Bursche ganz normal aus.“

Er legte Laura einen Arm um die Schulter, und mit gesenkter Stimme setzte er scherzhaft hinzu: „Ich glaube, deine Sinne sind noch ein wenig überreizt, Baby.“

Verärgert schob Laura seinen Arm von sich. „Ich bin doch keine Mimose“, gab sie gereizt zurück. „Ich weiß, was ich gesehen habe!“

Markus zuckte mit den Schultern und wandte sich genervt von Laura ab. Lässig winkte er einem Jungen zu, der zwei Reihen vor ihnen saß, und den er aus der Schule kannte.

Verstört presste Laura die Lippen aufeinander und sah Markus verstohlen von der Seite an.

Sie war sich plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob er nicht doch recht hatte. Niemand auf der Straße war aufgefallen, wie abstoßend hässlich der alte Mann ausgesehen hatte. Niemand war ihm ausgewichen oder hatte ihm befremdete Blicke zugeworfen. Die Menschen hatten dem Alten in seinem abgetragenen Frack nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als jedem anderen x-beliebigen Passanten. Nur sie, Laura, schien in diesem Mann eine Schreckensgestalt gesehen zu haben.

Sie nahm ihre Schultasche auf, stellte sie vor sich auf die Oberschenkel und presste sie gegen ihren Bauch.

Irgendwie hoffte Laura, das Gewicht der Schulbücher würde sie in die Wirklichkeit zurückholen, der sie aus unerfindlichem Grund verlustig geworden war. Mit stumpfem Blick starrte sie aus dem Fenster und über die Köpfe der Passanten hinweg, fest entschlossen, die Menschen auf der Straße nicht mehr allzu genau zu betrachten, aus Angst, sie könne wieder eine seltsame Gestalt unter ihnen erblicken.

Laura seufzte verzagt, neigte den Oberkörper langsam zur Seite, bis ihr Oberarm Markus Schulter berührte.

Ihren „Liebhaber“ in ihrer Nähe zu wissen, flößte ihr das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen ein. Wenn von Markus zwar auch keine große Unterstützung zu erwarten war, so beruhigte sie es doch, seinen kräftigen Körper durch den Stoff ihrer Schuluniform hindurch zu spüren.

Unzufrieden furchte Laura die Stirn. Sie konnte nicht verstehen, warum das Unbehagen, das der Blick des Alten in ihr hervorgerufen hatte, dennoch nicht vollständig weichen wollte.

***

Nach drei weiteren Haltestellen kam endlich die Victoria-School in Sicht. Das Schulgebäude war mehrere Meter von der Straße zurückversetzt, drei Stockwerke hoch und wirkte auf Laura mit seinen roten Backsteinwänden und den gleichförmigen Fensterfronten entsetzlich langweilig und funktional.

Parallel zum Gehweg verlief ein Wall aus geparkten Fahrrädern, Cityrollern und Motorrädern, der von einem Durchgang durchbrochen wurde. Dahinter erstreckte sich der Vorplatz der Schule; er wurde von ankommenden Schülerinnen und Schülern in blauen Uniformen bevölkert, deren Lachen, Schnattern und Rufen bis zu Laura in den Doppeldeckerbus drangen.

In diesem Moment rollte der Bus in die Haltebucht und stoppte. Laura und Markus standen von ihren Plätzen auf und schoben sich mit einem Pulk anderer Schüler die Wendeltreppe hinunter.

Wie eine Ertrinkende umklammerte Laura ihre Schultasche, während sie hinter Markus ausstieg. Seit der Blick des Alten in ihr Gehirn gedrungen war, fühlte sie sich wie eine Fremde in ihrem eigenen Körper. Wie ferngesteuert trottete sie an den abgestellten Fahrrädern vorbei und betrat schließlich den Vorplatz der Schule.

Voller Unbehagen schaute Laura die Fassade des Gebäudes empor. Die Vorstellung, den ganzen Tag in diesem öden Haus verbringen zu müssen, erschien ihr unerträglicher denn je.

Unwillkürlich heftete sich ihr Blick auf das neue Wappen auf der Stirnseite des Gebäudegiebels. Dasselbe Emblem zierte auch die Brusttaschen der Schuluniformen und kam Laura heute zum ersten Mal irgendwie bedrohlich und unheimlich vor.

Das Wappen zeigte einen geflügelten roten Drachen, der auf seinen Hinterläufen stand und eine Weltkugel in den Vorderpranken hielt. Der Leib des Drachen war mit dornigen Schuppen bedeckt; er hatte das zahnbewehrte Maul weit aufgerissen, Flammen züngelten aus dem Rachen und leckten gierig über den Globus in den Pranken des Ungeheuers.

Mr. Joung, der Schuldirektor, hatte dieses Wappen zum Jahreswechsel neu eingeführt. Auch das Tragen der Schuluniform hatte er wieder zur Pflicht gemacht – sehr zum Verdruss der Schüler.

Am liebsten wäre Laura wieder nach Hause gefahren um sich unter ihre Bettdecke zu verkriechen. Aber dafür war es jetzt zu spät.

***

Die Mathematikklausur war für die erste Doppelstunde anberaumt. Die Schüler aus dem jüngsten Jahrgang des Colleges, zu denen auch Laura und Markus zählten, hatten sich in dem Mathematikraum versammelt und hinter ihren Tischen Platz genommen.

Aufgeregtes Gebrabbel erfüllte das Klassenzimmer. Aber Laura beteiligte sich nicht an den Gesprächen ihrer Freunde. Das Bild des sonderbaren Alten ging ihr nicht aus dem Kopf.