Todesflammen - James Patterson - E-Book

Todesflammen E-Book

James Patterson

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Beschreibung

Alle halten die FBI-Analystin Emmy Dockery für verrückt. Nach dem Tod ihrer Zwillingsschwester Marta beharrt sie darauf, dass es sich bei dem Feuer in deren Wohnung nicht um einen Unfall gehandelt hat, sondern um Brandstiftung mit mörderischer Absicht. Emmy ist besessen von der Idee, dass es eine Verbindung zu zahlreichen anderen Fällen gibt. Jede Nacht quälen sie Albträume eines alles zerstörenden Feuers. Aber keiner glaubt ihr, bis sie einen Hinweis findet, den niemand ignorieren kann – und der enthüllt, wie qualvoll ihre Schwester wirklich sterben musste ...

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EPUB

Seitenzahl: 446

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Buch

Emmy Dockery, eine FBI-Analystin, die zurzeit vom Dienst befreit ist, ist nach dem Tod ihrer Zwillingsschwester Marta überzeugt, dass es sich bei dem Feuer in deren Wohnung nicht um einen Unfall gehandelt hat, sondern um Brandstiftung mit mörderischer Absicht. Emmy meint, zahlreiche weitere Brände identifiziert zu haben, bei denen das Feuer wie bei Marta im Schlafzimmer ausgebrochen und eine allein lebende Person im Bett umgekommen und fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannt ist. Doch sie hat keine Beweise für diese abstrus scheinende Theorie, und alle halten sie für verrückt. Für das FBI ist klar, dass die Toten durch eine Rauchvergiftung gestorben sind. Doch dann stellt sich heraus, dass der Rauch in den Lungen nicht vom Brand stammt ... Emmy ist entsetzt, denn nun weiß sie, wie qualvoll ihre Schwester sterben musste. Fieberhaft stürzen sich alle in die Ermittlungen – doch der Mörder hat schon sein nächstes Opfer vor Augen …

Weitere Informationen zu James Patterson

sowie zu lieferbaren Titeln

des Autors finden Sie am Ende des Buches.

James Patterson

und

David Ellis

TODESFLAMMEN

Thriller

Deutsch von Helmut Splinter

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Invisible« bei Little, Brown and Company, Hachette Book Group, New York, NY.

Ausgabe Juli 2017

Copyright © der Originalausgabe 2014 by James Patterson

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

This edition is published by arrangement with Little, Brown and Company, New York, New York, USA. All rights reserved.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Arcangel/Nik Keevil;

Trevillion Images/Collaboration JS; Fine Pic®, München

Redaktion: Viola Eigenberz

AG ∙ Herstellung: Str.

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-18313-4V002

www.goldmann-verlag.de

Für die Familie Kasper – Mike, Laura und den kleinen Engel, Sophie Mei-Xian

1

Diesmal weiß ich es. Ich weiß es mit einer Sicherheit, die mir die Kehle vor Panik zuschnürt, die mein Herz umklammert und dreht, bis es aus seiner Verankerung gerissen wird. Diesmal bin ich zu spät.

Diesmal ist es zu heiß. Diesmal ist es zu hell, und der Rauch ist zu stark.

Die Alarmanlage des Hauses schreit, nicht das Frühwarnpiepsen, sondern das stechende »Du bist völlig am Arsch, wenn du nicht sofort abhaust«-Kreischen. Ich weiß nicht, seit wann die Sirene schon heult, aber für mich ist es mittlerweile zu spät. Die sengende Hitze innerhalb der eigenen vier Wände meines Schlafzimmers. Der beißende schwarze Rauch, der meine Nasenhaare verbrutzeln lässt und meine Lungen verseucht. Die orangen Flammen, die sich die Decke entlangkräuseln, fast rhythmisch um mein Bett herumtanzen, ein verführerisches Stakkato aus Knacken und Knallen, als würde es nicht einfach nur brennen, sondern als würden sich die Flammen miteinander abstimmen. Langsam nähern sie sich mir, wollen mich mit ihrem gemeinsamen Hüpfen, Spucken und Gackern wissen lassen: Diesmal ist es zu spät, Emmy…

Das Fenster. Noch immer könnte ich es schaffen, aus dem Bett zu springen und zum Fenster zu rennen, dem einzigen Bereich meines Schlafzimmers, der noch zugänglich ist. Der Feind drängt mich in die Ecke, fordert mich heraus: Los, Emmy, renn zum Fenster, hopp…

Dies ist meine letzte Chance, das weiß ich, aber ich will nicht darüber nachdenken, was passiert, wenn es mir nicht gelingt – dass ich mich dann auf den Schmerz vorbereiten muss. Es wird nur ein paar Minuten wehtun, ich werde die Zähne fest zusammenpressen, meine Eingeweide werden sich verdrehen, aber dann werden meine Nervenenden durch die Hitze absterben, und ich werde nichts mehr fühlen, oder besser noch, ich werde durch die Kohlenmonoxidvergiftung ohnmächtig.

Ich habe nichts zu verlieren, keine Zeit zu verschwenden.

Die Flammen erreichen meine Plüschdecke, als ich vom Bett aufspringe und die ein-zwei-drei-vier Schritte zum Fenster renne. Ein mädchenhafter, panischer Schrei dringt aus meiner Kehle, wie damals, wenn Papa und ich im Garten Fangen spielten und er mir immer näher kam. Mit gesenkter Schulter pralle ich gegen das Fenster, ein Fenster, das dazu gemacht ist, nicht kaputtzugehen. Über dem Schreien der Sirene und dem Tosen der Flammen hinweg ist ein schreckliches Dröhnen, ein hungriges Knurren zu hören, als ich vom Fenster abpralle und nach hinten in die glühende Hitze falle. Atme, Emmy, sage ich mir. Sauge die verpestete Luft ein, lass dich nicht von den Flammen töten. Atme…!

Atme. Nimm einen Atemzug.

»Mist«, schimpfe ich in mein dunkles, durchaus nicht brennendes Zimmer. Mit meinem T-Shirt wische ich mir den Schweiß von der Stirn. Besser, ich bleibe noch ruhig liegen, bis mein Puls wieder eine menschliche Geschwindigkeit erreicht hat, bis meine Lungen gleichmäßig ein- und ausatmen.

Ich sehe zum Radiowecker, der mir mit seinen roten quadratischen Leuchtziffern verrät, dass es halb drei ist.

Träume sind doof. Man denkt, man hätte etwas besiegt, weil man es immer wieder durchgekaut hat, und redet sich ein, es gehe einem zunehmend besser, ermahnt sich, daran zu glauben, und man beglückwünscht sich schließlich. Dann schließt man abends die Augen, gleitet in eine andere Welt hinüber, und plötzlich klopft einem der eigene Verstand auf die Schulter und sagt: Ach, übrigens, es geht dir gar nicht besser!

Nach einem abschließenden Seufzer strecke ich die Hand aus und schalte die Nachttischlampe ein. Jetzt ist das Feuer überall. Jetzt ist es meine Tapete – mit den Fotos und Berichten von Brandfällen, die die Wände meines Schlafzimmers schmücken, Brände, die sich überall in den Vereinigten Staaten ereignet haben: Hawthorne in Florida; Skokie in Illinois; Cedar Rapids in Iowa; Plano in Texas; Piedmont in Kalifornien.

Und natürlich in Peoria in Arizona.

Insgesamt dreiundfünfzig.

Ich gehe an den Wänden entlang und sehe mir die Fälle der Reihe nach an, bevor ich an meinem Rechner die E-Mails aufrufe.

Dreiundfünfzig Brände, die mir bekannt sind. Mit Sicherheit gibt es noch weitere.

Dieser Kerl macht munter weiter.

2

Ich bin wegen des schmierigen Dicken hier. Das sage ich nicht mit diesen Worten, aber es ist das, was ich meine.

»Emmy Dockery. Ich möchte zu Mr Dickinson, bitte.«

Die Frau, die an einem keilförmigen Schreibtisch vor Dickinsons Büro parkt, kenne ich noch nicht. Auf ihrem Namensschild steht LYDIA, und sie sieht auch wie eine Lydia aus: kurzgeschorenes braunes Haar, schwarze Hornbrille und ordentliche Seidenbluse. In ihrer Freizeit betätigt sie sich wahrscheinlich als Sonettschreiberin, wahrscheinlich hat sie drei Katzen und liebt indisches Essen, nur dass sie es Cuisine nennt.

Ich sollte nicht so zickig sein, aber es ärgert mich, dass hier jemand Neues sitzt, dass sich hier etwas geändert hat, seit ich weggegangen bin, weswegen ich mich als Fremde in einem Büro fühle, in dem ich fast neun Jahre lang treue Dienste geleistet habe.

»Haben Sie einen Termin beim Direktor, Ms … Dockery?«

Lydia sieht mit zufriedenem Grinsen zu mir auf. Sie weiß, dass ich keinen Termin habe. Das weiß sie, weil der Empfang hier oben angerufen hat, um zu fragen, ob ich auch zugangsberechtigt bin.

»Beim Direktor?«, frage ich mit gespielter Verwirrung. »Sie meinen den stellvertretenden geschäftsführenden Leiter des Criminal, Cyber, Response and Services Branch?«

Ja gut, ich kann eine Zicke sein. Aber sie hat angefangen.

Ich harre aus, weil ich nicht hier stünde, wäre der Dicke nicht bereit, sich mit mir zu treffen.

Er lässt mich warten, was so typisch für ihn ist, aber zwanzig Minuten später sitze ich seinem Büro. Trophäenfotos an den mit dunklem Holz vertäfelten Wänden, Diplome, Egozeug. Der Dicke hält sich gänzlich unverdient für unwiderstehlich.

Julius Dickinson, einer von der immer braun gebrannten und leicht übergewichtigen Sorte Mann mit schmierigem Lächeln und über die Glatze drapiertem Haar, bedeutet mir, mich zu setzen. »Emmy«, beginnt er mit schwülstigem Mitleid in der Stimme, aber mit leuchtenden Augen. Schon jetzt fängt er an, mich zu provozieren.

»Sie haben keine meiner E-Mails beantwortet«, sage ich, während ich mich setze.

»Das stimmt«, erwidert er, ohne den Versuch einer Erklärung für seine abwimmelnde Haltung zu liefern. Das muss er nicht. Er ist der Chef, ich bin nur eine Angestellte. Quatsch, im Moment bin ich nicht einmal das, sondern eine Angestellte in unbezahltem Urlaub, deren Karriere an einem seidenen Faden hängt, welcher wiederum von dem Mann mir gegenüber in null Komma nichts durchtrennt werden könnte.

»Haben Sie sie zumindest gelesen?«, frage ich.

Dickinson nimmt ein Seidentuch aus seiner Schublade und putzt seine Brille. »Soweit ich verstanden habe, sprechen Sie dort von einer Brandserie«, sagt er. »Brände, die Sie für das Werk eines kriminellen Genies halten, der sie so aussehen lässt, als hätten sie nichts miteinander zu tun.«

Mehr oder weniger, ja.

»Allerdings habe ich in diesem Zusammenhang neulich einen Artikel aus der Peoria Times gelesen, der Lokalzeitung einer Kleinstadt in Arizona«, fügt er in leicht bitterem Ton hinzu und hebt einen Zeitungsausschnitt hoch, aus dem er vorliest: »›Acht Monate nach dem Tod von Marta Dockery bei einem Hausbrand kämpft ihre Schwester Emmy Dockery noch immer beharrlich dafür, die Polizei davon zu überzeugen, dass Marta Dockerys Tod kein Unfall, sondern Mord war.‹ Ach, und das hier: ›Laut Doktor Martin Lazerby vom Maricopa County Medical Examiners Office, der die Obduktion durchführte, weist dennoch alles auf einen nicht vorsätzlich gelegten Brand hin.‹ Und das hier ist meine Lieblingsstelle, ein Zitat vom örtlichen Polizeichef: ›Sie arbeitet beim FBI. Wenn sie sich also so sicher ist, dass es Mord war, warum setzt sie dann nicht ihre eigene Behörde auf den Fall an?‹«

Darauf antworte ich nichts. Der Artikel war Mist. Man hat sich auf die Seite der Polizei geschlagen und meine Beweise nicht einmal angeführt.

»Das gibt mir zu denken, Emmy.« Er legt, während er seine Gedanken sammelt, die Hände aneinander, als wolle er ein Kind maßregeln. »Haben Sie sich einen Therapeuten gesucht, Emmy? Sie brauchen dringend Hilfe. Wir hätten natürlich gern, dass Sie zurückkommen, aber erst, wenn wir deutliche Therapiefortschritte sehen.«

Er kann sein Lächeln kaum unterdrücken, als er dies sagt. Wir beide haben eine gemeinsame Vergangenheit – schließlich war er derjenige, der mir wegen unangemessenen Verhaltens eine Disziplinarstrafe mit nachfolgender Suspendierung verpasst hat. In Bürokratensprech: unbezahlte Freistellung. Die dauert noch weitere sieben Wochen, und anschließend werde ich mich in einer zweimonatigen Probezeit bewähren müssen. Hätte sich nicht kürzlich der Todesfall in meiner Familie ereignet, hätte er mich wahrscheinlich sofort abserviert.

Er kennt den wahren Grund, warum mir die Strafe aufgebrummt wurde. Den kennen wir beide. Er verhöhnt mich also. Ich darf aber nicht zulassen, dass er mich reizt. Genau das will er nämlich. Er will mich zur Weißglut treiben, damit er den Chefs sagen kann, ich wäre für eine Wiedereingliederung noch nicht bereit.

»Jemand rennt durchs Land und tötet Menschen«, sage ich. »Das sollte Ihnen, unabhängig davon, ob ich in Therapie bin oder nicht, Sorge bereiten.«

Er kneift die Augen leicht zusammen. Er muss hier nichts tun, ich bin diejenige, die etwas will. Das ist also seine Vorstellung von Folter – mir stur und schweigend gegenüberzusitzen.

»Konzentrieren Sie sich auf Ihre Rehabilitation, Emmy. Überlassen Sie den Gesetzesvollzug uns.«

Ständig wiederholt er meinen Namen. Mir wäre es lieber, er würde mich anspucken und mich beschimpfen. Das weiß er. Das hier ist simuliertes Ertrinken in passiv-aggressiver Version. Ich war mir nicht sicher, ob er mich so unangemeldet empfangen würde. Jetzt wird mir klar, dass er es wahrscheinlich gar nicht abwarten konnte, mich zu treffen, um mich endgültig außer Gefecht zu setzen und mir ins Gesicht zu lachen.

Wie gesagt, wir beide haben eine gemeinsame Vergangenheit. Die Kurzversion lautet: Er ist ein Schwein.

»Es geht hier nicht um mich«, beharre ich. »Es geht um einen Kerl, der …«

»Sind Sie jetzt wütend, Emmy? Glauben Sie, Ihre Gefühle unter Kontrolle zu haben?« Er sieht mich mit gespielter Sorge an. »Sie werden nämlich rot im Gesicht. Ihre Hände sind zu Fäusten geballt. Ich fürchte, Sie können Ihre Gefühle noch immer nicht im Zaum halten. Wir haben eigene Berater, Emmy, wenn Sie mit jemandem reden müssen.«

Er klingt wie aus einer nächtlichen Werbung, die an Drogenabhängige gerichtet ist. Unsere Berater warten auf Ihren Anruf. Greifen Sie gleich zum Telefon.

Es hat keinen Sinn weiterzumachen, wird mir klar. Es war dumm von mir herzukommen. Dumm von mir zu erwarten, er würde mir zuhören, wenn ich ihm gegenübersäße. Die Sache war schon gescheitert, noch bevor ich herkam. Ich erhebe mich und wende mich zum Gehen.

»Viel Glück mit Ihrer Therapie«, ruft er. »Wir alle unterstützen Sie hier.«

An der Tür bleibe ich stehen und drehe mich um.

»Dieser Mann tötet im ganzen Land Menschen«, sage ich, eine Hand an der Tür. »Es ist ja nicht so, dass wir ihn jagen, ohne ihn schnappen zu können. Nein, wir wissen nicht einmal, dass es jemanden gibt, den wir schnappen könnten. Es ist, als würde er für uns gar nicht existieren.«

Der Dicke winkt mit seiner hohlen Hand nur leicht zum Abschied. Ich knalle die Tür hinter mir zu.

3

Erst als ich wieder draußen auf der Straße stehe, lasse ich meinen Dampf ab. Ich gönne Dickinson nicht die Befriedigung, mich wütend zu sehen, und ich werde ihm nichts bieten, was er gegen mich verwenden kann, wenn ich in sieben Wochen versuche, wieder meinen Dienst anzutreten. Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich ihm schon genügend geboten, nämlich meine E-Mails, und unser soeben geführtes Gespräch kann er auch auslegen, wie er will, nämlich als Beweis für meine »Besessenheit« und als die größte Sünde, die eine Analystin begehen kann – meinen Platz in der Hierarchie zu vergessen und mich wie eine Agentin zu verhalten.

Während meiner Rückfahrt auf der I-95 schlage ich ein paarmal aufs Lenkrad ein, was mir aber auch kein besseres Gefühl, sondern höchstens gebrochene Finger verschafft. »Arschloch!«, schreie ich. Ja, das ist besser. Damit kann ich nur meine Stimmbänder schädigen. »Arschloch! Arschloch!«

Nach der Disziplinaranhörung hat mich Dickinson jetzt in der Hand. Ich werde auf Probe in den Dienst zurückkehren, und wenn ich mir nur einen Fehltritt leiste – oder wenn der Dicke mir einen solchen andichtet –, bin ich erledigt. Oh, ihn grinsen zu sehen, während er so tut, als müsste ich in Therapie gehen. Wir wissen beide, dass das einzige Disziplinarproblem war, dass ich jedes Mal seine Hände weggeschoben habe, wenn er sie auf mein Knie legte, seine Einladungen zum Abendessen abgelehnt und bei dem Vorschlag zu einem gemeinsamen Wochenendausflug gelacht habe. Es war das Lachen, glaube ich, das das Fass zum Überlaufen brachte. Am nächsten Morgen hatte er für seine Vorgesetzten eine Geschichte zusammengeschustert, nach der angeblich ich es gewesen war, die ihn in immer aggressiverer Weise belästigte. Wenn man Worte wie sprunghaft und unbeständig hinzufügt, Worte, die leicht zu sagen und schwer zu widerlegen sind – etvoilà, schon hat man ein Disziplinarverfahren am Hals.

Arschloch.

Jetzt aber mal ehrlich, Emmy, reiß dich zusammen!

Ich muss was tun. Ich kann nicht einfach so aufgeben. Ich weiß, dass diese Fälle miteinander zusammenhängen. Aber ich komme nicht weiter. Ich kann nicht außerhalb der Hackordnung agieren, und der Dicke hat mich kaltgestellt, aus reiner Bosheit. Ich komme nicht weiter. Was kann ich tun? Was sonst könnte ich …

Moment.

Ich nehme meinen Fuß aus keinem besonderen Grund vom Gaspedal, höchstens, um den Fahrer des Geländewagens hinter mir zu ärgern, der etwas zu dicht an mir dranhängt, während ich die Sache überdenke. Nein. Nein. Das ist das Letzte, was ich tun sollte.

Doch es könnte der einzig mögliche Weg sein. Deswegen muss ich es wenigstens versuchen.

Wenn ich nämlich recht mit diesem Kerl habe, wird er beim Töten immer besser. Und keiner weiß, dass es ihn überhaupt gibt.

4

»Sitzung Graham«

Aufnahme 1

21. August 2012

Willkommen in meiner Welt. Ihr könnt mich Graham nennen, und ich werde euer Gastgeber sein.

Ihr kennt mich nicht. Meine Anonymität ist der Schlüssel zu meinem Erfolg. Während ich hier sitze und mit euch spreche, bin ich nicht berühmt. Aber das werde ich sein, wenn diese Aufnahmen veröffentlicht werden, wann auch immer ich die Entscheidung dazu treffe. Dann werde ich auf den Titelseiten von allen Zeitungen und Zeitschriften der ganzen Welt stehen. Man wird Bücher über mich schreiben. Man wird in der FBI-Zentrale in Quantico Studien über mich anfertigen. Webseiten werden sich meiner Person widmen, Filme gedreht werden.

Meine wahre Identität wird man nie erfahren – vielleicht ist »Graham« mein wahrer Name oder auch nicht –, daher wird alles, was ihr über mich erfahren werdet, von diesen Audiodateien, meinem mündlichen Tagebuch, stammen. Ihr werdet erfahren, was ich euch wissen lassen möchte. Vielleicht erzähle ich euch alles, oder ich lasse ein paar Dinge aus. Vielleicht erzähle ich euch die Wahrheit, vielleicht lüge ich euch aber auch an.

Ein bisschen was über mich für den Einstieg: Ich war so sportlich, dass ich es an der Highschool in den Mannschaftssport geschafft habe, zu mehr reichte es aber nicht. Ich habe gute Noten gehabt, die für die Ivy League allerdings nicht reichten, also fiel die Entscheidung für eine staatliche Uni. Ich hasse Zwiebeln wie die Pest, ganz gleich in welcher Form, ob gekocht oder roh. Ein widerliches Gewächs, egal, wie oft man das Gegenteil behauptet. Ich spreche drei Sprachen, wobei mein Französisch eher peinlich ist. Aber ich kann ›bitte keine Zwiebeln‹ oder eine funktionell äquivalente Formulierung in nicht weniger als elf Sprachen von mir geben. Erst vor Kurzem konnte ich meiner Liste Griechisch und Albanisch hinzufügen. Ich ziehe profane Popmusik der klassischen Musik, Singer-Songwriter oder Heavy Metal vor, aber das gebe ich meinen Freunden gegenüber nicht zu. Früher schaffte ich einen Halbmarathon in einer Stunde und siebenunddreißig Minuten. Derzeit trainiere ich nicht regelmäßig. Und niemals, wirklich niemals trinke ich alkoholfreies Bier.

Zwei der Dinge, die ich euch erzählt habe, sind nicht wahr.

Aber das Folgende stimmt: Ich habe eine Menge Menschen getötet. Mehr, als ihr glauben könnt.

Und ihr? Ich weiß eigentlich gar nicht, an wen ich meine Worte richte: Ist unter euch ein fühlendes Wesen, vielleicht der Geist eines meiner Opfer? Ein winziger Dämon, der auf meiner Schulter hockt und mir dunkle Gedanken ins Ohr flüstert? Ein FBI-Profiler? Ein kühner Reporter? Oder nur ein gewöhnlicher Mensch, der mit lüsterner Faszination vor dem Rechner kauert und sich im Internet diese Dateien anhört, gierig ist nach jedem Fitzelchen an Information, nach allem, womit er Einblick in die GEDANKENWELTEINESWAHNSINNIGEN erhält?

Weil es natürlich das ist, was ihr tun werdet – ihr werdet versuchen, mich zu verstehen, mich zu beurteilen. Das gibt euch ein Gefühl von Sicherheit, es beruhigt euch, wenn ihr mich in eine Schublade packen könnt. Ihr werdet mein Verhalten mit einer Mutter erklären, die mir keine Liebe gezeigt hat, einem traumatischen Ereignis, das mein Leben bestimmt hat, einer Geisteskrankheit nach dem DSM-IV.

Aber stattdessen werdet ihr etwas ganz anderes vorfinden: Ich könnte mit euch in einer Eckkneipe plaudern oder am Nachbarhaus die Hecke schneiden oder neben euch im Flugzeug von New York nach Los Angeles sitzen, und ihr würdet mich nicht bemerken. Klar, im Nachhinein würde euch irgendeine Besonderheit an mir auffallen; aber stünde ich direkt vor euch, würde ich mit euch eine Armlehne teilen oder euch direkt gegenübersitzen, hinterließe ich bei euch keinen Eindruck. Ich wäre ein Datensatz, der im gleichen Moment in Vergessenheit gerät. Kurz gesagt, ich würde normal wirken. Und wisst ihr warum?

Nein, ihr wisst nicht warum. Aber ich weiß es. Deswegen bin ich so gut bei dem, was ich tue. Und niemand wird mich je schnappen.

[ENDE]

5

Zwei Jahre nach seiner Eröffnung sah der Buchladen in der Innenstadt von Alexandria noch immer sauber und neu aus. Roter Backstein mit taubenblau gestrichenem Holz abgesetzt. DERBÜCHERMANN steht auf dem Schaufenster, in dem die Neuausgaben präsentiert werden, Romane und Sachbücher, doch in letzter Zeit vor allem Kinder- und Bilderbücher.

Ich atme tief ein und aus, bevor ich den Laden betrete, bin mir aber immer noch nicht klar darüber, ob dies eine weise Entscheidung ist. Doch die letzten beiden Nächte habe ich kaum geschlafen, und mir fällt nichts anderes ein.

Zum fröhlichen Ping! der Glocke betrete ich den Laden, und ich sehe ihn, bevor er mich sieht. Er trägt Jeans, darüber ein kurzärmliges Karohemd und Mokassins. Es überrascht mich, ihn nicht in Anzug und Krawatte zu sehen. Hier riecht es nach neuen Büchern und Kaffee. Nach Ruhe und Frieden.

Er steht hinter der Theke und kassiert gerade bei einer Kundin, als er mich entdeckt. Er zuckt zurück, dann erinnert er sich, dass er die Kundin anlächeln muss, und wirft ein Lesezeichen in eine Plastiktüte. Als die Kundin losmarschiert, kommt er auf mich zu und bleibt kurz vor mir stehen.

»Hallo, Books.« Schadet ja nichts, wenn ich anfange.

»Emmy.« Nur seine tiefe, herrische, aber dennoch sanfte Stimme zu hören weckt so viele Erinnerungen hinter meiner emotionalen Absperrung, die ich errichtet habe. Der sanfte Anteil ist etwas stärker ausgeprägt, wie ich bemerke, wahrscheinlich weil beim letzten Mal, als wir uns sahen, meine Schwester beerdigt wurde. Er tauchte am Morgen der Trauerfeier auf, um mir sein Beileid auszusprechen. Ich weiß nicht, wie er davon erfahren hatte – vielleicht hatte ihn meine Mutter angerufen. Ich habe nie gefragt – doch plötzlich stand er dort, drängte sich nicht auf, sondern hielt sich unsichtbar im Hintergrund, um mir bei Bedarf behilflich zu sein. Er war schon immer in der Lage gewesen, mich zu überraschen.

»Danke, dass du einem Treffen zugestimmt hast«, sage ich.

»Das habe ich nicht. Du bist einfach hergekommen.«

»Dann danke, dass du mich nicht rausschmeißt.«

»Dazu hatte ich bisher nicht die Gelegenheit, könnte es aber noch tun.«

Es ist das erste Mal seit Wochen, dass ich lächle. Books sieht toll aus. Fit und entspannt. Glücklich. Der Wichser. Sollte es ihm nach unserer Trennung nicht schlecht gehen?

»Bist du noch immer ein Kaffee-Snob?«, frage ich.

Jetzt lächelt auch er ein wenig, wenn auch widerwillig. Viele Erinnerungen stecken dahinter. Selbst mit dem Gehalt eines Angestellten im öffentlichen Dienst stürzte er sich immer auf die guten Sachen, bestellte sich italienische Kaffeebohnen übers Internet. »Natürlich«, antwortet er. »Und du bist immer noch die neurotische Nervensäge mit dem großen Herzen?«

Das ist eine angemessene Einschätzung. Books kennt mich besser als jeder andere. Trotzdem kommt mir dieses Gespräch komisch vor, gezwungen. Dann kann ich auch gleich zur Sache kommen.

6

»Nein«, lehnt Books ab und schüttelt heftig den Kopf. »Auf keinen Fall, Em.«

»Hör mir doch wenigstens zu, Books.«

»Nein, danke.«

»So etwas hast du echt noch nicht gehört.«

»Wie gesagt, oder wie ich glaube, gut vernehmlich gesagt zu haben, nein dank…«

»Der Typ erhält meine Stimme als widerlichster Wichser in der gesamten Menschheitsgeschichte, Books.«

»Ich habe kein Interesse. Nein, nein, nein«, sagt er, als müsse er sich selbst davon überzeugen.

Wir befinden uns im Lager neben seinem Laden. Um uns herum stapeln sich die Bücher auf Tischen oder sind in Regale sortiert. Von einem der Tische konnte ich etwas Platz abzwacken, um meine dreiundfünfzig Fallakten dort abzulegen, die er sich durchsehen soll. »Es steht alles da drin«, sage ich. »Lies es einfach.«

Books fährt sich mit der Hand durch sein blondes Haar. Es ist länger als sonst, hängt über seiner Stirn herab und lockt sich im Nacken. Schließlich ist er kein Beamter mehr. Er geht im Kreis, während er seine Gedanken sammelt.

»Ich arbeite nicht mehr fürs FBI«, sagt er.

»Du könntest hierfür wieder einsteigen«, halte ich dagegen. »Niemand wollte, dass du gehst.«

»Das fällt doch sowieso eher in den Zuständigkeitsbereich Brandermittlung durch die ATF …«

»Dann bilden wir eine Sondereinheit …«

»Das ist nicht mein Problem, Em!« Er stößt gegen einen Tisch, von dem ein Stapel Bücher auf den Boden segelt. »Weißt du, wie schwer es für mich ist, wenn du so plötzlich hier aufkreuzt? Und mich um Hilfe bittest? Das ist nicht fair.« Er stößt mit dem Finger in meine Richtung. »Das ist nicht fair.«

Er hat recht. Das ist nicht fair. Aber es geht nicht um Fairness.

Books bleibt etwa zwei Minuten so stehen, die Hände in die Taille gestemmt, und schüttelt den Kopf. Dann sieht er mich an. »Dickinson hat dich kaltgestellt?«

»Ja, aber nicht deswegen. Er hat die Akten nicht einmal gelesen. Du kennst Dick.«

Das scheint bei ihm etwas auszulösen. »Und hast du ihm gesagt, warum dir der Fall wichtig ist?«, will er wissen.

»Ist doch klar, warum er mir wichtig ist. Ein Mensch tötet …«

»Das meine ich nicht, Em, das weißt du.« Er kommt auf mich zu. »Weiß Dickinson, dass deine Schwester vor acht Monaten in Peoria in Arizona bei einem ungeklärten Brand starb?«

»Das hat nichts damit zu tun.«

»Ha!« Gekünsteltes Lachen, in die Luft geworfene Arme. »Das hat nichts damit zu tun!«

»Hat es nicht. Ob meine Schwester eins der Opfer war oder nicht, ändert nichts an der Tatsache, dass ein Serien…«

Books will davon nichts hören. Er winkt ab, la-la-la-ich-hör-dir-gar-nicht-zu-hu.

»Emmy, wegen Marta tut es mir leid. Das weißt du. Aber …«

»Wenn es dir leidtut, wirst du mir helfen.« Kaum sind die Worte über meine Lippen, wird mir klar, dass ich eine Grenze überschritten habe. Books ist in seinem Leben weitergegangen. Er ist kein Special Agent mehr. Jetzt verkauft er Bücher für seinen Lebensunterhalt.

Ich hebe die Hände. »Streich meine letzte Bemerkung. Ich hätte nicht herkommen sollen, Books. Es … es tut mir leid.«

Ich gehe denselben Weg nach draußen, den ich hereingekommen bin, ohne dass mein Exverlobter noch etwas sagt.

7

»Sitzung Graham«

Aufnahme 2

22. August 2012

Ich liebe den Duft von frischen Blumen am Abend. Es ist so ein einzigartiger Sommerduft. Er verleiht dem Schlafzimmer ein Gefühl von … sagen wir … etwas Neuem. Es riecht neu und frisch. Frische Farbe an den Wänden, Pink mit limettengrünen Akzenten. Auch das Bett ist neu, breite Matratze mit altmodischem Himmel – hattest du so eins als kleines Mädchen, Joelle? War es ein Geschenk von Mama und Papa zum Einzug in das neue Haus, zum Beginn eines neuen Lebensabschnitts?

Ach so … Leider kann Joelle im Moment nicht sprechen.

Der Rest des Zimmers ist in positiver Weise malerisch. Die antike Frisierkommode, die wahrscheinlich, vom Staub befreit, aus dem Keller der Eltern stammt. Ein hübscher Lesesessel. Und das Beste überhaupt, ein selbstgebauter Nachttisch direkt aus einer Studentenbude: zwei übereinandergestapelte Milchkisten, darauf ein kleiner Wecker und diese Vase mit frischen Lilien.

Ein Mädchen aus bescheidenen Verhältnissen – mit etwas Geschmack, aber ohne das nötige Kleingeld, ihn entsprechend umzusetzen. Die ersten eigenen vier Wände für ein Mädchen, das sein Berufsleben beginnt.

Ich wünschte, ich könnte ein Bild von diesem Zimmer machen und es euch zeigen, weil genau dies dem Wesen von Amerika entspricht, dem Wesen der Hoffnung, wenn man klein anfängt, aber von den großen Dingen träumt. Joelle Swanson hatte große Pläne. Sie träumte von ihrem Abschluss in Kriminalistik und davon, eine tolle Verbrechensbekämpferin zu werden, vielleicht zuerst als Polizistin, dann, eines Tages, beim FBI oder in der verdeckten Welt des CIA. Eindrucksvolles Zeug. Große Dinge!

Nun ja, jedenfalls würde ich gerne ein Foto für euch machen, aber mir ist nicht klar, wie das später funktionieren und in meine Erzählung passen soll. Ich hätte Angst, dass ihr euch die Bilder anschaut und nicht mehr auf meine Worte hört. Ein Psychologe würde bestimmt sagen, dass ich diese Sitzungen auf mein mündliches Zeugnis beschränke, weil ich alle Aspekte kontrollieren möchte. Dass ihr nur das sehen und hören sollt, was ich euch sehen und hören lassen möchte.

Klar, diese Form der Kommunikation hat Grenzen. Ihr könnt nicht riechen, was ich rieche, diesen schon fast greifbaren Geruch, der den glänzenden Schweiß auf ihrer Haut durchdringt. Ihr könnt den Schrecken und die Verzweiflung nicht sehen, die geweiteten Pupillen, die Haut, die leichenblass wird, die zitternden Lippen, wenn sie merkt, dass ihr schlimmster Albtraum wahr wurde. Ihr könnt nicht die klagenden Schreie hören, das weinerliche, panische, atemlose Flehen, das durch die abgedrückte Kehle dringt. Ihr könnt nicht nachempfinden, was ich spüre.

Daher werde ich alles tun, um euch dabei zu helfen. Ich werde alles tun, um es euch zu lehren.

[Anmerkung des Herausgebers: Im Hintergrund hört man eine Frau husten.]

Oh, schaut mal, wer da aufwacht. Das heißt wohl, dass ich mich vorerst verabschieden muss.

Hm. Ob das zu viel für euch ist? Zu früh? Vielleicht müsst ihr mich zuerst besser kennenlernen, bevor ich euch aus der Nähe zeige, was ich tue. Vielleicht muss ich zuerst Wange an Wange mit euch tanzen, hübsch zu Abend essen, euch einige Anekdoten erzählen, euch zeigen, was ich lustig und was ich beängstigend finde, meine Vorlieben und Abneigungen.

Vielleicht sollte ich euch sagen, warum ich das tue, was ich tue.

Wie ich jemanden auswähle.

Warum ich so verdammt gut darin bin.

Es gibt so vieles, das ich euch erzählen muss. Aber gehen wir die Sache langsam an. Wir schaffen das schon. Wenn ich fertig bin, werdet ihr mich verstehen. Ihr werdet herausfinden, welche Gemeinsamkeiten wir haben.

Ach, ihr werdet mich sogar mögen.

Und einige von euch werden sich wünschen, sie wären ich.

[ENDE]

8

Ich schrecke aus dem Schlaf hoch, schnappe nach Luft, während sich die Flammen an der Decke zurückziehen und das Zimmer wieder dunkel wird. Ich wische mir den Schweiß mit der Steppdecke aus den Augen und schüttle die Erinnerungen des vertrauten Albtraums von mir ab, der diesmal allerdings eine Änderung aufwies: Die Person im Bett war nicht ich. Sie war hübscher und gescheiter und tapferer als ich. Diesmal war Marta diejenige, die im Bett lag.

Hin und wieder war meine Schwester im Traum in einer Nebenrolle erschienen, mehr oder weniger in dem gleichen Traum, in dem ich bei lebendigem Leib verbrenne. Sie allerdings krabbelt nicht zum Fenster wie ich. Sie saugt den Atem ein und lässt die züngelnden Flammen über die Steppdecke laufen, bis sie ganz von ihnen verschluckt wird.

Mit Sicherheit werde ich nicht wieder einschlafen können. Das klappt nie. Ich gehe mittlerweile früh zu Bett, jedenfalls für meine Verhältnisse – gewöhnlich um zehn Uhr –, weil ich weiß, dass ich irgendwann zwischen zwei und vier Uhr von Flammen umzingelt sein werde. Damit ist die Nacht gelaufen.

Also koche ich mir einen Kaffee und fahre meinen Rechner hoch. Kurzmeldungen per E-Mail trudeln die ganze Nacht über ein, deswegen habe ich genug zu tun.

Ich begehe den Fehler, in den Spiegel zu blicken, an dem ich vorbeigehe. Kein hübscher Anblick. Die ersten Anzeichen von Grau in meinen Locken, doch meine Sturheit, mein Stolz, mich der Anwendung moderner Techniken zum Kaschieren des weiblichen Alterungsprozesses zu verweigern – sich selbst in jeder erdenklichen Weise zu verbiegen, um einen Makel zu verbergen –, verbietet es mir, die Haare zu färben. Ich schminke mich nur minimal, dusche fast täglich, kämme mir die Haare und finde, das reicht. Keine Antifaltencreme, keine Haartönung, kein Push-up-BH für dieses Mädel. Will ich mit dieser Einstellung jemanden beeindrucken? Bis jetzt hat sich noch keine Schlange gebildet, um mich zu bejubeln.

Du selbst bist dein größter Feind, sagte Marta immer zu mir. Du brauchst niemanden, der dich quält, weil du es schon selbst tust.

Marta war in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von mir. Immer auf Spaß aus, während ich vor mich hinbrütete. Sie war bezaubernd, ich spröde. Sie wedelte mit Pompoms in der Luft und jubelte dem Football-Team zu, während ich mich den PETA-Demos vor den Toren der Stadt anschloss. Sie ging Freitagabend mit ihrer Clique auf Partys, während ich meine Nase in einen der Klassiker oder die Statistikbücher steckte.

Sie war fünf Zentimeter kleiner als ich und hatte dunkleres, seidigeres Haar, ihr BH war eine Nummer größer als meiner. Wie zwei Mädchen, die im Abstand von acht Minuten geboren wurden, so unterschiedlich sein können, weiß niemand.

»Verdammt, ich vermisse dich«, sage ich in die leere Küche hinein. Selbst diese Worte muss ich ihr zuschreiben, weil sie sich immer so am Telefon verabschiedete, ihr Markenzeichen, nachdem wir jeweils am anderen Ende des Landes aufs College gegangen waren und sie in Arizona studierte, während ich mich aus Gründen, die keiner nachvollziehen konnte, für die Regierung entschied und zum FBI ging.

Ich weiß noch genau, wie sie reagierte, als sie von meinen FBI-Plänen hörte. Sie war verblüfft, dass sich eine Linke den Etablierten anschließt, verwirrt, als hätte sie nicht richtig gehört, doch ihre Worte klangen weich. Wenn es dich glücklich macht, macht es mich auch glücklich. Das war die andere Sache, auf der sie immer herumritt – Glück. Sei einfach glücklich, Em. Bist du glücklich? Es ist in Ordnung, glücklich sein zu wollen.

Der Kaffee ist fertig. Ich kehre mit dem Becher in mein Arbeitszimmer zurück, gehe die üblichen Webseiten durch und lese die E-Mails. Nichts, bei dem sich mir gleich die Nackenhaare sträuben. Ein Einfamilienhaus in Palo Alto, das in Flammen aufgeht, aber keine Opfer. Ein Brand in einem Sozialbauviertel in Detroit, bei dem man von mehreren Toten ausgeht. Ein Brand in einer Chemiefabrik außerhalb von Dallas. Nein, nein und noch mal nein.

Aber das hier könnte interessant sein, ein Brand, der sich erst vor wenigen Stunden in Lisle in Illinois ereignet hat. Ein alleinstehendes Stadthaus. Ein Opfer.

Sie heißt Joelle Swanson.

9

»Sitzung Graham«

Aufnahme 3

23. August 2012

Der Tag danach. Ein Kater, dem Erwachen nach einer übermäßig anstrengenden Nacht nicht unähnlich. Ich liege im Bett, spreche zu euch in ein Diktiergerät und sehe mir das Foto von Joelle Swanson an, das ich gestern Abend gemacht habe, nachdem wir die Sache beendet hatten, ausgedruckt mit meinem Farbdrucker. Sie war eine Kämpferin, das muss ich ihr lassen. Das viele Blut, der Schmerz, und trotzdem kämpfte sie bis zum Ende um ihr Leben. Manchmal verstehe ich die Menschen nicht.

Ich weiß, ich weiß, ich habe gesagt, ich mache keine Fotos – doch am Ende einer Begegnung mache ich von jedem Opfer eins. Darf man sich denn kein Andenken aufbewahren?

Jedenfalls wünsche ich euch einen guten Morgen. Ich versuche, den Tag immer mit dem Sonnenaufgang um fünf Uhr morgens zu beginnen. Die Zeit kann nicht besser sein für Autounfälle, Morde oder andere Vorfälle üblen Ausgangs. Besonders an einem Tag wie heute, dem, Zitat Anfang, Tag danach, Zitat Ende, darf man sich beherzt die Nachrichten ansehen. Hier … ich rufe gerade das Video auf der Webseite auf … hier ist es.

Ein Hausbrand in einem Vorort von Lisle in der vergangenen Nacht forderte das Leben einer dreiundzwanzigjährigen Frau, Joelle Swanson, einer ehemaligen Studentin der Benedictine University. Das Feuer brach in der Nacht auf Mittwoch in den frühen Morgenstunden im Schlafzimmer aus. Den Behörden zufolge war die Brandursache eine umgekippte Kerze neben dem Bett. Der Verdacht auf eine vorsätzliche Tat bestehe nicht.

Und nun zum Sport. Die NFL-Saison steht vor der Tür, doch ein Arbeitskampf wird die Schiedsrichter…«

Das reicht. Gleich wegklicken. Ich wünschte, ich hätte die Aufnahmen von dem pechschwarzen Rauch gesehen, der aus dem Dach von Joelles Haus waberte. Mir gefällt das Wort, wabern, eines jener Wörter, die genau ausdrücken, was sie meinen. Gibt es sonst noch was außer Rauch, das wabert? Es wurde sogar ein harmloses Foto von Joelle gezeigt, das aus dem Jahrbuch ihrer Uni stammen muss, geschniegelt und gestriegelt. Mir gefällt mein Foto von ihr besser, es hat mehr Charakter, zeigt mehr Narben, mehr Leben.

Übrigens ist mir klar, dass es strategisch unklug ist, Fotos von meinen Opfern aufzubewahren. Ja, ich weiß, würde man mich schnappen, würde dies detailliert aufzeigen, was ich getan habe, besser als ein mündliches Geständnis. Was soll ich sagen? Ich brauche diese Fotos. In diesem Punkt riskiere ich es, leichtsinnig zu sein. Wenn es euch damit besser geht: Ich verstecke meine Bilder zwischen den Seiten 232 und 233 im Kochbuch meiner Mutter, dem alten Betty Crocker Cookbook, gleich neben dem Rezept für Rinderhack-Lasagne – und ja, eine bewusste, wenn auch blutige Entscheidung.

Oh, denkt ihr jetzt. Seine Mutter. Die erste Erwähnung seiner Mutter erfolgt in der dritten Sitzung nach drei Minuten und siebzehn Sekunden. Könnte der Zeitpunkt ein Hinweis sein? Ist die317 die Hausnummer, wo er aufwuchs? War ihr Geburtstag der 17.März? Hat sie ihn 3+17 Mal sexuell missbraucht?

Okay, jetzt kann ich’s euch genauso gut erzählen: Meine Mutter zog mich, als ich ein kleiner Junge war, immer als Little Bo Peep an, und das verfolgt mich bis heute. Nachdem ich sie mit einer Machete getötet hatte, schwor ich mir, alle hübschen, jungen blonden Frauen zu verstümmeln, mit denen ich in Kontakt komme, um diesen Schrecken endlich loszuwerden. Aber die Albträume verschwinden einfach nicht.

Das war ein Witz. Ich weiß, den habe ich nicht gut rübergebracht. Ich war einfach nicht mit dem Herzen dabei. Vielleicht erzähle ich euch eines Tages von meiner Mutter. Vielleicht auch nicht.

Jetzt muss ich mich für die Arbeit fertig machen. Heute ist ein großer Tag. Mein Plan ist, mir vor dem Labor Day noch mindestens ein Abenteuer zu gönnen.

[ENDE]

10

Ich verbringe den Vormittag wie meistens in den letzten Monaten in meinem Arbeitszimmer, das auch als das zweite Schlafzimmer meiner Mutter bekannt ist, und wühle mich durch Untersuchungen und Daten. Weil ich vom Dienst suspendiert bin, habe ich keinen Zugang zum NIBRS, dem nationalen Reporting-System für kritische Zwischenfälle. Doch das NIBRS nützt mir sowieso nichts. Dort werden nur Informationen zu Bränden gesammelt, die als Brandstiftung eingestuft werden. Gelten sie als Unfall oder auch nur als »verdächtig«, schaffen sie nicht ihren Weg ins NIBRS. Und der Typ, nach dem ich suche, lässt Brände immer wie Unfälle aussehen.

Was heißt, dass er völlig unbeobachtet agiert. Die örtliche Polizei meldete diese Brände erst gar nicht dem FBI, und zwischen den Behörden findet auch kein Austausch statt.

Weswegen mir nur die völlig unwissenschaftliche Methode bleibt, Seiten wie Google und YouTube zu durchsuchen, Webseiten und Nachrichtenforen im Auge zu behalten, die sich dem Kampf gegen Brände und Brandstiftung widmen, und mir die aktuellen Berichte der lokalen Zeitungen durchzulesen. Es gibt in diesem Land täglich Brände, beabsichtigte oder unbeabsichtigte, bei denen Menschen sterben, und ob sie nun dem FBI gemeldet werden oder nicht, schaffen sie es zumindest in die örtlichen Medien. So werde ich also täglich mit einer Welle von Nachrichten über Brände überschwemmt, von denen neunundneunzig Prozent irrelevant sind, aber die ich mir alle vornehmen muss, um sicherzugehen, dass ich die berüchtigte Stecknadel im Heuhaufen nicht übersehe.

Mittlerweile ist es Spätnachmittag. Ich habe Stunden vor meinem Klapprechner gekauert und Spuren verfolgt. Eine Anfrage wegen des Brands in Lisle in Illinois habe ich rausgeschickt, doch der dortige Polizist hat mich noch nicht zurückgerufen.

Mein Mobiltelefon surrt. Wenn man vom Teufel spricht. Vermutlich ist es der Polizist, doch nach einem Tag einsamer Zurückgezogenheit wäre ich schon froh, mit einem Telemarketing-Menschen zu sprechen, der mir eine Lebensversicherung verkaufen will.

Ich schalte den Lautsprecher ein und rufe ein lautes Hallo.

»Ms Dockery, hier ist Lieutenant Adam Ressler vom Police Department Lisle.«

»Ja, Lieutenant. Danke für Ihren Rückruf.«

»Ms Dockery, könnten Sie mich über Ihren Status aufklären. Arbeiten Sie beim FBI?«

Das ist mein Problem. Das tue ich nicht. Es wäre schon schlimm genug, Analystin und keine Special Agent zu sein – einige örtliche Polizisten reden nur mit Agents –, doch im Moment bin ich nicht einmal das. Wer nach meinem Autorisierungscode sucht, findet ihn, daher wissen sie, dass ich diejenige bin, die zu sein ich behaupte, aber das Problem ist, dass sich neben diesem Code keine Statusangabe befindet.

»Im Moment bin ich vom FBI beurlaubt und arbeite im Rahmen eines Spezialauftrags«, antworte ich.

Ein Anwalt würde dies eine technisch einwandfreie Aussage nennen. Nur hat zufällig das FBI nichts mit diesem »Spezialauftrag« zu tun, weil ich ihn mir selbst übertragen habe. Mehr oder weniger wurde ich vom Dienst suspendiert und arbeite völlig auf eigene Faust. Doch mit den nicht ganz ehrlichen Worten, die ich gewählt habe, klingt die Sache etwas besser.

Normalerweise funktioniert das – bis zu einem gewissen Punkt. Ich schaffe es, irgendwo in den Bereich zwischen Durchschnittsbürgerin oder neugieriger Reporterin und tatsächlicher Polizistin zu fallen. Damit erhalte ich Antworten auf weitgehend harmlose Fragen, die für meine Zwecke gerade mal eben ausreichen, doch damit ergibt sich noch kein umfassendes Bild, wie ich es mir wünsche.

»Also gut, schauen wir, was Sie brauchen«, beginnt er, was heißt, er wird einige Fragen beantworten, andere nicht. »Sie rufen wegen Joelle Swanson an?«

»Stimmt, Lieutenant. Der Brand vor drei Tagen.«

Mehr weiß ich bisher nicht: Joelle Swanson, dreiundzwanzig Jahre alt, wohnte in einem Neubau im 2141 Carthage Court in Lisle in Illinois, einer Vorstadt, mehr oder weniger vierzig Kilometer von Chicago entfernt. Sie lebte allein, machte erst vor Kurzem ihren Abschluss an der Benedictine University und arbeitete dort im Studentensekretariat. Sie war alleinstehend, hatte keine Kinder, nicht einmal einen Freund. Sie starb in den frühen Morgenstunden des zweiundzwanzigsten August bei einem Brand. Kein Anzeichen von Fremdeinwirkung, sagt jedenfalls der Feuerwehrchef.

»Was war die Brandursache?«, frage ich den Lieutenant.

»Eine brennende Kerze«, antwortet er. »Stand offenbar auf einem Tisch und fiel auf den Boden. Mit den auf dem Teppich verteilten Zeitungen und der Schaumstoffmatratze ging das Schlafzimmer ziemlich schnell in Flammen auf. Das Opfer verbrannte auf dem Bett bis auf die Knochen.«

Ich schweige in der Hoffnung, dass er weiterredet.

»Mein Chef sagt, es gebe keine Anzeichen eines Brandbeschleunigers. Er hat gesagt, es sieht aus wie … hm, er hat gesagt: ›wie eins dieser dämlichen Dinge, die Menschen tun‹, also einzuschlafen, während eine Kerze brennt.«

Und während praktischerweise ein paar Zeitungen herumliegen. »Sind Sie sicher, dass der Brand im Schlafzimmer begann?«

»Ja, der Feuerwehrchef sagt, es besteht kein Zweifel. Kein Zweifel am Grund oder der Ursache.«

»Was ist mit der Kerze?«, frage ich.

»Was soll damit sein?«

»Gibt’s eine Theorie, wie sie umfiel?«

Er antwortet nicht. Dieser Punkt scheint ihm eher unwichtig zu sein, aber ehrlich, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Kerze auf einem Tisch einfach umfällt? Die Kerze fiel in einer Wohnung um, nicht durch einen kräftigen Windstoß.

»Dürfte ich vielleicht wissen, warum sich das FBI darum kümmert?«, fragt er zurück.

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen das beantworten, Lieutenant. Aber Sie wissen, wie das läuft.«

»Hm … ja gut.«

»Wird es eine Obduktion geben?«

»Ich glaube nicht, nein.«

»Warum nicht?«

»Also, zum einen bin ich mir nicht sicher, ob wir eine Leiche haben, die obduziert werden kann. Und die bessere Frage ist: Warum? Der Feuerwehrchef sagt, es gibt kein Anzeichen von Fremdeinwirkung. Wir wissen nicht, dass oder ob ihr jemand etwas antun wollte, und wir haben keinen Beweis, dass ihr irgendjemand was angetan hat.«

»Deswegen führt man eine Obduktion durch, Lieutenant. Um den Beweis zu finden.«

Pause. Über den Lautsprecher klingt es wie Totenstille, als hätte er aufgelegt. Vielleicht hat er das. Polizisten mögen es nicht, wenn ihnen jemand sagt, was sie tun sollen, besonders nicht das FBI. »Ich weiß, warum man Obduktionen durchführt, Ms Dockery, aber nicht jeder Tote wird obduziert. An diesem Fall ist überhaupt nichts Verdächtiges, wie die Fachleute sagen …«

»Gibt es bei Ihnen nicht eine Sondereinheit Brandstiftung?«, frage ich. »Können Sie den Fall nicht an die Sondereinheit weiterleiten?«

»Wir haben eine in ganz Illinois agierende Sondereinheit, ja, Ma’am, aber wir melden nicht jeden Brand der Sondereinheit, sonst hätte sie keine Zeit, sich mit den echten Brandstiftungen zu beschäftigen. Hätten Sie denn irgendwelche Infos zu Joelle Swanson, die uns davon überzeugen, dass Fremdeinwirkung im Spiel war?«

»Über Joelle Swanson weiß ich überhaupt nichts«, muss ich zugeben.

»Dann sind wir, glaube ich, jetzt fertig. Ich bin beschäftigt.«

»Das weiß ich, Lieutenant, und ich bin Ihnen für Ihre Zeit sehr dankbar. Darf ich Sie noch um einen weiteren Gefallen bitten?«

Ein hörbares Seufzen, laut genug, damit es mir nicht entgeht. »Was?«

»Das Schlafzimmer. Was wissen Sie über den Grundriss und die Einrichtung?«

11

Lieutenant Ressler verspricht, mir so bald wie möglich die Infos über Joelle Swansons Schlafzimmer zu schicken. Das könnte heißen, in zehn Minuten oder nie. Vielleicht hätte ich sein Ego streicheln sollen, um die Kooperation zu erleichtern. Aber ich habe es satt, mir Geschichten von Feuerwehrleuten anzuhören, die eine Menge darüber wissen, wie man einen Brand löscht, aber nur wenig, wie man einen entfacht, und deswegen Akten schließen, bevor die Ermittlungen überhaupt begonnen haben. Handelte es sich um einen Laden mit einem Schaden in Höhe von mehreren Millionen Dollar, würden sie sich den Arsch aufreißen und kräftig in der Asche wühlen. Doch bei einem ziemlich kleinen Feuer mit einer scheinbar offensichtlichen Ursache werden die Ermittlungen gleich im Keim erstickt.

Da ich eine Pause brauche und keine Lust auf Mikrowellen-Burger und Käse habe, beginne ich, den Küchenboden zu schrubben. Ich habe so eine Art Ordnungsfimmel, und das ist genau das, was die Immobilienmakler suchen. Der meiner Mutter war froh zu hören, dass ich nach ihrem Umzug nach Florida in ihr Haus einziehen wollte. Es ist einfacher, ein Haus zu verkaufen, das noch bewohnt ist. Auch für mich war das nach meiner Suspendierung praktisch. Meine Wohnung in Georgetown überstieg ohne mein monatliches Einkommen meine finanziellen Möglichkeiten bei Weitem.

Das ist also mein Leben: Ich wohne im Moment im Haus meiner Mutter in Urbanna in Virginia, während meine Mutter in Naples einen sonnigeren Himmel genießt. Zu Hause wohnend, ohne Arbeit, ohne Beziehung. Emmy mit fünfunddreißig!

Als der Küchenboden sauber ist, gehe ich in die Hocke und dehne meine Arme. Ich bin in jeder Hinsicht müde, körperlich und geistig. Ich hatte meine Hoffnung auf Books gesetzt, muss ich zugeben. Er fände Gehör beim FBI-Direktor, und wenn jemand an mich glaubt, dann Books. Aber ich kann es ihm nicht verübeln. Er hatte vollends das Recht, so zu reagieren. Das macht mir wahrscheinlich am meisten Sorgen.

Ich meine, was habe ich erwartet? Ich habe mit ihm drei Monate vor der Hochzeit Schluss gemacht. Ich bin ausgerastet und habe einem wunderbaren Mann das Herz gebrochen. Jetzt, zwei Jahre später, spaziere ich einfach so in sein Leben zurück und erwarte, dass er Wie hoch? fragt, wenn ich Spring! sage.

Jetzt bin ich also wieder bei meiner Eine-Frau-Show, der Emily-Jean-Dockery-Sondereinheit, die sich in äußerst amateurhafter Weise durch Daten wühlt und im ganzen Land örtliche Polizeidienststellen anruft, in denen man mich meistenteils für ziemlich durchgeknallt hält.

Vielleicht haben sie ja recht.

An meiner Tür wird geklopft. Mir wird eiskalt. Ich habe hier nur wenige Bekannte und noch weniger Freunde. Und es ist schon acht Uhr durch.

Eine Waffe habe ich auch nicht. Ich habe einen Schwamm und einen Eimer. Ich könnte dem Kerl drohen, ihn zu Tode zu putzen.

»Wer ist da?«, rufe ich vom Flur aus.

Die Stimme, die mir antwortet, ist mir sehr vertraut.

Ich atme kräftig aus und öffne die Tür.

Harrison Bookman trägt ein anderes Hemd, aber dieselbe Jeans wie neulich. Unter einem Arm klemmt, als käme er, um seine Hausaufgaben zu machen, der Aktenstapel, den ich bei ihm gelassen hatte.

»Er tötet nie an einem Sonntag«, sagt er.

»Nie.«

Einen langen Moment spricht keiner von uns.

»Wäre gut, wenn du guten Kaffee hast«, sagt er.

»Ja.«

»Klar, jetzt sagst du Ja.«

Das ist das zweite Mal in dieser Woche, dass ich lächle.

12

Wir, Books und ich, gehen die Pennsylvania Avenue Northeast entlang, dort vorbei, wo einst das D’Acqua war – unser Ort, wenn es jemals einen Ort gab, den wir den unsrigen nannten, wo wir uns etwas aus der mit Eis ausgelegten Vitrine im Restaurant vom aktuellen Fang aussuchten und Weißwein tranken oder draußen saßen und über die Fontänen des Navy Memorial hinwegsahen. Ein bisschen zu aufgedonnert für unseren Geschmack, aber diesen Luxus gönnten wir uns. Es war unser Freitagabend-Date.

Aber die Dinge ändern sich. Dem Restaurant ging die Puste aus, ebenso wie unserer Beziehung.

»Es liegt nur daran, dass du ein Mann bist«, sage ich zu ihm.

Books scheint ernsthaft darüber nachzudenken, bevor er kurz nickt. »Das ist eine Möglichkeit«, stimmt er mit gerunzelter Stirn zu. »Oder vielleicht …« Er streicht sich übers Kinn wie Sherlock Holmes, der ein Rätsel lösen will. »Vielleicht liegt es auch daran, dass ich von ein paar Leuten in dem Gebäude als normal erachtet werde, du aber nicht.« Er schnalzt mit den Fingern, als hätte er die Lösung gefunden.

»Nein, das ist eine Geschlechtersache. Der Grund ist, dass ich eine Frau bin.«

»Eine Frau, die ein Problem mit dem gesunden Menschenverstand hat.«

»Books«, sage ich, doch dann bleibt er abrupt vor der FBI-Zentrale stehen.

»Du wolltest das hier, nicht ich«, schnauzt er. »Ich versuche, dir bei etwas zu helfen, was du willst. Warum kannst du nicht einfach damit zufrieden sein, ohne es zu Tode zu analysieren?«

Hoppla. Das ist etwas mehr Feindseligkeit, als ich erwartet hätte.

Er drückt sich an mir vorbei. Wir nennen am Empfang unsere Namen. Es gab eine Zeit, in der wir beide nur unsere Dienstmarke hochhalten mussten. Jetzt sind wir Besucher, Books aus eigenem Willen, ich fremdveranlasst.

»Einen kleinen Moment«, sagt die Frau am Empfang. Books verschränkt die Hände hinter seinem Rücken. Es sind immer die kleinen Dinge, die wieder Erinnerungen wachrufen. Immer verschränkte er die Hände, wenn er arbeitete, wirkte immer förmlich. Wenn ich mit ihm allein zusammen war, brachte er mich oft dazu, dass ich mich totlachte, aber während der Arbeit konnte man ihn für den typischen humorlosen Agent Joe Friday aus Polizeibericht halten – nur die Fakten, Ma’am. In glücklicheren Tagen zog ich ihn damit auf, verschränkte meine Hände hinterm Rücken, ging wie ein Roboter auf und ab und sagte: Ja, Ma’am, nein, Sir.

»Denk dran, Emmy, das ist meine Besprechung.« Books dreht sich zu mir um.

»Ich werde brav sein. Ich schwör’s. Komm, gib mir deinen kleinen Finger.«

»Ich bin kein Mädchen, mit einem kleinen Finger gebe ich mich nicht zufrieden.«

»Aber du hast doch einen kleinen Finger, oder?«

Er seufzt. »Ich will einfach nur, dass wir es auf meine Weise tun.«

»Genau das meine ich auch. Ich würde es nicht anders wollen, Books.«

Er stöhnt verzweifelt auf, was heißt, dass er mir nicht glaubt. Er weiß, wie Aufmerksamkeit heischend ich sein kann.

»Du bist der große Mann«, sage ich. »Ich bin das kleine Mädchen, das deine Tasche trägt.«

»Du trägst meine Tasche nicht.«

»Das werde ich aber tun, wenn du willst.«

Wir erhalten von der Empfangsdame Besucherausweise, unsere Taschen werden gründlich durchsucht, und schließlich gehen wir zu den Fahrstühlen.

»Du bist heute völlig aufgedreht«, stellt Books fest.

Er hat recht. Ich stehe unter Strom, bin besorgt, was ich mit diesem Verhalten kompensiere. Dies ist die wichtigste Besprechung, die ich je hatte, weil so viel auf dem Spiel steht, doch ich mache einen auf lustig.

»Dir ist klar, dass auch diese Besprechung ein Gefallen ist?«, versichert sich Books.

»Ja.«

Books wirft mir einen Blick zu, bevor wir in den Fahrstuhl steigen. Während wir nach oben fahren, reden wir nicht miteinander. Es gehört zu seinen Regeln, zu seiner Supergeheimspionhaltung. Keine Gespräche in Gegenwart von Fremden.

Aber ich weiß, was er sagen will. Ich habe das Wort laut und deutlich wiederholt: Ja.

Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich die Sache schon drei Monate vorher beendet habe. Wir bekamen die Anzahlung für den Ballsaal zurück, und die Einladungen waren noch nicht verschickt. Ob Books das als Trost sieht? Ich glaube … nein.

Wir nennen einer Frau unsere Namen, sie führt uns den Flur entlang zum großen Konferenzraum, der von FBI-Direktor William Moriarty genutzt wird.

Books spannt sich immer mehr an, je näher wir dem Raum kommen. Er ist seit seiner Kündigung, die er entgegen dem Willen des Direktors einreichte, das erste Mal hier, geht seitdem zum ersten Mal durch diese Flure mit dem dünnen Teppichboden und den billigen Bildern an der Wand. Die dichte Atmosphäre, der aufregende Hauch der Jagd, auf die bösen Jungs und um die Sicherheit des Landes zu wahren – das kann nicht leicht für ihn sein. Ich habe viel von ihm verlangt und nach dem, was ich ihm angetan habe, nicht gerade Großmut seinerseits verdient. Books gehört eindeutig zu den Guten.

Ich meine, er hat nicht nur die Besprechung organisiert, sondern dazu noch eine beim Alphatier. Er hat es geschafft, meinen Chef, den Dicken, zu umgehen, der sich mit Sicherheit einem Gespräch verweigert hätte. Ich bin froh, dass er nicht dabei sein wird.

Die Tür geht auf. Am Ende des langen Tischs steht Direktor Moriarty, links von ihm seine Stabschefin, Nancy Parmaggiore.

Und rechts von ihm der stellvertretende leitende Direktor der Criminal, Cyber, Response and Services Branch. Auch bekannt unter dem Namen Julius Dickinson. Auch bekannt als der Dicke.

»Scheiße«, flüstere ich, als mir Books sanft einen Ellbogen in die Seite drückt.

13

William Moriarty, ehemaliger FBI-Agent, Bundesstaatsanwalt, Kongressabgeordneter von New York, Bundesrichter in Washington D. C. und seit drei Jahren FBI-Direktor, schaut erfreut, als er Books sieht. Books hat schon unter Moriarty beim FBI gearbeitet, als der noch nicht Direktor war, und Moriarty hat es nicht bis dorthin geschafft, wo er jetzt ist, indem er Leute vergisst. »Dank der Arbeit dieses Mannes habe ich viele Lorbeeren eingeheimst«, erzählt er seiner Stabschefin und dem Dicken, die wie kleine Soldaten anerkennend nicken. »Den wollte ich nicht gehen lassen. Jetzt verkauft er Bücher!«

Der Direktor setzt sich und bedeutet den anderen, es ihm gleichzutun, bevor er einen auffälligen Blick auf seine Uhr wirft. »Ich muss den Präsidenten um drei Uhr informieren, deswegen habe ich nur zehn Minuten Zeit«, erklärt er.

Zehn Minuten? Um über den schlimmsten Serienmörder unserer Nation zu sprechen?

»Der stellvertretende Direktor Dickinson hat mir die Einzelheiten schon mitgeteilt«, sagt er. »Und ich stimme ihm zu, dass dies die unglaublichste Geschichte ist, die ich je gehört habe, wenn es das Werk eines einzelnen Mannes ist.«

Der Dicke nickt eifrig. Nach einer Weile wandert sein Blick zu mir. Das kleine Dreckschwein. Ich habe Books versprochen, mich zu benehmen. Unser wichtigstes Ziel ist, das FBI dazu zu bringen zu ermitteln, egal, wer den Verdienst einheimst.

Aber fürs Protokoll sei an dieser Stelle vermerkt: Er soll mich am Arsch lecken.