Tödliche Kälte - Paul Bryers - E-Book
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Tödliche Kälte E-Book

Paul Bryers

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Beschreibung

Ein eiskalter Verdacht: Der psychologische Thriller »Tödliche Kälte« von Paul Bryers jetzt als eBook. bei dotbooks Bridport, Maine: Nahe der kanadischen Grenze wird die Leiche einer jungen Frau im Schnee gefunden. Ihr Gesicht ist durch etliche Wunden entstellt. Wurde sie von einem Bären angefallen? Der Fall scheint schnell gelöst zu sein – zu schnell. Detective Michael Calhoun kommen erste Zweifel: Die Tote gehörte zu einem Forscherteam, das die Spuren der Vergangenheit in einer indianischen Kultstätte freilegen wollte. Ist sie auf etwas gestoßen, das um jeden Preis geheim gehalten werden soll? Doch wer wäre bereit, dafür heute noch über Leichen zu gehen? »Geistreich, spannend, herausragend: ein literarischer Thriller der Extraklasse.« Literary Review »Paul Bryers ist ein begnadeter Geschichtenerzähler.« Time Out Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Tödliche Kälte« von Paul Bryers. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 452

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Über dieses Buch:

Bridport, Maine: Nahe der kanadischen Grenze wird die Leiche einer jungen Frau im Schnee gefunden. Ihr Gesicht ist durch etliche Wunden entstellt. Wurde sie von einem Bären angefallen? Der Fall scheint schnell gelöst zu sein – zu schnell. Detective Michael Calhoun kommen erste Zweifel: Die Tote gehörte zu einem Forscherteam, das die Spuren der Vergangenheit in einer indianischen Kultstätte freilegen wollte. Ist sie auf etwas gestoßen, das um jeden Preis geheim gehalten werden soll? Doch wer wäre bereit, dafür heute noch über Leichen zu gehen?

»Geistreich, spannend, herausragend: ein literarischer Thriller der Extraklasse.« Literary Review

»Paul Bryers ist ein begnadeter Geschichtenerzähler.« Time Out

Über den Autor:

Paul Bryers wurde 1955 in Liverpool geboren. Nach einem Studium der Modernen Geschichte, Politik und Wirtschaft arbeitete er als Journalist und Reporter, bevor er als Produzent und Regisseur fürs Fernsehen tätig wurde. Heute ist er bekannt als Filmemacher von Dokumentationen und Schriftsteller.

Von Paul Bryers erscheint bei dotbooks ebenfalls:

»Tödlicher Reigen«

Die Website des Autors: www.paulbryers.com

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eBook-Neuausgabe November 2018

Dieses Buch erschien bereits 1999 unter dem Titel »Winter des Bären« bei Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der englischen Originalausgabe 1998 by Paul Bryers

Die englische Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel »The Prayer of the Bone« bei Bloomsbury Publishing, London.

Copyright © der deutschen Ausgabe 1999 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Marbury, Felix Mizioznikov und Kamenetsky Konstantin

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96148-213-9

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Paul Bryers

Tödliche Kälte

Roman

Aus dem Englischen von Barbara Jung und Sabine Saßmann

dotbooks.

Der Blick zurück, hinter die SicherheitenVerbürgter Geschichte, der scheue Blick zurück,über die Schulter, ins Reich ursprünglichen Schreckens.T. S. Eliot, aus »Die Dry Salvages«, Vier Quartette

Teil 1 – Früher Schnee

Kapitel 1

Schon als er zum ersten Mal dort hinkam, noch bevor er die Geschichte des Ortes kannte, dachte er an Knochen. Eine Knochenklippe.

Das lag an einer ganzen Reihe von Dingen: der verlassenen Konservenfabrik mit dem noch immer in der Luft hängenden Geruch nach totem Fisch, den ausgebleichten Treibholz-Geweihen am Strand, dem Netz von Gräben, das die Landzunge wie ein Massengrab durchschnitt, und vor allem den am Rand der Klippe wachsenden Birken, die so spät im Herbst längst ihre Blätter verloren hatten und weißer waren als Silber, sogar weißer als der Schnee. Und dann natürlich die Leiche.

Sie lag auf dem Rücken, und der Schnee bedeckte ihr zerstörtes Gesicht wie gütige Gaze.

Sie hatte abends in einer der Kneipen unten am Hafen gearbeitet, und die meisten Männer in der Gruppe der Trauernden auf den Klippen hatten sie gekannt. Oft ging man bloß hin, um sie anzuschauen, sagte einer von ihnen.

Mit hochgezogenen Schultern standen sie da, jeder einzelne in seiner eigenen kleinen Atemwolke, zu ihren Füßen der wirbelnde Schnee. Er dachte an die Kühe auf der Farm seiner Großeltern, wie sie dampfend im Licht der nackten Glühbirnen im Stall standen. Sie hatten etwas Hilfloses, Resigniertes. Doch Zorn war auch dabei.

»Wo ist das Kind?« Sein Mund war in der eisigen Luft ganz starr geworden. »Weiß jemand, wer bei dem Kind ist?«

Keiner antwortete, doch er sah die kurzen Blicke, die sie einander zuwarfen, als wäre es sonderbar, danach zu fragen, wenn es so viele andere unbeantwortete Fragen gab. Wahrscheinlich war es das auch. Er spürte, wie das Bedürfnis in ihm aufstieg, sich zu beweisen, zu zeigen, daß er schon grausigere Mordfälle erlebt hatte als diesen, und das ärgerte ihn – offenbar mangelte es ihm an Selbstvertrauen. Und außerdem, so etwas hatte er noch nie gesehen.

»Sieht nach Stichwunden aus«, sagte er. Er spürte, wie sich um ihn her Schweigen ausbreitete, eisig wie der fallende Schnee, und fügte hinzu: »Wie aufgeschlitzt.«

Aber noch während er sprach, fiel ihm eine merkwürdige Regelmäßigkeit ihrer Wunden auf, als hätte man sie mit einer Harke traktiert.

»So was hab' ich bloß einmal gesehn, oben in Montana«, sagte einer der Männer. »Und da war's ein Bär.«

Niemand reagierte, und er zuckte die Achseln.

»Bloß daß es bei uns in Maine keine Grizzlies gibt«, sagte der Mann, und die anderen schauten verlegen zur Seite.

Sie hatten in der Nähe der Leiche eine Umhängetasche mitsamt einem am Schulterriemen befestigten L. L. Bean-Schildchen gefunden, auf dem in ordentlichen Druckbuchstaben ihr Name und ihre Adresse standen.

Wie um ihnen die Sache zu erleichtern.

»Wer hat sie gefunden?« fragte Calhoun Jensen den Polizeichef aus Bridport, der ihn angerufen hatte. Wir sind doch hier bestimmt an der äußersten Grenze des Stadtbezirks, dachte er, wenn nicht schon dahinter. Er hatte in der kleinen Flotte von Fahrzeugen, die bereits angekommen waren, einen der Wagen des Sheriffs gesehen, doch Jensen schien die Sache in die Hand zu nehmen. Er zeigte den Weg hinunter in Richtung der kleinen Versammlung vor der alten Konservenfabrik.

»Zwei von denen. Dr. Wendicott, sie ist die Projektleiterin oder so was ähnliches, und eine ihrer Studentinnen. Sie waren auf dem Weg zur Ausgrabungsstätte.«

Die Ausgrabungsstätte. Calhoun registrierte es und versuchte, sich die Geographie so einzuprägen, wie sie jetzt war, mit ihrer dünnen Schneedecke, bevor Jensens Männer anfingen, überall herumzutrampeln.

In diesem Bereich war die gesamte Landzunge durch Reihen von etwa ein- oder eineinhalb Meter tiefen Ausschachtungen durchzogen, die sich mehr oder weniger im rechten Winkel bis zur Klippe erstreckten und den roten Granit der Fundamente von alten Gebäuden – oder Mauern, oder was immer es war – zum Vorschein brachten.

Die Leiche war bei einer einzeln stehenden Birke gefunden worden, etwa auf halbem Wege zwischen diesen Gräben und dem Waldrand. Wenn der Mörder irgendwelche Spuren hinterlassen hatte, waren sie unter dem Schnee verschwunden.

Was hatte sie in einer solchen Nacht hier gemacht?

Sie hatte seit dem Frühsommer hier gearbeitet, hieß es, sie kannte sich also aus.

Vielleicht hatte sie etwas liegenlassen und war zurückgekommen, um es zu suchen.

Doch eine Taschenlampe hatte man nicht gefunden. Und warum nicht bis zum Morgen warten?

Er ging an einem der Gräben entlang auf den Rand der Klippe zu. Es war Ebbe, und er konnte die Algen am Strand riechen. Der Himmel schien sich ein bißchen aufzuhellen. Calhoun konnte gerade noch einen dunkleren Grauton ausmachen – die Küstenlinie von New Brunswick auf der anderen Seite der Bay. Und dann sah er das Boot.

Es lag in der Einfahrt zu der kleinen Bucht, eine Jacht von solcher Eleganz, solch offenkundiger Rasse, daß sie nur durch ein Versehen hierher geraten sein konnte. Oder aber es handelte sich um eine bewußte Inszenierung, wie ein Detail auf dem Werbefoto eines Hochglanzmagazins, das das Objekt der Begierde vor dem Hintergrund einer besonders öden Landschaft präsentiert, um dessen Anmut und Schönheit hervorzuheben. Calhoun war derart verblüfft von dem Schiff selbst, daß er die Figur an Deck zunächst gar nicht bemerkte – eine weiße Gestalt mit Kapuze, die auf einem Lukendeckel saß und aufs Meer hinausstarrte. Sie war so reglos, daß es auch eine Puppe hätte sein können oder ein Schneemann, und dann wandte sich der Kopf in seine Richtung, und Calhoun, der am Rand der Klippe stand, wußte, daß er entdeckt worden war und nun von einem Augenpaar unter der Kapuze beobachtet wurde. Er wartete einen Moment, um zu sehen, ob die Gestalt ihm zuwinken oder sich mit irgendeiner Bewegung seinem forschenden Blick entziehen würde, doch es war Calhoun, der sich schließlich in Bewegung setzte, zurück zu der Leiche bei der Birke.

Der stellvertretende Gerichtsmediziner war endlich angekommen, hatte sich brummelnd für die Verspätung entschuldigt und dem Schnee die Schuld gegeben, ein älterer Mann mit der gelangweilten Miene eines Menschen, den nichts mehr überraschen kann, einer Miene, vermutete Calhoun, die aufgesetzt war – es sei denn, hier oben gab es Morde, von denen ihm noch niemand erzählt hatte. Soweit Calhoun wußte, war in Russell County seit über zwanzig Jahren niemand eines gewaltsamen Todes gestorben.

Er wurde allerdings sehr still, als er das Gesicht sah.

»Worauf tippen Sie?« sagte Jensen. »Ich meine, eine Axt, eine Schaufel oder was?«

Der Arzt schien ihn nicht zu hören, oder aber er machte sich nicht die Mühe zu antworten.

»Könnten wir nicht irgendwas drübertun?« sagte er. »Damit sie nicht einschneit. Und ich auch nicht.«

Jensen sah ein bißchen ratlos aus. Er war neu in dem Job, und Calhoun wußte nur, daß er sechs Wochen Grundausbildung an der Polizeiakademie in Augusta absolviert hatte, was ihm einen Vorsprung vor dem letzten Polizeichef verschaffte. Vom Gesetz, das war ein offenes Geheimnis, hatte Marty Hendricks so wenig Ahnung gehabt, daß er einen Fall für abgeschlossen hielt, sobald die Versicherung gezahlt hatte. Jensen dagegen war eifrig. Er war wie ein riesiges Hundebaby, ganz erpicht darauf, Eindruck zu machen, aber mit so vielen Herrchen, daß er nicht wußte, hinter wessen Stock er herrennen sollte.

»Was ist mit dem Boot?« fragte Calhoun ihn leise, während seine Männer versuchten, eine Plastikplane an den Ästen des Baumes zu befestigen.

»Das Boot?«

Jensen wiederholte das Wort, als sei es ihm vollkommen unbekannt, ein Fachausdruck, den er an der Akademie nicht gelernt hatte und der ihn jetzt womöglich ein paar Punkte in der laufenden Beurteilung kosten konnte.

»Da unten in der Bucht liegt ein Boot«, erklärte Calhoun. »Wissen Sie, wem es gehört?«

Doch Jensen wußte nicht, wem es gehörte. Wußte nicht einmal, daß es da war.

»Soll ich mich mal dahinterklemmen?« fragte er.

»Wäre vielleicht keine schlechte Idee«, sagte Calhoun, doch er hatte seine Aufmerksamkeit bereits dem Gerichtsmediziner zugewandt, der jetzt neben der Leiche kniete. Mit einem kleinen Pinsel entfernte er einen Teil des Schnees von dem Gesicht, und Calhoun sah, wie in der Masse aus Fleisch und Knochen am Kiefergelenk das erste gezackte Loch auftauchte.

Kapitel 2

Es seien zehn Wunden, sagte Fentiman, die in zwei deutlich abgegrenzten Mustern über ihr Gesicht verliefen, das eine diagonal, von knapp über dem linken Ohr bis zur Nase, das andere entlang des Kiefers bis tief in die Kehle. Unterkiefer und Schädel wiesen Frakturen auf, und sowohl die Halsschlagader als auch die Arterie an der Schläfe seien durchtrennt.

Er glaube, daß es ein Bär gewesen sei, aber mit Bestimmtheit, sagte er, wüßten sie das erst nach der Autopsie.

Calhoun sah zu, wie man sie in den Leichensack legte und den Reißverschluß zuzog. Seltsamerweise widerstrebte es ihm irgendwie, sie fortzulassen.

»Und sie wurde an dieser Stelle getötet?«

»Ich glaube schon. Mit dem Rücken zum Baum.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Vor allem der Winkel der Wunden zum Kiefer. Außerdem hat sie eine leichte Prellung am Hinterkopf, und in ihrem Haar haben wir Rinde gefunden.«

»Wollen Sie damit sagen, sie hat während des Angriffs aufrecht gestanden?«

»Richtig, genau das wollte ich sagen.« Fentiman hatte eine Art, Fragen zu beantworten – zumindest, wenn sie von Calhoun kamen –, die durchblicken ließ, daß er den Fragesteller für einen Idioten hielt. Calhoun hatte den Verdacht, daß er damit seine eigene Unsicherheit kaschieren wollte.

»Und das kommt Ihnen nicht sonderbar vor?«

»Inwiefern?«

»Na ja, daß sie mehrmals attackiert wurde, und zwar mit so harten Schlägen ins Gesicht, daß Kiefer und Schädel Frakturen haben und sie dabei in einer aufrechten Position geblieben ist.«

»Ich habe nicht gesagt, daß sie mehrmals attackiert wurde. Ein Bär hat fünf Klauen. Meiner Meinung nach waren es nur zwei Hiebe. Einer ins Gesicht, einer auf den Kiefer. Eins, zwei. Möglicherweise hat der erste Hieb sie gegen den Baum geschleudert. Ich nehme an, sie rutschte schon am Stamm herunter, als er zum zweiten Mal zuschlug und sie dahin beförderte, wo man sie anschließend gefunden hat.«

»Und die Todeszeit?«

»Bei diesem Wetter? Das soll wohl ein Witz sein.«

Dr. Wendicott war für eine Frau recht groß, vielleicht einen Meter fünfundsiebzig oder einen Meter achtzig mit markanten, fast slawischen Zügen; ein Eindruck, der durch eine russisch anmutende Pelzmütze noch verstärkt wurde. Bei etwas schmeichelhafterem Licht hätte man sie für schön halten können, obwohl sie einen kleinen Makel hatte: eine Narbe, die von ihrem Nasenflügel bis zur Oberlippe verlief und sich an einer Ecke ein wenig hochzog. Calhoun schätzte sie auf Ende Dreißig, vielleicht ein bißchen jünger; es war schwer zu sagen, denn die beißende Kälte spannte ihr die Wangen und ließ ihre Augen tränen. Vielleicht war es auch Trauer. Calhoun fragte, ob sie irgendwo hingehen könnten, wo es ein bißchen wärmer wäre, und sie führte die beiden in ein Zimmer im Erdgeschoß der alten Konservenfabrik, das als Büro benutzt wurde.

Viel besser als draußen war es nicht. Es gab zwar einen alten Holzofen, doch er brannte nicht. Daneben lag ein Stoß Holz zum Verfeuern bereit. Die Wände sahen feucht aus. Dr. Wendicott ließ sich an einem der Schreibtische nieder, zog die Schultern hoch, verschränkte die Arme fest vor der Brust und klemmte die Hände unter die Achseln. Jensen saß mit gezücktem Notizbuch an einem anderen Tisch. Calhoun blieb stehen und machte ein paar schlurfende Schritte auf den Holzdielen, um wieder Leben in seine Füße zu bringen. Soweit er wußte, war dieses Gebäude seit Jahren nicht benutzt worden, jedenfalls nicht als Fischkonservenfabrik, aber Strom hatten sie offenbar. Auf den Schreibtischen standen Computer und in der Ecke ein Fotokopierer. An den Wänden hingen Landkarten und Fotos der Ausgrabungsstätte. Außerdem gab es ein paar Aufnahmen aus dem Sommer von der Arbeit des Teams. Junge Männer und Frauen im Sonnenschein, in Shorts und T-Shirts, fröhlich lächelnd. Calhoun betrachtete sie genauer.

»Sie ist die mit der roten Baseballkappe.« Ihre Stimme war so nüchtern wie der Raum.

»Haben Sie sie gut gekannt?«

»Nicht besonders.« Er drehte sich um und sah sie an, wartete, ob noch mehr kam. Sie seufzte und holte tief Luft. »Ich habe mich eigentlich nie richtig mit ihr unterhalten. Charlie kannte sie besser.«

»Charlie?«

»Charlotte. Charlotte Becker. Sie war bei mir, als wir ... die Leiche gefunden haben. Sie ist eine meiner Magisterstudentinnen.«

»Und was war Miss Ross?«

»Ausgrabungsassistentin. Hier vor Ort angeworben. Wir haben drei oder vier Leute von hier, die uns bei den Ausgrabungsarbeiten helfen.«

Sie schaute ihn nicht direkt an, sondern starrte vor sich hin auf den Schreibtisch, in ihren Lederparka vergraben und mit einer Starrheit im Gesicht, die vielleicht von der Kälte kam. Sie trug noch immer ihre Mütze, und die wenigen Haarsträhnen, die darunter hervorlugten, waren hellblond.

»Wann haben Sie sie zuletzt lebend gesehen?«

»Gestern. Oben an der Ausgrabung. Wir haben bis ungefähr vier Uhr nachmittags gearbeitet. Bis es zu dunkel wurde. Dann ging sie ...« Sie brach unvermittelt ab, hob die Hand und preßte ihre Finger gegen die Stirn, als wolle sie den Gedanken dort einschließen, unausgesprochen lassen.

»Ja bitte?«

»Ihre kleine Tochter. Sie ging ihre Tochter abholen.«

Zum ersten Mal zeigte sie eine Gefühlsregung.

Calhouns Stimme wurde leiser, behutsamer.

»Wie alt ist sie?«

»Neun oder zehn, ich bin nicht ganz sicher.«

»Wissen Sie, wo sie jetzt ist?«

»Nein. Nein, tut mir leid. Sie ... die beiden waren im Ort untergebracht. In einem Gasthof, glaube ich.«

Calhoun nickte. Die Adresse stand auf dem Schildchen an ihrer Handtasche. The Old Barrack House, Bridport. Sie öffnete eine Schreibtischschublade und zog eine Akte heraus.

»Das Formular hier hat sie ausgefüllt, als wir sie eingestellt haben.«

Er überflog es kurz. Achtundzwanzig Jahre alt. Unverheiratet, ein Kind, eine Tochter. Freya. Als nächste Angehörige war ihre Schwester angegeben, Jessica Ross, mit einer Adresse in Oxford, England.

»Wie sieht es hier in der Nacht aus?« fragte er. »Ich meine, gibt es irgendeine Beleuchtung?«

»Wir haben eine Lampe auf dem Vorplatz, wo wir unsere Wagen abstellen.«

»Kein Licht auf dem Ausgrabungsgelände?«

»Nein.«

»Und Sie haben keine Ahnung, warum sie zurückkam, nach Einbruch der Dunkelheit?«

Er glaubte etwas in ihren Augen zu sehen, ein Aufflackern von ... Vorsicht? Oder sogar Zorn. Aber dann schüttelte sie den Kopf.

Er fragte sie nach der Ausgrabung, doch was sie ihm erzählte, war von rein akademischem Interesse: ein altes Fort aus der Kolonialzeit, von den Franzosen erbaut, von den Briten übernommen und von Indianern zerstört. Der Wald war nachgewachsen, hatte die Ruinen überwuchert und sie jahrhundertelang verborgen. Und dann, im Sommer vor zwei Jahren, waren Leute, die ein Picknick machten, auf menschliche Überreste gestoßen.

»Es ist wahrscheinlich die wichtigste Siedlung aus der frühen Kolonialzeit, die je in Maine gefunden wurde«, sagte sie. »Wir waren völlig aus dem Häuschen.«

Sie machte eine kleine, fast entschuldigende Geste mit den Händen, als sei das unter den gegebenen Umständen ein unpassender Kommentar, doch er bat sie um Einzelheiten.

Kurz nach der Entdeckung hätten sie ein paar Vorarbeiten geleistet, erzählte sie, und im vergangenen Frühjahr ernsthaft mit der Arbeit begonnen. Seither wären – mehr oder weniger permanent – vier Leute vor Ort beschäftigt gewesen: sie selbst, ihr Kollege Pete Jarvis und die beiden Magisterstudentinnen Charlie und Laura. Sie schlief in ihrem eigenen Wohnmobil, die anderen in gemieteten Trailern. Dr. Jarvis hatte einen für sich, in dem zweiten wohnten die beiden jungen Frauen. Außerdem gab es noch die Ausgrabungsassistenten und den Sommer über bis zu dreißig Studenten von der Universität, die in Zelten auf der Landzunge kampierten. Sie hatten das Ausgrabungsgelände in Planquadrate eingeteilt, bisher etwa ein Drittel freigelegt und dabei über tausend Artefakte gefunden.

»Und heute morgen sind Sie noch mal dagewesen«, sagte er. »Im Schnee.«

»Ja ...«, ein winziges Zögern und wieder dieses Flackern, das vielleicht Vorsicht bedeutete ... »Wir wußten, daß an Arbeit nicht zu denken war. Wir wollten bloß mal gucken, wie das Ganze im Schnee aussieht. Ich denke, wir wußten, das war erst mal das Ende der Saison.«

»Und dann haben Sie sie gefunden.«

»Ja.«

»Und Sie wußten, wer es war.«

»Zuerst nicht. Wie denn auch?«

Calhoun schwieg. Sie starrte ihn jetzt fast wütend an.

»Was kann das gewesen sein?«

»Was« registrierte er, nicht »wer«.

»Wir wissen es noch nicht«, sagte er. »Und wann wurde Ihnen klar, daß es Miss Ross war?«

»Erst nachdem wir die Polizei gerufen hatten. Wir standen hier draußen rum, und Charlie sagte: ›Es war Maddie, nicht wahr?‹«

»Maddie?«

»So haben wir sie genannt. Eine Abkürzung für Madeleine.«

»Und wie kam Charlie darauf?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht ihre Kleidung ... und dann sahen wir den Wagen.«

»Den Wagen?«

»Ihren Wagen. Ein alter VW, wissen Sie, ein Käfer.«

Calhoun sah Jensen an, und Jensen sah betreten zu Boden.

»Wo ist dieser Wagen?« fragte er vorsichtig.

Er stand am anderen Ende der Konservenfabrik, mit dem Kühler in Richtung Straße, ein rotes Käfer-Kabriolett, in Schnee eingehüllt. Mit Sicherheit hatte der Wagen die ganze Nacht dort gestanden.

Calhoun versuchte, die Tür zu öffnen. Sie war nicht abgeschlossen. Bonbonpapier, Zeitschriften und Straßenkarten waren auf dem Boden und den Polstern verstreut, und auf dem Rücksitz lag eine Puppe in einem Indianerkostüm. Das Wageninnere roch nach etwas vage Vertrautem, wie Moschus. Vielleicht ihr Parfüm? Dann entdeckte er, daß über der Tür ein Bund Süßgras, wie es im Indianerladen des Reservats verkauft wurde, befestigt war. Er zog seinen Kopf zurück und schloß vorsichtig die Tür.

»Hat sie den Wagen meistens offengelassen?«

»Manchmal war sie ein bißchen zerstreut«, sagte Dr. Wendicott.

Du mochtest sie nicht, dachte Calhoun. Bloß weil sie »manchmal ein bißchen zerstreut« war, oder gab es noch einen anderen Grund?

»Der Motor sprang öfter nicht an«, sagte sie. »Deshalb hat sie den Wagen hier abgestellt, wo er bergab rollen kann.«

Calhoun blickte die schmale Straße hinunter. Die Polizeifahrzeuge hatten den Schnee zur Seite gepflügt, so daß eine scharfe, schnurgerade Schneise durch den Wald entstanden war, bis dahin, wo die Straße etwa eine halbe Meile landeinwärts auf den Highway traf.

»Sie ist also mitten in der Nacht zurückgekommen und hat ihren Wagen hier hinten stehenlassen, mit der Vorderseite bergab, falls er später nicht anspringen sollte, und dann ist sie an der Konservenfabrik entlang, an den drei Trailern vorbei und den Weg hinauf zur Grabung gegangen. Und keiner von Ihnen hat sie gesehen.«

Er hatte eigentlich nur laut gedacht, doch sie antwortete trotzdem.

»Es war keine Nacht für Spaziergänge«, sagte sie.

Kapitel 3

»Ich bin 'ne Hexe, ich bin 'ne Hexe, ich bin 'ne böse, böse Hexe.«

Eine schrille, durchdringende Stimme, ein Besenstiel aus Pappe, mit dem am Straßenrand herumgefuchtelt wird; Jessica tut furchtbar erschrocken und radelt ein wenig schneller den Park entlang. Hexen und Zauberer, Gespenster, ein Skelett und ein tanzender Teufel. Mama Monster bugsiert ihre Baby-Monster, die noch üben, wie man richtig heult, über den Gehsteig. Halloween, verzuckert und kandiert, ein zahnloser Schrecken. Ganz anders als früher.

In einer ungewohnten Anwandlung von nostalgischen Gefühlen für die Gespenster ihrer eigenen Kindheit tritt Jessica heftig in die Pedale ihres Fahrrads und strampelt durch die trüben Nebelschwaden, durch das triste Tor von Lady Margaret Hall und über den viereckigen Hof, taucht ein in das Licht, das hell aus den Fenstern strahlt. Ihr Zuhause. Wenn man so will.

Sie schleppt den mit Büchern bepackten Korb die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Ein gemütliches Zimmer für sich allein: Bücher, ein paar Familienfotos, die Kacheln aus der Toskana an der Wand, die Aquarelle von Venedig ... Genau das, was sie sich immer gewünscht hat. Sie setzt sich aufs Bett, glättet die weiße Tagesdecke mit der flachen Hand und versucht, die Zufriedenheit zurückzugewinnen, die zu Anfang da war. Doch sie ist verschwunden, versickert mit den naßkalten Herbsttagen.

In dem Moment, wo sie das Licht eingeschaltet hat, ist es draußen plötzlich Nacht geworden. Sie muß die Nase ans Fenster pressen, um überhaupt etwas zu sehen, doch dann kann sie jenseits der Rasenflächen die Wipfel der Bäume am Flußufer erkennen, die unheimlich über der Nebelbank schweben.

Eine Welle der Verzweiflung steigt in ihr auf, mit einer Macht, die ihr fast den Atem nimmt. Um diese Stimmung abzuschütteln, die so gefährlich an Selbstmitleid grenzt und die sie an ihre ersten Monate im Internat erinnert, bevor sie gelernt hatte, zu überleben und sogar zu genießen.

In Oxford kann man sich sehr einsam fühlen. Jessica hat hier keine richtigen Freunde, niemanden, den sie länger als sechs Wochen kennt. Sie bewegt sich auf dem unsicheren Terrain zwischen selbstgewähltem Alleinsein und akuter Einsamkeit. Heute hat sie das Gefühl, der Einsamkeit bedrohlich nahe zu kommen. Aber spielt das wirklich eine Rolle? Ein Teil von ihr verlangt, sie müsse für die Einsamkeit trainieren, sich abhärten, diese Schwäche in ihr ausmerzen. Die andere Jessica, der Herdenmensch, sehnt sich nach Gesellschaft, Ablenkung, Gesprächen ...

Doch es gibt schließlich Techniken, das in den Griff zu kriegen. Energisch packt sie die Bücher aus, die sie aus der Bibliothek geliehen hat. Freuds Totem und Tabu, Hexen und Hexenprozesse von L'Estrange und der Band, auf den sie seit Beginn des Herbstsemesters gewartet hat: John Taylors Hexenwahn in Connecticut zur Kolonialzeit.

Die passende Lektüre für Halloween.

Die Postkarte fällt auf den Boden, sie bückt sich, um sie aufzuheben, und wirft einen beiläufigen Blick auf das Bild. Ein kleines Kind führt einen großen Bären am Flußufer entlang, eine Rückansicht, zwei Gestalten, die auf einen schwachen Dunst zugehen. Das Kind sieht viktorianisch aus, ein untersetztes kleines Mädchen, fast zwergenhaft, das ein blaues Kittelkleid, weiße Pantalons und einen hellen Strohhut trägt und den Bären am zottigen Pelz im Nacken festhält. Das Tier wirkt fügsam, trottet auf allen vieren neben dem Kind her wie ein riesiger brauner Hund. Ein bißchen merkwürdig, doch nicht besonders furchteinflößend. Kein Grund für die Vorahnung, die Jessica wie eine Schlange am Rückgrat hinauf in den Nacken kriecht, noch einmal zuckt und dann verendet. Dann bemerkt sie die Bäume. Eine Reihe gestutzter Weiden steht am Ufer des Flusses, und die vorderste, an der die beiden gerade vorbeigegangen sind, scheint mit ihren Ästen zu winken, als wolle sie ihre Aufmerksamkeit erregen. Und als sie genauer hinschaut, kann Jessica mit Mühe die Züge eines in den Stamm geritzten Gesichts erkennen, das zu einer Karikatur furchtbarer Angst verzerrt ist.

Sie dreht die Karte um, doch es steht nichts drauf. Sie ist aus Goldsmids Geständnisse von Hexen unter der Folter gefallen.

Und dann muß sie ganz unvermittelt an Schnee denken, an den Tag, an dem sie zum ersten Mal Schnee gesehen hat ...

Sie waren in Kaschmir, in den Ausläufern des Himalaja – eine alte Bergstation aus der Zeit der Radschas, die die Regierung zum Zentrum eines Skigebiets machen wollte, wenn auch ohne großen Erfolg. Es war sehr kalt. Im Hotel gab es keine Heizung, und als sie um Wärmflaschen baten, schaute sie der Nachtportier zunächst verwirrt an und brachte ihnen dann zwei kleine Teekannen mit kochendem Wasser. Ihr Vater stellte die Kannen unter die Bettdecken, um zu sehen, ob es irgend etwas nutzte, doch vom Dampf wurden die Laken feucht. Die Mädchen fanden es so komisch, Teekannen als Wärmflaschen zu haben, daß sie nicht einschlafen konnten. Kichernd und zitternd kuschelten sie sich unter den Decken aneinander.

Im Laufe der Nacht schneite es, und sie schauten aus dem Fenster auf eine Landschaft, die bemerkenswerte Ähnlichkeit mit den Weihnachtskarten hatte, die sie von einem Ort bekamen, den ihr Vater noch Zuhause nannte – nur daß hier die gigantischen Gipfel des Himalaja am Horizont aufragten. Er ging mit ihnen nach draußen, um einen Schneemann zu bauen, und sie machten eine Schneeballschlacht wie die Kinder auf den Postkarten. Doch es war nicht so behaglich wie auf den Weihnachtskarten mit den schneebedeckten Häuschen, den Kirchen und Herbergen. Es war nicht so sicher.

Ihr Vater sagte, es gäbe Bären in den Bergen. Er sagte, sie machten Jagd auf Skiläufer, und manchmal erwischten sie einen und fräßen ihn auf, und das sei der Grund, warum während der ganzen Zeit, die sie dort verbrachten, fast nie jemand Ski fuhr. Außer ihm selbst. Er sagte, auf Skiern könne er einen Bären jederzeit abhängen. Jahre später fand sie zu ihrem Erstaunen heraus, daß Maddie die Geschichte geglaubt hatte. Daß sie sie sogar noch immer glaubte, obwohl sie damals schon eine junge Frau war. »Natürlich stimmte das nicht«, sagte Jessica, doch weil sie stets das Bedürfnis hatte, alles zu erklären, selbst das Absurde, das Unerklärliche, fügte sie hinzu: »Bären halten Winterschlaf.«

Und sie mußten beide lachen.

»Ich hatte immer solche Angst«, sagte Maddie, »wenn ich daran dachte, daß die Bären unseren Daddy fressen könnten.«

Ihr Vater war ein Schamane. Prinzen und Regierungen zahlten hohe Summen für seinen Rat. Er sprach Zauberformeln, um die Gebrechen nicht nur einzelner Menschen, sondern ganzer Länder zu heilen. Er sagte die Zukunft voraus. Er verabreichte bittere Medizin. Er erzählte den Leuten nicht, daß er Schamane war, denn dann hätten sie ihm nicht vertraut. Sie hätten seine Medizin nicht genommen. Er erzählte ihnen, er sei Wirtschaftsexperte. Dann waren sie bereit, alles zu tun, was er sagte, ganz besonders, wenn sie einen hohen Preis für seine Weisheiten zahlten – und ihr Volk einen noch höheren.

Doch den Mädchen verriet er, wer er in Wirklichkeit war.

»Ich bin ein Zauberer«, sagte er. »Es ist alles pure Magie.«

Er war der Große Zauberer des Westens.

Er sah auch aus wie ein Zauberer. Er war groß, hatte einen Bart; buschige, grimmige Brauen; durchdringende blaue Augen und ein markantes, kluges Gesicht.

Wenn er sich ungestört in seinem Haus oder in einem Hotelzimmer aufhielt, trug er manchmal einen farbenprächtigen Kaftan, zündete Räucherstäbchen an und erzählte ihnen Geschichten. Sie saßen vor ihm, zwei kleine Mädchen, die seinen Geschichten lauschten und ihn mit ihren großen braunen Augen durch die aufsteigenden Rauchkringel der Räucherstäbchen ansahen.

Er unternahm lange Reisen nach Indien und in den Fernen Osten, und nachdem ihre Mutter gestorben war, nahm er die Mädchen stets mit. Das gefiel ihnen. Es war ihre schönste Zeit. Eine magische Zeit. Als sie älter wurden, schickte er sie nach England auf ein Internat, und das war weniger gut. Jessica machte das Beste daraus, doch Maddie war unglücklicher als sie, aufbrausender und weniger anpassungsfähig. Als Maddie das erste Mal von der Schule flog, reagierte ihr Vater eher verständnisvoll. Vielleicht war die Schule ja zu streng, legte zu viel Wert auf Disziplin. Für Jessica war das kein Problem, wohl hingegen für Madeleine, die einen starken Freiheitsdrang besaß, ganz wie ihr Vater. Also schickte er sie auf ein Internat, das etwas liberaler war. »Du mußt sie ihren eigenen Weg gehen lassen«, sagte er belehrend, als sei es Jessicas Schuld. Doch etwa ein Jahr später, als Madeleine zum zweiten Mal der Schule verwiesen wurde, schickte er sie zum Teufel.

Er lebte damals wieder in England und entwickelte dort seine Theorien. Er schrieb sie auf, machte ein Buch daraus und wurde sehr reich und ziemlich berühmt. Er überzeugte viele Leute, aber nicht die Mädchen. Zu dieser Zeit waren sie nicht mehr stolz auf ihren Vater, den heimlichen Schamanen. Zu dieser Zeit dachten sie recht zynisch über ihn. Maddie nannte ihn »den alten Scharlatan«. Sie glaubte nicht mehr, daß er die Gebrechen der Welt heilen könne; sie glaubte, daß er sie verursachte. Viele ihrer Sätze begannen mit den Worten: »Durch Leute wie ihn ...«

Doch Maddie war eine Rebellin, eine Ausgestoßene. Sie gehörte zu den Donga, einer Gruppe von Umweltschützern, die in Wäldern, die dem »Fortschritt« im Wege standen, in Baumhütten lebten und versuchten, auf diese Weise Widerstand zu leisten.

Mein Vater ist ein Schamane, und meine Schwester eine Donga, dachte Jessica. Sie trug den Gedanken mit sich herum, wiederholte ihn wie eine Zauberformel, um den bösen Blick, das Lächerliche, das Absurde abzuwehren, um bei Verstand zu bleiben und normal. Sie war fest entschlossen, normal zu sein.

Kapitel 4

Die Leiche war zur Autopsie abtransportiert worden. Sie hatte einen dunklen Fleck im Schnee hinterlassen, der seltsamerweise unheimlicher wirkte als der Anblick des Körpers – ein kleiner gewaltsamer Riß im Gewebe der Landschaft.

Jensen trat zu ihm. Er kam gerade von einem Gespräch mit Hannah Crew, der Inhaberin des Old Barrack House. Madeleine Ross hatte dort abends als Bedienung gearbeitet, doch Donnerstag war ihr freier Abend gewesen.

»Sie ist gegen sieben Uhr gegangen«, sagte Jensen. »Hat gesagt, sie wär mit ein paar Freunden von der Grabung verabredet. Hannah hat die kleine Tochter ins Bett gebracht.«

»Und sie hat sich keine Sorgen gemacht, als sie nicht nach Haus gekommen ist?«

»Sie hat offenbar in einer der Hütten hinter dem Gasthof gewohnt. Hannah hatte das Mädchen über Nacht bei sich. Und am Morgen hat sie sie zur Schule gefahren.«

Irgend etwas an der ganzen Sache kam ihm sonderbar vor, doch Calhoun beschloß, das erst einmal auf sich beruhen zu lassen. Jensen sagte, Hannah habe sich bereit erklärt, dem Kind zu sagen, was passiert sei, falls niemand anderes das übernehmen wolle.

Calhoun warf einen Blick über die Schulter zum Wohnmobil und den beiden Trailern, die im Schutz der Konservenfabrik abgestellt waren, und fragte sich, wie die Übernachtungsregelung wohl in der Praxis funktionierte und ob auch Madeleine Ross manchmal hier gewesen war. Seines Wissens wohnte nur ein einziger Mann vor Ort, doch das mußte nicht allzu viel heißen.

Es schien jedoch keinen anderen Grund dafür zu geben, daß sie so spät in der Nacht draußen auf der Landzunge gewesen war, es sei denn, sie war zurückgekommen, um etwas zu holen – etwas, das sie vorher nicht hatte mitnehmen können. Sie wäre nicht die erste, die Fundstücke von einer Grabung stahl. Wir haben über tausend Artefakte gefunden, hatte Dr. Wendicott gesagt. Was für Artefakte? Er hätte nachfragen sollen.

»Wo, zum Teufel, kommt der denn plötzlich her?« fragte Jensen.

Calhoun wandte sich um und sah einen Mann am Rand der Klippe, der auf sie zukam, mit gesenktem Kopf, die Hände in den Taschen eines weißen Parka vergraben. Als er nur noch ein paar Meter von ihnen entfernt war, blieb er stehen, schaute von einem zum anderen und fragte, wer hier zuständig sei. Als ob ihm das Land gehört, dachte Calhoun.

»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?« konterte Jensen barscher als eigentlich nötig.

»Ich heiße Innis Graham«, sagte der Mann und wies mit einer Kopfbewegung zum Meer. »Das da unten ist mein Boot.«

Doch Calhoun sah nicht hinunter zu seinem Boot, sondern starrte Innis an, und als Innis sah, wie er ihn anstarrte, hob er die Augenbrauen auf eine Weise, die Calhoun nur allzu gut in Erinnerung war. Genau diesen Blick hatte er schon damals als Kind gehabt, wenn jemand sich anmaßte, ihn auszufragen oder ihn auf eine Art behandelte, die er für unhöflich und respektlos hielt. Er trug einen Bart, wie die meisten Männer von der Ostküste Maines, die in Booten aufs Meer hinausfuhren, doch der kleine Junge in ihm war noch immer zu sehen. Aber ohne den Namen hätte er ihn nicht wiedererkannt.

»Innis Graham«, wiederholte Calhoun. Es war keine Frage.

Die Augenbrauen zogen sich zusammen. Graham wirkte verunsichert.

»Kennen wir uns?«

»Es ist schon lange her«, gab Calhoun zurück.

Er mußte elf gewesen sein, als sie sich kennengelernt hatten – und dreizehn oder vierzehn, als er ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Nur drei Sommer, die sich durch einen sonderbaren Streich, den die Erinnerung und seine Phantasie ihm spielten, im Lauf der Jahre ausgedehnt hatten, so daß sie seine gesamte Kindheit auszufüllen schienen. Endlose Sommer, in denen sie mit Innis Grahams kleinem Boot um die Inseln der Bay gefahren waren und die Picknicks verzehrt hatten, die die Köchin der Grahams morgens für sie zubereitet hatte.

Er war hochgewachsen – fünf bis acht Zentimeter größer als Calhoun – und drahtiger, schlanker. Er hatte langes Haar, und sein Gesicht war selbst zu dieser Jahreszeit tief gebräunt.

Und er hatte einen blauen Fleck, vielleicht einen Bluterguß, dicht unter dem linken Auge.

»Michael? Michael Calhoun?«

Niemand nannte ihn Michael, jedenfalls jetzt nicht mehr. Alle nannten ihn Cal. Doch seine Mutter hatte ihn manchmal Michael genannt, wenn sie sauer auf ihn war oder Leute wie Innis Graham beeindrucken wollte.

»Inzwischen Detective Calhoun«, sagte er. Es klang ein bißchen wichtigtuerisch, doch unter den gegebenen Umständen mußte er das sagen.

Einen Moment lang wirkte Innis überrascht, dann schaute er hinüber zu der Stelle, wo die Leiche gelegen hatte.

»Ich war mit ihr zusammen, Michael. Sie muß umgebracht worden sein, kurz nachdem sie weggegangen ist, auf dem Rückweg zu ihrem Wagen.«

»Du warst mit ihr zusammen?«

Mit einer heftigen Kopfbewegung wies er wieder zum Meer. »Da unten auf dem Boot.«

»Bis wann?«

»Ich weiß nicht ... es muß so gegen zehn gewesen sein, denke ich.«

»Und wie ist sie hierhergekommen?«

Innis wiederholte die Frage, als ergäbe sie keinen Sinn.

»Vom Boot«, sagte Calhoun. »Wie ist sie vom Boot hierhergekommen?«

Es gab verschiedene Posen, hinter denen Menschen ihre Schuld verbargen: Trauer, Schock, Aggressivität ... Masken der Unschuld. Falls Innis eine Maske trug, dann hatte er sie sorgfältig gewählt. Trauer und Schock waren unverkennbar, und jetzt schien er langsam zu begreifen.

»Oh, da gibt's eine Treppe – von der Mole aus. Ich habe gesehen, wie sie hinaufgegangen ist.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe einfach dagestanden und ihr zugesehen.« Der Satz schien ihm im Hals steckenzubleiben.

»Im Dunkeln?«

Er sah wieder verwirrt aus, und Calhoun wies ihn darauf hin, daß es um zehn Uhr dunkel gewesen sein mußte.

»Ach so, ich verstehe. Auf der Treppe gibt es ein Sensorlicht.«

Calhoun fragte ihn, woher er wisse, daß die Tote Miss Ross sei, und er antwortete, Kate Wendicott habe ihn gerade auf seinem Handy angerufen.

»Sie sagte, es war ein Bär.« Er schaute Calhoun fragend an, doch Calhoun wollte nur wissen, wie er zu dem blauen Fleck gekommen sei.

Innis hob rasch die Hand, als wolle er ihn verdecken. Oder weil er schon vergessen hatte, daß er überhaupt da war?

»Sie hat mich geschlagen.«

»Sie hat dich geschlagen?«

»Sie wollte nicht, daß ich sie zum Wagen zurückbringe, und als ich darauf bestanden habe ... hat sie mich geschlagen.«

»Aha.« Einen Moment lang standen sie da und sahen einander direkt an. Calhoun glaubte etwas Bittendes in den Augen seines Gegenübers zu entdecken, den Wunsch nach persönlichem Vertrauen.

»Michael ...« begann Innis, doch dann schüttelte er nur wieder den Kopf, als verstünde er das Ganze einfach nicht.

»Tut mir leid«, sagte Calhoun. »Aber wir müssen uns mal auf deinem Boot umsehen.«

Er bat Jensen, ein paar Kollegen zu holen, die bei der Durchsuchung helfen sollten, und folgte Innis zwischen den Bäumen hindurch zur Landzunge. Jetzt konnte er die Stufen erkennen, die ins Felsgestein der Klippe gehauen waren, und das Licht, das Innis erwähnt hatte – und das unten an der Steinmole vertäute Boot.

Er hielt inne und warf einen Blick zurück zu der Stelle, wo sie die Leiche gefunden hatten. Sie war von den Bäumen verdeckt, und falls ein Pfad zwischen ihnen hindurchführte, war er jetzt schneebedeckt. Doch Calhoun schätzte, daß die Stelle nicht weiter als ein paar hundert Meter von der obersten Stufe entfernt war. Er sah wieder zum Boot hinunter und versuchte, sich einen Reim zu machen.

»Warst du nicht noch vor ein paar Minuten in der kleinen Bucht vertäut?« fragte er.

»Ich habe ein paar Hummerkörbe, die ich draußen in der Bay ins Wasser lasse«, erwiderte Innis.

»Wer benutzt die Anlegestelle noch?«

Innis schüttelte den Kopf. »Niemand. Abgesehen von einzelnen Booten, die im Sommer gelegentlich über Nacht hier festmachen. Die Mole wurde für den Inhaber der Konservenfabrik gebaut. Der hatte hier einen Kreuzer liegen.«

Jetzt ergab die Sache allmählich ein bißchen mehr Sinn. Doch wie lange war die Konservenfabrik bereits geschlossen – ein Jahr, zwei Jahre?

»Was machst du eigentlich hier, Innis? Außer Hummerfangen?«

»Ich habe auf der Ausgrabung gearbeitet.«

Das ergab nun wieder überhaupt keinen Sinn. Zumindest paßte es absolut nicht zu dem, was Calhoun in den letzten paar Jahren über Innis Graham gehört hatte.

»Ich wußte gar nicht, daß du dich für Archäologie interessierst«, sagte er.

»Tue ich auch nicht. Damals jedenfalls nicht. Mein Interesse war rein persönlich.«

»Madeleine Ross?«

»Ich habe sie im Frühjahr kennengelernt. Ich war nach Hause gekommen, um meine Mutter zu besuchen, und eines Tages ist sie mit mir hier hinausgefahren, weil sie sehen wollte, wie es mit der Ausgrabung läuft. Sie war interessiert. An der Archäologie, meine ich, an der Geschichte dieses Ortes. Und das Land hier hat früher einmal uns gehört.«

Natürlich. So gut wie jeder Wasserlauf, jede Bucht, wo sie als Kinder gesegelt waren, hatte zum Besitz der Grahams gehört, und auch viele der Inseln. Die Grahams waren die reichsten Leute, die Calhoun kannte, bis er nach Boston ging. Sie waren Holzbarone, alte Maine-Aristokratie. Entlang der kanadischen Grenze besaßen sie ganze Wälder.

»Früher?«

»Nach Dads Tod haben wir fast alles verkauft.«

»Aber das Haus habt ihr doch behalten?« fragte Calhoun geradezu beunruhigt.

Calhoun hatte das Haus immer betreten, als sei es eine Kathedrale, die Stiefel an der Fußmatte gesäubert, als klebe klumpenweise Dreck an den Sohlen, und er war herumgelaufen wie auf rohen Eiern.

Innis nickte. »Mutter wohnt noch dort. Inzwischen allein.«

»Aber du hast auf dem Boot übernachtet?«

»Nicht immer. Nur manchmal.«

Immer wenn er sich mit Madeleine Ross traf?

Aber danach fragte er nicht. Noch nicht.

Die Stufen waren ziemlich schmal, und Calhoun hielt sich beim Abstieg am Geländer fest. Es war Ebbe, und Schichten von Seetang bedeckten die Felsen am Strand. Es sah aus, als sei dort eine Herde struppiger Tiere verendet, als hätten Jäger eine Herde zottiger Mammuts über die Klippen getrieben. Dann sah er das Licht, das Innis erwähnt hatte, an einem Vorsprung etwa auf halber Höhe der Stufen. Sein Magen erinnerte ihn daran, daß er noch nicht gefrühstückt hatte. Plötzlich tauchte eine sehr deutliche Erinnerung an ein Frühstück vor langer Zeit auf, als er eines Morgens mit Innis im Boot unterwegs war, um nach den Hummerkörben zu sehen. Sie hatten vor einer der Inseln geankert, dann hatten sie über einem offenen Feuer Speck gebraten und Hafergrütze gekocht. Er konnte es fast riechen, dieses Frühstück.

Am unteren Ende der Stufen blieb er stehen und schaute hinauf. Es ging sehr steil nach oben.

»Hat es geschneit, als sie weggegangen ist?«

»Ja. Es fing gerade an.«

»Und du sagst, sie wollte nicht, daß du sie zu ihrem Wagen bringst?«

»Ja.« Eine kleine Pause. »Um ehrlich zu sein, wir haben uns gestritten. Sie war ziemlich sauer auf mich.«

»Darf ich fragen warum?«

»Ach, nichts Besonderes. Ich meine, es war bloß ... sie war einfach gereizt, weißt du. Ich habe bloß irgendwas gesagt ...« Wieder lag die stumme Bitte in seinem Blick.

Calhoun hakte erst einmal nicht weiter nach.

»Gehen wir an Bord?« fragte er.

Auf den Fotos, die Calhoun in Zeitschriften gesehen hatte, stand Innis Graham am Steuer einer Hochseejacht, einer schlanken, am Computer entworfenen Maschine ohne irgendein überflüssiges Detail, reduziert auf ihre primäre – ihre einzige – Funktion: Rennen zu gewinnen. Doch dies war ein Boot aus einer anderen Welt, eine klassische Schönheit, eine Skulptur aus Teak und Messing. Der Name war in Goldbuchstaben am Heck eingraviert: Kalliope. Die Kalliope aus Providence.

Sie gingen nach unten in den Salon. Man konnte nicht an der Küste von Maine aufwachsen, ohne ein bißchen was über Boote zu wissen, doch Calhoun kannte nur Arbeitsboote, Fischerboote. Sie stanken nach Fisch und Dieselöl. Sie hatten keine Salons. Die einzigen Fahrten, die Calhoun je zum Vergnügen unternommen hatte, waren jene sommerlichen Ausflüge damals mit Innis Grahams kleinem Boot. Und das war ein wildes, windgepeitschtes Vergnügen gewesen, das oftmals geradezu selbstzerstörerische Vergnügen, in einem offenen Boot aufs Meer hinaus zu fahren. Dies hier war ein Vergnügen von anderem Kaliber. Calhoun ließ die Lederpolsterung auf sich wirken, die Holztäfelung, den auf Hochglanz polierten Eßtisch, die gerahmten Fotos an den Wänden ... die Trophäen, gedämpftes, indirektes Licht. Der Duft von Kaffee. Das Ganze erinnerte Calhoun an einen Herrenclub aus der Zeit von König Edward, einen ehrfurchtgebietenden Ort der Ruhe, ein männliches Refugium, doch er hatte zugleich etwas verführerisch Weibliches. Calhoun versuchte sich vorzustellen, wie die Frau, deren Leiche er gerade erst untersucht hatte, ausgestreckt auf dem eleganten Sofa lag. Er sah ihre leere Augenhöhle vor sich, mit gefrorenem Blut gefüllt, und die klaffende Wunde, die einmal ihr Mund gewesen war. Hatte Innis Graham das gesehen?

Hatte Innis Graham das getan?

»Wie viele Kabinen gibt es hier?« fragte er.

»Drei. Willst du sie sehen?«

Doch dann hörten sie Schritte auf dem Oberdeck, und Jensen kam mit zwei Männern vom Polizeirevier in Dover die Kajütentreppe herunter. Calhoun kannte sie namentlich – Gorridge und Mabbut – und überlegte einen Moment lang, ob er sie Innis vorstellen sollte. Er fühlte sich wie damals als kleiner Junge, wenn er im Haus der Grahams zu Besuch war, nicht recht wußte, wie er sich benehmen sollte und deshalb in die übertriebene Höflichkeit zurückverfiel, die seine Mutter ihm beigebracht hatte.

Statt dessen fragte er: »Bist du einverstanden, wenn sie sich hier umsehen?« Und Innis sagte: »Klar, nur zu«, doch Calhoun war der rasche, reflexartige Blick auf ihre Stiefel nicht entgangen.

War es denkbar, daß ein Mann, der gerade seiner Geliebten die Kehle herausgerissen und ihr das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt hatte, sich Sorgen darum machte, ob Leute Dreckspuren auf seinem polierten Deck hinterließen?

Nach seiner Erfahrung mit Mordfällen in Boston hielt Calhoun das nicht für ausgeschlossen. Er bat Innis, ihnen die Sachen zu zeigen, die er am Vorabend getragen hatte.

Jensen wollte ihn kurz unter vier Augen sprechen, und Calhoun folgte ihm an Deck.

»Wir haben eine Taschenlampe gefunden«, sagte Jensen. »In einem der Gräben, etwa zwanzig Meter von der Leiche entfernt. Sie war eingeschaltet, aber die Birne war kaputt.«

»Sonst noch was?«

»Bisher nicht. Wir suchen weiter.«

Er ging wieder nach unten.

»Hatte sie eine Taschenlampe dabei«, fragte er Innis, »als sie hier weggegangen ist?«

Innis konnte sich daran nicht erinnern.

»Die Stufen waren sehr gut beleuchtet«, sagte er. »Vielleicht hatte sie eine in der Tasche. Eine Umhängetasche, da war immer alles mögliche drin.«

Die hatten sie bereits durchsucht. Eine Taschenlampe war nicht dabei gewesen.

»Entschuldigen Sie, Sir, gehören die Ihnen?«

Gorridge hatte ein Schlüsselbund zwischen den Lederpolstern eines Sessels gefunden. Er hielt es hoch, damit Innis es sehen konnte. Eine kleine Puppe baumelte am Schlüsselring.

Calhoun warf Innis einen Blick zu und hatte den Eindruck, er sei plötzlich etwas blasser geworden. Langsam schüttelte Innis den Kopf.

»Weißt du vielleicht, wem sie gehören?« fragte ihn Calhoun.

»Müssen ihre sein, vermute ich mal.«

Calhoun sah sich die Puppe genauer an. Es war ein Indianermädchen mit geflochtenem Haar, das ein aus Tierhäuten genähtes Kleid trug. An dem Bund hingen vier Schlüssel, zwei davon mit VW-Logo.

Und was besagte das? Nur, daß sie ohne die Schlüssel weggegangen war. Und getötet worden war, ehe sie umkehren und sie holen konnte, ehe sie ihren Wagen erreicht hatte.

»Erzähl mir von gestern abend«, sagte er.

Sie sei kurz nach acht gekommen, erwiderte Innis, und ein paar Stunden geblieben. Sie hätten zu Abend gegessen, eine Flasche Wein geleert, und dann sei sie gegangen.

»Nach einem Streit.«

»Ich habe doch gesagt, es ging eigentlich um nichts.«

Das erste Aufblitzen von Ungeduld, die herrische Verärgerung des Aristokraten, der es nicht gewohnt ist, verhört zu werden. Dann seufzte er und machte eine kleine beschwichtigende Geste, streckte Calhoun seine Handflächen hin. Ich habe nichts zu verbergen.

»Sie ist ganz überraschend hier aufgetaucht. Ich war beschäftigt, hatte anderes im Kopf.«

»Aber du hast sie nicht weggeschickt.«

»Nein. Dazu bin ich zu höflich. Aber ich denke, sie hat mitgekriegt, daß ich nicht gerade ... begeistert war.«

Was sollte das heißen? Daß sie mit ihm ins Bett wollte und er keine Lust hatte? Jedem anderen hätte Calhoun wahrscheinlich genau diese Frage gestellt. In Boston hätte er es bestimmt getan.

»Cal – kommst du mal und schaust dir das an?«

Mabbut stand auf der Kajütentreppe, und Calhoun folgte ihm zur Kabine im Heck. Sie hatte die gleiche Holztäfelung wie der Salon, ein großes Doppelbett und einen Einbauschrank, dessen Schiebetür halb offenstand und den Blick auf ein Waschbecken mit Spiegel freigab. Mabbut hatte einen geflochtenen Wäschekorb auf den Boden ausgeleert. Es war offensichtlich, was er ihm zeigen wollte. Er spürte, daß Innis hinter ihm stand.

»Hast du dich vor kurzem verletzt?« fragte er ihn.

»Nein«, erwiderte Innis überrascht. »Wieso ...« Dann sah er das Handtuch.

»Weißt du, wessen Blut das ist?«

Calhoun konnte sehen, daß er überlegte. Er ließ ihn noch ein paar Sekunden länger überlegen, dann war ihm klar, daß Innis jetzt nichts dazu sagen würde.

Kapitel 5

Calhoun war fast ein Jahr älter als Innis Graham, aber die Frage, wer von beiden der Anführer war, hatte sich nie gestellt. Schon weil Innis das Boot gehörte. Calhoun hätte wahrscheinlich auch ein Boot bekommen, wenn er darum gebeten hätte. Vielleicht nicht so schön wie das von Innis, doch stabil genug, um damit durch die Bucht zu fahren. Arm waren seine Eltern nicht. Aber auch nicht leichtsinnig. Alles, was sie bauten oder kauften, hatte einen Zweck. Sie wären irritiert gewesen, wenn Calhoun ihnen plötzlich erklärt hätte, er wolle zu einer Insel fahren und dort den halben Tag in der Sonne liegen. Sie hätten sicher wissen wollen, wozu, und er hätte es ihnen wahrscheinlich nicht erklären können. Seine Mutter betrieb die Farm, und sein Vater war Zimmermann. Das Holz, mit dem er arbeitete, stammte vermutlich aus einem der Wälder, die den Grahams gehörten.

Sie hatten sich am Strand von Mill Cove kennengelernt, wo Calhoun in den Ferien manchmal früh am Morgen nach Muscheln suchte. Gewöhnlich ging er mit seinem Schulfreund Sam Killam dorthin, doch Sam war mit seinen Eltern verreist, so daß er an diesem Morgen allein war. Im Licht der Morgensonne sah er das Boot auf die Landzunge zusteuern. Als er das nächste Mal den Kopf hob, stand Innis bis zu den Knien im seichten Wasser und zog es an Land. Calhoun hatte ihn noch nie gesehen und hielt ihn für einen Jungen, der hier Ferien machte. Er schob sich das Haar aus den Augen und nickte ihm freundlich zu, ohne die Muschelsuche zu unterbrechen. Der Junge betrachtete den kleinen Haufen Muscheln, den er bereits ausgegraben hatte, und fragte ihn, ob er tauschen wolle. Calhoun nahm ihn nicht ernst und dachte, er wollte angeben. »Tauschen gegen was?« fragte er. Doch der Junge hatte zwei Hummer in seinem Boot. Calhoun gab ihm sechs Muscheln für einen davon. Er hatte keine Ahnung, wer bei dem Tausch das bessere Geschäft gemacht hatte, war nicht einmal sicher, ob ihm ein Hummer lieber war als Muscheln. In gewisser Weise war das symbolisch für seine gesamte zukünftige Beziehung zu Innis Graham.

Äußerlich waren sie gar nicht so verschieden. Damals hatten sie etwa die gleiche Größe und das gleiche sonnengebleichte Haar, das ihnen über die Augen hing. Vielleicht hatte das die gegenseitige Anziehungskraft ausgelöst – die plötzliche Entdeckung eines Zwillings, obwohl sich dieser Eindruck auf den zweiten Blick rasch verlor. Innis hatte ein längeres Gesicht, seine Züge hatten etwas Feines und zugleich Adlerartiges, seine Augen ein fast durchsichtiges Blau, während Calhouns haselnußbraun wie die seiner Mutter waren. »Er hat Meeresaugen«, sagte seine Mutter, »und du hast Augen wie der Wald.«

Seine Mutter sagte oft so sonderbare Dinge. Ihre Freunde glaubten, sie habe übersinnliche Fähigkeiten. Sie kurierte die Tiere auf der Farm – und manchmal auch ihn – mit Heilmitteln, die sie selbst zusammenstellte. In einem anderen Zeitalter hätte man sie als Hexe bezeichnet.

Sie interessierte sich für seine Freundschaft mit Innis Graham. Sie wußte, daß sie sich von seinen restlichen Freundschaften unterschied. »Die Reichen sind anders«, erklärte sie Calhoun. Er wußte damals nicht, daß das ein Zitat war. Sie war Innis' Mutter ein paar Mal begegnet, sie kannte das Haus. Jeder kannte das Haus der Grahams mit den griechischen Säulen entlang der Front. Innis' Urgroßvater, der damals der größte Schiffbauer in Dover war, hatte das Haus bauen lassen, und Innis' Mutter hatte es mit Antiquitäten gefüllt, die sie in Europa zusammentrug. Sie ging auf Sammlerreisen wie J. P. Morgan. Selbst außerhalb des Hauses hatte sie Antiquitäten aufgestellt, Statuen und griechische Vasen und ein Sommerhäuschen. Sogar einen verschnörkelten Pavillon, den sie per Schiff aus England hatte kommen lassen. Mrs. Graham mochte Calhoun, weil er höflich war. Vielleicht auch, weil er, wie ihr Sohn, gut aussah. Den Großteil des Jahres war Innis in einem Internat oder mit seinen Eltern auf Reisen, und Calhoun war der einzige Junge aus dem Ort, mit dem er je Freundschaft schloß. Elf bis dreizehn – drei wundervolle Sommer, ehe es zu Ende war. Kein großes Drama – es gab keinen Streit oder sonst einen Anlaß, doch im nächsten Sommer war Innis Graham nicht mehr da, jedenfalls nicht für Calhoun. Einmal sah er ihn mit einem Mädchen draußen im Boot. Innis winkte ihm vom Boot aus gleichgültig zu, und Calhoun winkte gleichgültig zurück und wandte sich dann wieder der Muschelsuche zu. Doch es war ihm keineswegs gleichgültig.

»Du läßt dir zu viel gefallen«, sagte seine Mutter. »Genau wie dein Vater.«

Sie meinte, er würde untergebuttert, doch genau wie sein Vater ließ er sich nur das gefallen, was ihm in den Kram paßte. Ansonsten konnte er ziemlich störrisch sein. Und wenn er verletzt war, verschanzte er sich hinter aufgesetzter Gleichgültigkeit.

Normalerweise überließ er Innis die Initiative, der schon damals der Spezialist für Navigation war. Er zog eine Karte hervor und fand eine Insel, auf der sie noch nie gewesen waren, und Calhoun ging bedenkenlos mit ihm auf Fahrt. Sie wagten sich immer weiter hinaus. Manchmal kampierten sie auf einer der Inseln und kochten Hummer über dem offenen Feuer, hockten im Sonnenuntergang davor, und die Butter tropfte ihnen vom Kinn. Sie sahen Wale. Sie erlebten Abenteuer. Calhoun sah sich als Held in einem Abenteuer aus einem der Bücher, die er las. Tom Sawyer und Huck Finn. Er war vermutlich Huck. Als er den Leuten in Boston später erzählte, er sei als Junge mit Innis Graham Boot gefahren, wurde er oft gefragt, wie er denn so gewesen sei, und dann mußte er überlegen.

»Manchmal ein bißchen ruhelos«, sagte er schließlich. Genauso wie man sich einen Weltumsegler vorstellte. »Und sehr selbstsicher.«

Falls er auch nur einen Funken Selbstzweifel hatte, so war es Calhoun nie aufgefallen.

»Er ist ein typischer Löwe«, sagte seine Mutter, die an Sternzeichen glaubte. »Obenauf, wenn alles nach seiner Nase geht.«

Und tatsächlich, wenn es einmal nicht so war, konnte er furchtbar eingeschnappt sein. Manchmal verschwand er ohne ein Wort, und Calhoun dachte, er würde ihn nie wiedersehen, doch ein oder zwei Tage später war er wieder da, strahlender Laune, als wäre nichts geschehen.

Wie bei den meisten Jungen ihres Alters war ihre Freundschaft eine Art Liebesbeziehung, nur ohne den körperlichen Aspekt. Sie schwammen niemals nackt, behielten immer ihre Badehosen oder Shorts an. Sie trockneten so schnell im Wind und in der Sonne, daß sie nie auf die Idee gekommen wären, sie auszuziehen. Vielleicht war ja auch ein Element von Befangenheit dabei, doch damals hatte Calhoun es nicht so empfunden.

Mittlerweile war ihm klar, daß es durchaus ein Bewußtsein des Körperlichen, eine narzißtische Liebe zwischen ihnen gegeben hatte. Vielleicht hätte ein weibliches Wesen den gleichen Zweck erfüllt, falls einer von ihnen ein Mädchen kennengelernt hätte, doch die Gleichaltrigen interessierten sich nur für die zwei oder drei Jahre älteren Jungen, und jüngere Mädchen kamen nicht in Frage: Sie konnten nicht mithalten und waren albern. Die beiden mußten diese Dinge nicht rational erklären oder darüber diskutieren, es war einfach eine Tatsache.

Und für Calhoun kam der besondere Reiz dazu, mit jemandem befreundet zu sein, der reich war. Das Gefühl, privilegiert zu sein, aus dem gleichen goldenen Becher zu trinken. Eine Stärkung des eigenen Selbstwertgefühls, die daher rührte, daß er mit dem von allen hofierten Innis Graham befreundet war, dem reichsten Jungen der Gegend. Calhoun hatte nie den Wunsch, herumzurätseln oder gar zu erklären, warum er das so empfand, welches Bedürfnis oder welche Unsicherheit das alles so erstrebenswert machte. Die Reichen sind anders.

Er nahm Innis mit zum Polizeihauptquartier kurz hinter Dover und ließ ihn im Vernehmungsraum warten, während er sich rasch einen Kaffee holte. Er war überrascht und ein bißchen irritiert, daß Innis nicht um einen Anwalt gebeten hatte. Calhoun hatte die Erfahrung gemacht, daß die Reichen immer als erstes nach einem Anwalt verlangten, wenn es Probleme gab.