Tödliche Spreewald-Liebe - Wolfgang Swat - E-Book

Tödliche Spreewald-Liebe E-Book

Wolfgang Swat

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Beschreibung

Tragisches Familiendrama in der Spreewald-Stadt Lübbenau: Am 27. September 1989 lässt sich Mario. H. von seiner schizophrenen Ehefrau dazu verleiten, ihr beim Selbstmord zu helfen. – Im beschaulichen Lindow tötet 1984 ein junger Mann aus Frustration seine 92 Jahre alte Vermieterin, weil er seine sadistischen Sexfantasien nicht ausleben konnte. – An einem schönen Sommertag geht ein zwölfjähriges Mädchen am idyllischen Pinnower See spazieren. Es ist ihr letzter Spaziergang. Mit schweren Kopfverletzungen wird sie am Abend am Seeufer gefunden. Die Ärzte im Cottbuser Krankenhaus kämpfen verzweifelt um ihr Leben. Vergeblich. Wolfgang Swat hat erneut Kriminalfälle aus der DDR gesammelt und die alten Verbrechen gewohnt versiert von allen Seiten beleuchtet – spannend und auch nach vielen Jahren noch aufwühlend.

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Wolfgang Swat

Tödliche

Spreewald-Liebe

und 13 weitere authentische

Kriminalfälle

Bild und Heimat

Von Wolfgang Swat liegt bei Bild und Heimat außerdem vor:

Die Schneeleiche von Lübbenauund zwölf weitere Verbrechen (Blutiger Osten, 2018)

eISBN 978-3-95958-765-5

1. Auflage

© 2018 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: Altstadt von Lübbenau © Sorbisches Institut Bautzen / Joppich, Gerhard

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Vorwort

Die in diesem Buch behandelten Kriminalfälle haben sich so oder ähnlich ereignet, und zwar überwiegend in der DDR. In der Öffentlichkeit spielten sie kaum eine Rolle, weil es aus gesellschaftspolitischer Sicht der SED und des sozialistischen Staates Gewaltkriminalität nicht zu geben hatte. Sie wurden zwar in der DDR nicht gänzlich verschwiegen, weil zur Aufklärung der Verbrechen die Mithilfe der Bevölkerung für die Staatsanwälte und Kriminalisten der Morduntersuchungskommissionen (MUK) von großer Bedeutung war. Ohnehin unterschied sich die kriminalistische Arbeit in der DDR kaum von der in der BRD. Allerdings erfuhr die Öffentlichkeit wenig über Details, Hintergründe und Motive der Taten.

Dass in den meisten der in diesem Buch beschriebenen Fälle Alkoholmissbrauch und sexuelle Beweggründe eine dominierende Rolle spielten, ist nicht der selektiven Auswahl des Autors geschuldet, sondern spiegelt die Realität wider.

War über Mord und Totschlag in der DDR wenigstens noch in geringem Maße etwas zu erfahren, so waren politisch motivierte Taten ein absolutes Tabu für die Bevölkerung. Ein solcher Kriminalfall ist am Ende des Buches unter dem Titel »Der Spion« nachvollzogen. Dass er hier erscheint, ist das Verdienst der Angehörigen, vor allem von Raik Klausch, der nach der Wende allen Widerständen zum Trotz für die Rehabilitierung seines zum Tode verurteilten Vaters gekämpft hat. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich bei Raik Klausch.

In Gesprächen mit Leserinnen und Lesern und auch in sozialen Medien geht es nicht selten darum, ob man noch von authentischen Kriminalfällen sprechen kann, wenn Namen von Opfern und Tätern sowie von Örtlichkeiten frei erfunden oder abgewandelt werden. Die Frage ist, ob es für die Darstellung der authentischen Tatabläufe und ihrer Vorgeschichten von überragender Bedeutung ist, dass die wirklichen Namen der Opfer und auch der Täter, wenn schon nicht vollständig, dann doch wenigstens abgekürzt, etwa Steffi S. (frei erfunden), genannt werden. Oder dass kleinere Orte mit vergleichsweise wenigen Einwohnern nur im Zusammenhang mit einer größeren Stadt oder Region umschrieben werden. Ist das Geschehene dadurch weniger authentisch?

In diesem Buch werden Personen direkt und indirekt zitiert. Die Ehrlichkeit gebietet es, darauf hinzuweisen, dass solche Passagen aus Aktenniederschriften zum besseren Verständnis zum Teil nachbearbeitet sind, die Aussagen jedoch nicht im Kern verändert wurden.

Zum Abschluss noch ein Dank an alle, die mir beim Schreiben des Buches geholfen haben.

Mädchenmord am Pinnower See

Der Naturpark Schlaubetal südöstlich von Berlin im Land Brandenburg ist ein kleines Paradies für Wanderfreunde, Wassersportler und Badelustige. Mit seinen 230 Quadratkilometern reicht er von Müllrose im Norden bis Drewitz/Jänschwalde im Süden, und von Grunow-Dammendorf im Westen bis nach Bomsdorf im Osten. Ausgedehnte Kiefern-, Buchen- und Eichenwälder sowie zahlreiche Feuchtwiesen mit einer Vielzahl geschützter Pflanzen- und seltener Vogelarten prägen das Gebiet. Fisch- und Seeadler, Eisvogel und Schwarzstorch sind hier zu Hause.

Einer Perlenkette gleich reihen sich im Schlaubetal Seen aneinander: Der Kleinsee bei Drewitz und der Großsee bei Tauer gehören ebenso dazu wie der Göhlensee, Pastlingsee, Schenkendöberner See oder der Pinnower See. Der Pinnower See liegt am südlichen Rand des Naturparks. Von Cottbus aus sind es 40 Kilometer bis zu dem 54 Hektar großen Gewässer, von Guben, der Stadt an der Neißegrenze zu Polen, sogar nur gut 15 Kilometer. Zahlreiche Bungalows stehen in Seenähe, die Campingplätze sind im Sommer gutbesucht. Tausende finden hier Jahr für Jahr Ruhe, Entspannung und Erholung.

Im Juli 1995 verbringen die Schwestern Yvonne und Kornelia Ludrichs ein paar Tage im Häuschen der Großeltern am Nordufer des Pinnower Sees. Obwohl Sommerferien in Brandenburg sind, ist es hier weniger betriebsam als am Campingplatz, der sich entlang der Südseite des Sees erstreckt.

Es ist Sonntag, der 16. Juli 1995. Am Nachmittag gegen 16 Uhr entschließen sich die Schwestern Yvonne und Kornelia zu einem Bummel am See. Der Campingplatz könnte ein Ziel sein, doch entschieden haben sich die Mädchen nicht. Sie gehen an der Westseite entlang. Ein Pfad führt zwischen See und Teerofenstraße durch ein Wäldchen. Im Schilf ist eine Bresche geschlagen für eine Badestelle, die meistens von Familie Kohlack genutzt wird.

So richtig begeistern können sich die Mädchen nicht am Spaziergang. »Komm, lass uns zurückgehen«, fordert Kornelia. »Ich bleibe noch kurz am See und komme gleich nach«, entgegnet Yvonne. Ihre Schwester macht kehrt und ist wenig später wieder am großelterlichen Bungalow.

Erna Kohlack wohnt ganz in der Nähe in einem Bauernhaus mit Grundstück und Scheune. Heu lagert darin, aber auch allerlei Dinge, die man braucht zur Bewirtschaftung des Anwesens, und Gerümpel, das sich in den Jahren angesammelt hat. Das Haus aus rotem Backstein ist in die Jahre gekommen. Auf dem Hof gibt es eine Pumpe zum Wasserschöpfen. Und einen Hackklotz zum Zerkleinern des Brennholzes. Die Fenster sind klein und hängen etwas schief in den Scharnieren. Die Zimmer werden mit Holz und Kohle über Kachelöfen beheizt. Alles bewahrt dennoch Charme, jetzt, im Sommer ganz besonders.

Vor fast 30 Jahren zogen Kohlacks von Peitz, der Fischer- und Festungsstadt mit dem Kraftwerk Jänsch­walde in der Nachbarschaft, mit Kind und Kegel ins beschauliche Pinnow in das Haus am See. Sohn Jürgen hängt sehr an diesem Zuhause seiner Kinder- und Jugendzeit. Inzwischen hat er eine Familie und wohnt mit ihr in einem Mehrfamilienhaus in Guben, der Stadt, in der Wilhelm Pieck geboren wurde und die nach dem Tod des ersten Präsidenten der Deutschen Demokratischen Republik bis 1990 dessen Ehrennamen trug. Jürgen Kohlack verbringt im Sommer fast jedes Wochenende mit seiner Familie, seiner Ehefrau Melanie und den Kindern, im Haus seiner Mutter am Pinnower See.

Sonntag, 16. Juli 1995, 17 Uhr. Harald Ludrichs wird nervös. Fast im Minutentakt hat der Stiefvater von Yvonne zuletzt aus dem Fenster des Bungalows hinausgeschaut in Richtung Westufer. Das Kind müsste doch endlich auftauchen! Dass sein zwölfjähriges Mädchen zum Campingplatz gelaufen ist, kann er sich nicht vorstellen. Zumal sie ihrer Schwester sagte, dass sie nur noch kurz zum Wasser hinuntergehen wollte.

Harald Ludrichs macht sich auf den Weg in Richtung Campingplatz. Doch wo er auch sucht, wen er auch fragt, Yvonne ist wie vom Erdboden verschluckt. Angst steigt in ihm auf. Der Vater informiert die Polizei über das Verschwinden des Mädchens. Feuerwehrleute aus Guben und Pinnow sowie Angehörige der Wasserwacht werden alarmiert. Bewohner der Bungalowsiedlung schauen sich um. Eine provisorische Einsatzleitung koordiniert die Suche. Als ein Camper auf einen herrenlos auf dem See treibenden Kahn aufmerksam macht, ist Schlimmstes zu befürchten. Mit einem Boot der Wasserwacht wird der See, so gut es jetzt, gegen 22 Uhr, noch geht, in immer weiter gezogenen Kreisen abgesucht. Vergeblich.

Bei der Einsatzleitung meldet sich ein Ehepaar. Bei einem Seespaziergang am Nachmittag hat es am West­ufer etwas gehört, einen Schrei, vielleicht sei es auch ein Lachen gewesen, berichtet der Mann. »Ich habe auf die Uhr geschaut. Es war um 16.40 Uhr«, erinnert sich der Zeuge. »Das hat sich komisch angehört. Meine Frau und ich haben uns aber beruhigt und gedacht, dass wir ein Liebespaar aufgeschreckt haben, und sind weitergegangen.«

Die Einsatzleitung beordert umgehend eine Fahrzeugbesatzung an den Ort. Die Stelle, zu der das Ehepaar weist, ist alles andere als idyllisch. Dürre Bäumchen wachsen hier, Strauchwerk und Brennnesseln erschweren das Laufen. Schon wollen die Suchenden aufgeben, als einer von ihnen hinter einem abgelagerten Heuhaufen Atemgeräusche wahrnimmt. Stammen sie von aufgeschrecktem Wild? Danach hört es sich nicht an. Und Rehe hätten doch längst Reißaus genommen. Im Licht eines Handscheinwerfers erblickt der Feuerwehrmann die Beine eines Kindes. Es sind die von Yvonne. Das Mädchen liegt in einer Erdmulde. Es ist bewusstlos. Die Fundstelle befindet sich nur tausend Meter entfernt vom Bungalow der Großeltern. Dass das Kind Opfer eines Verbrechens geworden ist, daran gibt es kaum Zweifel. Die Zwölfjährige wird mit schwersten Kopfverletzungen ins Carl-Thiem-Klinikum nach Cottbus gebracht. Im Krankenhaus wird der Verdacht zur Gewissheit. Die massiven Verletzungen können nur von Schlägen mit einem Gegenstand oder von Fußtritten stammen. Auch Würgemale am Hals und Verletzungen im Intimbereich sind Belege, dass Yvonne Opfer eines Verbrechens wurde.

Am nächsten Tag, nach der medizinischen Versorgung auf der Intensivstation, begutachtet eine Gerichtsmedizinerin das immer noch im Koma liegende Opfer. Dabei stellt die erfahrene Ärztin eine 1,5 Zentimeter lange Risswunde im Bereich der rechten Augenbraue fest, die etwa einen Millimeter tief ist. Die angesichts des lebensbedrohlichen Zustandes des Kindes eher nebensächliche und scheinbar unbedeutende Entdeckung wird dennoch im Untersuchungsprotokoll notiert.

In Cottbus übernimmt das 1. Kommissariat des Polizeipräsidiums, wie die Morduntersuchungskommission seit der Wende offiziell heißt, die Ermittlungen. Eine 48-köpfige Sonderkommission sucht nach dem Täter. In der Regionalzeitung Lausitzer Rundschau und in anderen, auch überregionalen Medien wird die Bevölkerung um Mithilfe zur Ermittlung des Täters gebeten. Aushänge an Badestellen, in Gaststätten und auf Campinganlagen rund um den Pinnower See informieren über das Verbrechen. Zusätzlich wird das Mithilfeersuchen der Polizei durch Lautsprecherdurchsagen verbreitet.

DIE KRIMINALPOLIZEI BITTET UM MITHILFE!

In den späten Abendstunden des 16.07.95 (Sonntag) wurde ein 12-jähriges Mädchen am Westufer des Pinnower Sees mit schwersten Kopfverletzungen aufgefunden. Es ist von einem Verbrechen auszugehen. Das Mädchen hatte sich mehrere Tage im Bungalow seiner Großeltern am Nordufer aufgehalten.

Zur Personenbeschreibung des Mädchens:

1,65 m groß und schlank

Blondes, bis zur Hälfte des Rückens reichendes glattes Haar, auf den Schultern aufliegend

Bekleidung:

rot-blauer Badeanzug

darüber ein weißes T-Shirt mit Fransen an den Ärmeln und am Bund

im Brustbereich des T-Shirts ein aufgedrucktes Motiv (Mädchenkopf mit Krempenhut)

Am Sonntag, dem 23.07.1995, in der Zeit von 10.00 bis 13.00 Uhr, werden Kriminalbeamte des Polizeipräsidiums Cottbus auf der Zufahrtsstraße zur Bungalow­siedlung Nordufer anwesend sein.

Alle Bewohner der Siedlung, aber auch andere Bürger, die zweckdienliche Angaben machen können, werden gebeten, sich am 23.07.95 direkt an die Kriminalbeamten zu wenden.

Auf Wunsch werden die Angaben auch vertraulich behandelt.

Jeder noch so kleine Hinweis kann wichtig sein!

Polizei und Staatsanwaltschaft gehen davon aus, dass der Täter wahrscheinlich unter den Anwohnern des Sees oder den Wochenendurlaubern zu suchen ist. Inzwischen ist es die Fahndung nach dem Mörder. Acht Tage nach der Tat, am 24. Juli 1995, stirbt Yvonne im Cottbuser Krankenhaus an den schweren Verletzungen. Zu Bewusstsein ist sie nicht mehr gekommen.

Im Laufe der Ermittlungen geht die Polizei über 300 Hinweisen nach. Vielversprechend scheint die Beobachtung eines Zeugen zu sein, der am Tattag gegen 16.40 Uhr einen ungefähr 18- bis 21-jährigen Mann mit kurzen, dunklen Haaren am See gesehen hat. Nach den Angaben des Augenzeugen fertigt die Polizei ein Phantombild an, das die Lausitzer Rundschau, die Bild-Zeitung und andere Medien veröffentlichen. Der Täter soll mit einem metallic-silbernen oder metallic-grauen älteren BMW unterwegs gewesen sein. Hatte er auf Yvonne gewartet? Die Staatsanwaltschaft lobt zur Ergreifung des Täters 3.000 D-Mark aus.

Weiter bringt es die Kripo allerdings nicht. Der BMW-Fahrer wird nie gefunden. Als in Neuruppin ein 34 Jahre alter Mann aus dem Landkreis Ostprignitz-Ruppin festgenommen wird, der bei Rheinsberg eine 15-jährige Schülerin vergewaltigte und dann mit einem Fiat-Kleintransporter über eine Landstraße floh, wird auch dieser Spur nachgegangen, zumal der Mann nur einen Tag vor dem Verbrechen an Yvonne ein achtjähriges Mädchen bei Fehrbellin entführt und vergewaltigt haben soll. Doch wieder endet eine Spur im Nichts.

Am 3. August 1995 meldet sich bei der Kripo jemand, der den Mord an Yvonne begangen haben will. »Die Berichte, dass ein Kind totgetrampelt wurde, haben mich darauf gebracht, dass ich das gemacht habe. Ich war betrunken und habe auch keine Erinnerung mehr. Bestimmt habe ich aber etwas mit dem Schlimmen zu tun, was in der Nacht dort passiert ist«, sagt er aus. Zwei Monate später meldet er sich erneut bei der Polizei. Er sei dem Mädchen bei der Probefahrt mit einem BMW über den Kopf gefahren. Als er aus dem BMW ausgestiegen sei, habe eine aufgebrachte Menge ihn angeschrien. Es sind die Hirngespinste eines geistig kranken Menschen, der nach Angaben seiner Ärztin an »paranoid-halluzinatorischen Psychosen mit depressiven Zuständen« leidet.

Jürgen Kohlack verbringt das dritte Juli-Wochenende 1995 mit Ehefrau Melanie und seinem 16 Jahre alten Sohn Sven in seinem Elternhaus in der Teerofenstraße in Pinnow. Svens gleichaltriger Freund Heiko ist mit von der Partie. Kohlack, der als Metzger in einem Supermarkt in Guben arbeitet, hat ein schönes Stück Fleisch mit zum Pinnower See gebracht. Die Steaks hat er, als sie im Angebot waren, schon vor einiger Zeit gekauft und daheim im Froster aufbewahrt. Am Sonntag, so ist es geplant, soll es vor der Heimfahrt noch Gegrilltes geben.

Es ist bislang ein harmonisches Wochenende für die Kohlacks. Die Jungs schlafen in der Scheune im Heu, die Oma ist am Samstag wie immer zeitig ins Bett gegangen, und Jürgen und Melanie hatten ausgiebig Zeit für- und miteinander. Seit 19 Jahren sind sie nun schon verheiratet und Eltern von zwei Kindern. Die Tochter ist kurz nach der Heirat geboren worden, Sohn Sven drei Jahre später. 23 Jahre alt war Jürgen Kohlack, seine Melanie vier Jahre jünger, als sich das Paar auf dem Standesamt das Jawort gab. Zugegeben, in der Sturm- und Drangzeit hat er »viel Mist« gebaut, wie es die Mutter in einem Gespräch mit dem Autor Jahre später formulierte. Nun ist er besonnener geworden an der Seite seiner Frau, seiner ersten großen Liebe. Auch Jürgen Kohlacks Mutter mag die Schwiegertochter.

Zu den über hundert Zeugen, die in den ersten drei Wochen nach dem Verbrechen an Yvonne vernommen werden, gehören auch die Kohlacks. Schließlich liegt das Grundstück in Sichtweite vom Fundort des Mädchens.

Die Familie verbrachte nach der Schilderung von Jürgen Kohlack einen ganz normalen Sonntag. Nach dem Mittagessen gingen Sven und sein Freund Heiko gemeinsam mit einem Jungen aus der Bungalowsiedlung nach draußen an die frische Luft. Er selbst habe im Wohnzimmer die TV-Live-Übertragung des Formel-1-Rennens aus Silverstone um den Großen Preis von Großbritannien angeschaut. Noch gut erinnern kann er sich an einzelne Situationen. An den Start um 15 Uhr natürlich, weil der für jeden Fan des Automobilrennsports unbedingt ein Muss ist. Er berichtet vom Zusammenstoß des Deutschen Michael Schumacher mit dem Briten Damon Hill, nach dem das Rennen für beide Fahrer frühzeitig zu Ende war. Kurz danach gab es einen weiteren Zusammenprall, diesmal zwischen dem späteren Sieger Johnny Herbert und David Coulthard, der am Ende Dritter wurde. Das war, so ergab die Überprüfung der Polizei, um 16.16 Uhr. Den Zieleinlauf, so behauptet Kohlack, habe er noch verfolgt. »Ich habe gesehen, wie man die Rennwagen in die Boxen zur Kontrolle gebracht hat, dann bin ich runter zum See, um die Jungs zu suchen. Wir wollten ja noch grillen. Dort aber waren sie nicht.« So erzählt er jedenfalls.

Am See hat Kohlack nach seinen Angaben kontrolliert, ob der Kahn am Landesteg angeschlossen war. Er sei kurz in das Wasser gesprungen und dann sofort zum Grundstück zurückgegangen, wo inzwischen auch Sven und sein Freund Heiko aufgetaucht waren. Weil das Fleisch noch gefroren war, habe man auf das Grillen verzichtet und sei nach Hause gefahren. Allerdings nicht auf dem sonst üblichen, weil kürzesten Weg, vom Grundstück nach links über die Teerofenstraße Richtung Lübbinchen zur B 97 und dann nach Guben. »Ich bin nach rechts abgebogen zum Campingplatz, um dem Freund meines Sohnes, der zum ersten Mal mit am See war, auch die andere Seite zu zeigen.« Kohlack gibt an, dass sie einem Ehepaar mit zwei Hunden begegneten und in etwa 150 Meter Entfernung auf der Seewiese einen Mann mit Fahrrad bemerkten. Die Beschreibung des Unbekannten fällt allerdings dürftig aus. »Aufgrund der Entfernung kann ich diesen nicht näher beschreiben. Ich erinnere mich nur an eine dunkle Hose und ein helleres Oberstück, Pullover oder T-Shirt.« Die Ankunftszeit in Guben gibt er ziemlich exakt an. »Im Wohnzimmer habe ich auf die Uhr geschaut. Diese zeigte so zwei bis drei Minuten nach 17.30 Uhr an.«

Die Auswertergruppe der Sonderkommission vergleicht akribisch alle Zeugenaussagen vor allem im Hinblick darauf, wer wen zu welcher Zeit und wo gesehen oder getroffen haben will. Widersprüche werden erkennbar. Auffällig für die Ermittler ist das Bemühen von Kohlack, ein wasserdichtes Alibi für die mutmaßliche Tatzeit abzuliefern. Will er möglicherweise jemanden schützen?

Die Staatsanwaltschaft beantragt beim Generalbundesanwalt eine Auskunft zu Jürgen Kohlack aus dem Zentralregister, in dem Urteile deutscher Strafgerichte mit dem Grund und der Höhe der Bestrafung von Frauen und Männern sowie von Heranwachsenden enthalten sind. Als den Ermittlern der Registerauszug vorliegt, schrillen die Alarmglocken. Jürgen Kohlack wurde in der DDR durch das Kreisgericht Guben zwischen 1976 und 1981 dreimal zu Haftstrafen verurteilt. Im Oktober 1976, Kohlack war frisch verheiratet und die Frau mit der Tochter schwanger, lautete das Urteil ein Jahr Freiheitsentzug auf Bewährung wegen unbefugter Benutzung von Kraftfahrzeugen. Das ist ein harmloses Vergehen gemessen an den zwei folgenden Straftaten. Im Februar 1977 verhängte das Gericht in Guben gegen Kohlack eine Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren wegen mehrfach versuchter Vergewaltigung. Er musste dafür ins Gefängnis. Eine Reststrafe wurde vom Gericht zur Bewährung ausgesetzt, die Aussetzung aber später widerrufen. Kohlack wurde wieder straffällig. Mehrfach, wenn ihm die Situation günstig erschien, hatte er Frauen im Stadtgebiet von Guben überfallen, brutal geschlagen und vergewaltigt. Wegen schwerer, mehrfach vollendeter und versuchter Vergewaltigung, schwerer und versuchter Nötigung zu sexuellen Handlungen und vorsätzlicher Körperverletzung musste er für fünf Jahre ins Gefängnis. Seit der Entlassung im März 1987 führt er allerdings ein straffreies Leben. Der gelernte Fleischer konzentriert sich auf seine Familie und verbringt seine Freizeit, sooft es geht, auf dem elterlichen Grundstück am Pinnower See, das von der Mutter nach dem Tod ihres Mannes allein bewohnt und bewirtschaftet wird.

Am Morgen des 8. August 1995 holen zwei Polizeibeamte Kohlack von seiner Arbeitsstelle, der Wurst- und Fleischabteilung eines Supermarktes in Guben, ab und bringen ihn nach Cottbus ins Polizeipräsidium am Bonnaskenplatz. Neben den Kriminalisten der MUK ist auch Staatsanwalt Horst Helbig vom Dienstsitz seiner Behörde in der Karl-Liebknecht-Straße in die Polizeizentrale für die Lausitz und das Elbe-Elster-Land geeilt. In den Diensträumen der Polizei kommt es zunächst zu einem Streit zwischen dem Chef der MUK und dem Staatsanwalt. Helbig hat festgelegt, dass er die Vernehmung im Beisein eines Kriminalkommissars selbst führt. Er will Kohlack zunächst noch einmal als Zeugen im Fall des ermordeten Mädchens befragen, obwohl er bereits am Vortag die Haftrichterin in Cottbus informierte, dass seinerseits mit dem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls gegen einen Tatverdächtigen gerechnet werden könnte. Für die MUK-Ermittler ist der Fleischer aus Guben aufgrund von Aussagen, die Anwohner aus der Bungalowsiedlung machten und die mit den zeitlichen Angaben von Kohlack nicht übereinstimmen, ohnehin dringend verdächtigt, Yvonne getötet zu haben. Sie wollen ihn sofort als Beschuldigten vernehmen, ein Status, dem in einem Ermittlungsverfahren besondere Bedeutung zukommt. Zudem befürchten die Kriminalisten, dass die Staatsanwaltschaft den Ermittlungserfolg für sich in Anspruch nehmen möchte, obwohl den doch die Kripo erzielte und ihr die Anerkennung gebührt. Längst schon war nämlich der Fall der »Sexbestie vom Pinnower See«, die Yvonne sexuell missbrauchte und dann brutal mit Fußtritten tötete, in den Medien zu einem Schlagzeilen produzierenden Thema geworden.

Der Staatsanwalt als Herr des Ermittlungsverfahrens setzt sich durch. Die Zeugenvernehmung bringt keine neuen Erkenntnisse. Sie wird, wie erwartet, eine Stunde nach Beginn abgebrochen. Staatsanwalt Helbig macht Kohlack klar: »Die von Ihnen geschilderten Bewegungsabläufe und die sich aufgrund der Weg-Zeit-Verhältnisse ergebenden Zeiten sind nicht in Übereinstimmung zu bringen, sondern begründen den Verdacht, dass Sie versuchen, sich für die in Betracht kommende Tatzeit ein Alibi zu schaffen. Deshalb«, so belehrt ihn Helbig, »gelten Sie fortan als Beschuldigter, der das Recht hat, zu schweigen und sich mit einem Rechtsanwalt zu besprechen.«

Der Tatverdächtige verzichtet nach kurzer Bedenkzeit darauf und fragt lediglich: »Wie belastend sind denn die Beweise?« Die Antwort des Staatsanwaltes ist eindeutig: »So, dass gegen Sie dringender Tatverdacht besteht und Sie auch mit der Antragstellung auf Erlass eines Haftbefehls beim zuständigen Gericht rechnen müssen.«

Danach folgt ein zähes Ringen um die Wahrheit, die in einem 33 Seiten umfassenden Protokoll festgehalten und Seite um Seite vom Beschuldigten unterschrieben wird.

Sonntag, 16. Juli 1995. Jürgen Kohlack schaut sich tatsächlich, zunächst gemeinsam mit seiner Frau, die Übertragung des Formel-1-Rennens an. Gegen 16.20 Uhr, zwei Runden nach dem Fast-Zusammenstoß der Rennfahrer Herbert und Coulthard, und nicht erst nach dem Zieleinlauf, wie er später behauptet, sieht er beim Blick aus dem Wohnzimmerfenster die zwölf Jahre alte Yvonne auf dem Weg Richtung Südufer, der am Grundstück vorbeiführt. Das Mädchen ist nur mit einem Badeanzug und einem T-Shirt bekleidet. Er schätzt es älter ein, auf 15, vielleicht sogar 16 Jahre. Da sei ihm der Gedanke gekommen, dass er mal wieder »etwas Junges« haben müsse. »Ich habe sie gesehen, und dann bin ich ausgerastet«, sagt Kohlack. Es übermannt ihn, sich einen »Kick« zu gönnen und den Teenager zu vergewaltigen. Das Autorennen interessiert ihn fortan nicht mehr. Den Verlauf und den Ausgang kann er sich auch noch später in Sportsendungen anschauen.

Unbemerkt von Ehefrau Melanie, die gerade aus dem Zimmer gegangen ist, verlässt er, barfuß und nur mit einer Badehose bekleidet, durch eine Nebentür das Haus. Weit und breit ist in diesem Abschnitt des Sees keine Menschenseele zu sehen. Nach etwa 400 Metern, an einer Stelle, wo der Weg eine Biegung macht und von Wald und Dickicht umsäumt ist, kommt ihm Yvonne entgegen, die zum Bungalow der Großeltern will. Ohne zu zögern und überfallartig fasst er das Opfer mit seinem rechten Arm an der Schulter, hält es mit der anderen Hand fest und zieht es 20 Meter vom Weg in Richtung See in das mit Unterholz wild bewachsene Waldstück. Hinter einem Heuhaufen, der gegen die Sicht vom Weg aus gut schützt, reißt er das Mädchen nieder. Mit der rechten Hand fasst er unter den Badeanzug an das Geschlechtsteil und führt seinen Zeigefinger in die Scheide des Kindes ein. Yvonne schreit auf. »Du tust mir weh, lass mich gehen.« Es ist der Schrei des um sein Leben kämpfenden Mädchens, den das Ehepaar auf seinem Spaziergang hörte und als Ausruf überraschter Liebender, die man nicht stören wollte, falsch interpretierte. Kohlack zieht seine Hand zurück. Das Opfer kann sich aufrichten und hinknien. Aus Furcht, entdeckt zu werden und wegen der versuchten Vergewaltigung wieder im Gefängnis zu landen, erfasst er mit beiden Händen den Hals des Opfers und drückt mindestens eine Minute lang kräftig zu, bis es ohnmächtig zusammensackt.

Frage des Staatsanwaltes: »Und dann?«

Antwort: »Na, und dann habe ich mit dem Knüppel zweimal zugeschlagen.«

Frage: »Wie weit lag der Knüppel weg?«

Antwort: »Der lag nicht weit weg, der lag direkt daneben.«

Frage: »Haben Sie beim Schlagen gestanden, gekniet oder gelegen?«

Antwort: »Ich habe gestanden.«

Der Vernehmer kommt noch einmal auf das Würgen zurück.

Frage: »Haben Sie dem Mädel beim Würgen ins Gesicht gesehen? Haben Sie etwas gesehen?«

Antwort: »Ja, sie ist blau angelaufen.«

Frage: »Was haben Sie noch gesehen?«

Antwort: »Dass sie hier, ich weiß jetzt nicht genau wo, aufgerissen war.«

Der Beschuldigte zeigt mit seinem Finger auf den Bereich der rechten Augenbraue.

Frage: »Und, was war da?«

Antwort: »Na, wie aufgerissen, dass sie wahrscheinlich beim Durchs-Gebüsch-Ziehen, dass sie sich da irgendwie aufgekratzt hat oder was.«

Frage: »Woran haben Sie das erkannt?«

Antwort: »Na, weil … das hat geblutet.«

Frage: »Hatte das Mädel das vorher schon, als Sie ihr begegnet sind?«

Antwort: »Nein.«

Frage: »Das haben Sie erst bemerkt beim Würgen?«

Antwort: »Ja, da habe ich das erst gesehen.«

Jürgen Kohlack bleibt, sooft er auch gefragt wird, dabei, dass er Yvonne mit einem Knüppel erschlagen hat. Die Gerichtsmedizinerin schließt das in ihrem Obduktionsgutachten aus. »Bei Schlägen mit einem Ast hätte es Hautdurchtrennungen geben müssen. Die waren aber nicht da«, heißt es zur Begründung. Sehr wahrscheinlich seien die Kopfverletzungen durch Tritte verursacht worden.

War Jürgen Kohlack »das Tottrampeln«, wie Zeitungen zuvor mehrfach geschrieben hatten, selbst zu brutal, zu menschenverachtend? Die Frage bleibt unbeantwortet. Als er nach dem Verhör aus dem Vernehmerzimmer geführt wird, sagt er, bezugnehmend auf seine Vorstrafe wegen mehrfacher Vergewaltigung von Frauen 1982 in Guben, zu Staatsanwalt Helbig: »13 Jahre habe ich durchgehalten.«

Nach den Tritten verlässt der mutmaßliche Täter fluchtartig den Ort des Verbrechens. Er geht, immer darauf achtend, dass er nicht entdeckt wird, hinunter zum See. Im Schutz des Schilfgürtels begibt er sich zur Kahnanlege- und Badestelle, die die Familie üblicherweise nutzt. Dort wird er von einem Ehepaar aus der Nachbarschaft gesehen und begrüßt. Kohlack erwidert den Gruß und tut so, als suche er dort etwas. Kurz darauf springt er ins Wasser und schwimmt eine kleine Runde.

»Da seid ihr ja«, ruft er dem Sohn und dessen Freund zu, als er sie bei seiner Rückkehr auf dem Grundstück der Mutter bemerkt. »Los, holt eure Sachen aus der Scheune und packt sie ins Auto«, fordert er die beiden auf. Im Haus treibt er die Ehefrau zur Eile an. »Das Fleisch ist noch steinhart, das können wir so nicht grillen«, ist seine Begründung. »Leg es wieder in den Froster. Wir grillen es dann eben am kommenden Wochenende«, weist er seine Mutter an.

Trotz der offensichtlichen Eile beim Aufbruch nimmt er nicht den kürzesten und wie sonst üblichen Weg, sondern fährt nach rechts vom Grundstück in die entgegengesetzte Richtung und damit vorbei am Tatort. Etwas Auffälliges bemerkt Jürgen Kohlack nicht. Keine Rede mehr ist davon, dass er Heiko den See von der anderen Seite aus zeigen wollte. Warum auch, wo der doch, anders als zuvor behauptet, schon mehrmals zu Besuch bei den Kohlacks in Pinnow war.

Wenige Tage nach der Verhaftung des mutmaßlichen Täters und dem Erlass des Haftbefehls durch eine Amtsrichterin in Cottbus, vor der der wahrscheinliche Mörder sein Geständnis wiederholt hat, schaltet sich ein Rechtsanwalt aus Berlin ein in das Verfahren, das noch lange für Schlagzeilen sorgen sollte. Dass Jürgen Kohlack unmittelbar danach sein Geständnis, den »König der Beweise«, widerruft, überrascht nicht. Begründet wird die Abkehr von den Aussagen mit der Stresssituation durch die Vernehmungen. Möglicherweise habe sein Mandant »aufgrund massiver Vorwürfe der Kriminalisten eine subjektive Ausweglosigkeit abgeleitet und die Tat gestanden«, wird der Anwalt in der Lausitzer Rundschau zitiert. Zum Geschehen am See sagt Kohlack fortan kein Wort mehr.

Im September 1995 erhebt die Staatsanwaltschaft Cottbus Anklage gegen den 42 Jahre alten Jürgen Kohlack wegen Mordes zur Verdeckung einer Sexualstraftat an der zwölf Jahre alten Yvonne Ludrichs.

Im Juni 1996 beginnt der Prozess am Landgericht Cottbus. Drei Verteidiger sitzen an der Seite von Jürgen Kohlack. Die Staatsanwaltschaft schickt zwei Beamte als Vertreter der Anklage zu den Verhandlungen im Saal 209 des Landgerichtes auf dem Cottbuser Gerichtsberg. Staatsanwalt Horst Helbig, dem der Angeklagte die Tat bei der Vernehmung am 8. August 1995 gestand, gehört nicht zu den Sitzungsvertretern. Ihm fällt in diesem außergewöhnlichen Prozess die Rolle eines Zeugen zu.