Die Totenärztin: Schattenwalzer - René Anour - E-Book + Hörbuch
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Die Totenärztin: Schattenwalzer Hörbuch

René Anour

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Beschreibung

Geschickt konstruierte Kriminalfälle rund um medizinische Kuriositäten. «Die Totenärztin» ist ein absolutes Highlight für jeden Historien- und Krimi-Fan! Wien, 1909. Dass der jungen Gerichtsmedizinerin Fanny Goldmann bei einer Obduktion auch die kleinsten Details auffallen, ist Fluch und Segen zugleich. Es bedeutet einerseits, dass sie ausgesprochen gut ist in dem, was sie tut. Es bedeutet aber auch, dass sie immer wieder Geheimnisse entdeckt, die die Toten – oder ihre Mörder – zu verbergen suchten. Und das hat Fanny schon mehr als einmal in Lebensgefahr gebracht. Vor allem seit sie die Aufmerksamkeit einer Geheimgesellschaft erregt hat, die ihr Talent entweder für sich missbrauchen oder sie aus dem Weg schaffen will. Mit einem toten Diplomaten beginnt nun ein dunkler Tanz: Fanny sucht seine Mörder. Und seine Mörder lauern in den Schatten auf sie … Band 4: das große Finale der österreichischen Bestseller-Reihe!

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Zeit:10 Std. 12 min

Sprecher:Catharina Ballan

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René Anour

Die Totenärztin: Schattenwalzer

Historischer Wien-Krimi

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Eine Leiche, gebettet auf Rosen.

Ein Mörder, verborgen in den Schatten.

Eine Ärztin, auf der Suche nach Antworten.

 

Wien, 1909. Ein heikler Fall führt die junge Gerichtsmedizinerin Fanny Goldmann auf ein ganz neues Parkett. Sie wird mit ihrem Kollegen Franz an die britische Botschaft gerufen, wo ein Diplomat tot aufgefunden wurde. Nackt, auf seinem Schreibtisch, umgeben von Rosen. Und obwohl sein Körper Zeichen von Gewalteinwirkung aufweist, war keine davon die Todesursache. Fanny kämpft mit aller Kraft dafür, den Toten eine Stimme zu geben, ihnen Gerechtigkeit zu verschaffen. Doch dieser Fall wird ihr mehr abverlangen als je zuvor. Denn der Diplomat wird nicht der letzte Tote bleiben. Und eines der Opfer steht ihr nah. So unendlich nah …

 

Ein Highlight für jeden Fan von Krimis und Medizinhistorie.

Das große Finale der Reihe um Totenärztin Fanny Goldmann.

Vita

René Anour lebt in Wien. Dort studierte er auch Veterinärmedizin, wobei ihn ein Forschungsaufenthalt bis an die Harvard Medical School führte. Er arbeitet inzwischen bei der österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit und ist als Experte für neu entwickelte Medikamente für die European Medicines Agency tätig. Sein historischer Roman «Im Schatten des Turms» beleuchtet einen faszinierenden Aspekt der Medizingeschichte: den Narrenturm, die erste psychiatrische Heilanstalt der Welt. Sein zweiter Roman bei Rowohlt ist der Auftakt zu einer Reihe um eine junge Gerichtsmedizinerin in Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts: «Die Totenärztin – Wiener Blut». Mit «Die Totenärztin – Schattenwalzer» liegt inzwischen das Finale der vierbändigen Reihe vor.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Ulrike Brandt-Schwarze

Kartenillustration Christl Glatz, Guter Punkt, München, unter Verwendung von Motiven von iStock/Getty Images Plus

Lied auf Seite 399 f. aus der Oper «Fidelio» von Ludwig van Beethoven; Libretto von Joseph Sonnleithner, Stephan von Breuning und Georg Friedrich Treitschke

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung Magdalena Russocka/Trevillion Images; Hauptmann & Kompanie

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01414-5

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Prolog

Irgendwo am Rand von Wien

«Hat’s überstanden», brummte der Arzt, sobald er aus der kleinen Kammer trat. Erna betrachtete ihn und seine blutverschmierten Finger, unfähig, etwas zu sagen.

Das Schreien hatte aufgehört, und alles schien ihr mit einem Mal unnatürlich still.

«Kann ich mir hier irgendwo die Hände waschen?»

Als Erna nicht antwortete, ließ er seinen Blick über das heruntergekommene Zimmer schweifen, die drei fleckigen Matratzen, den kleinen Kohleofen, den Topf, in dem die eingetrockneten Reste einer Brotsuppe klebten.

«Wohl eher nicht …»

Erna erwachte aus ihrer Erstarrung, huschte in die Ecke des Zimmers und reichte dem Mann einen halbwegs sauberen Lappen.

Mit deutlichem Widerwillen nahm der Arzt ihn entgegen und wischte sich das Blut ab, so gut es eben ging.

«Was bin ich schuldig?»

Er hob die Augenbrauen.

«Lassen Sie’s», sagte er kühl und drückte ihr den blutigen Lappen in die Hand.

Sie starrte das feuchte Stück Stoff an. «Was bin ich schuldig?», wiederholte sie mechanisch.

Der Arzt seufzte und ging an ihr vorbei. An der Eingangstür wandte er sich noch mal nach ihr um. «Sehen Sie zu, dass Ihre Kinder was lernen … damit sie nicht auch so enden!»

Erna hörte, wie die Tür wieder ins Schloss fiel. Für eine Weile stand sie reglos da, dann schritt sie, wie von Fäden gezogen, in die kleine Kammer hinein, die der Arzt gerade verlassen hatte.

Im Licht der Öllampe wirkte sein Gesicht beinahe friedlich. Der Arzt hatte den Anstand gehabt, ihm die Augen zu schließen, sodass nun nichts mehr in seiner Miene von dem Höllenschmerz und der Panik zeugte, die seine letzten Stunden geprägt hatten.

Sie vermied es, seinen zertrümmerten, blutverschmierten Oberkörper anzusehen, den der Metallkessel in der Fabrik zermalmt hatte, und griff nach seiner herabhängenden Hand. Kalt und feucht fühlten sich seine Finger an. Dabei waren sie früher selbst im Winter immer warm geblieben und hatten sie gewärmt, wenn ihre Hände klamm geworden waren. Sie schmiegte ihre Wange daran.

Das hier musste ein Traum sein. Heute Morgen noch hatte sie ihn neben sich im Bett gespürt, hatte gemurrt und sich abgewendet, weil sein Atem ihr im Gesicht unangenehm gewesen war. Und nun war von allem, was er gewesen war, nur dieser fremde, kalte Körper geblieben. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Während sie ihm mit dem Daumen ein letztes Mal die Locke aus der Stirn strich, die sich zu seinen Lebzeiten nie hatte bändigen lassen, begann sie zu zittern.

Und nun? Sie mochte nicht daran denken. Sie erinnerte sich daran, dass die Frau eines anderen Arbeiters nach dessen Tod zehn Kronen und eine Beileidsnotiz von den Fabrikleitern erhalten hatte. Sie hatten noch erwartet, dass die Frau sich artig für ihre Großzügigkeit bedankte.

Zehn Kronen. Damit kämen sie über die nächsten drei Wochen.

Ein tiefes Heulen drang an ihre Ohren. Beinahe zärtlich bettete sie die Hand ihres verstorbenen Mannes auf seine Brust und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.

Sie lief zurück ins Zimmer. Der Junge war groß für sein Alter, fast schon so groß wie Erna. Aber so, wie er jetzt in der Ecke kauerte und seine Knie umschlang, wirkte er zerbrechlich.

Ihn etwas lernen lassen … Als ob irgendein Meister einen wie ihn in die Lehre nehmen würde.

Sie bückte sich zu ihm hinunter und strich ihm über sein schwarzes Haar. Das Wimmern schien anzuschwellen, sobald sie ihn berührte.

«Komm!», flüsterte sie. «Leg dich hin!»

Er ließ sich von ihr zu seiner Matratze führen. Ihr gegenüber war er immer folgsam und sanft gewesen, ein gutes Kind. Kaum zu glauben, dass er einem der Straßenjungen, der ihn einen Irren geheißen hatte, den Arm gebrochen hatte.

Vorsichtig deckte sie ihn zu. Ein gurgelnder Laut drang aus seiner Kehle.

Er würde nicht einschlafen ohne eine Geschichte … und die Melodie. Sie griff nach der alten Spieluhr neben seiner Schlafstatt. Erna hatte sie von ihrer Mutter geerbt, und sie war vielleicht das Einzige von Wert, das sie besaß. Nachdenklich drehte sie das Messinggehäuse in ihren Fingern. Vielleicht würde sie sie verkaufen müssen, aber wie würde sie den Jungen dann zum Einschlafen bringen?

Sie legte ihre Finger auf die Drehschraube. Was sollte sie ihm an diesem Abend erzählen? Von einem toten Vater, von einer großzügigen Spende von zehn Kronen für dessen Ableben?

Neben der tiefen Verzweiflung in ihrem Inneren spürte sie Wut in sich aufflammen.

«Das ist die Geschichte … vom Nachtkönig», flüsterte sie. «Er sprengt die Ketten der Armen. Von allen, die andere unterdrücken, wird er gefürchtet, denn er lebt im Schatten, kann immer und überall auftauchen, wo Unrecht geschieht, und Leute wie uns beschütz…»

In der Kammer mit der Leiche knarzte etwas, als würde jemand über den Boden schleichen. Erna sah auf. Ja … darum musste sie sich auch noch kümmern, aber eins nach dem anderen.

«Er befreit die Menschen. Er kämpft für sie und bestraft die Reichen für ihre Gier.»

Das Wimmern verklang. Jetzt sah er sie aufmerksam aus dunklen Augen an. Seine Stirn war in leichte Runzeln gelegt, als würde er nachdenken. In solchen Momenten war Erna sicher, dass er jeden Moment zu sprechen beginnen würde. Nur dass das in den zehn Jahren seit seiner Geburt nie passiert war.

Sie zog die Spieluhr bis zum Anschlag auf. Die wohlbekannte Melodie hallte durch den Raum. Für einen Moment lauschte Erna mit geschlossenen Augen, dann begann sie zu singen. Es fiel ihr nicht schwer, immerhin war sie es gewohnt, stets neue Liedzeilen zu der Musik zu erfinden, und diese hier kamen wie von allein.

Ganz leis,

Hör seine Schritte, frohlocke,

Sprengt unsre Ketten, vernichtet

Der Unterdrückung Schmied.

Juble, Kind, es ist der Nachtkönig,

Und er bringt sein Reich

Mit Feuer und Blut.

«Schlaf süß, mein Sohn!», hauchte Erna und küsste ihn auf die Stirn. «Und träum von einer besseren Welt.»

1. Kapitel

Der lebende Tote

Wien, 1909

Fanny starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an, wie er auf dem Stuhl ihres Vaters thronte, mit übereinandergeschlagenen Beinen und einem Grinsen im Gesicht, ein säuberlicher Abzug aus Fannys Albträumen. Mechanisch klingende Musik drang aus einem Apparat, den er neben sich aufgestellt hatte. Wiener Blut. Das Lied, das gespielt hatte, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren.

Eben hatte sie sich noch auf der Straße von ihrem Verlobten Max verabschiedet, nur um ihn hier in ihrem Zuhause vorzufinden. Er, das war Graf Magnus von Waidring, das größte kriminelle Genie von Wien, der Fanny schon einmal gezwungen hatte, seine ermordeten Handlanger zu obduzieren.

«Ich wusste, Sie würden mich vermissen», erklärte er.

«Ach, du heilige …», flüsterte sie. Ihr kamen so viele Fragen in den Sinn, dass sie einen Moment brauchte, um sich zu sammeln. «Verschwinden Sie!», zischte sie. «Sofort!»

Waidrings Blick ruhte auf ihr. «Was denn? Keine Freudentränen?» Sein Grinsen wurde eine Spur breiter. «Kein Kuss?»

«Freudentränen vergieße ich erst bei Ihrem Begräbnis. Wie … wie zum Teufel haben Sie überlebt?»

«Oh!» Waidring lehnte sich entspannt zurück. «Sprechen Sie etwa von unserer letzten Begegnung, als ich mich diesem Trupp maskierter Meuchelmörder stellte, damit Sie und Ihre kleine Freundin entkommen konnten?»

Fanny schluckte. Es stimmte. Waidring hatte Tilde und ihr damals das Leben gerettet. Sozusagen.

«Diese Meuchelmörder waren doch nur wegen Ihnen hinter uns her. Nur, weil Sie sich mit dem dunklen Königund seiner Geheimgesellschaft angelegt haben. Weil es Ihnen nicht gepasst hat, dass er Ihnen Ihre Pfründe streitig macht.»

Waidring erhob sich erstaunlich schnell und kam auf Fanny zu. Sie wich keinen Schritt zurück, sondern wartete, bis er direkt vor ihr stand. Für einen Moment schien er es zu genießen, auf sie herabzublicken. Sie hielt seinem Blick zunächst stand, fixierte das schwarze Barthaar, das an manchen Stellen schon grau war, und versuchte, den fast schon vertrauten Geruch seines Eau de Cologne nicht angenehm zu finden. Bevor sie errötete, sah sie rasch zur Seite. Er schien ihre Nervosität durchaus zu genießen.

«Sie können mir nicht weismachen, dass Sie sich nur als ein armes Opfer der Umstände betrachten, meine Liebe. Hätte ich je Notiz von Ihnen genommen, wenn Sie sich nicht auf mein Fest im Palais Coburg geschlichen hätten, um dort zu ermitteln? Und wenn Sie nicht selbst einen Groll gegen die Gesellschaft hegen würden, warum haben Sie dann kürzlich wieder ihre Kreise gestört, ganz ohne mein Zutun?»

Fanny setzte an, um zu widersprechen, aber die Worte blieben ihr im Halse stecken.

«Sie wissen, wovon ich spreche. Die Auwaldmorde …»

Fanny sparte sich die Frage, woher er das schon wieder erfahren hatte. «Hätte ich gewusst, dass der Mörder etwas mit der Gesellschaft zu tun hat, hätte ich …»

«Was? Die Morde unaufgeklärt gelassen, Ihr feines Näschen nicht noch tiefer in dieses verlockende forensische Rätsel gesteckt?» Er lachte. «Sie leiden an einem pathologischen Mangel an Furcht. Das macht Sie so interessant.» Er beugte sich zu ihr und ergriff ihre Hand, bevor sie sie wegziehen konnte. «Oh», sagte er wieder und besah sich ihren Verlobungsring mit mildem Interesse. «Vielleicht hätte ich Ihren werten Herrn Inspector doch töten sollen. Ich mag es nicht, wenn jemand sich etwas nimmt, was mein sein sollte.»

Fanny stieß ihn mit dem Finger gegen die Brust.

Waidring stöhnte und krümmte sich.

«Stellen Sie sich nicht so an», zischte Fanny. «Sie …» Fanny beobachtete, wie Waidring sich mit schmerzverzerrter Miene an die Brust griff. «Sie sind verletzt», flüsterte sie. «Immer noch.»

Waidring presste die Lippen zusammen und richtete sich auf. «Manche Wunden brauchen ihre Zeit», krächzte er. «Aber zumindest die kleinen Parasiten in meiner Lunge, die Sie damals so trefflich diagnostiziert haben, bin ich mittlerweile losgeworden.»

«Das tut mir leid», erwiderte Fanny kühl. «Ich hätte mir gewünscht, dass Ihre Lungenwürmer Sie etwas länger begleiten.» Sie atmete tief durch und wartete, bis seine Schmerzen nachzulassen begannen und er sich wieder aufrichtete. «Was wollen Sie von mir? Ich hatte Ihr Wort, dass Sie mich in Ruhe lassen würden.»

Waidring schloss für einen Moment die Augen. «Wir leben in schwierigen Zeiten, meine Liebe», meinte er. «Man hat das Gefühl, die Welt wartet nur auf einen Vorwand für einen Krieg.»

«Falls Sie erwarten, dass ich daran etwas ändere … Ich bin Jungassistentin an der Gerichtsmedizin, keine Kaiserin, also verschonen Sie mich mit Ihren Spielchen.»

Waidring hob das Kinn und öffnete ein silbernes Etui, das in seiner Brusttasche steckte. Langsam holte er eine Zigarre daraus hervor, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug. «Keine Sorge», erklärte er. «Ich bin nur gekommen, um Sie zu warnen, nicht, um Sie zu rekrutieren.»

«Wovor denn?»

Waidring nahm einen weiteren Zug und betrachtete sie mit einem halben Lächeln. «Auf dem diplomatischen Parkett Wiens findet gerade ein seltsamer Tanz statt, dessen Muster ich noch nicht ganz verstehe.»

Fanny schüttelte ungläubig den Kopf. «Das ist alles? Sie sollten das jemandem erzählen, der sich dafür interessiert.»

«Oh, ich denke, dahinter steckt mehr, als das Auge sieht», meinte Waidring. «Man hat mir zugetragen, dass sich vermehrt ranghohe Russen nach Wien begeben, ohne dass es einen augenscheinlichen Grund für ihre Anreise gibt. Sie nehmen an Bällen und Festen teil, doch wenn Sie mich fragen, steckt etwas anderes dahinter.»

«Es tut mir leid, aber mich interessieren solche Dinge nur, wenn jemand tot ist und ich ihn obduzieren darf.»

Waidring hob eine Augenbraue. «Abwarten!»

«Sie sind also nur hergekommen, um mir zu sagen, dass sich ein paar Russen in Wien verdächtig verhalten?» Sie lachte.

Die Beziehungen zwischen Russland und Österreich-Ungarn waren schon lange abgekühlt, und immer wieder hatte sie in der Zeitung ihres Vaters gelesen, dass das Zarenreich der Donaumonarchie mit Krieg drohte. Erst letztes Jahr, während der Annexion Bosniens, wäre es beinahe zur Eskalation gekommen.

«Ich bin mir ziemlich sicher, dass es diesmal mehr ist. Etwas geht vor sich, etwas sehr Gefährliches. Und es hat bereits ein erstes Opfer gegeben …»

Fanny hob die Augenbrauen. Im Geiste ging sie die Leichen durch, die in den letzten Tagen an die Gerichtsmedizin geliefert worden waren: ein erdolchter Ehemann und eine von einer missgünstigen Kollegin erschlagene Probiermamsell. Schwer vorstellbar, dass Waidring einen dieser Toten meinte.

«Oh, die Leiche wurde nie in die Obhut Ihrer zarten Hände übergeben. Es war die Frau eines französischen Diplomaten. Eine delikate Angelegenheit. Vorgeblich scheint sie sich vergiftet zu haben, ein tragischer Selbstmord.»

«Wieso hat man sie zur Abklärung nicht obduzieren lassen?»

«Die Sache schien allen Beteiligten so eindeutig – und heikel –, dass man darauf verzichtete. Und das Giftfläschchen selbst stand auf einem handgeschriebenen Abschiedsbrief.»

«Das klingt tatsächlich nach Selbstmord.»

«Ungewöhnlich nur, dass mir die Dame bekannt war. Sie war in besseren Zeiten … in meinem inneren Kreis, und wir haben ab und zu …»

«Bitte sparen Sie mir die Details!»

«Dabei bin ich so sicher, dass Sie jedes davon genießen würden.»

«Gewiss nicht!»

«Jedenfalls war die gute Madame Latour von fröhlichem Gemüt, etwas einfach gestrickt, wie ich damals feststellte. Zwei Dinge, die nicht zu den Umständen ihres Ablebens passen.»

«Welches Gift hat sie benutzt?»

«Endlich die richtige Frage!» Waidring nahm wieder auf dem Stuhl ihres Vaters Platz und wartete, bis Fanny sich ihm gegenübergesetzt hatte. «Ihr Mann leidet unter schwerer Melancholie, die niemand heilen kann. Ein Spezialist empfahl ihm eine Arznei namens …»

«Lithium», flüsterte Fanny. Früher hatte man es nur als Gichttherapeutikum eingesetzt, ehe der Arzt Fritz Lange mit dieser Therapie beachtliche Erfolge bei Melancholikern erreicht hatte. «Die Dosierung ist … heikel, ein wenig zu viel, und es kommt zu Vergiftungserscheinungen.»

Waidring nickte ihr zu. «Gutes Mädchen!»

«Kaum jemand weiß das», meinte Fanny kopfschüttelnd. «Wieso hätte sie dieses Medikament wählen sollen, um sich zu suizidieren?»

Waidring ließ seinen Blick auf ihr ruhen. «Ich warte weiterhin auf den Tag, an dem Sie mich enttäuschen!» Er legte seine Zigarre in den silbernen Aschenbecher ihres Vaters und verschränkte die Finger. «Der Zufall will es, dass Madame Latour am Tag vor ihrem Verscheiden einem Empfang der russischen Botschaft beiwohnte. Ein wunderbares Fest. Es wurde getrunken, gelacht, nur die Crème de la Crème … Es schien, als habe sie sich prächtig amüsiert. Und am nächsten Tag war sie tot!»

«Wo ist die Leiche jetzt?», fragte Fanny. Eine Obduktion schien ihr sinnvoll. Sie könnte nach Spuren von Gewalteinwirkung suchen, falls jemand sie gezwungen hatte, den Brief zu schreiben und das Lithium zu schlucken.

«Auf dem Weg nach Paris, wo ihr Mann sie morgen beisetzen lassen wird.»

Fanny schürzte verärgert die Lippen. Egal, ob die Information von Waidring kam oder nicht, es ärgerte sie, dass diese Geschichte niemals aufgeklärt werden würde. «Ich verstehe immer noch nicht, was Sie von mir wollen. Ohne eine Leiche kann ich nichts tun.»

«Ach, meine Teure, im Gegensatz zu mir gehen Sie davon aus, dass dieser Tanz schon beendet wäre. Mein Gefühl sagt mir, er hat gerade erst begonnen … und niemand kann voraussehen, wie er enden wird.»

«Sie meinen, es könnten noch weitere Leute umgebracht werden?»

«Wer weiß … Aber ich halte es nicht für unwahrscheinlich. Die Abgründe der Menschen reichen oft tiefer, als man denkt.» Er schenkte ihr einen lauernden Blick. «Davon verstehen Sie doch etwas, nicht wahr? Bei all den Morden, die Sie gesehen haben.»

Fanny wich seinem Blick aus. «Warum erzählen Sie mir das? Es könnte Ihnen egal sein. Für die Welt da draußen sind Sie tot.»

«Das ist es!» Waidring erhob sich und schlenderte langsam hinter sie. Bevor Fanny sich zu ihm umgedreht hatte, legte er ihr die Hände auf die Schultern. «Aber ich weiß, dass es Ihnen nicht egal ist.» Er begann, seine Finger in die Haut unter ihrer Bluse zu graben und sie sanft zu massieren.

«Lassen Sie das!», fauchte sie.

«Als ob Sie etwas dagegen tun könnten.»

Für einen Moment schoss Fannys Puls in die Höhe. Es war nicht das erste Mal, dass Waidring zudringlich wurde, und diesmal hatte sie nichts, womit sie sich wehren konnte.

«Sie könnten immer noch dieser biederen Existenz entfliehen, wissen Sie? Glauben Sie mir, es wäre ein so viel intensiveres Leben als das, was Sie erwartet, wenn Sie nichts anderes mehr sind als die Gattin irgendeines kleinen Polizisten.»

Fanny entzog sich seiner Berührung. «Besser seine Gattin als Ihre Geliebte.»

«Nun», er streichelte mit seinem Handrücken über ihre Wange, «dann bleibt es wohl bei heute Nacht … Wann erwarten Sie Ihren Herrn Papa zurück?»

Fanny sprang mit hochrotem Kopf auf. «Raus hier, sofort!»

Waidring breitete die Arme aus. «Kommen Sie … Sie wissen, es wäre unvergesslich!»

Fanny nahm einen Porzellanmops vom Esstisch und warf ihn nach Waidring. Er wich dem Geschoss elegant aus und beobachtete, wie der Mops gegen die Wand prallte und mit einem Klirren in tausend Stücke zersprang.

«So ungezogen, fast, als möchten Sie bestraft werden.»

Fanny öffnete den Geschirrschrank und griff nach einer bronzenen Kaiser-Franz-Josef-Büste. «Verschwinden Sie!», zischte sie.

Waidring grinste, dann hob er seinen Hut auf. «So sehr ich das hier auch genieße …», erklärte er, «… so möchte ich von einigen Leuten in meiner Stadt lieber weiterhin für tot gehalten werden.»

Fanny spürte das schwere Metall in ihrer Hand. «Dabei könnte ich helfen!»

«Ach, meine Liebe.» Er machte ein paar Schritte in Richtung Flur. «Wenn Sie nur wüssten, wie sehr Sie dieser verpassten Gelegenheit nachtrauern werden.» Er trommelte mit den Fingern gegen die Blumentapeten an der Wand. «Vorausgesetzt, Sie überleben so lange.»

Fanny hob eine Augenbraue. «So lange überlebe ich gewiss nicht.»

«Nun denn …» Waidring richtete sich auf. «Ein Teil von mir ist gespannt, wie weit Sie in dieser Sache kommen werden.»

«Vergessen Sie dieses Ding nicht!» Fanny nickte in Richtung des Apparats, aus dem noch immer leise Musik drang.

Waidring lächelte. «Ein verfrühtes Hochzeitsgeschenk, damit Sie sich oft und gern an mich erinnern.» Er schlenderte zur Tür und wandte sich noch einmal nach ihr um. «Passen Sie auf sich auf! Wer zu tief in die Schatten vordringt, wird hineingezogen.»

2. Kapitel

Brautwünsche

Zwei Monate später

«Was meinen Sie hierzu?» Die Schneiderin hielt ein Muster weißen Spitzenstoffs unter Fannys Gesicht.

Sie betrachtete sich in einem goldgerahmten Spiegel, während sie der Geruch von Stoff und Staub in der Nase kitzelte.

Albern, hätte sie am liebsten geantwortet, aber das wäre unhöflich gewesen. Der einzige Anlass, zu dem sie Weiß trug, war, wenn sie sich auf der Gerichtsmedizin eine Arbeitsschürze umband. Und die behielt ihre Farbe meistens nicht lange, sondern hatte sich nach der ersten Obduktion des Tages meist in eine Mischung aus viel Rot, etwas Gelb und manchmal auch Grün oder Braun gefärbt, je nachdem, mit welchen Organen und Körperflüssigkeiten sie in Berührung gekommen war.

Warum musste man sich für eine Hochzeit nur so unnatürlich verkleiden? Sie kannte keine Frau, die ihr Hochzeitskleid öfter als einmal getragen hatte. Wissenschaftlich gesehen ein statistischer Ausreißer, eine nicht repräsentative Darstellung der Realität.

Fanny sah, wie ihr Gesicht einen ähnlichen Ton wie ihr rötliches Haar annahm, was der schneeweiße Stoff unter ihrem Kinn nur noch betonte.

«Wie findet ihr es?», fragte Fanny.

Das Spiegelbild ihrer besten Freundin runzelte die Stirn. Wie schön wäre es, wenn sie sich für diesen Anlass etwas von Tildes natürlicher Eleganz hätte leihen können. Diese mochte zwar manchmal etwas tollpatschig wirken, aber Fanny hatte das Gefühl, sie könnte sich ein paar löchrige Fetzen um den Körper binden und würde immer noch atemberaubend aussehen.

Tilde legte den Kopf schräg. «Ähhhhhhhhhhm …»

«Sehen Sie doch, die reizenden Blumenmuster», warf die Schneiderin rasch ein.

Fanny hörte ein Seufzen, dann trat die Gestalt eines jungen Mannes mit schmalem Gesicht und einem leuchtend violetten Jackett neben ihr Spiegelbild.

«Vergib mir, Schatzerl, aber damit siehst du aus wie ein weißer Truthahn», erklärte ihr Cousin Schlomo, seines Zeichens Maskenbildner am Wiener Burgtheater.

«Es ist wohl einfach nicht deine Farbe», ergänzte Tilde.

«Danke. Nur ungünstig, dass ich keine Wahl habe», erwiderte Fanny.

«Allerdings.» Schlomo grinste. «Aber wenn einem die Wirklichkeit nicht zusagt, zupft man sie sich am besten ein wenig zurecht.»

«Was meinst du?», fragte Fanny.

«Ich meine, Weiß ist nicht zwingend Weiß.» Er wandte sich der Schneiderin zu und flüsterte ihr etwas zu, das Fanny nicht hören konnte.

Die Frau nickte und verschwand rasch in einer Kammer.

«Können wir nicht lieber gehen? Wie wär’s, wenn wir uns in den Garten vom Landtmann setzen? Ich lade euch ein.» Sie machte einen vorsichtigen Schritt vom Spiegel weg, als sie spürte, wie Tilde und Schlomo zu ihr aufrückten und sich zu ihrer Linken und ihrer Rechten einhängten.

«Tut mir leid, du hast selbst gesagt, wir dürfen dich nicht gehen lassen, bis wir etwas Passendes gefunden haben», sagte Tilde entschuldigend.

Fanny seufzte und senkte den Blick. Um sich selbst Mut zu machen, sah sie auf die Entwürfe, die Schlomo gezeichnet hatte und die er mit in die Schneiderei Rokitzer in der Wollzeile in der Wiener Innenstadt genommen hatte.

Auf Schlomos Zeichnungen gefiel sie sich: eine schlanke Frauengestalt in einem opulenten Kleid, das die Schultern unbedeckt ließ, nur leicht tailliert war und ein wenig über den Boden wischte. Die gesichtslose Fanny auf der Zeichnung wirkte modern, ohne dadurch an Eleganz zu verlieren. Sie hatte begonnen, sich damit abzufinden, dass sie in Wirklichkeit nie so aussehen würde.

Eigentlich brauchte sie dann auch nicht länger ihre Zeit verschwenden. Den nächsten Stoff, den ihr die Schneiderin zeigte, würde sie einfach großartig finden. Max würde schon darüber hinwegkommen, dass sie an diesem einen Tag albern aussah, und danach würde alles wieder seinen gewohnten Gang gehen. Nun ja, fast …

Aus Fanny Goldmann würde dann Fanny Meisel werden. Die Gattin eines Polizisten. Sie würden eine gemeinsame Wohnung beziehen … und irgendwann würde Fanny wohl schwanger werden.

Der Gedanke ängstigte sie mehr als alles andere. Nicht dass sie mit Max nicht gerne eine Familie gründen wollte, aber was, wenn das das Ende ihrer Karriere als Gerichtsmedizinerin einläutete? Ein Kindermädchen überstieg ihre Möglichkeiten, und sie konnte das arme Würmchen ja wohl schlecht mit auf die Gerichtsmedizin nehmen, den Kinderwagen in den Seziersaal stellen und Wiegenlieder singen, während sie bis zu den Ellbogen in einer Leiche steckte.

«So, gnädiges Fräulein», sagte die Schneiderin, als sie zurückkam. Ihr Tonfall verriet, dass sie es in Wahrheit wohl ebenso leid war wie Fanny, noch weitere Stoffproben durchzusehen. Funktionierte das mit anderen Kundinnen so viel einfacher als mit ihr? Kamen sie herein und sahen gleich beim ersten Versuch fantastisch aus? Wahrscheinlich war sie – mal wieder – ein besonders hoffnungsloser Fall.

Die Schneiderin hielt ihr eine Stoffprobe unter das Kinn.

Gut, sie würde die Sache jetzt beenden und hier nicht weiter ihre Zeit verschwenden.

«Es sieht wirklich groß…» Fanny stockte und riss überrascht die Augen auf. Der Stoff war aus elfenbeinfarbener Seide mit einem matten Glanz und bedeckt mit feinen Goldstickereien, angedeutete Ranken mit Rosenblüten, die je nach Lichteinfall schimmerten.

«Das gefällt mir», wisperte sie.

«Er steht dir wunderbar», rief Tilde. «Du strahlst damit förmlich.»

«Natürlich tut sie das!», erklärte Schlomo. «Ihr Haar, der Bernsteinton ihrer Augen … ein hartes Weiß würde das alles erschlagen. Das hier hingegen …» Er strich mit seinen Fingern sanft über den Stoff. «Das hier unterstreicht deine guten Seiten, Cousinchen.»

«Er meint, deine Schönheit», kicherte Tilde.

«Das ist es!» Fanny konnte sich ein freudiges Lächeln nicht verkneifen. Sie wandte sich der Schneiderin zu. «Ich glaube, wir haben es.»

«Sehr gut», seufzte die Schneiderin erleichtert. «Den Schnitt haben Sie mir ja hiergelassen. Ich schreibe Ihnen, sobald Sie zur Anprobe kommen können. Ein paar Wochen wird es allerdings schon dauern.»

«Das ist in Ordnung», flüsterte Fanny, die noch immer begeistert in den Spiegel blickte. «Die Hochzeit ist erst im November.»

Die Schneiderin hob überrascht eine Augenbraue.

«Ihr Verlobter will noch etwas sparen, damit er eine größere Wohnung mieten kann», erklärte Tilde.

«Oh, ein Herr mit Ambitionen, da haben wir aber Glück.» Die Schneiderin schenkte Fanny, die ein Augenrollen unterdrückte, einen vielsagenden Blick.

***

Fanny atmete tief durch, sobald sie auf die Straße hinaustraten. Es war ein warmer Spätsommernachmittag, an dem alles ein wenig langsamer abzulaufen schien als sonst. Ein Fiakerpferd stand am Straßenrand und döste vor sich hin, während der dazugehörige Kutscher sich mit Taschenspiegel und Kamm bewaffnete und seinen Franz-Josef-Backenbart wieder in Form brachte, von dem er sich wohl besseres Geschäft erwartete. Eine Gruppe jüdischer Männer mit schwarzen Hüten und Schläfenlocken spazierte energisch diskutierend an ihnen vorbei, wahrscheinlich in Richtung des nahen Stadttempels in der Seitenstettengasse.

Fanny fühlte sich immer ein wenig schuldig, wenn sie gläubigen Juden begegnete, vielleicht, weil sie befürchtete, sie würden sie als Tochter eines konvertierten Juden für eine Art Verräterin halten – auch wenn das natürlich Unsinn war.

«Wo gehen wir hin?», fragte Tilde.

«Wie wär’s mit dem Schwarzen Kameel in der Bognergasse?», schlug Schlomo vor. «Das neue Gebäude ist erfrischend modern, ganz Art nouveau.»

Tilde unterdrückte ein Gähnen.

«… und die Küche ist hervorragend.»

«Oh ja, das klingt gut!», rief sie, plötzlich putzmunter.

Wenig später saßen die drei an einem Tisch unter einer orangen Markise vor dem eigentlichen Restaurant. Über ihnen baumelte das alt aussehende Bild eines schwarzen Kamels mit orientalischem Reitgeschirr. Sie stießen mit einem kühlen Glas Weißwein an, während der Kellner ihnen ein Silbertablett voller exquisiter Häppchen servierte. Kleine Pastetchen auf Keramiklöffeln. Winzige Brötchen mit hauchdünnem Kalbfleisch und Kapern, Räuchersaibling mit Oberskren, einer Mischung aus Sahne und Meerrettich.

«Horsd’œuvre!», flüsterte Tilde begeistert.

«Auf die künftige Braut», sagte Schlomo und hob sein Glas.

«Oh ja, auf dif Fanny!», nuschelte Tilde mit vollem Mund und schluckte hastig.

«Das ist lieb von euch», Fanny nippte an ihrem Wein. «Aber würde es euch stören, wenn wir jetzt über etwas anderes sprechen? Irgendwie fühlt es sich so an, als wäre ich nur noch eine Braut, versteht ihr? Ich freue mich, dass Max und ich den ersten Schritt in eine gemeinsame Zukunft machen, aber rund um mich herum tun alle so, als würde dieser Tag der einzig wahre Höhepunkt meines Lebens.»

Tilde kicherte. «Aber du wirst wunderschön sein. Deine Tante Agathe wird weinen, und ich werde blütenweiße Tauben für euch in den Himmel steigen lassen.»

«Weiß ist nicht meine Farbe», brummte Fanny. «Manchmal habe ich das Gefühl, bei einer Hochzeit geht es nur darum, dass die Braut noch einen Tag im Mittelpunkt stehen darf, bevor sie in die Unsichtbarkeit des Ehelebens entlassen wird.»

«Hm», machte Schlomo und stützte die Ellbogen auf den Tisch. «So habe ich das noch nie betrachtet … Vielleicht kaprizieren sich normale Bräute deshalb so darauf, dass an diesem einen Tage alles perfekt sein muss. Weil sich danach niemand mehr für sie interessiert.»

«Aber es ist doch auch schön …», erwiderte Tilde, «… und romantisch und märchenhaft und …»

«Mir wird schlecht!»

«Ach, Fanny», seufzte Tilde.

«Es tut mir ja leid, und ich verspreche, wenn du mal heiratest, werde ich alles tun, damit es so wunderbar wird, wie du es dir vorstellst. Mir bedeutet es einfach nicht so viel. Um ehrlich zu sein …» Sie senkte den Blick. «Ein Teil von mir wünscht sich, ich hätte es schon hinter mir.»

Schlomo kicherte. «Was sagt denn dein lieber Max zu alldem?»

«Das ist ja das Schlimme», gestand Fanny und vergrub ihr Gesicht in den Händen. «Er will mir unbedingt eine wunderschöne Hochzeit bieten – und ich trau mich nicht, ihm zu sagen, dass mir das überhaupt nicht wichtig ist, weil er sonst denkt, dass ich ihn nicht heiraten will.»

Schlomo hob die Augenbrauen. «Klingt vertrackt. Ich fürchte, da wird dir nichts übrig bleiben, als deine Märchenhochzeit duldsam zu ertragen.»

«Ich weiß», stöhnte Fanny.

«Keine Sorge.» Tilde nahm ihre Hand. «Sieh uns als deine Agenten. Wir werden mucksmäuschenstill im Hintergrund dafür sorgen, dass du das Fest genießt.»

«Dafür müsstet ihr mich entführen!», kicherte nun Fanny.

«Gott, ich habe so gehofft, dass du dir eine Brautentführung wünschst.» Schlomo klatschte in die Hände. «Da werde ich mir was ganz Besonderes überlegen.»

«Oh nein», flüsterte Fanny.

«Was ist denn das?» Tilde schnappte sich Schlomos Hand. «Den Ring hattest du doch gestern noch nicht.»

Fanny runzelte die Stirn. An Schlomos langem Finger steckte ein massiver Goldring mit einem gefassten Rubin von beachtlicher Größe.

«Sieht hübsch aus», befand Tilde.

«Und teuer!», sagte Fanny. «Lässt dich dein Vater denn an seine Konten?»

Schlomo zog die Hand hastig zurück. «Ich würde nie Geld von meinem Vater annehmen, immerhin verdiene ich selbst ausreichend.»

«Also hast du ihn dir selbst gekauft?», fragte Tilde.

Fanny sah, wie ihr Cousin ein wenig errötete.

«Oh mein Gott!», hauchte Tilde. «Ich weiß es, er ist von deinem ältlichen Verehrer, dem Erzherzog Ludwig.»

«Ist er nicht!», schnappte Schlomo.

Fanny neigte ein wenig den Kopf. «Oder …», murmelte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, «… er ist von jemandem, der dir wirklich am Herzen liegt.»

Schlomo seufzte. «Vergesst es!»

Tilde sah ihn verständnislos an. «Aber wie könnte ich so etwas Wundervolles vergessen? Hast du dich etwa … verliebt?»

Schlomo rollte mit den Augen. «Das spielt keine Rolle.»

«Doch!», riefen Tilde und Fanny fast gleichzeitig.

Schlomo richtete sich ein wenig auf. «Nein, tut es nicht. Auch wenn es wahr wäre, ich könnte nie … es würde ihn …» Er stöhnte und rieb sich das Gesicht. «Es ist ein wenig kompliziert. Ich darf nichts erzählen.»

Fanny langte über den Tisch und ergriff seine Hände. «Dann lass es für den Moment doch einfach kompliziert sein», meinte sie. «Und genieß es, auch wenn es eine heimliche Liebe ist.»

Schlomo senkte den Blick. «Die Sache ist ordentlich vertrackt, aber …» Er lächelte beinahe schüchtern. «Gestern … da hat er mich seinen Prinzen genannt.»

Tilde stützte sich auf die Ellbogen. «Wie wunderbar», murmelte sie versonnen. «Ich werde mit Schenck sprechen. Er soll ein passendes Stück für das Theater an der Josefstadt inszenieren.»

Nach Schlomos Fürsprache hatte Tilde vor einigen Monaten eine Stelle als Regieassistentin am Theater an der Josefstadt angenommen. Ihr Vorgesetzter, der Regisseur und Dramaturg Schenck, war ganz angetan von Tildes Einfallsreichtum … und Tilde von ihm.

Sie schnippte mit den Fingern. «Ich weiß auch schon, welches, hab es erst unlängst gelesen, am Ende liegen zwei Jünglinge miteinander im Gras und gestehen sich ihre Liebe. Wie hieß es noch … Sommertraum, vielleicht?»

«Frühlingserwachen, Schatzerl!», seufzte Schlomo. «Und dass es in der Josefstadt gespielt wird, bezweifle ich. Es gilt als obszön.»

«Ich werd’s versuchen», erklärte Tilde. «Es wird ganz großartig!»

«Willst du ihn uns vorstellen?», fragte Fanny. «Du weißt, wir würden nie etwas ausplaudern.»

Ihr Cousin lächelte. «Das weiß ich doch. Aber es ist unmöglich. Es würde ihn zerstören, wenn es bekannt würde.»

Fanny biss sich auf die Lippen. «Ist er … verheiratet?»

Schlomo lehnte sich zurück und legte den Kopf in den Nacken. «Schlimmer!», erwiderte er.

«Zumindest macht er dir fürstliche Geschenke, das macht ihn mir sympathisch.» Tilde schob sich ein Horsd’œuvre in den Mund.

Schlomo schmunzelte. «Schatzerl, in deiner Welt ist sogar die Hölle ein fröhlicher Ort.»

3. Kapitel

Der nackte Diplomat

«Oh, einen wunderschönen guten Morgen, Professor Kuderna!» Fannys Kollege Dr. Valdéry richtete sich vom Seziertisch auf und zupfte sein Hemd zurecht.

«Ja», brummte der Professor, ohne seinen Untergebenen eines Blickes zu würdigen, und kam zielgerichtet auf den Tisch zu, an dem Fanny und ihr Kollege Franz gerade obduzierten.

«Dr. Wilder, Fräulein Goldmann, sind Sie immer noch mit der einen Leiche beschäftigt?»

«Ähm», murmelte Fanny.

Der Tote war erst vor einer Stunde an die Gerichtsmedizin gebracht worden, angeblich ein wohlhabenderer Herr, dem von einem Nebenbuhler die Schädeldecke eingeschlagen worden war. Kopftraumen zu obduzieren, fand Fanny immer besonders heikel, auch weil das Gehirn sich darunter meist nicht … formstabil darstellte.

«Also ich», rief Valdéry vom Nachbartisch zu ihnen herüber und schüttelte sein blondes Haar zurück, «ich habe heute schon die drei Brandopfer aus den Chemiewerken obduziert und die Berichte dazu fertiggestellt, Professor!»

«Man kann sich’s halt aussuchen», sagte Franz. «Entweder arbeitet man gründlich oder man betreibt qualitätsagnostische Abhakmentalität.»

«Was bedeutet das?», fragte Valdéry sichtlich verwirrt.

«Dass du der Schnellste von uns allen bist, Clemens!», brummte Franz augenrollend.

«Oh, vielen Dank, Franz, da hast du natürlich recht!»

Fanny kicherte, ehe Kuderna sie mit einem Räuspern unterbrach. «Sie bringen die Leiche nach hinten und machen später damit weiter.»

«Weil …?», fragte Franz. «Normalerweise obduziert man nicht auf Raten.»

«Weil ich es Ihnen sage, Dr. Wilder, und ich will gefälligst keine Widerrede hören.»

«Ist etwas geschehen?», fragte Fanny stirnrunzelnd.

«Es sollte Ihnen zu denken geben, dass sogar ein Weib sich rationaler verhält als Sie, Wilder. In der Tat … Die Sache hat Vorrang vor allem anderen!»

«Wenn es wichtig ist, übernehme ich liebend gern, Professor», erklärte Valdéry mit stolzgeschwellter Brust.

«Nein, Sie machen weiter mit … was immer Sie da gerade abhaken. Sie sind mir ein bisschen zu gut mit den Leuten von der Zeitung, und die Sache verlangt höchste Diskretion.»

Fanny und Franz wechselten einen Blick.

«Was für eine wichtige Person hat’s denn erwischt?», fragte Franz.

«Es obliegt der Polizei, Ihnen das mitzuteilen oder nicht. Sie werden vor allem obduzieren. Die dafür essenziellen Informationen werden Ihnen die Herren Inspectoren nennen, wenn sie hier sind.»

«Warum klingt das schon wieder nach einer Geschichte, wo wir die Interessen der Medizin der Reputation irgendwelcher Herrschaften unterordnen müssen?», murmelte Franz.

«Danke, Professor, wir machen uns fertig», ergänzte Fanny hastig.

«Sie haben fünf Minuten. Die Polizisten werden gleich da sein.»

Fanny wollte noch etwas sagen, aber Kuderna hatte sich bereits abgewandt und verließ den Seziersaal in Richtung seines Arbeitszimmers. Sie trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Konnte es sein … Dabei war so lange alles ruhig geblieben. So lange, dass sie Waidrings Warnung schon beinahe vergessen hatte. Erst nach einer Weile bemerkte sie Franz’ Blick, der sie neugierig musterte.

«Normalerweise hätt ich dich bei so einer Nachricht auf den Boden drücken müssen, damit du nicht vor Freude herumhupfst.»

Fanny zwang sich zu einem Lächeln. «Nein, nein, ich freue mich, das wird sicher … aufregend.»

«Bisserl blass bist du auch. Alles in Ordnung?»

«Ich fühle mich nur etwas … unpässlich!»

«Wie, wieso?», fragte Franz alarmiert. «Ist dir übel?»

«Nein, ich hatte Besuch von, ähm, Tante …»

«Deiner Tante Agathe?»

«Nein, Gott, Franz! Ich … ich menstruiere!»

«Um Himmels willen!», rief Valdéry bestürzt und warf den beiden einen missbilligenden Blick zu.

«Oh!» Franz zog die Augenbrauen hoch, dann zuckte er mit den Schultern. «Wieso sagst du das nicht gleich?»

«Tut mir leid!» Fanny räumte die Instrumente vom Obduktionstisch und deckte den Toten mit einem dünnen Tuch ab. «Manchmal vergesse ich, dass wir beide Mediziner sind.»

Gemeinsam hievten sie die Leiche auf einen Rollwagen.

«Jedenfalls verzeih, falls ich heute ein wenig grantig oder gereizt bin!»

«Ich beneide dich!»

«Ums Menstruieren?»

«Nein, darum, eine Ausrede fürs Gereizt- und Grantig-Sein zu haben. Ich bin immer grantig und gereizt.»

Diesmal musste sich Fanny nicht zu einem Lächeln zwingen. «Das finde ich gar nicht», murmelte sie und räusperte sich. «Was sollen wir alles mitnehmen?»

«Möglichst viel, da uns ja niemand verrät, was los ist. Den kompletten Instrumentensatz, Probenröhrchen, Obduktionsberichte und was zum Schreiben. Vielleicht kannst du ein paar Skizzen machen.»

Fanny nickte. «Gern!» Die Glocke unten am Eingang läutete. «Das war schnell!», sagte sie.

«Oh, Fräulein Goldmann, lassen Sie die Herrschaften bitte nicht warten», rief Valdéry ungehalten.

Franz rollte mit den Augen. «Vielleicht kannst du wirklich gehen, ich such derweil alles zusammen. Du bist eh besser darin, mit den Inspectoren zu plaudern, als ich.»

«Obwohl ich heute auch grantig und gereizt sein könnte.»

«Du bist dabei halt leider immer noch irgendwie charmant», brummte Franz und wandte sich hastig ab.

Nachdem Fanny die Treppen hinuntergelaufen war und die Tür geöffnet hatte, sah sie in die ernste Miene von Polizeiinspector Hufnagel. Der junge Polizist brachte seit etwa einem Jahr die Leichen an die Gerichtsmedizin – und wie sehr er sich in diesem einen Jahr verändert hatte! Bei ihrem ersten Treffen war er ihr fast noch kindlich erschienen, fahrig in allem, was er tat. Jetzt wirkte er so ernst und sachlich auf Fanny, als hätten ihm die vergangenen Monate auch den letzten Rest von Leutseligkeit ausgetrieben.

Als er Fanny erblickte, lächelte er ein wenig und lüftete seinen Helm. «Frau Doktor, schön, Sie zu sehen.»

«Gleichfalls, Herr Inspector.» Sie sah an Hufnagel vorbei zu einer schwarzen Kutsche, vor der zwei ebenso schwarze Warmblutpferde angeschirrt waren. «War das Automobil heute schon besetzt?», fragte sie.

«Ausnahmsweise nicht», erwiderte Hufnagel. «Vielmehr wollen wir dort, wo wir hinfahren, kein unnötiges Aufsehen erregen.»

Fanny runzelte die Stirn. «Also wirklich ein heikler Fall», murmelte sie.

«Heikel ist …», Hufnagel schloss für einen Moment die Augen, «… untertrieben.»

«Um wen handelt es sich denn?»

«Einen Repräsentanten einer anderen Nation. Und das kompliziert einiges. Ich muss mich jetzt schon dafür entschuldigen, dass man jeden Ihrer Schritte überwachen wird, Frau Doktor. Man verlangt von uns vollste Aufklärung, und Vertreter dieses Landes bestehen darauf, den Ermittlungen und auch einer etwaigen Obduktion beizuwohnen.»

«Um … um welches Land handelt es sich denn?»

Bitte nicht Russland, betete Fanny. Spätestens dann wäre sie sicher, dass der Mord etwas mit dem mysteriösen Treiben zu tun hätte, vor dem Waidring sie gewarnt hatte.

«England, Frau Doktor. Der Herr war britischer Diplomat aus der Entourage des Botschafters.»

«Ich verstehe», murmelte sie und versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen.

«Grüß Gott, Herr Inspector», sagte Franz, der gerade mit einer Melone auf dem Kopf und einer schwarzen Ledertasche die Treppen herunterkam. «Sind wir so weit?»

«Jederzeit, Herr Doktor.» Er wies auf die Kutsche.

Nachdem er Fanny hineingeholfen hatte, nahm er vorne neben dem Kutscher Platz. Fanny hörte ein Zungenschnalzen, und die Pferde trabten aus dem Stand an, sodass es sie ein wenig in den Sitz drückte.

«Jetzt ist dir wirklich übel, oder?», bemerkte Franz, der sie kritisch musterte. «Weil du grad so grünlich wirkst.»

«Ich werde leicht reisekrank», erwiderte Fanny, sah rasch aus dem Fenster und konzentrierte sich auf die vorüberziehenden Häuserfronten.

Sie fuhren die belebte Währinger Straße hinunter, folgten zuerst einer elektrischen Tram und bogen beim Schottentor auf die Ringstraße ein, Wiens Prachtboulevard, der die Innere Stadt umschloss. Draußen herrschte sonniger Altweibersommer. Im Volksgarten hinter dem Burgtheater blühten noch einige Rosen, an denen sich die Spaziergänger erfreuten, während im Laub der Linden, die die Ringstraße säumten, schon gelbe Sprenkel erkennbar waren.

«Unser Toter ist ein britischer Diplomat», erklärte Fanny, um sich vor der aufkeimenden Übelkeit abzulenken.

«So was war zu erwarten!», erwiderte Franz. «Ich hab’s lieber, wenn unsere Toten was ganz Unbesonderes sind. Dann stört mich niemand bei der Arbeit.»

«Geht mir genauso», wisperte Fanny.

Sie verließen die Ringstraße, sobald der riesige Hochstrahlbrunnen zu ihrer Rechten auftauchte. Der Kutscher lenkte seine Pferde geschickt zwischen elegant gekleideten Spaziergängern, Pferdekarren, Fahrrädern und Automobilen in eine ruhigere Gasse, die weiter in den dritten Wiener Gemeindebezirk führte, in dem sich das Botschaftsviertel befand.

Nach einer Weile erreichten sie ein prächtig aussehendes Palais, auf dessen Grundstück sich eine Kirche aus dunklem Backstein befand. Christ Church Vienna, konnte Fanny über dem Eingang lesen.

«Fahren Sie nicht beim Haupteingang der Botschaft vor», wies Hufnagel den Kutscher an. «Bringen Sie uns zum Nebengebäude in der Metternichgasse!»

Die Pferde bogen in eine schmale Gasse ein und hielten vor einem niedrigeren und etwas freundlicher wirkenden Gebäude.

Sie hörte, wie Hufnagel mit seinen schweren Stiefeln vom Kutschbock sprang. Einen Moment später öffnete er die Tür und half ihr beim Aussteigen. Er wartete, bis auch Franz die Kutsche verlassen hatte, und nickte dann.

«Der britische Botschafter wird drinnen empfangen. Seine korrekte Ansprache lautet JorExzellenzi.»Hufnagel lächelte vorsichtig. «Er akzeptiert aber auch ein einfaches Exzellenz.»

«Wie überaus bescheiden», brummte Franz.

«Kommen Sie bitte, der Tote befindet sich im Inneren.»

Am Eingang stand ein Wachposten der k.u.k. Sicherheitswache mit goldglänzendem Helm und dunkelblauer Paradeuniform. Hufnagel gab ihm ein kurzes Fingerzeichen, und er öffnete ihnen das Tor. Der Inspector führte sie durch ein edel ausgestattetes Treppenhaus mit weißen Marmorböden und goldenen Geländern in den ersten Stock des Gebäudes.

Fanny ertappte sich bei dem Wunsch, Max und sie könnten nach der Hochzeit eine Wohnung in diesem Gebäude anmieten.

Der Flur im ersten Stock war mit einem roten Läufer ausgelegt.

An der ersten Tür betätigte Hufnagel die Türglocke. Kurz darauf öffnete ihnen ein junger Mann im Frack und betrachtete sie aus großen Augen. «How can I help?»

Fanny neigte ein wenig den Kopf. Tilde und sie hatten im Gymnasium Englischunterricht genossen. Seither hatte sie ihre Sprachkenntnisse aber nur selten gebraucht und war ein wenig eingerostet.

«Bitte melden Sie uns beim Botschafter an», erklärte Hufnagel.

Der Junge betrachtete ihn aus großen Augen, als würde er nicht verstehen.

«Jor Exzellenzi!», fügte Hufnagel etwas schärfer hinzu und warf Fanny und Franz einen wissenden Blick zu.

«Of course!» Der Junge verschwand.

«Also …» Franz trat von einem Fuß auf den anderen. «Wann heiratest du denn nun eigentlich?»

«Wie bitte?»

«Na.» Franz schien ein wenig rot zu werden. «Du bist ja seit Monaten verlobt, und ich hab nie was gesagt … also wollt ich jetzt halt was sagen.»

«Oh!» Fanny spürte, wie sie ebenfalls rot wurde. «Im November!»

Franz kicherte leise. «Typisch!»

«Wieso das denn?»

«Na, alle wollen im Frühling heiraten, aber die Frau Gerichtsmedizinerin bindet sich lieber, wenn’s grau und finster ist.»

«Das hat doch nichts damit zu tun!»

«Schade!» Franz grinste. «Hätt ich gut gefunden!»

Hufnagel räusperte sich, während der junge Diener zurückkehrte und sie hineinwinkte.

Sie betraten ein paar nobel ausgestattete Büroräume, in denen es nach altem Zigarrenrauch roch. Ein Mann mit einem üppigen Schnauzer in einem Tweedsakko saß hinter einem Schreibtisch aus dunklem Holz und sah auf, sobald sie eintraten.

«Exzellenz!», sagte Hufnagel ohne Umschweife und wies auf Fanny und Franz. «Dies sind die beiden Forensiker der medizinischen Universität. Frau Doktor Goldmann und Herr Doktor Wilder.»

Fanny erkannte einen Anflug von Überraschung in der Miene des Botschafters, aber wenn ihm missfiel, dass sie hier war, zeigte er es nicht. Vielleicht hatte er einfach etwas anderes erwartet als das zarte, rothaarige Fräulein, das gerade vor ihm stand.

Er erhob sich und trat hinter seinem Schreibtisch hervor.

«Das ist Ihre Exzellenz, Sir Fairfax Cartwright!», erklärte Hufnagel an die beiden gewandt.

«Exzellenz.» Fanny war für einen Moment unschlüssig, ob die Etikette vielleicht einen Knicks vorsah, aber sie wäre sich dabei zu albern vorgekommen.

«Herr Botschafter», sagte Franz, lüftete seine Melone und entblößte dabei kurz seinen dunklen Haarschopf.

Cartwright faltete die Hände. «Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, Inspector Hufnagel hat Sie vermutlich über den Sachverhalt aufgeklärt?»

Sein Deutsch war überraschend gut. Nur seine R’s klangen, als hätte er ein kleines Kissen im Rachen, das ihn daran hinderte, den Buchstaben zu rollen.

«Um ehrlich zu sein, sind unsere Informationen noch sehr vage», erwiderte Fanny und fing sich einen weiteren überraschten Blick des Botschafters ein.

Es war eine Sache, dass man ihr die Medizinerin nicht zutraute, aber dass man sie nicht für fähig hielt, längere Sätze zu sprechen, erschien ihr dann schon etwas seltsam.

Franz räusperte sich. «Vielleicht können Sie uns die Situation ein bisserl genauer beschreiben.»

«Natürlich, Herr Doktor, ich bin an umfassender Aufklärung interessiert», ließ Cartwright sie wissen. Dafür, dass sich irgendwo im Gebäude ein toter Angestellter befand, wirkte er ziemlich gefasst auf Fanny. Die Stirn unter dem dunklen Scheitel wirkte zwar blass, aber das konnte auch seinem normalen Teint entsprechen. «Es geht um einen Dolmetscher aus meinem Stab, den jungen Mr Raymond Winterley. Er wurde heute Morgen tot in seinem Arbeitszimmer aufgefunden. Keine fünfundzwanzig Jahre alt ist er geworden!»

«Das tut mir leid», meinte Fanny. «War Mr Winterley denn bei guter …»

«Verzeihen Sie, Miss!» Der Botschafter deutete eine Verbeugung in ihre Richtung an und wandte sich dann Franz zu. «Vielleicht sollten wir uns im Nebenzimmer besprechen, Herr Doktor, schließlich wollen wir die junge Dame nicht verstören. Ich darf Ihnen inzwischen einen Tee servieren lassen, Miss Goldmann? Meine Frau wird Ihnen gerne Gesellschaft leisten.»

Franz schien es gerade noch zu gelingen, sein Kichern zu unterdrücken, während Fanny die Fäuste ballte.

«Herr Botschafter», erklärte Franz. «Das zarte Fräulein Doktor hat gerade einen viel beachteten Artikel über besonders bösartige Leberparasiten publiziert. Die ist nicht so schnell verstört, das können Sie mir glauben!»

Cartwright bedachte Fanny mit einem kurzen Blick und hob eine Augenbraue, dann wandte er sich wieder Franz zu. «Jedenfalls erfreute sich der junge Winterley bester Gesundheit. Ein in der Tat recht munterer junger Gentleman, würde ich sagen.»

«Bitte erzählen Sie uns von den Umständen seines Todes», bat Fanny und machte einen Schritt auf die beiden Männer zu.

Einen Moment zögerte Cartwright noch, ehe er resigniert seufzte, vielleicht im Bewusstsein, alles in seiner Macht Stehende getan zu haben, um zu verhindern, dass Fanny in Ohnmacht fiel. «Er lag tot über seinem Schreibtisch, als das Stubenmädchen in der Früh hereinkam.»

«Das ist alles?», fragte Fanny stirnrunzelnd.

«Nun, nicht ganz … Am besten, Sie machen sich selbst ein Bild. Ich führe Sie hin, Sie beide, wenn es sich nicht vermeiden lässt.»

Fanny warf Franz einen fragenden Blick zu, aber der zuckte nur mit den Schultern.

«Haben Sie die Beweisaufnahme schon abgeschlossen, Herr Inspector?», wandte sich Fanny an Hufnagel, während sie dem Botschafter aus seinem Arbeitszimmer folgten.

«Alles protokolliert, Frau Doktor, Sie können tun und lassen, was Sie wollen, und wenn Sie so weit sind, bringen wir den Toten auf die Gerichtsmedizin zur Obduktion.»

Sie traten auf den Gang und liefen den Flur hinunter, ehe Cartwright ihnen die Tür zu einem weiteren, deutlich schlichteren Zimmer öffnete.

4. Kapitel

Zutzlflecken

Fanny konnte nicht sagen, warum, aber der Anblick erinnerte sie auf seltsame Weise an ein Renaissancegemälde.

Sonne fiel durch die mannshohen Fenster auf zwei große Rosensträuße, die auf einem Schreibtisch standen, und auf die goldenen Locken des Toten, der zwischen den Blumen auf dem Schreibtisch lag, als wäre er ein griechischer Gott, der in seinem Garten ein Mittagsschläfchen hielt.

Einzig der leicht bläuliche Ton seiner Haut störte das Bild ein wenig, und dass er, zumindest so weit Fanny das vom Eingang aus erkennen konnte, völlig nackt war.

Cartwright räusperte sich. «Ich muss Ihnen nicht sagen, dass die britische Regierung in dieser Sache auf äußerste Diskretion bedacht ist.»

«Natürlich», murmelte Fanny, die sich kaum von dem Anblick lösen konnte. War Winterley wirklich tot? Sie hatte so viele Leichen gesehen, und die wirkten selten so friedlich. Irgendwie fehlte ihr auch der typische Geruch nach Verwesung, vielleicht wurde er aber auch nur vom süßen Geruch der Rosen übertönt.

«Bisschen viele Blumen für einen Schreibtisch», meinte Franz mit Blick auf die prall gefüllten Kristallvasen.

«Oh, Winterley war ein großer Rosenliebhaber!», erklärte Cartwright. «Er hat sie sich immer hierher liefern lassen, wenn auch in letzter Zeit nicht mehr so häufig. Vielleicht eine kleine Erinnerung an die Heimat.»

«Hm», machte Franz.

«Mögen Sie keine Blumen?», fragte Cartwright überrascht.

«Schon», antwortete Franz mit gesenktem Blick. «Ich glaub, jeder fühlt sich ein bisserl besser, wenn er Blumen sieht. Die meisten sagen’s nur nicht.»

«Your excellency, is this the forensic pathologist? And his nurse, I suppose?»

Erst jetzt bemerkte Fanny, dass sich noch jemand im Raum befand. Ein glatt rasierter Herr im Anzug mit Brillengläsern tief auf der Nase, über die hinweg er Franz und seine schwarze Ledertasche musterte.

«Indeed», antwortete Cartwright.

Fanny wollte dazwischenfahren, um aufzuklären, dass es sich bei ihr keineswegs nur um eine Krankenschwester handelte, aber sie hielt sich zurück. Sollte der Botschafter sagen, was er wollte, später bei der Obduktion würde er ohnedies nicht dabei sein.

«Das hier ist unser Arzt, Doctor Hartfield», stellte Cartwright den Mann vor. «Sollten Sie Fragen haben …»

«Danke», murmelte Franz.

«Gut, dann darf ich mich empfehlen. Herr Inspector, ich würde Sie gerne noch zum weiteren Ablauf der Ermittlungen befragen.»

«Natürlich, Exzellenz», erwiderte Hufnagel und verließ mit dem Botschafter den Raum.

Franz räusperte sich. «Hatte der Tote irgendwelche Vorerkrankungen?»

«Oh nein», erwiderte Hartfield. Sein britischer Akzent war wesentlich stärker ausgeprägt als Cartwrights.

«Schädliche Angewohnheiten, Trinken oder Rauchen?», fragte Fanny. Hartfield musterte sie mit derselben Verwunderung wie der Botschafter zuvor, aber im Gegensatz zu diesem antwortete er auf ihre Frage. «Nichts davon, ein sehr gesunder, junger Gentleman. Ich untersuche alle hier einmal im Jahr auf ihre Gesundheit. Das blühende Leben, so sagt man, denke ich.»

«Sehen wir uns das mal an. Wurde irgendwas verändert, seit man ihn gefunden hat?»

Hartfield schüttelte den Kopf. Es passte ihm zwar offensichtlich nicht, dass sie in seinem Revier wilderten, aber immerhin verhielt er sich kooperativ. Das war mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte.

Franz stellte seine Tasche auf den Boden, und sie gingen weiter in den Raum zu der Leiche hinein.

«Nicht vergessen, die Umgebung kann genauso wichtig sein wie der Tote selbst», murmelte Franz. «Ich beginn mit dem Zimmer, du siehst dir den Gentleman an.»

Fanny nickte und trat zu der Leiche. Vorerst handelte es sich nur um die äußere Inspektion, die richtige Obduktion würde erst am Institut erfolgen, aber die konnte manchmal der wichtigste Teil überhaupt sein.

Winterley war in der Tat völlig nackt. Sein Kopf ruhte auf seinem Arm, der wiederum ausgestreckt auf dem Tisch lag. Fanny fragte sich, wo seine Kleidung geblieben war. Hatte er sie irgendwo abgelegt, bevor er gestorben war?

Sie erkannte ein paar Livores, Totenflecken, auf seiner Haut, dort, wo sein Körper auf dem Tisch und dem Stuhl auflag.

Er befand sich also schon länger in dieser Position. Fanny musste anerkennen, wie umsichtig man sich in der Botschaft verhalten hatte. Ihn in Position zu lassen, bis sie ihre Analyse durchgeführt hatten, könnte aufschlussreich sein. Bis jetzt wurden sie nur selten an Tatorte beordert, oft auch, weil die Leute, die die Toten fanden, sie gleich umbetteten, zudeckten und die Fundstelle reinigten.

Sie begann, Winterleys Kopf zu inspizieren. Sein Schädel zeigte keine Wunde, eine schwere Kopfverletzung konnte sie also ausschließen. Sie versuchte, seine Augenlider zu öffnen. Ein schwieriges Unterfangen, da an den Lidern meist zuerst die Totenstarre einsetzte. Winterleys trübe Pupillen wirkten unauffällig. Mit etwas Mühe öffnete sie seinen Mund und sah hinein. Makellos weiße Zahnreihen blitzten ihr entgegen, wie man sie nur selten sah, sonst schien alles normal. Eine genauere Inspektion der Atemwege würde sie später bei der Obduktion durchführen. Sie strich seine blonden Locken zurück und betrachtete Winterleys Hals.

«Franz, sieh dir das mal an!»

Sie hörte, wie sich seine Schritte näherten, und er ein leises Pfeifen ausstieß.

«Na, bumm!», murmelte er. «Ganz schön viele Zutzlflecken.»

Fanny betrachtete die vielen Liebesmale auf Winterleys Hals stirnrunzelnd. Das Alter von Hämatomen konnte man anhand ihrer Farbe ziemlich genau bestimmen. Kurz nach dem Entstehen waren sie rot, weil der Blutfarbstoff aus den Kapillaren ins Gewebe eindrang. Dann wurden sie blau, wenn das Blut gerann, färbten sich später schwarz, dann grün und zuletzt gelb, je nachdem, wie weit der Abbau des Hämoglobins zu verschiedenen Gallenfarbstoffen fortgeschritten war.

«Sie sind rötlich blau. So sehen sie aus, wenn sie frisch sind!»

«Ah ja? Besonders erfahren mit der Thematik?»

Franz kicherte leise, während Fanny ihm einen giftigen Blick zuwarf.

«Scheint zumindest, als hätte unser Gentleman vor dem Tod ziemlich viel Spaß gehabt», murmelte er schließlich. «Schau dir das an!» Er wies auf einen ziemlich prominenten Knutschfleck, bei dem man sogar die hellen Abdrücke der Zähne erahnen konnte. «Ziemlich kräftiger Biss, die Gute!»

Fanny sah genauer hin. «Und eine kleine Zahnlücke vorne …»

«Schau dir seinen Rücken an!», brummte Franz.

Fanny hob den Kopf. Die weiße Haut auf Winterleys Rücken war von weiteren Hämatomen entstellt. Ihre Farbe verriet, dass sie wohl ebenfalls von letzter Nacht stammten.

«Woher kommen die? Das sind bestimmt keine Liebesmale», sagte Fanny.

«Nein. Die kommen von Faustschlägen.» Er wies auf ein paar größere Blutergüsse. «Schau … bei Hämatomen kann man oft die Form des Gegenstands erahnen, der das Trauma verursacht hat.»

Er wies auf das hellere Zentrum eines besonders großen blauen Flecks. «Hier … Die Faust trifft das Gewebe, und die Gefäße zerplatzen. Gleichzeitig wird das Blut durch die Wucht des Schlags nach außen gedrückt, und eine Aussparung entsteht.»

«Du hast recht.» Fanny beugte sich weiter über die Leiche. «Der hellere Teil in der Mitte erinnert wirklich an eine Faust.»

«Der Schlag war jedenfalls heftig», sagte Franz leise. «Schau, wie weit das Blut hinausgedrückt wurde. Er strich mit seinen Fingern die Form des Hämatoms entlang.

Fanny sah von der Seite, wie angespannt Franz’ Miene mit einem Mal wirkte.

Er hatte nie über seine Kindheit geredet. Aber von seinem Freund, dem Pathologen Ewald, der ihnen bei ihrer gemeinsamen Publikation geholfen hatte, wusste Fanny, dass er in einem Waisenhaus aufgewachsen war, wo man ihn vor seiner Adoption regelmäßig misshandelt hatte.

«Wieso hat man ihn an dieser Stelle geschlagen?», fragte Fanny leise. «Wenn man ihn umbringen wollte, wäre vielleicht der Kopf …»

«Das ist auf Höhe der Nieren», erklärte Franz ernst. «Mit diesem Schlag wollte man ihn nicht umbringen. Nur …», er schluckte, «… nur wehtun.»

In diesem Moment wollte Fanny die Hand nach ihm ausstrecken und seine Wange berühren, aber sie widerstand dem Drang und räusperte sich. «Danke dir, ich glaube, ich komme schon zurecht.»

«Ja, sicher», murmelte Franz und ging zu einer Wandkommode hinüber, die er sich gerade zuvor angesehen hatte.

Neben den flächigeren Hämatomen befanden sich auch kleinere im Bereich der Schultern und des Halsansatzes, die wie Fingerabdrücke aussahen. Als hätte ihn jemand festgehalten und dabei die Finger so fest in sein Gewebe gedrückt, dass Male zurückgeblieben waren.

Es klopfte, und Inspector Hufnagel kehrte in den Raum zurück. «Verzeihung, die Doktoren», sagte er. «Ihre Exzellenz verlangt nach dem Herrn Doktor Wilder, damit er die Übernahmepapiere für die Leiche unterzeichnet.»

Fanny fragte gar nicht erst, warum der Botschafter nicht auch auf ihrer Unterschrift bestand.

«Aber natürlich», brummte Franz, schloss die oberste Schublade der Wandkommode und folgte Hufnagel aus dem Arbeitszimmer.

Doctor Hartfield stand immer noch im Raum und musterte Fanny mit kühlem Blick. Sie hätte wirklich gern gewusst, was er dachte, aber am Ende konnte es ihr auch egal sein. Sie widmete sich wieder dem jungen Winterley und atmete langsam aus. Sie würden schon tiefer in ihn hineinsehen müssen, um zu verstehen, wie er gestorben war.

Sie hörte, wie die Tür hinter ihr leise geöffnet wurde. Der junge Dienstbote, der sie hereingebeten hatte, schlüpfte in den Raum, schlich zu Doctor Hartfield hinüber und begann zu flüstern.

«For god’s sake, Oliver, speak up! I can’t hear a word!», herrschte Hartfield ihn an.

«I am sorry, Doctor Hartfield, but …» Er bedachte Fanny mit einem nervösen Seitenblick.

«She’s a nurse, boy, nothing to worry. She won’t understand a word you’ll be saying.»

Fanny zwang sich, weiter so zu tun, als würde sie den Rücken des Toten untersuchen. Mal sehen, was die nurse alles nicht verstehen würde.

«Fine!» Olivers Stimme zitterte. Fanny wünschte, sie könnte aufblicken, aber sie wollte sich nicht verraten.

«Sir, I wonder, whether we should tell them about the incident!»

Incident … Ein Vorfall. Was für ein Vorfall?

Hartfield räusperte sich. «Your excellency considers this an internal matter.»

«But Raymond is dead!» Olivers Stimme schien beinahe zu brechen. Raymond, das musste Winterleys Vorname gewesen sein.

«He was a good person. He deserves justice. We should tell them!»

«He was», erwiderte Hartfield nun deutlich sanfter. «But we can’t.»

Fanny hörte, wie Oliver scharf die Luft einsog und mit schnellem Schritt den Raum verließ. Während sie noch immer über den Toten gebeugt war, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Sie war nicht sicher, ob sie jedes Wort richtig verstanden hatte, aber anscheinend war etwas passiert, etwas, das mit Winterley zu tun hatte und von dem der Botschafter lieber nicht wollte, dass es nach außen drang. Eine interne Angelegenheit …

Sie verzog die Lippen zu einem kleinen Lächeln. Vielleicht war das Übersehenwerden tatsächlich ihre größte Stärke.

Als Franz mit Hufnagel zurückkam, setzten sie die Inspektion fort, ohne etwas besonders Auffälliges zu entdecken.

«Ich glaube nicht, dass er hier gestorben ist», murmelte Fanny.

Keinerlei Anzeichen eines Todeskampfes, keine Kleider, keine Waffen, keine Medikamente … Wenn Hartfield die Wahrheit sagte und nichts verändert worden war, dann war das hier weder Tat- noch Sterbeort.

«Ich auch nicht», brummte Franz so leise, dass Hartfield es nicht mitbekam. «Jemand hat die Leiche hier platziert. Komm, sehen wir uns den Toten ein bisserl genauer am Institut an.» Er hob den Kopf. «Wir sind dann so weit!», fügte er lauter hinzu.

Hufnagel und Doctor Hartfield nickten.

«Ich lasse die Bahre bringen», erklärte der Inspector.

«Sollten wir uns noch beim Herrn Botschafter verabschieden?», fragte Fanny.

«Die Exzellenz lässt Sie beide grüßen, er hat schon den nächsten Termin», ließ Hufnagel sie wissen.

Wie seltsam, dachte Fanny. Einfach mit seinen Terminen fortzufahren, während zwei Zimmer weiter die nackte Leiche eines Angestellten lag.

Sie folgten Hufnagel aus dem Zimmer hinaus.

«Franz, warte mal!», flüsterte Fanny und zwang ihn, ein wenig zurückzubleiben.

«Fahr du mit den Polizisten mit. Sag, ich müsste mich noch kurz frisch machen und hätte dann ein paar Erledigungen in der Gegend!»

«Bitte was?» Franz blinzelte verwirrt und sah zu Hufnagel, der bereits die Treppe hinunterlief. «Der lässt dich doch nicht allein in einer ausländischen Botschaft herumwatscheln.»

«Überzeug ihn», erklärte Fanny eindringlich. «Es ist wichtig!»

«Und die Obduktion?»

«Fang schon mal ohne mich an!»

Franz hob die Augenbrauen. «Hast du gerade gesagt, du verzichtest freiwillig auf eine Obduktion?»

Fanny biss sich auf die Unterlippe. «Bitte verschaff mir einfach etwas Zeit.» Sie berührte ihn an der Schulter. «Vertrau mir!»

Für einen Moment glaubte sie, den Anflug eines Lächelns auf seinen Lippen zu erkennen.

«Tu ich eh», brummte er und folgte Hufnagel die Stiegen hinunter.

Fanny atmete tief durch und strich sich das Kleid glatt. Gleich würden die Polizisten mit der Trage hier auftauchen, und dann wäre es zu spät.

Sie räusperte sich. «Hallo?», fragte sie zaghaft. Alles blieb still. Fanny verzog unzufrieden den Mund. Es war gar nicht so einfach, laut und hilfsbedürftig zu wirken.

«Hallo?», rief sie lauter. «Verzeihung!»

Diesmal hörte sie, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde und sich energische Schritte näherten. Die Tür zu Cartwrights Büro öffnete sich, und der Botschafter sah mit gerunzelter Stirn daraus hervor.

«Miss Goldmann!», stellte er ungehalten fest. «Ich dachte, Sie wären schon aufgebrochen …»

«Ihre Exzellenz, Gott sei Dank!», rief Fanny und lief ein paar Schritte auf den Botschafter zu. «Ich war mir gerade nur die Nase pudern, und plötzlich waren alle verschwunden. Sie müssen wohl gedacht haben, ich wäre vorausgegangen. I-ich wollte ihnen folgen, doch ich hätte es unpassend gefunden, allein in einem fremden Haus herumzuschleichen.»

«Ah!», machte der Botschafter verständnisvoll. Offensichtlich war es einfacher, ihn davon zu überzeugen, dass sie ein dummes Fräulein war, als davon, dass sie etwas von ihrem Beruf verstand.

«Meinen Sie, jemand könnte mich zum Ausgang begleiten? Ich glaube, ich habe ein wenig die Orientierung verloren.»

Für einen Moment schien Cartwright sie misstrauisch zu mustern, und Fanny fürchtete, dass sie ein wenig übertrieben hatte, doch dann nickte er.

«Aber selbstverständlich!», erklärte er nachsichtig. Er griff hinter die Tür und zog an einer Messingkette. Am Ende des Gangs konnte Fanny ein leises Läuten hören.

Eine Tür öffnete sich, und der blonde Dienstbote von vorhin näherte sich mit raschem Schritt.

«Your Excellency!» Er verbeugte sich kurz vor dem Botschafter.

«Bitte geleiten Sie das Fräulein zum Ausgang!»

«Natürlich», murmelte Oliver.

Er verstand also doch Deutsch, das würde hilfreich sein.

«Das ist sehr großzügig von Ihnen, danke, Exzellenz», sagte Fanny.

«Leben Sie wohl!», entgegnete der Botschafter und verschwand wieder in seinem Arbeitszimmer.