Tool - Paolo Bacigalupi - E-Book

Tool E-Book

Paolo Bacigalupi

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Beschreibung

Tool lebt in einem Land, das früher einmal Amerika war. Doch nach Klimakatastrophen und Bürgerkriegen ist dort nichts mehr, wie es einmal war. Auch Tool ist kein normaler junger Mann, sondern ein Halbmensch, dessen DNA mit der von Raubkatzen gekreuzt wurde, um ihn zu einer perfekten Killermaschine im Dienste des Systems zu machen. Doch Tool kann entkommen und entdeckt etwas, von dem er niemals hätte erfahren dürfen: den freien Willen. Er schließt sich einer Gruppe von Rebellen an, steigt schließlich sogar zu ihrem Anführer auf und verschreibt sein Leben dem Kampf gegen die Ungerechtigkeit.

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Seitenzahl: 422

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Das Buch

In der Zukunft ist auf dem Gebiet, das früher einmal Amerika war, eine neue Welt entstanden. Eine düstere, von Klimakatastrophen und Kriegen geprägte Welt, in der das Recht des Stärkeren gilt. Es ist die Welt von Tool, dessen DNA mit der von Raubkatzen gekreuzt wurde. Halb Mensch, halb Monster ist Tool eine perfekte Killermaschine im Dienste eines grausamen Systems. Doch Tool kann seinen Herren entkommen und entdeckt etwas, von dem er nie hätte erfahren dürfen: den freien Willen. Er schließt sich einer Gruppe von Rebellen an, steigt gar zu ihrem Anführer auf und verschreibt sein Leben dem Kampf gegen die Ungerechtigkeit und für eine bessere Welt …

Der Autor

Paolo Bacigalupi ist bereits als Kurzgeschichtenautor in Erscheinung getreten, bevor er mit Biokrieg seinen ersten Roman veröffentlichte, der vom Time Magazine in die Top Ten der zehn besten Romane des Jahres aufgenommen wurde und zum internationalen Bestseller avancierte. Der Autor lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in West Colorado. Von Paolo Bacigalupi sind im Wilhelm Heyne Verlag erschienen: Biokrieg,Schiffsdiebe,Versunkene Städte und Water.

Mehr über Paolo Bacigalupi und seine Romane erfahren Sie auf:

Die Schiffsdiebe-Trilogie bei Heyne:

Erster Roman: Schiffsdiebe

Zweiter Roman: Versunkene Städte

Dritter Roman: Tool

Paolo Bacigalupi

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Norbert Stöbe

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erscheint unter dem TitelTool of War bei Little Brown, New York

Deutsche Erstausgabe 11/2018

Redaktion: Elisabeth Bösl

Copyright © 2017 by Paolo Bacigalupi

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung von Motiven von katalinks / Shutterstock und Zastolskiy Victor / Shutterstock

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-22183-6 V002

www.diezukunft.de

1

DIE DROHNE KREISTE HOCH über den Ruinen des Krieges.

Eine Woche zuvor war sie noch nicht da gewesen. Vor einer Woche waren die Versunkenen Städte keiner Erwähnung wert gewesen, geschweige denn einer Überwachungsdrohne.

Die Versunkenen Städte: eine Küste, überflutet vom steigenden Meeresspiegel und von politischem Hass, ein Ort der Zerstörung und des unablässigen Gewehrfeuers. Einst war dies eine stolze Hauptstadt gewesen, und die Menschen, die die marmornen Flure bevölkerten, hatten über einen Großteil der Welt geherrscht. Jetzt war sie nur noch auf alten Landkarten zu finden, und dort, wo zivilisierte Menschen lebten, erinnerte sich kaum jemand daran. Die Geschichte, die von hier aus gelenkt worden war, die Gebiete, die sie beherrscht hatten, das alles war verloren gegangen, als unter den Menschen Bürgerkrieg ausgebrochen war – und schließlich dem Vergessen anheimgefallen.

Und doch kreiste nun eine Drohne der Raptorklasse darüber.

Von feuchten Luftströmungen getragen, beobachtete sie den morastigen Dschungel und die erodierte Küste. Sie kreiste mit ausgebreiteten Flügeln und fing die warmen Atlantikwinde auf. Ihre Kameras erfassten den von Kopoubonen überwucherten Sumpf und smaragdgrüne, von Mückenschwärmen belagerte Tümpel. Ihr Blick verweilte auf marmornen Monumenten, auf Wahrzeichen, Kuppeln und umgestürzten Säulen, den weit verteilten Gebeinen einstiger Größe.

Zunächst hatte man die Berichte als Erfindungen kriegsverwirrter Flüchtlinge abgetan: ein Monster, das die jungen Soldaten von Sieg zu Sieg führte; eine Bestie, die unempfindlich gegen Kugeln war und ihre Gegner zerfleischte. Ein riesiges wildes Tier, das einen endlosen Tribut an Schädeln ihrer Feinde einforderte …

Anfangs glaubte es niemand.

Später aber zeigten verschwommene Satellitenfotos brennende Gebäude und Truppenbewegungen, wodurch selbst die sonderbarsten Berichte bestätigt wurden. Und deshalb war die Drohne aufgetaucht.

Der elektronische Geier kreiste träge in der Höhe, der Bauch gespickt mit Kameras und Wärmesensoren, Lasermikrofonen und Funkempfängern.

Sie fotografierte historische Ruinen und ortsansässige Barbaren. Sie belauschte den sporadischen Funkverkehr. Sie verzeichnete Schusswechsel und zeichnete die Wunden auf, die verfeindeten Soldaten zugefügt wurden.

Und in weiter Ferne – auf der anderen Seite des Kontinents – wurden die vom Raptor gesammelten Informationen von ihren Herren aufgefangen.

Dort schwebte ein großes Luftschiff majestätisch über dem Pazifik. Der Name an seiner Seite war so groß wie das Kriegsschiff selbst: ANNAPURNA.

Ein Viertel des Planeten lag zwischen dem Kommandoschiff und dem Spähraptor, und dennoch trafen die Informationen nahezu ohne Zeitverlust ein und lösten Alarm aus.

»General!«

Die Analystin schob den Stuhl von den Bildschirmen zurück und wischte sich blinzelnd den Schweiß von der Stirn. In der Zentrale für Globale Militärische Aufklärung der Mercier Corporation war es warm von den vielen Rechnern und den Analysten, die dicht an dicht vor ihren Bildschirmen saßen, alle mit ihren eigenen Aufgaben beschäftigt. An Bord der Annapurna wurde Wert auf optimale Raumausnutzung und höchste Effizienz bei der Aufklärungsarbeit gelegt. Deshalb schwitzten alle, und keiner beklagte sich.

»General!«, rief die Analystin erneut.

Anfangs war ihr die aussichtslose Suche, der sie zugeteilt worden war, zuwider gewesen: eine reine Fleißübung, während ihre Kollegen Revolutionen vereitelten, Aufständische dezimierten und Preistreiberei auf dem Lithium- und Kupfermarkt verhinderten. Die anderen hatten sich über ihre Arbeit lustig gemacht – in der Messe, in den Unterkünften, in der Dusche –, hatten sie geneckt, weil sie mit unwichtigen Dingen beschäftigt sei, und gemeint, sie könne ihren vierteljährlichen Bonus abschreiben, weil sie keinen Beitrag zum Firmengewinn leiste.

Im Stillen hatte sie ihnen widerwillig zugestimmt.

Bis jetzt.

»General Caroa! Ich glaube, wir haben etwas.«

Der General war hochgewachsen, seine blaue Firmenuniform perfekt gebügelt. In Reihen angeordnete Orden funkelten auf seiner Brust, Zeugen seines blutigen Aufstiegs im Militärapparat von Mercier. Sein weißblondes Haar war kurz geschnitten, eine Angewohnheit, die lebenslanger Disziplin geschuldet war, doch seine ordentliche Erscheinung wurde beeinträchtigt von seinem Gesicht – ein schlampiges Flickwerk aus rosafarbenem Narbengewebe, Pockennarben und tiefen Löchern, wo Feldärzte sich bemüht hatten, seine Gesichtszüge zu bewahren.

Sein Gesicht war zwar nicht ansehnlich, aber nahezu intakt.

Der General beugte sich über ihre Schulter. »Was gibt es?«

Die Analystin schluckte, verunsichert vom kühlen Blick des Mannes. »Es ist das Konstrukt«, sagte sie, »das Sie gekennzeichnet haben.«

»Sind Sie sicher?«

Das Bild war körnig. Doch in Anbetracht der Entfernung und des Aufnahmewinkels war die Darstellung des Monsters ein Wunder an technologischer Hexerei. Das Konstrukt hätte ebenso gut aus sieben Metern Abstand fotografiert sein können – ein muskelbepacktes Monster von zweieinhalb Metern Höhe. Eine Mischung aus Hund-, Mensch-, Tiger- und Hyänen-DNS. Ein brutales Ungeheuer mit Krallen und Zähnen.

»Nun, alter Freund, so treffen wir uns also wieder«, murmelte der General.

Das eine Auge des Wesens war zugewachsen, was ihm das Aussehen eines Kämpfers gab, der die Hölle durchquert und auf der anderen Seite siegreich wieder herausgekommen war.

Die Analystin sagte: »Ich habe auch den Herstellungscode.« Sie ließ die Nahaufnahme eines Ohrs anzeigen. Eine Ziffernfolge war darin eintätowiert. »Ist es das gesuchte Konstrukt? Passt es?«

Der General starrte auf den Bildschirm. Wie von selbst wanderte seine Hand nach oben und berührte sein verwüstetes Gesicht, betastete eine runzlige Narbe, die sich vom Kinn über den Hals zog. Vertiefungen und Löcher, als wäre er mit dem Kopf ins Maul eines monströsen wilden Tieres geraten.

»Sir?«, fragte die Analystin eifrig. »Das ist doch das Zielobjekt, oder?«

Der General bedachte sie mit einem verdrießlichen Blick. Auf ihrem Namensschild stand Jones, Luftaufklärung. Keine Orden. Keine Erfahrung. Jung. Eine weitere aufgeweckte Rekrutin, die ihren Job den Eignungstests zu verdanken hatte, die die Firma in den Protektoraten durchführte. Dank des Höllenlochs, in dem sie gelebt hatte, bevor sie sich Mercier angeschlossen hatte, war sie ehrgeizig, doch sie wusste nicht, was Kampf bedeutete. Im Gegensatz zu ihm. Im Gegensatz zu dem Wesen auf dem Bildschirm. Natürlich war sie eifrig: Sie war noch nie im Krieg gewesen.

»Das ist es«, bestätigte General Caroa. »Das ist unser Zielobjekt.«

»Es wirkt ganz schön zäh.«

»Eines der zähesten«, pflichtete Caroa ihr bei. »Was können wir aufbieten?«

Jones warf einen Blick auf die Statusanzeige. »Wir können binnen zwanzig Minuten zwei Angriffsraptoren in die Luft bringen«, antwortete sie. »Wir können sie von der Karakoram im Atlantik aus starten.« Sie lächelte. »Chaos, wenn Sie es befehlen, Sir.«

»Flugdauer bis zum Ziel?«

»Sechs Stunden.«

»Ausgezeichnet, Jones. Geben Sie mir Bescheid, wenn die Raptoren vor Ort sind.«

2

TOOL LAUSCHTE MIT GESPITZTEN Ohren auf die fernen Schüsse, das ungezwungene Geplauder der Versunkenen Städte.

Es war eine polyglotte Sprache, doch Tool verstand alle Stimmen. Die scharfen Ausrufe von AK-47- und M-16-Sturmgewehren. Das primitive Gebrüll der Kanonen Kaliber 12 und 10. Das gebieterische Knallen der Jagdgewehre Kaliber 30–06 und das Ploppen der .22er. Und natürlich auch das sich nähernde Schrillen der 999er, die Stimme, die alle Sätze mit ihrer dröhnenden Interpunktion abschloss.

Es war eine vertraute Unterhaltung, die hin und her wogte – Frage und Antwort, Herausforderung und Erwiderung –, doch im Laufe der vergangenen Wochen hatte sich ihr Charakter verändert. Immer häufiger sprachen die Versunkenen Städte ausschließlich die Sprache Tools. Den Kugeldialekt seiner Truppen, den Gefechtsslang seines Rudels.

Der Krieg wütete weiter, doch die Stimmen verschmolzen zu einem einzigen harmonischen Triumphgeheul.

Natürlich gab es auch noch andere Geräusche, und Tool hörte sie alle. Selbst im Atrium seines Palasts, weit entfernt von der Front, konnte er den Kriegsverlauf verfolgen. Mit seinen großen Ohren hörte er besser als ein Hund, und sie waren stets aufgestellt, offen und empfänglich, und verrieten ihm vieles, das Menschenohren verborgen blieb, so wie auch seine übrigen Sinne mehr wahrnahmen als die Sinne der Menschen.

Er wusste, wo seine Soldaten standen. Er witterte jeden einzelnen. Er erspürte ihre Bewegungen mittels der Luftströmungen, die sein Fell und seine Haut berührten. In der Dunkelheit konnte er sie sehen, denn seine Augen waren empfindlicher als die einer Katze in finsterer Nacht.

Die Menschenwesen, die er anführte, waren blind und taub für die meisten Dinge, doch er leitete sie an und bemühte sich, sie in etwas Nützliches zu verwandeln. Er hatte seinen Menschenkindern das Sehen, Riechen und Hören beigebracht. Er hatte sie gelehrt, sich ihrer Augen, Ohren und Waffen zu bedienen, damit sie kämpften wie Reißzähne, Klauen und Fäuste. Einheiten. Züge. Kompanien. Bataillone.

Eine Armee.

Durch die Lücke in der geborstenen Kuppel seines Palasts sah Tool die Bäuche der Gewitterwolken, orangefarben angeleuchtet von den wütenden Bränden, die den letzten verzweifelten Versuch der Gottesarmee begleiteten, das Vorrücken seiner Truppen aufzuhalten, indem sie eine Frontlinie der Selbstzerstörung zogen.

Donner grollte. Blitze durchzuckten die Wolken. Ein Sturm braute sich zusammen, der zweite in ebenso vielen Wochen, doch auch er würde die Gottesarmee nicht retten können.

Hinter Tool näherte sich jemand über die marmornen Flure. Der humpelnde Gang und das Schleifen der Füße verrieten, dass es Stub war. Tool hatte den Jungen in den Kommandostab befördert, weil er hart, aufgeweckt und klug war und seine Tapferkeit beim Sturm der Barrikaden auf der K Street unter Beweis gestellt hatte.

Koolkat hatte den Angriff geleitet, als die Gottesarmee durchzubrechen und die damals noch fragile Hoffnung zu zerstören drohte, und war dabei ums Leben gekommen. Neben ihm hatte Stub einen Fuß verloren, als er auf eine Mine getreten war, doch er hatte das Bein abgebunden, sich weiter vorwärtsgeschleppt und seine Kameraden nach dem Tod ihres Befehlshabers angefeuert. Wild entschlossen, engagiert und tapfer.

Ja, es war Stub – das waren sein Geruch und sein Gang –, doch da war noch etwas anderes – der Geruch von gerinnendem Blut, dem Vorboten von Aas.

Stub wollte Meldung erstatten.

Tool schloss sein gutes Auge und atmete in tiefen Zügen. Er genoss den Duft und den Moment – den beißenden Gestank von Schießpulver, das Donnergrollen und die drückende Schwüle des heraufziehenden Unwetters, den Ozongeruch, den die Blitze erzeugten. Er atmete tief ein, versuchte den Augenblick des Triumphs in seinem Bewusstsein zu verankern.

So viele Erinnerungen waren bruchstückhaft, in Kriegen und Gewalt verloren gegangen. Seine persönliche Geschichte war ein kaleidoskopisches Durcheinander von Bildern, Gerüchen und aufgewühlten Emotionen, vereinzelten Explosionen der Freude und des Grauens, vieles davon blockiert und inzwischen unzugänglich. Dieses Mal aber – dieses eine Mal – wollte er sich den Moment in seiner Gesamtheit einprägen. Ihn schmecken, riechen und hören. Bis er ihn ganz ausfüllte, ihm das Rückgrat straffte, ihn hoch aufrichtete. Bis er seinen Muskeln Kraft verlieh.

Triumph.

Der Palast, in dem er sich befand, war eine Ruine. Einst war er prachtvoll gewesen mit seinen Marmorböden, seinen majestätischen Säulen, seinen alten, meisterlich ausgeführten Ölgemälden und überblickte dank der zerbombten Mauer die Stadt, um die er kämpfte. Er konnte bis zum Meer sehen, das gegen die Eingangstreppe schwappte. Der Regen drang ein und bildete Pfützen auf dem Boden. Fackeln flackerten in der Feuchte und ermöglichten es den Menschen, einen Hauch dessen zu sehen, was Tool ohne fremde Hilfe wahrnahm.

Eine traurige Ruine, und doch ein Ort des Triumphs.

Stub wartete respektvoll.

»Du hast Neuigkeiten«, sagte Tool, ohne sich umzudrehen.

»Ja, Sir. Sie sind erledigt. Die Gottesarmee – sie ist besiegt.«

Tools Ohren zuckten. »Weshalb höre ich dann noch immer Gewehrfeuer?«

»Die Soldaten räumen noch auf«, antwortete Stub. »Der Gegner begreift nicht, dass er geschlagen ist. Er ist dumm, aber zäh.«

»Du glaubst wirklich, dass sie besiegt sind?«

Der Junge schnaubte. »Also, das soll ich Ihnen von Perkins und Mitali geben.«

Tool wandte sich um. Stub hob den Gegenstand in seiner Hand hoch.

General Sachs’ abgetrennter Kopf schaute mit blinden Augen auf die Umgebung. Ohne den Körper wirkte er verloren. Der Gesichtsausdruck war irgendwo zwischen Bestürzung und Entsetzen erstarrt. Das grüne Schutzkreuz, das der Warlord sich auf die Stirn gemalt hatte, war mit Blut verschmiert.

»Ah.« Tool nahm den Kopf entgegen und wog ihn in der Hand. »Der Eine Wahre Gott hat ihn offenbar nicht gerettet. War also doch kein Heilsbringer.«

Schade, dass er nicht dabei gewesen war und die Gelegenheit versäumt hatte, dem Mann das Herz aus der Brust zu reißen und es zu verspeisen. Sich von seinem Feind zu nähren. Der Wunsch danach war stark. Dieser Triumph aber war den Klauen vorbehalten. Er war jetzt General und sandte Fäuste, Klauen und Reißzähne in die Schlacht, so wie er einst entsandt worden war, und deshalb entgingen ihm der Adrenalinstoß des Gefechts und das warme Blut des Gemetzels, das lustvoll in seinen Mund spritzte …

Tool seufzte bedauernd.

Es passt nicht zu deiner Rolle, dem Gegner den Todesstoß zu versetzen.

Eine kleine Freude aber war ihm geblieben: als General einem anderen General in die Augen zu blicken und die Kapitulation entgegenzunehmen.

»›Wider die Natur‹, hast du einmal zu mir gesagt«, murmelte Tool.

»›Ein Scheusal‹.« Er hielt den Kopf höher und blickte in Sachs’ entsetzte Augen. »›Der zusammengeflickte Frankenstein, der nicht mal stehen kann‹. Und natürlich hast du mich als ›Gotteslästerung‹ bezeichnet.«

Tool bleckte zufrieden die Zähne. Der Mann hatte die Wahrheit geleugnet bis zuletzt, hatte sich für ein Kind Gottes gehalten, erschaffen nach dem Ebenbild Gottes, vom Himmel beschützt vor solchen wie Tool. »Offenbar hat der Eine Wahre Gott die ›Gotteslästerung‹ begünstigt.«

Selbst jetzt noch meinte Tool, einen Schimmer von Verleugnung in den Augen des Generals zu erkennen. Die heulende Wut über die Ungerechtigkeit, gegen ein Wesen kämpfen zu müssen, das schneller, intelligenter und zäher erschaffen worden war als der arme menschliche Warlord, der geglaubt hatte, er sei gesegnet.

Dieser einfache Mann hatte nicht wahrhaben wollen, dass Tool für das Ökosystem der Schlacht optimiert worden war. Tools Götter hatten sich mehr für die moderne Kriegsführung interessiert als der Gegenstand der Anbetung dieses erbärmlichen Mannes. So war das eben mit der Evolution und der Konkurrenz. Der eine entwickelte sich weiter; der andere starb aus.

Andererseits war Evolution noch nie die Stärke des Generals gewesen.

Manche Spezies sind die geborenen Verlierer.

Ein gewaltiger Donner erschütterte den Raum. Tools 999er. Der Palast wurde bis auf die Grundfesten erschüttert.

Stille legte sich über die Stadt.

Und blieb dort.

Stub schaute verwundert zu Tool auf. Tools Ohren zuckten, lauschten. Nichts. Kein Gewehrfeuer. Keine Granatwerfer. Tool spannte seine Sinne an. Die Luft war wie elektrisch aufgeladen, als wartete alles darauf, dass das Wüten weiterging – doch in den Versunkenen Städten herrschte endlich Stille.

»Es ist vorbei«, murmelte Stub ehrfurchtsvoll. Und mit kraftvollerer Stimme sagte er: »Die Versunkenen Städte gehören Ihnen, General.«

Tool lächelte den Jungen freundlich an. »Sie waren schon immer mein.«

Ringsumher hatten die jungen Angehörigen von Tools Kommandostab mit der Arbeit innegehalten. Einige verharrten mitten in der Bewegung. Auch sie lauschten und warteten auf die nächste Runde der Gewalt, doch sie hörten nur Frieden.

Frieden. In den Versunkenen Städten.

Tool holte tief Luft und schwelgte im Augenblick, dann hielt er inne und runzelte die Stirn. Seltsamerweise rochen seine Soldaten nicht nach Sieg, sondern nach Angst.

Er fasste Stub in den Blick. »Was hat das zu bedeuten, Stub?«

Der Junge zögerte. »Wie geht es jetzt weiter, General?«

Tool blinzelte.

Wie geht es weiter?

Tool sah das Problem. Wie er so seinen Kommandostab musterte – seine besten, klügsten Leute, die Elite –, lag es offen zutage. Ihre Gesichter und ihr Geruch verrieten alles. Stub, der Tapfere, der weitergekämpft hatte, obwohl er den Fuß verloren hatte. Sasha, sein Fausthandschuh, der selbst die unerschrockensten Rekruten einschüchterte. Alley-O, der ein so tüchtiger Schachspieler war, dass Tool ihn in den Stab aufgenommen hatte. Mog und Mote, die blonden Zwillinge, die die Blitzklauen lenkten, mutig und tapfer, fintenreich unter Feuer.

Diese jungen Menschen waren klug genug, um den Unterschied zwischen kalkuliertem Risiko und Tollkühnheit zu erkennen, dabei waren sie noch keine zwanzig Jahre alt. Einige hatten noch Flaum im Gesicht, und Alley-O war gerade mal zwölf …

Sie sind Kinder.

Die Warlords der Versunkenen Städte hatten die formbaren Talente der Jugend stets zu schätzen gewusst. Wilde Loyalität war eine typische Eigenschaft von Kindern; ihr Wunsch nach einer konkreten Aufgabe war leicht zu formen. Alle Soldaten der Versunkenen Städte waren in jungen Jahren rekrutiert und mit Ideologien und absoluten Wahrheiten indoktriniert worden, die ohne Schattierungen und Perspektive auskamen. Es gab nur Richtig und Falsch, Verräter und Patrioten. Gut und Böse. Eindringlinge und Einheimische. Ehre und Loyalität.

Rechtschaffenheit.

Flammende Rechtschaffenheit ließ sich bei jungen Menschen leicht kultivieren, deshalb gaben sie ausgezeichnete Waffen ab. Sie waren perfekte fanatische Mordwerkzeuge, geschärft durch die Beschränktheit ihrer Auffassung von der Welt.

Gehorsam bis in den Tod.

Tool war von Militärwissenschaftlern erschaffen worden, um sklavisch zu dienen. Man hatte ihm die DNS unterwürfiger Spezies eingepflanzt, ihm mit genetischen Kontrollmechanismen und unerbittlichem Training blinden Gehorsam eingeprägt, doch seiner Erfahrung nach waren junge Menschen weit leichter zu formen. Im Grunde waren sie gehorsamer als Hunde.

Wenn sie frei sind, bekommen sie Angst.

Was jetzt?

Tool blickte finster auf General Sachs’ Kopf nieder, den er noch immer in der Hand hielt. Was tat ein Schwert, wenn all seine Gegner enthauptet waren? Welchen Nutzen hatte eine Waffe, wenn es keinen Gegner mehr gab, auf den man sie abfeuern konnte? Welche Aufgabe blieb dem Soldaten, wenn der Krieg vorbei war?

Tool reichte Stub die blutige Trophäe zurück. »Leg das zum Rest.«

Stub nahm den Kopf behutsam entgegen. »Und dann?«

Tool hätte ihn am liebsten angeschrien: Mach dein Ding! Errichte deine eigene Welt! Ihr habt mich erschaffen! Weshalb sollte ich euch Aufbauhilfe leisten?

Doch das war ein unfreundlicher Gedanke. Sie waren nun mal so. Sie waren auf Gehorsam getrimmt und hatten darüber die Orientierung verloren.

»Wir werden die Städte wieder aufbauen«, sagte Tool schließlich.

Erleichterung zeichnete sich in den Mienen der jungen Soldaten ab. Wieder einmal waren sie vor der Ungewissheit errettet worden. Ihr Kriegsgott war bereit, sich der erschreckenden Herausforderung des Friedens zu stellen.

»Informiert die Truppen. Unsere neue Aufgabe ist der Wiederaufbau.« Tool hob die Stimme. »Die Versunkenen Städte gehören jetzt mir. Dies ist … mein Königreich. Ich werde dafür sorgen, dass es gedeiht. Das ist jetzt unsere Mission.«

Noch während er diese Worte aussprach, fragte sich Tool, ob das überhaupt machbar war.

Er konnte mit seinen Klauenhänden Fleisch zerfetzen, er konnte mit einem Gewehr Menschen niedermähen, er konnte Knochen mit den Zähnen zu Staub zermahlen. Mit einer Faust von Konstrukten konnte er in ein Land eindringen, eine fremde Küste mit Mord und Totschlag überziehen und siegreich daraus hervorgehen – wie aber stand es mit dem Krieg des Friedens?

Was war von einem Krieg zu halten, in dem niemand starb, und von Siegen, die bemessen wurden nach vollen Bäuchen, warmen Feuern und …

Ernteerträgen?

Tool bleckte seine Tigerzähne und knurrte angewidert.

Stub wich eilig zurück. Tool bemühte sich, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bringen.

Töten war einfach. Jedes Kind konnte ein Killer werden. Aber das Pflügen von Feldern? Säen und Ernten? Wo waren die Menschen, die sich darauf verstanden? Wo waren die Menschen, die wussten, wie man Dinge mit Geduld und Ausdauer bewerkstelligte?

Sie waren tot. Oder geflohen. Die Klügsten waren längst verschwunden.

Er würde eine ganz andere Art von Kommandostab brauchen. Er musste irgendwie Ausbilder herbeischaffen. Experten. Eine Faust von Menschen, die sich nicht auf den Tod verstanden, sondern auf das Leben …

Tool stellte die Ohren auf.

Die sanfte Stille der Versunkenen Städte im Frieden schuf Raum für ein neues Geräusch. Eine Art Pfeifen, hoch in der Luft.

Ein erschreckendes Geräusch, verknüpft mit fernen Erinnerungen.

Vertraut.

3

»ANGRIFFSRAPTOR VOR ORT EINGETROFFEN, General.«

»Ziel erfasst?«

»Ziel erfasst. Chaos in fünf Sekunden. Chaos geladen.«

»Feuer frei für alle Rohre.«

Die Analystin wandte überrascht den Kopf. »Für alle, Sir? Das ist …« Sie zögerte. »Dann gibt es hohe Kollateralschäden.«

»Sicher ist sicher.« Der General nickte entschieden. »Die Aktion darf nicht schiefgehen.«

Die Analystin nickte und machte eine Eingabe. »Zu Befehl, Sir. Komplettes Sixpack, Sir.« Sie sprach ins Mikrofon. »Munitionskontrolle, ich bestätige: Sixpack scharf machen. General Caroa bestätigt den Befehl.«

»Sixpack scharf machen, bestätigt. Sixpack-Chaos.«

»Sechs, bereit. Sechs, scharf … Raketen abgefeuert, Sir.« Sie schaute hoch. »Fünfzehn Sekunden bis Chaos.«

Die Analystin und der General beugten sich vor.

Die Bildschirme zeigten einen Regenbogen von Infrarotsignalen. Braunrote, blaue und purpurfarbene Wärmesignaturen. Kleine Wärmeflecken für die Menschensoldaten – überwiegend Orange- und Gelbtöne – und ein großer roter Fleck, der das Konstrukt darstellte.

Die Analystin wartete. Das waren eine Menge Signale. Vermutlich der Kommandostab des Konstrukts. Soldaten, die alle ihre Arbeit machten und nicht ahnten, dass der Tod auf sie herabstürzte.

Die Kameras des Raptors waren so präzise, dass sie den Handabdruck erkennen konnte, wenn jemand sich auf dem Schreibtisch abgestützt hatte. Fußabdrücke tauchten auf und verschwanden geisterhaft, als ein Soldat barfuß über den Marmorboden des Hauptstadtgebäudes ging. Aus der Ferne wirkte alles so ruhig. Still. Unwirklich.

Das Konstrukt stand nahe bei mehreren Soldaten – vermutlich erteilte es Befehle oder ließ sich Meldung erstatten. Keiner von ihnen ahnte, dass sie jeden Moment vom Antlitz der Erde ausgelöscht werden würden.

»Zehn Sekunden«, flüsterte sie.

General Caroa beugte sich gespannt weiter vor. »Na schön, alter Freund, dann wollen wir mal sehen, ob du uns auch diesmal wieder entwischst.«

Der Monitor zählte die Sekunden herunter.

»Fünf … vier … drei …«

Das Konstrukt spürte anscheinend die Gefahr. Es setzte sich in Bewegung. Sein Körper strahlte Wärme ab.

Sie haben übernatürlich scharfe Sinne, dachte die Analystin müßig. Es war keine große Überraschung, dass das Wesen einen letzten Versuch unternahm zu überleben. Sie waren konstruiert, um zu kämpfen, auch dann, wenn der Kampf aussichtslos war.

Der Bildschirm flammte auf.

Rot, orange, gelb …

Weiß.

Blendendes Gleißen. Heller als tausend Sonnen. Weitere Treffer folgten, Einschlag um Einschlag, als die Raketen ins Ziel fanden.

Die Wärmesensoren der Beobachtungsdrohne, durch das entfachte Chaos überlastet, flackerten, dann wurde das Bild schwarz.

»Kontakt«, meldete die Analystin. »Sixpack ist eingeschlagen.«

4

MAHLIA LAG AUF DEM Deck der Raker, was eigenartig war, denn sie erinnerte sich, dass sie eben noch gestanden hatte. Jetzt aber lag sie.

Nein. Sie lag nicht auf dem Deck des Klippers; sie lehnte neben einer offenen Luke an der Kabinenwand. Nein, sie lag auf der Kabinenwand. Nicht nur sie stand nicht aufrecht. Das galt auch für das Schiff.

Mein Schiff liegt auf der Seite.

Mahlia blickte zu den aufgewühlten orangefarbenen Wolken hoch und versuchte zu begreifen, was passiert war.

Die Raker liegt auf der Seite. Mein Schiff steht nicht mehr aufrecht.

Mahlia ließ sich das durch den Kopf gehen. Die Umgebung kam ihr unwirklich und ungreifbar vor, so als blicke sie durch ein sehr langes Rohr. Sie war so weit entfernt, obwohl sie ihr ganz nah war.

Und es war warm.

Höllisch warm.

Feuerflammen zuckten und schlängelten sich über den Himmel, brennende Krähen, kreisend. Brennende Trümmer flogen umher, leuchtend und im Sturm der Zerstörung chaotische Bahnen beschreibend.

Eben noch hatte sie das Einladen eines in Leinwand verpackten Gemäldes überwacht, eines Meisterwerks des Zeitalters der Beschleunigung, darum bemüht, es im Frachtraum zu sichern, bevor der Regen stärker wurde, und jetzt lag sie auf dem Rücken und schaute zum pulsierenden Feuer an den Bäuchen der Wolken hoch.

Sie hatte das Gefühl, sie müsse etwas tun, doch sie hatte Schmerzen am ganzen Leib und ein Stechen im Hinterkopf. Sie langte nach hinten, um die Verletzung zu betasten, und sog scharf die Luft ein, als Metall gegen ihren Kopf stieß.

Bei den Parzen, sie war dermaßen durcheinander, dass sie vergessen hatte, dass die Kindersoldaten der Gottesarmee ihr vor Jahren die rechte Hand geraubt hatten und dass sie in Seascape durch eine Prothese ersetzt worden war! Mahlia berührte die Verletzung vorsichtig mit der linken Hand, betastete sie mit ihren Fingern, die noch etwas empfanden.

Eine große Beule, aber anscheinend keine offene Wunde. Kein zerschmetterter Schädelknochen, keine weiche Hirnmasse. Sie besah sich die Finger. Auch kein Blut.

Die Raker richtete sich langsam wieder auf. Mahlia rutschte an der Ladeluke vorbei. Der Boden hob sich ihr entgegen. Sie versuchte sich abzufangen, doch die Beine gaben ihr nach, und sie fiel ungeschickt aufs Karbonfaserdeck.

Als der Klipper sich aufgerichtet hatte, schwankte er noch eine Weile nach. Wasser floss vom Deck.

Mahlia, die Sorge hatte, ihr Rückgrat könnte verletzt sein, versuchte die Füße zu bewegen. Bitte, bewegt euch. Sie konzentrierte sich und wurde von Erleichterung überwältigt, als sich erst das eine Bein rührte, dann das andere. Sie klammerte sich an den Rand der Frachtluke und zog sich stöhnend auf die Beine. Marionettenkörper, Gliedmaßen aus Holz, keine Fäden, doch sie schaffte es und taumelte an die Reling.

»Wo zum Teufel sind sie alle?«

Etwas Großes hatte sie getroffen. Etwas dramatisch Großes, wie Van sich ausdrücken würde. Vielleicht die verirrte Granate eines 999er? Vom Himmel auf sie herabgestürzt? Doch das ergab keinen Sinn. Tool war der Einzige, der heutzutage 999er abfeuerte, und Tools Kindersoldaten waren zu gut ausgebildet, um es dermaßen zu vermasseln.

Mahlia musterte das Schiff, nahm die Raker in Augenschein. Ihr wundervolles Schiff. Noch immer strömte dort, wo es eingetaucht gewesen war, Wasser vom Deck, doch der Klipper wirkte unbeschädigt.

»Irgendwelche Schäden?«, krächzte Mahlia. »Captain Almadi? Ocho?« Shoebox taumelte ihr entgegen, mit geweiteten Augen, desorientiert. Sie packte ihn beim Arm und zog ihn zu sich.

»Weißt du, wo Ocho ist?« Sie hörte ihre eigene Stimme nicht, doch Shoebox hatte sie anscheinend verstanden. Er nickte und stolperte davon. Hoffentlich auf der Suche nach Ocho.

Asche regnete herab, glühende schwarze Plastikflocken, die sich scharf von den finsteren Regenwolken abhoben. Sie beschirmte die Augen mit der Hand, blinzelte in das Gleißen von Licht und Hitze. Der Palast und die umliegenden Gebäude waren eingeebnet. Und die marmorne Eingangstreppe – Mahlia musterte sie verblüfft. Sie schien nachzugeben, als bestünde sie aus geschmolzener Lava …

Geschmolzen?

Es sah aus wie ein Blick in die Hölle, die die Hochwasserchristen den Ungläubigen an den Hals wünschten. Selbst der See vor dem Palast stand in Flammen.

Wie zum Teufel kann Wasser Feuer fangen?

In der Nähe schrie jemand, eher ein animalischer als ein menschlicher Laut. Mahlias Gehör kehrte zurück. Jetzt hörte sie das Tosen des Feuers und die gebrüllten Befehle der jungen Soldaten an den Docks. Das Feuer breitete sich aus, verschlang angrenzende Gebäude mit unnatürlicher Heftigkeit. Der zunehmende Wind fachte die Flammen weiter an. Eine Wolke aus Hitze und Rauch rauschte über sie hinweg.

»Schadensmeldung?«, rief Mahlia hustend und schlug schützend die Hände vors Gesicht. Ocho stolperte aufs Deck. An der Stirn hatte er eine blutende Platzwunde, doch er war noch auf den Beinen. Durch den Rauch taumelte er ihr entgegen.

»Der Palast wurde getroffen!«, brüllte er ihr ins Ohr.

»Das sehe ich«, antwortete Mahlia schreiend. »Wer war das?«

»Keine Ahnung. Van meint, etwas sei aus der Luft heruntergekommen. Bündelweise Feuernadeln.«

»Die Gottesarmee?«

»Ausgeschlossen«, sagte Ocho. »Tool hat sie vernichtet.«

Tool. Übelkeit erregendes Entsetzen nahm sie in Beschlag. Er war dort gewesen. Im Palast. Sie hätte es sich gleich denken können. Tool war tot. Sie war in den Versunkenen Städten wieder allein. Sie hatte keine Verbündeten mehr. Sie war umringt von Kindersoldaten …

Mahlia umklammerte das Geländer und kämpfte gegen das Grauen an. Sie erinnerte sich, wie sie bäuchlings im Dreck gelegen und zu den Parzen gebetet hatte, zu Kali-Maria-voll-der-Gnade, zum Hochwassergott und den Göttern oder Heiligen und Avataren aller anderen Religionen, die ihr einfielen, dass die Soldaten, die die anderen Verstoßenen niedermähten, sie nicht bemerken mögen. Sie erinnerte sich, wie sie durch die Sümpfe am Rand der Versunkenen Städte gestapft war, hungrig und allein. Wie sie Schlangen gefangen und gegessen hatte. Wie sie auf Dörfer gestoßen war, deren Bewohner ausnahmslos niedergemetzelt worden waren. Wie die Soldaten sie niederdrückten, während einer mit der Machete ausholte und ihr die rechte Hand abtrennte …

Und dann hatte sie Tool gefunden.

Dank Tool war sie dem Bürgerkrieg in den Versunkenen Städten entkommen und später mit der Raker zurückgekehrt, um zu plündern. Dank ihm war sie entkommen und hatte sich ein neues Leben aufgebaut.

Und jetzt war alles in einem Augenblick zunichtegeworden.

Ocho war offenbar zur selben Einsicht gelangt und stand unter dem Bann seiner Erinnerungen an die Zeit, als Chaos in den Versunkenen Städten geherrscht und er als Kindersoldat für die Vereinte Patriotenfront gekämpft hatte. »Bei den Parzen«, sagte Ocho. »Der Palast stürzt ein. Alles fängt wieder von vorne an …«

Die Hölle.

Die Person, die die Versunkenen Städte aus dem Chaos gerettet hatte, war soeben zu Asche verbrannt. Die Person, die sie beschützt und es ihnen ermöglicht hatte, erfolgreich Handel zu treiben, war tot.

Mahlia wollte schreien angesichts der Ungerechtigkeit – Wir standen kurz vor dem Sieg! -, doch der klügere Teil von ihr, der Teil, der sie in den schlimmsten Jahren am Leben erhalten hatte, wusste, dass es nichts genutzt hätte. Sie hatte nicht mehr viel Zeit.

»Können wir segeln?«, fragte sie. »Kommen wir von hier weg?«

»Ich frage Almadi. Mal sehen, ob sie das Schiff für seetüchtig hält.« Ocho wandte sich zur Brücke, dann hielt er inne und zeigte zu den schwarzen Sturmwolken hoch, die am Himmel dräuten. »Welches Risiko willst du eingehen?«

Mahlia lächelte finster. »Glaubst du etwa, Tools Soldaten werden uns die Raker lassen, wenn wir hierbleiben?«

Verzweiflung legte sich auf Ochos Gesicht. »Bei den Parzen. Wieso kann …«

Was immer er sagen wollte, er verkniff es sich. Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich zu einer Maske aus Stein. »Ich kümmere mich drum.«

Er salutierte flüchtig, blickte noch einmal zum brennenden Palast und eilte dann zur Brücke. Er war ein Überlebender, genau wie sie. Er hatte die Ruhe weg. Selbst wenn alles auseinanderfiel, geriet er nicht in Panik. Mit ihm im Rücken konnte Mahlia so tun, als besitze sie die Kraft weiterzumachen. Sie konnten sich gegenseitig weismachen, sie wären stark.

Immer mehr Besatzungsmitglieder kletterten an Deck: ehemalige VPF-Soldaten, die Ocho befehligte, und Seeleute, die Captain Almadi unterstanden. Die Seeleute sagten den Soldatenjungs, was sie tun sollten, und alle waren damit beschäftigt, sich zu sortieren und zu orientieren.

Zwei Seeleute trugen Amzin Lorca, Almadis Stellvertreter. Ein Stück Metall steckte in seiner Brust, und Mahlia wusste sogleich, dass er tot war.

Wo steckte Almadi?

Auf dem Kai versuchten Tools Soldaten, das Chaos zu ordnen. Kleine Gruppen von Soldaten formierten sich zu größeren. Tools Fäuste, Klauen und Zähne. Kleine, mit Biodiesel angetriebene Boote starteten den Motor und preschten über den großen, rechteckigen See vor dem Palast auf die Trefferzone zu, umfuhren die lodernden Flammen und hielten Ausschau nach Überlebenden, die es nicht gab.

Das Vorgehen der Soldaten wirkte noch immer koordiniert, doch sobald sie begriffen, dass Tool tot war, würde der Kampf um die Vorherrschaft erneut aufflammen. All die Befehlshaber, Soldaten und Gruppierungen, die Tool besiegt und seiner Armee eingegliedert hatte, würden sich erneut verfeinden.

Und dann würden sie kämpfen, um das entstandene Vakuum zu füllen.

Entweder das, oder irgendein kluger Lieutenant oder Captain würde zu dem Schluss kommen, es sei an der Zeit, den Versunkenen Städten ein für alle Mal den Rücken zu kehren, und sich die Raker unter den Nagel zu reißen.

Was auch geschah, sie durfte dann nicht mehr hier sein.

Die Brände weiteten sich aus, angefacht vom zunehmenden Wind. Die Palasttrümmer glühten bösartig wie Lava.

Vor wenigen Stunden war sie dort drinnen gewesen und hatte von Tools Versorgungs- und Logistikeinheit den Lohn für die Anlieferung von Munition entgegengenommen und sich die Papiere für die neue Fracht abstempeln lassen. Gemälde. Skulpturen. Revolutionsartefakte. Alte Museumsstücke für den Kunstmarkt von Seascape.

Wäre der Tag nur geringfügig anders verlaufen, hätte sie sich zum Zeitpunkt des Angriffs im Gebäude befunden. Dann hätte sie neben Tool gesessen, während er mit seinen Offizieren die Angriffe auf die Gottesarmee plante.

Dann wäre sie jetzt Asche, Feuer und Rauch und würde zu den Kriegsgöttern aufsteigen, die Tool für sich reklamierte.

Ocho kehrte zusammen mit Captain Almadi zurück. Almadi war eine hochgewachsene, imposante Erscheinung und nach den Maßstäben der Versunkenen Städte uralt.

Mindestens Mitte dreißig.

Nachdem Mahlia und Ocho das erste Mal mit Kunstgegenständen und historischen Artefakten aus den Versunkenen Städten entkommen waren, hatte sie mit dem Erlös die Raker erworben und Almadi und deren Crew angeheuert. Dieses Arrangement war für beide Seiten profitabel, wenn auch bisweilen schwierig.

Dem Gesichtsausdruck der Frau nach zu urteilen, hatte Ocho sie verärgert. Eine weitere Person folgte ihnen. Die leuchtenden elektronischen Implantate, ätherisch blau dort, wo sich die Ohren hätten befinden sollen, machten ihn als einen von Ochos Soldaten kenntlich. Van, trotz des Chaos ringsumher grinsend und unverwüstlich wie eh und je. Oder vielleicht gerade deswegen. Der Junge war früh in den Krieg gezogen. Das hatte einiges mit seinem Kopf angestellt.

»Hast du gesehen, wie die Dinger eingeschlagen sind?« Van vermochte kaum an sich zu halten. »Böses, dramatisches Bumm-Bumm!« Er lehnte sich weit über die Reling und blickte zu den Flammen hinüber. »Feuernadeln und Bumm-Bumm, Baby!«

Mahlia beachtete ihn nicht. »Wie ist der Zustand des Schiffes?«, fragte sie.

Ehe Almadi antworten konnte, sagte Ocho: »Der Captain meint, wir werden nicht sinken. Wir können segeln.«

Almadi warf ihm einen bösen Blick zu. »Nein. Ich habe gesagt, es gibt eine Menge Schäden. Und es treffen immer noch Schadensmeldungen ein.«

»Sie hat gesagt, das Schiff wird nicht sinken«, sagte Ocho.

»Es dringt im Moment kein Wasser ein«, entgegnete Almadi. »Ich habe nicht gesagt, dass wir Kat drei überstehen könnten.«

»Es ist nicht gesagt, dass wir auf eine Kat drei treffen werden«, widersprach Ocho.

Almadi funkelte ihn an. »Der Wind nimmt zu. Mit dem Wetter ist nicht zu spaßen. Deshalb bin ich noch am Leben. Ich bin kein leichtsinniges Kind.«

»Wir haben Haze verloren«, sagte Ocho. »Er ist bei dem Einschlag mit dem Kopf aufgeschlagen, der Schädel ist zerschmettert. Ist Verblutet. Und Almadi hat Lorca verloren.«

Almadis Miene war zu entnehmen, dass Lorca ein erfahrener Seemann gewesen war, der jetzt dringend gebraucht wurde, und dass Haze ihr scheißegal war.

»Noch jemand?«, fragte Mahlia.

»Noch jemand?« Almadi riss die Augen auf. »Das reicht dir nicht, um mal innezuhalten? Ich hatte nicht mal Gelegenheit, einen Anwesenheitsappell durchzuführen. Es wird noch eine Weile dauern, bis ich weiß, ob wir überhaupt segeln können, geschweige denn bei Sturm.«

Mahlia hätte die Frau am liebsten durchgeschüttelt. Siehst du nicht, dass hier alles auseinanderbricht? Stattdessen hielt sie Almadi ihre Prothese vors Gesicht.

»Siehst du das?« Sie drehte ihre künstliche Hand und zeigte Almadi die skelettartige Mechanik, blauschwarzer Stahl und kleine, zischende Gelenke. »Als ich die verloren habe, habe ich mich glücklich geschätzt. Siehst du Van?« Sie zeigte auf den ehemaligen Kindersoldaten, der über der Reling hing und dessen Implantate in der Düsternis des heraufziehenden Sturms hell leuchteten. »Siehst du, was sie ihm angetan haben?«

»Du kannst dir nicht vorstellen, was …«

»Ich weiß, was mit Leuten passiert, die zu lange warten! All die Soldaten da draußen? Die haben mindestens fünf verschiedenen Milizen angehört! Glaubst du, die sind alle gut Freund miteinander? Sie haben sich vor Tool gefürchtet. Sie waren Tool ergeben. Aber jetzt ist er weg. Und in diesem Moment fangen etwa zwanzig Captains aus verschiedenen Einheiten an, sich wieder eigene Gedanken zu machen. Sie fragen sich, was in ihrem Interesse liegt. Wem sie vertrauen können. Wen sie immer noch hassen. Sie haben nicht deshalb das Feuer eingestellt, weil sich der Hass erledigt hat. Sie haben aufgehört, weil Tool sie dazu gezwungen hat. Jetzt ist er weg, und ich garantiere dir, dass jeder Einzelne von ihnen Verwendung für das Schiff hat. Aber keiner wird Verwendung für uns haben.«

»Das Gute an einem Wirbelsturm ist, dass er einen nur töten will«, bemerkte Van. »Aber die Kriegsmaden hier?« Er tippte auf seine Implantate. »Die reißen einen mit Freuden in Fetzen.«

Ocho nickte zustimmend. »Wenn es irgendwie möglich ist zu segeln, müssen wir es versuchen, Captain.«

Almadi blickte von der brennenden Stadt zu den aufgewühlten dunklen Wolken am Himmel. Sie schnitt eine Grimasse. »Ich hole die noch ausstehenden Schadensmeldungen ein. Dann werde ich sehen, was ich tun kann.«

»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte Mahlia drängend.

»Du hast mich angeheuert, damit ich das Schiff steuere!«, fauchte Almadi. »Wir waren uns einig, dass ich die Entscheidungen treffe, wenn’s ums Segeln geht. Du kümmerst dich um den Handel. Ich mich um die Raker!«

Ocho bedachte Mahlia mit einem vielsagenden Blick. Sie wusste, was ihm durch den Kopf ging. Er könnte ein paar Jungs zusammenrufen, Almadi eine Waffe an den Kopf halten und die Lage nach Art der Versunkenen Städte bereinigen …

Mahlia schüttelte andeutungsweise den Kopf. Noch nicht.

Ocho zuckte mit den Achseln. Wie du willst.

Die Sache war die, dass die Besatzung der Raker zu Almadi gehörte. Mahlia zahlte zwar den Sold der Seeleute, doch sie hörten auf Almadi. Mit einer unwilligen Crew würden sie den Sturm niemals überstehen.

»Das mit Lorca tut mir leid«, sagte Mahlia beschwichtigend. »Aufrichtig leid. Und du hast recht, du kennst das Schiff besser als wir. Aber wir kennen die Versunkenen Städte, und sobald neue Kämpfe ausbrechen …« Sie berührte ihre Handprothese. »Manche Dinge sind schlimmer als ein Sturm.«

»Da bin ich mir nicht so sicher.« Almadi hob die Hand, um weiteren Einwänden zuvorzukommen. »Ich beeile mich mit der Lagebeurteilung. Dann unterhalten wir uns.« Sie entfernte sich kopfschüttelnd.

Mahlia legte Ocho die Hand auf den Arm. »Begleite sie. Es wäre schon gut, wenn wir nur ein Stück die Küste entlangsegeln und an einer geschützten Stelle ankern würden … Hauptsache, wir kommen von hier weg. Mach ihr das klar.«

Ocho nickte heftig. »Wird gemacht.«

»Und versuch rauszukriegen, was für ein Sturm das ist!«, rief sie ihm hinterher.

»Wen juckt’s?«, sagte Van. »Kat eins. Kat zwei, drei, vier, fünf, sechs … Alles besser als eine Kugel im Kopf. Wenn die Lady nicht segeln will, dann schneide ich ihr die Ohren ab, ich schwör’s. Damit sie weiß, wie’s in den Versunkenen Städten zugeht.«

Mahlia musterte ihn scharf.

»War ein Scherz!« Van hob abwehrend die Hände. »Nur ein Scherz!«

Van schloss sich Ocho und Almadi an, während Mahlia sich wieder dem brennenden Palast zuwandte.

Die Zerstörung war so vollständig, als hätte Tools Kriegsgöttin eine riesige brennende Faust auf den Palast niedergeschmettert und dafür gesorgt, dass nichts davon stehen blieb und dass niemand überlebte. Als hätte sie ihn ausradiert. Lady Kali zerstampfte alles, und keine Maria-voll-der-Gnade folgte ihr nach.

Es war schwer zu glauben, dass Tool tot sein sollte. Sie sah immer noch vor sich, wie er im Dschungel gehockt hatte, nachdem er ein Kojotenrudel getötet hatte, das sie angegriffen hatte. Eine wilde Erscheinung, halb Mensch, halb Monster, mit blutverschmiertem Mund, die ihr in der großen Faust das noch warme Herz eines Kojoten reichte und ihr damit ein Bündnis und wahre Verbundenheit anbot.

Rudel, hatte er gesagt. Er war ihr Rudel gewesen und sie das seine. Und er war stärker gewesen als die Natur.

Und jetzt? Geschmolzen. Verdunstet. Spurlos verschwunden.

Es drängte sie, zu dem hoch auflodernden Feuer zu laufen. Nach ihm zu suchen. Daran zu glauben, sie könnte ihn retten. Sie schuldete ihm so viel …

»Bitte sag mir, dass du nicht vorhast, dort rüberzugehen.«

Ocho war zurückgekehrt. Mit kühlem Blick musterte er die sich ausbreitenden Brände und die hektischen, sinnlosen Rettungsmaßnahmen.

Mahlia schluckte, kämpfte ihre Trauer nieder. »Nein. Das werde ich nicht.«

»Das ist gut. Denn einen Moment lang hast du ausgesehen wie eine Kriegsmade, die sich grundlos töten lässt.«

»Nein. So bin ich nicht.« Sie schluckte erneut. Die Trauer musste sie sich für später aufheben. Tool war tot. Er hätte sich lustig darüber gemacht, dass sie nicht strategisch dachte. »Niemand überlebt so etwas.«

»Almadi sagt, wir können segeln«, meinte Ocho.

»Hast du sie überzeugen müssen?«

»Nur ein bisschen.« Ocho zuckte mit den Schultern. »Wir suchen an der Küste nach einem geschützten Ankerplatz. Ein paar Stunden Fahrt, wenn alles gut geht. Vielleicht bricht das Unwetter erst später richtig los. Hofft sie.«

»Gut.« Mahlia stieß sich von der Reling ab. »Dann sind wir hier fertig.«

»Werden wir zurückkommen?«

»Was glaubst du?«

Ocho schaute zur verwüsteten Stadt hinüber. Schnitt eine Grimasse. »Sehr schade. War ’ne richtige Goldgrube.«

»Ja, aber« – Mahlia lächelte säuerlich – »nichts hält ewig, hab ich recht?«

»Da hast du wohl recht.«

Mahlia hätte gern gewusst, ob sie ebenso stoisch wirkte wie Ocho. Zwei Leute, die sich gegenseitig stark aussehen ließen.

Ein paar Minuten später wurden von den elektrisch betriebenen Taljen die Segel gehisst. Die Leinen knarrten und quietschten in den beschädigten, verzogenen Winschen. Die Segel aus Karbon und Nylon flatterten im Wind, bauschten sich und strafften sich mit einem Knall.

Dunkle Unwetterwolken dräuten am Himmel. Der Wind peitschte übers Deck. Regen prasselte hernieder, schwere, dicke Tropfen. Die grauen Wogen des Potomac waren genarbt vom herabstürzenden Wasser.

Durch die Regenschleier hindurch machte sie Stork und Stick, Gama und Cent aus, die damit beschäftigt waren, das Schiff loszumachen. Mahlia schüttelte die Erstarrung ab und eilte ihnen zu Hilfe. Taue lösten sich von den Klampen.

Die Raker bewegte sich und begann zu krängen.

Der Klipper war ein Wunderwerk menschlichen Erfindungsgeistes und in der Lage, auch bei schlechtem Wetter zu segeln. Dennoch ertappte Mahlia sich beim Beten, denn sie war sich nicht sicher, dass das beschädigte Schiff den bevorstehenden Sturm überstehen würde.

Der schlanke Klipper nahm Fahrt auf. Vom Kai schauten ihnen die Kindersoldaten nach. Ein paar zeigten auf sie. Vermutlich fragten sie sich, ob sie das Schiff aufhalten sollten, doch bislang hatte anscheinend noch niemand den Befehl dazu erteilt. Ohne Führung waren sie hilflos.

Die Raker stürmte los, ihr Bug durchschnitt grauen Seegang und Schaum. Die Segel waren prall gespannt. Das Schiff hob und senkte sich in der Dünung. Mahlia und ihre Crew beeilten sich, die Schotten dicht zu machen und das Schiff auf den Sturm vorzubereiten.

Sie waren so auf ihre Arbeit konzentriert, dass sie das Wrackgut nicht bemerkten, das im Kielwasser des Schiffes auftauchte. Es tanzte in den Wellen wie ein toter Hund. Es schlängelte sich zum Schiffsrumpf, ließ sich mitziehen wie ein Strang Seetang, vergessener Müll, den das Schiff bald abschütteln würde.

Dann zog es sich am Rumpf empor.

Langsam, aber stetig hangelte es sich aus dem Wasser, zog sich hoch und klammerte sich unterhalb des Schratsegels fest, baumelte vom Heck des Klippers.

Es war eine tierhafte Erscheinung, entstellt und schreckenerregend, die sich dort festklammerte. Eine Kreatur der Hölle, verkohltes Fleisch und zerfetzte Haut. Ein wiedergeborenes Monstrum, trotz des strömenden Regens knisternd von der Hitze, die es mitgebracht hatte.

Das Schiff stürmte voran, kämpfte sich durch die sich immer höher türmenden Wogen hindurch. Der blinde Passagier reiste mit, verkohlt und qualmend.

Brennend vor Zorn.

5

»AUF DAS BLUT«, MURMELTE General Caroa. »Auf das Blut und die Geschichte.«

Und auf das Ende der Albträume.

Er hob das Kognakglas und prostete dem Anblick zu, der sich ihm durch die Fenster seiner Privatgemächer bot.

Sechstausend Meter unter ihm breitete sich der Pazifik aus, eine im Mondschein schimmernde Decke. Es schien beinahe so, als könnte General Caroa über den Rand eines fremden Planeten hinwegblicken, dessen quecksilbrige Meere in der Tiefe schimmerten – ein dunkler und noch unentdeckter Ort.

In vielerlei Hinsicht traf dies auch zu. Nach dem Ende des Zeitalters der Beschleunigung war der Großteil der Welt von Katastrophen heimgesucht worden. Von Dürre und Überschwemmungen. Von Wirbelstürmen. Von Seuchen und Missernten. Hunger und Flüchtlingskrieger hatten die Welt verwüstet und menschlichem Forscherdrang neue Räume eröffnet.

Und er war an vorderster Front dabei gewesen. Seit über drei Jahrzehnten drang er in unbekannte Territorien vor, schlug Unruhen nieder und sorgte dafür, dass Mercier mit starker Hand für Ordnung sorgte.

Wie es sich für einen Mann in seiner Stellung geziemte, war seine geräumige Privatkabine ausstaffiert mit der Beute seiner Feldzüge: ein Teppich erinnerte an den Nordafrikafeldzug, mit dem er den Suezkanal unter seine Kontrolle gebracht hatte; ein Dolch aus Walbein mit reich verziertem Griff war die Trophäe des Kampfes um das Recht, die Nordwestpassage zu nutzen. In einem Regal funkelte Schnaps aus dem französischen Landwirtschaftskrieg, darunter waren Bücher aus richtigem Papier ausgestellt, Sun Tzu, Clausewitz und Shakespeare. Einige der Bände waren sehr alt und wirkten in Anbetracht des beschränkten Platzes und der begrenzten Tragfähigkeit eines Luftschiffs der Narwalklasse umso kostbarer.

Die Annapurna fasste bei kompletter Einsatzbereitschaft fünftausend Mann. Zur Bedienung waren fünfhundert Mann erforderlich, außerdem war ein schnelles Eingreifkommando von zweitausend Mann an Bord. Das Schiff verfügte über Starteinrichtungen für Drohnen und Abschusseinrichtungen für Raketen, Zentralen für Logistik, Steuerung und Informationsbeschaffung, alles Caroa unterstellt.

Der Einfluss des Generals erstreckte sich mittels der auf Satelliten, Truppenverbände und Flottenfunkverkehr ausgerichteten elektronischen Augen und Ohren des Schiffes auf ein Viertel des Planeten – auf die beiden Amerikas von Pol zu Pol, wo immer die Mercier Corporation es verlangte.

Auf seinem Firmenabzeichen waren zähnefletschende Konstrukte abgebildet, zusammen mit den Worten:

Mercier Schnelle Eingreiftruppe

Darunter prangte das in Gold gestickte Motto, das seine Laufbahn begleitet hatte.

Feritas. Fidelitas.

Wildheit. Treue.

Er berührte den Aufnäher und fragte sich, ob seine Albträume endlich ein Ende haben würden.

Weit unter ihm erstreckte sich die schwarze Küstenlinie von Merciers SoCal-Protektorat nach Norden. Er machte die von Lagerfeuern gesprenkelten Ruinen von Los Angeles aus, eingefasst von der leuchtenden Kette der Mercier-Hochhäuser, welche die Bucht säumten.

Es hatte ein ganzes Leben gedauert, so hoch aufzusteigen. Über ihm gab es auf der Karriereleiter der Firma fast keine Sprossen mehr. Nur die Beförderung in das Exekutivkomitee stand noch aus, ein Posten im permanenten Rat, wo die Besten von Mercier in der obersten Etage eines der höchsten Wolkenkratzer von Los Angeles über die Firmenstrategie entschieden.

Schon merkwürdig, dass er sich ein ganzes Stück weiter unten würde einrichten müssen, sollte er jemals befördert werden.

Belustigt ging Caroa zurück zu seinem Schreibtisch und checkte ein letztes Mal für heute die Statusmeldungen.

In der Arktis kam es zu Auseinandersetzungen, die ExCom Sorge bereiteten. Vermutlich machte SinoKor bei den Bohrarbeiten Druck, außerdem gab es in der Nordwestpassage Probleme mit Piraten, da TransSibiria und deren Inuit-Stellvertreter die am Pol entlangtransportierte Fracht zu »besteuern« versuchten. Ärgerlich in Anbetracht des Umstands, dass der Großteil seiner Truppen noch immer im Süden stationiert war, auf den Lithium-Hochebenen der Anden. Die Truppen in den Norden zu verlegen würde selbst mit Merciers Luftschiffflotte einige Zeit dauern. Zumindest waren die Soldaten bereits für kalte Witterung ausgerüstet.

Er wischte den Bildschirm leer. Das alles konnte warten. Jetzt würde er erst einmal entspannen und sich der Privilegien erfreuen, die seine Stellung mit sich brachte. Er streckte die Hand zum Kognakglas aus.

Das Commsignal ertönte.

Verärgert wandte Caroa sich an die Zimmer-AI. »Wer ist es?«

Der Wandbildschirm wurde von einem bekannten Gesicht eingenommen: junge, dienstbeflissene Gesichtszüge. Die Analystin. Caroa kam nicht auf ihren Namen …

Ich werde allmählich alt.

Jones. Genau.

Die junge, dienstbeflissene, picklige Jones. Die nervende Jones. Die ehrgeizige Jones. Die übereifrige Jones. Ihrer Akte zufolge war sie beim Eignungstest von Mercier, dem berüchtigten MX, im besten Zehntelprozent gewesen. Ihr außergewöhnliches Abschneiden hatte ihr Leben von Grund auf verändert und ihr eine Stelle bei Mercier eingebracht. Den Eignungstest hatte sie mit gerade mal sechzehn Jahren bestanden. Somit war sie, wie er selbst, jung in die Firma eingetreten und schnell aufgestiegen.

Vielleicht war es der heiße Atem der Konkurrenz, der ihn reizte.

Ich war auch mal der Klügste weit und breit, dachte er. Bilde dir bloß nichts darauf ein. Ihr Verstand mochte so scharf wie ein Kampfmesser sein, doch sie rief ihn unter Umgehung der Befehlskette außerhalb seiner Dienstzeit an.

»Ich hoffe, Sie haben eine gute Entschuldigung, Junioranalystin Jones.«

Eine bissige Bemerkung auf der Zunge, streckte er die Hand zum Comm aus, doch dann hielt er inne. Die übereifrige kleine Analystin hatte schließlich den Grund für seine alte, hartnäckige Besorgnis aufgespürt. Sie hatte die Daten gesichtet und etwas gefunden, das andere jahrelang übersehen hatten.

Allerdings durfte er ihre Dreistigkeit nicht noch ermutigen. Er aktivierte die Verbindung und funkelte sie an. »Können Sie sich nicht an den wachhabenden Offizier wenden, Junioranalystin?«

Sie bekam kein Wort heraus.

»Möchten Sie in sechstausend Metern Höhe Fenster schrubben?«

»Sir, tut mir leid, Sir«, sagte sie verzagt. »Es … es gibt da etwas, das Sie sich ansehen sollten.«

Caroa schluckte seinen Ärger hinunter. Er war kein abergläubischer Mensch, nicht leicht zu erschrecken. Er hatte auf allen sieben Kontinenten gekämpft und konnte das mit Skalps belegen. Dennoch beunruhigte ihn der Tonfall der jungen Analystin.

»Worum geht’s?«

»Ich bedauere es sehr, Sie in Ihrer Freizeit gestört zu haben, Sir …«

»Sie haben sich bereits entschuldigt«, fauchte er. »Spucken Sie’s aus.«

»Ich … ich glaube, Sie sollten herkommen und sich das ansehen.«

»Sie möchten, dass ich zu Ihnen hochkomme?«

Sie suchte nach Worten, setzte aber eine tapfere Miene auf. »Ja, Sir. Sie möchten das bestimmt mit eigenen Augen sehen.«

Fünf Minuten später befand Caroa sich auf dem Kommandodeck und eilte zur Strategischen Aufklärungszentrale, während er sich die Uniformjacke zuknöpfte.

Brood und Splinter, zwei große Konstrukte von der Marine-Einheit, traten beiseite, als er sich ihnen näherte. Hund, Marder und Tiger. Bösartige Gesellen. Sie schauten wachsam zu, wie Caroa in die Linse des Identitätsscanners schaute.

Das rote Licht im Auge ließ ihn blinzeln. Das Sicherheitssystem analysierte seine Iris, bestätigte seinen Rang und sein Recht, die Aufklärungszentrale zu betreten. Der Scanner bestätigte die Freigabe mit einem Piepton. Brood und Splinter entspannten sich. Obwohl sie ihn kannten, waren sie jedes Mal auf der Hut. Im Unterschied zu Menschen ließen sie in ihrer Wachsamkeit nicht nach und vernachlässigten niemals ihre Pflichten.

Feritas. Fidelitas.

Die kugelsichere Doppeltür öffnete sich. Ein Wärmeschwall schlug ihm entgegen, untermalt vom Klicken der Tastaturen und dem Gemurmel der Analysten vor ihren Computern. Caroa zwängte sich zwischen den Arbeitsplätzen hindurch. Die Analysten, an denen er vorbeikam, salutierten, eine Woge des Respekts, die ihm durch den Raum folgte. Danach wandten sich seine Untergebenen wieder ihrer Arbeit zu, alle damit beschäftigt, die Einsätze von Mercier zu überwachen.

»Also, Jones, was ist so wichtig?«