Tote Helden - Ulrike Jonack - E-Book

Tote Helden E-Book

Ulrike Jonack

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Beschreibung

Sie erwachte ohne Erinnerung. Ihr Gesicht kommt ihr fremd vor und das ist es wohl auch, denn die Ärzte hatten bei der Rekonstruktion kaum Anhaltspunkte gehabt. Ist das der Grund, warum sie niemand erkennt? Als Ines Braun macht sie sich daran, ihre Vergangenheit zu finden. Sie sucht sie in Berichten der Raumflotte, schreibt eigene Versionen der Geschichten. Was sie findet, gefällt niemandem … - Erzählt wird die Geschichte der Ines Braun im Form einer Collage.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 596

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Impressum:

Text:

jon / Ulrike Jonack (2015)

Cover:

Ulrike Jonack (2015),basierend auf dem Reihendesign von Berthold Sachsenmaier

Produktion: tredition

ISBN:

978-3-7323-2359-3 (Paperback)

978-3-7323-2360-9 (Hardcover)

978-3-7323-2361-6 (E-Book)

Tote Helden

Eine Collage

Inhalt:

Prolog

Ines: Erwachen

Ines: Erinnerung

Ines: Niederlassen

Einsatzpilot

Ines: Versuche

14 Sekunden

Ines: Forschen

Ines: Erinnerung 2

Killerviren

Ines: Hoffnung

Jadwiga Podlasinska

Ines: Verlieren

Ines: Berührung

Tatjana

Ines: Heimfinden

Ines: Erinnerung 3

Katrin

Ines: Schreiben

Ines: Erinnerung 4

Ines: Unterwegs

Wöltu

Ines: Vermutung

Wöltu (Fortsetzung)

Ines: Sog

Ines: Traum

Ines: Entscheidung

Wöltu (Fortsetzung)

Ines: Schweigen

Das Protokoll

Ines: Pause

Ines: Entscheidung 2

Ines: Fortgehen

Katzengesicht

Ines: Komplettierung

Ines: Abschied

Warén

Horizon

Epilog

Prolog

Er hatte sie gerettet. Hatte ihr Ich bewahrt, es aus der Zeit genommen und außerhalb der Zeit einen neuen Körper dafür geschaffen. Zumindest hatte er es versucht. Tatsächlich war es ungleich komplizierter gewesen, als er je vermutet hätte, und ob alles so funktionieren würde, wie es sollte, stand nicht zweifelsfrei fest. Vieles musste unausgeformt bleiben, unausgereift; doch der Körper lebte, war bereit, das Ich aufzunehmen. Es zu transplantieren, brachte weitere Probleme mit sich. Aber er löste auch diese. Zumindest so weit, dass Ich und Körper ineinanderwuchsen. Dann betrachtete er sein Werk und dachte: „Das ist das Verrückteste, was ich je getan habe. Ich habe einen Menschen erschaffen. Ich bin Gott.“ Dann lachte er, denn er war Gott, und er brachte den Körper und das gerettete Ich zurück in die Zeit und entließ die Frau zu den Menschen …

***

Ines: Erwachen

(Oktober 2292)

Es begann damit, dass sie eine Stimme wahrnahm. Die Stimme eines Mannes.

„Hören Sie mich?“, fragte der Mann.

Ja, wollte sie sagen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht.

Jemand berührte ihre Hand. Licht sickerte durch ihre Lider und ein Geruch wehte heran, den sie kannte, aber nicht benennen konnte. Sie hatte keine Worte dafür. Sie hatte auch keine Worte für die Ohnmacht, auf all diese Wahrnehmungen zu reagieren, und so glitt sie wortlos davon in einen seltsamen Traum.

Als sie erneut erwachte, war Stille um sie herum. Dämmern umfing sie und ein Hauch von Kühle. Am Rand ihres Blickfeldes glomm ein Licht. Orange und winzig. Sie wandte den Kopf dorthin, mühsam, als schliefen die Muskeln noch und wehrten sich gegen die Bewegung. Doch das Licht wurde etwas größer und ein grüner Lichtpunkt kam dazu und ein gelbliches Blinken und eine Zahl. Die Zahl 62. Was immer das bedeuten mochte.

Helle flammte auf.

„Hm!“, lehnte sie sich dagegen auf und schloss die Augen.

„Da sind Sie ja“, antwortete eine Frau und trat näher.

Ein Schemen beugte sich herab. Er roch nach Flieder. Sie wusste nicht, was Flieder war, aber dass die Frau, die sich über sie beugte, danach roch, wusste sie. Und dass sie lag. Eine leichte Decke über den Körper gebreitet. Sie konnte die Decke spüren und sie konnte auch das Laken unter sich spüren und die Matratze, die nur widerstrebend dem Körper nachgab. Sie konnte ihr eigenes Gewicht spüren, die Reglosigkeit ihres Körpers. Das war nicht, wie es sein sollte.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte eine Stimme. Die Stimme der fliederduftenden Frau, erinnerte sie sich.

Der Schemen gewann Form, gewann Farbe und Struktur. Frau, dachte sie noch einmal, als müsse sie es sich bestätigen. Dann dachte sie: Schwester. Krankenschwester. Seltsame Worte.

Ein Mann trat heran. Ein Pfleger vielleicht oder ein Arzt. Das war ein Wort, das sie zuordnen konnte: Es bedeutete, dass etwas passiert war.

„Können Sie mich verstehen?“, fragte der Arzt. Er musterte sie besorgt, das war normal, das tat ein Arzt, wenn etwas passiert war.

„Blinzeln Sie, wenn Sie mich verstehen!“, sagte der Arzt.

Sie blinzelte.

Der Arzt freute sich. Es war gut, wenn ein Arzt sich freute, denn dann war nicht so schlimm, was passiert war. Aber was war eigentlich passiert?

„Wwss …“, fragte sie.

„Schh!“, machte der Arzt und setzte sich.

Ein Hocker, dachte sie, er musste da einen Hocker gehabt haben.

„Mein Name ist Shering. Sie sind im Belfaster Chirurgischen Zentrum“, sagte der Arzt. „Sie hatten einen Unfall. Erinnern Sie sich?“

Unfall? „Mm“, verneinte sie und drehte dabei den Kopf ein wenig hin und her.

„Sie waren im Weltraum“, sagte Shering und wartete auf Antwort.

Was sollte man auf das Wort Weltraum antworten?

„Wie heißen Sie?“, fragte Shering.

„Wwwi …“, sagte sie.

„Ihr Name. Wie lautet er?“

Wie lautete er? Ihr Name. Sie hatte einen. Jeder hatte einen. Wie war ihrer?

„Wissen Sie, wer Sie sind?“

Sie drehte den Kopf. Das war nicht gut, erwiderte der Blick des Arztes. Also versuchte sie, herausfinden, wer sie war. Eine Frau, so viel wusste sie. Aber was für eine Frau? Eine Weltraumfrau? So ein Wort gab es gar nicht, also konnte sie auch keine Weltraumfrau sein. Jung. Sie war eine junge Frau. War sie das? Sie wusste, dass sie das einmal gewesen war, aber war sie es noch? Mutter, dachte sie und wusste nicht, warum. Sie kannte das Wort, wusste jedoch nicht, was es mit ihr zu tun hatte.

„Woran erinnern Sie sich als Letztes?“

Als Letztes … Ein Scherz. Was für einer? Von wem? Hatte sie gelacht? Hatte sie je gelacht? Gelächelt?

„Ein Bild, ein Geruch vielleicht, ein Geräusch?“, versuchte Shering zu helfen.

Sie verneinte. „Bett“, sagte sie und war selbst überrascht. Bett? „Warm.“ Nein, das war es nicht. „Weich. Geborgen.“ Das war es! „Geborgenheit. Ich war …“

„Ja?“

„… nicht allein.“

„Gut!“, freute sich der Arzt. „Wer war bei Ihnen?“

„Wer …“ Wer?

„Wie sah er aus? Oder wie sah sie aus?“

Wie? Mann oder Frau? Das Gefühl einer Gegenwart. Lächeln. Das Gefühl eines Lächelns. Berührungslose Umarmung. War es das? War es ein Traum? Warm und berührungslos. Aber davor, was war davor?

„Nun“, sagte Shering und stand auf. „Vielleicht sollten Sie sich noch etwas Zeit lassen. Ruhen Sie sich aus! Wir versuchen es später noch mal, wenn es Ihnen besser geht.“ Er nickte der Krankenschwester zu und ging. Die Zimmertür fiel leise ins Schloss. Die Krankenschwester zupfte an der Bettdecke herum, rückte an dem Geräteturm neben dem Bett, stellte etwas ein. Bevor sie ging, drehte sie sich noch einmal um und lächelte: „Nur keine Sorge. Sie sind hier in guten Händen.“

Alles an ihr war empfindlich. Die Haut elektrisierte bei jeder Berührung und jeder Griff drückte sich tief ins Fleisch. Die Knochen schmerzten.

„Das gibt sich“, tröstete Shering seine Patientin. „Es ist ja alles neu, sozusagen.“

Sie nickte. Sie hatten kaum etwas retten können aus ihrem früheren Leben. Wenn es das überhaupt je gegeben hatte. Weder die Rettungskapsel, in der der fleischliche Rest dieses Lebens gefunden worden war, noch das zerfetzte Gewebe hatte Hinweise geboten, woher beides kam. Materialuntersuchungen und DNS-Profile führten auf im Nichts versandende Spuren.

„Was hat Ihre letzte Sitzung ergeben?“, fragte Shering und meinte die Hypnose-Therapie vom Vormittag.

„Das Übliche“, sagte sie. „Nur der Eindruck vom Koma.“

„Wieder nichts von davor?“

„Kein Davor“, bestätigte sie. Sie sah aus dem Fenster auf das Weiß des Winters. „Ich würde gern in den Park rausgehen.“

„Erinnert er Sie an etwas?“

„Nein. Ich möchte nur einfach nicht mehr hier drin sein.“

„Das verstehe ich“, behauptete Shering. „Morgen früh, okay? Da kommt auch jemand, der Sie kennenlernen will. Sie können sich mit ihm unterhalten, während Sie spazieren gehen.“

„Wer ist es?“, fragte sie, obwohl es sie nicht interessierte. Sie würde ihn sowie nicht kennen.

„Sein Name ist Karel Petrovich. Er sucht seine Tochter.“

Sie sah Shering an. „Passt meine DNS?“

„Es ist seine Stieftochter.“

„Passt meine DNS?“, beharrte sie.

„Zu Petrovichs Frau? Sie ist zu lange schon tot. Wir haben als Vergleich nur die Schwester.“

„Also haben Sie nichts.“

„Etwas über zehn Prozent Übereinstimmung“, erwiderte Shering. „Das kann ein Hinweis sein.“

„Muss aber nicht.“

„Nein, muss es nicht“, gab er zu.

Sie blickte wieder hinaus in den Park. Auf den Zweigen der Bäume glitzerte der frische Schnee. „Ich möchte den Namen eintragen lassen.“

Er stutzte. „Gestern sagten Sie …“

„Das war gestern. Vor der tausendsten Sitzung und vor dem negativen Bescheid aus dem Flottenkommando. Die vermissen niemanden.“

„Niemanden, der auf Sie zu passen scheint“, präzisierte Shering. „Warten Sie doch noch bis morgen! Vielleicht … sind Sie ja Petrovichs Tochter. Vielleicht erkennen Sie ihn. Oder er Sie.“

„Er mich?“ Sie verzog das Gesicht. „Nachdem Sie mein Aussehen neu erfunden haben?“

„Erfunden würde ich nicht sagen …“

„Sondern?“

„Wir haben es chirurgisch rekonstruiert.“

„Rekonstruiert? Nach welcher Vorlage? Sie hatten nichts als Vorlage. Sie sagten, Sie hatten nicht mal intakte Gesichtsknochen, nach denen Sie sich richten konnten.“

Er schwieg. Dagegen gab es kein Argument.

„Ines Braun“, sagte sie und meinte ohne Lächeln: „Das klingt doch akzeptabel. Nicht spektakulär, aber akzeptabel. Und immerhin behauptet das EEG, dass es was bedeutet. Es behauptet auch, dass das Wort Mutti mir etwas bedeutet oder vielmehr bedeutet hat. Aber Ines Mutti klingt blöd. Was meinen Sie, Doktor?“

„Mutti oder Mutter bedeutet mit Sicherheit etwas. Das tut es für jeden. Das ist der einzige Begriff, der in einem amnesierten Bewusstsein immer eine Reaktion auslöst. Das Wort mag nicht immer dasselbe sein, aber der Inhalt erzeugt jedes Mal eine Reaktion. Aber aus Ihrer Reaktion auf Ines und braun gleich einen Namen zu machen, halte ich für übereilt.“

„Es ist immerhin besser als Jane Doe. Jane Doe ist nur ein anderer Name für gänzlich unbekannt. Ich weiß aber etwas über mich: Ich weiß, dass die Worte Ines und braun eine Bedeutung für mich hatten. Und da der Mensch ist, was ihm wichtig ist, bin ich Ines Braun.“ Sie atmete tief durch. Dann sah sie Shering an, lachte. „Sie machen ein Gesicht, Doktor, als hätte ich eben behauptet, ich sei Gott! Glauben Sie mir“, bat sie lächelnd, „dieses ganze Rumgephilosophiere heißt nicht, dass ich jetzt völlig abgedreht bin. Ich versuche nur, mein Ego auf irgendeine Grundlage zu stellen. So bizarr sie auch sein mag. Wenn meine Knochen ganz geheilt sind und meine Haut nicht mehr bei jedem Windzug blaue Flecken bekommt, will ich wieder leben. Dazu brauche ich ein Ich. Jane Doe ist kein Ich. Jane Doe ist eine Ausrede. Und alles andere auch. Vorerst zumindest.“

***

Ines: Erinnerung – Aromen

(November 2292)

Der Schnee taute. Ines saß eingemummt auf einer Bank im Park und sah ihm dabei zu. Das Glitzern vom Morgen hatte lange standgehalten, auf Rettung gehofft und zerging nun doch in der matten Mittagssonne. Es hatte etwas Trauriges an sich, zuzusehen, wie es ohne Chance zerfloss, zu Boden rann und darin versickerte. Es machte die fette Erde schwarz. Ines konnte diese Fruchtbarkeit riechen, wusste, dass gelbe Blüten davon zehren würden, irgendwann im Frühjahr. Doch das war noch lange hin. Fast noch nicht wahr. Nur das Sterben des Schnees war wirklich.

Von der Klinik flüsterte Betriebsamkeit herüber. Ein unentschlossener Windhauch berührte Ines’ Gesicht, zart, als wüsste er, dass ihre Haut noch immer empfindlich war. Er nahm den Geruch von Nässe und Erde auf und rieb ihn ihr sanft unter die Nase. Ines erinnerte sich, diesen Geruch zu kennen, und erinnerte sich zugleich, dass er in ihrem früheren Leben anders gewesen war. Duftender. Sie schloss die Augen, suchte nach einem Bild und sah dunkelbraune Erde, locker von Rindenmulch und Kompost. Feucht von Nieselregen. Wärme stieg daraus auf. Bereit, bepflanzt zu werden. Womit? Ines suchte in ihrer Erinnerung nach der Blüte, die sie gelb wusste, aber nicht sehen konnte. Die Maifeuchte des Bodens kühlte aus und das Braun dunkelte zu morastigem Schwarz und von der Klinik drang Gesang herüber. Dünn und unsäglich schräg, aber wie sollte man einer alten Frau, in deren Geist nichts mehr war außer diesen Liedern, das Singen verbieten.

Die Alte hatte eine neue Hand bekommen. Sie benutzte sie nicht. Vielleicht hatte sie sich in der Zeit nach ihrem Unfall daran gewöhnt, keine linke Hand zu haben, und begriff nun einfach nicht, dass sie wieder zufassen konnte. Vielleicht wollte sie sie auch nicht, weil es nicht ihre Hand war. Man hatte ihr Bett aus dem Haus, in dem sie mit ihrem Sohn wohnte, holen müssen und ihren Schrank, weil sie die Klinikmöbel nicht benutzen wollte, da sie nicht ihre waren. Ines wünschte sich, auch einfach nicht benutzen zu brauchen, was sie nicht als ihr eigen empfand. Jeden Morgen, wenn sie in den Spiegel sah, erblickte sie ein fremdes Gesicht. Obwohl sie inzwischen jede Pore darin kannte, blieb es unvertraut. Nur von ihren Augen wusste sie, dass es ihre eigenen waren, und von ihrem Haar. Obwohl sie nicht sicher war, ob sie es schon immer so lang getragen hatte.

‚Makkaroni‘, dachte Ines plötzlich, ‚Makkaroni mit Knackwurst und Tomatensoße.‘ Sie wusste, wie das schmeckte, und fühlte buchstäblich das Wasser im Mund zusammenlaufen. Selbst an den Geruch erinnerte sie sich und wie es war, auf die scharf-salzigen Wurststücke zu beißen. Sie bekam Heißhunger darauf und fragte sich, ob sie die Oberschwester bitten konnte, die Klinikküche benutzen zu dürfen. Aber wahrscheinlich war gar nicht alles vorrätig, was sie brauchte. Hatte Shering nicht gesagt, sie dürfte ruhig auch mal einen Ausflug in die Stadt unternehmen? Sie hatte es bisher noch nicht getan, nichts hatte sie aus der Ruhe des Parkes weggezogen. Aber irgendwann musste sie raus, warum also nicht jetzt. Und Ines stand auf, um sich bei der Oberschwester für einen Stadtausflug abzumelden.

***

Ines: Niederlassen

(Dezember 2292)

Die Dame vom Versorgungsamt schaute in ihre Unterlagen und sagte: „Mhm. Das ist ja recht wenig, was wir da über Sie haben, Frau Braun. Die Identnummer ist auch noch recht frisch.“ Sie sah Ines an. „Sind Sie vom Mars zu uns gekommen, Frau Braun?“

Ines schüttelte den Kopf.

„Seltsam“, sagte die Frau und schaute wieder in ihre Unterlagen. „Ich habe hier nur einen Eintrag für das biologische Alter. Wann wurden Sie denn geboren, Frau Braun?“

„Das weiß ich nicht.

Die Dame starrte sie an. „Das wissen Sie nicht?“

„Ich habe mein Gedächtnis verloren“, lächelte Ines.

„Aha.“ Sie schaute wieder auf den Bildschirm. „Deshalb sicher auch der Reha-Vermerk.“ Sie drückte eine Taste und studierte das neue Datenblatt. „Da haben wir es ja. Chirurgisches Zentrum Belfast. Keine Angehörigen zu finden.“ Sie sah zu Ines. „Haben Sie vielleicht allein gelebt?“

„Schon möglich.“

„Haben Sie schon mal bei der Polizei nachgefragt, ob eine Vermisstenmeldung auf Sie passt?“

„Ja. Und Ihre Kollegin in Belfast hat auch bereits einen Datenabgleich im System des Versorgungsamtes durchgeführt. Mit negativem Ergebnis.“

„Aha. Na gut. Dann wollen wir mal sehen, was wir für Sie tun können, Frau Braun. Also Sie haben eine Wohnung in der Becher-Straße bezogen. Die Grundeinrichtung haben wir gestellt, Ihr Tagessatz liegt bei 118 Prozent. 118 Prozent?“ Sie sah Ines fragend an.

„Hat Ihre Kollegin in Belfast festgelegt.“

„Das ist aber nicht üblich im Rehabilitationsstadium. Ihnen stehen nur 105 Prozent zu, da Sie keine Reha-Hilfsmittel benötigen. Sie benötigen doch keine Reha-Hilfen, oder?“

Ines schüttelte den Kopf. „Aber Ihre Kollegin sagte, man müsste einrechnen, dass ich durch meine fehlende Vergangenheit keinerlei Rücklagen habe und mich auch erst noch einkleiden und die Wohnung ausgestalten muss. Sie hat die 118 Prozent wohl auch befristet, wenn ich mich nicht irre.“

„Das ist hier nicht eingetragen. Nun ja. Sie sind als begrenzt arbeitsfähig eingestuft, ist das richtig, Frau Braun?“

„Wenn es da steht …“

„Haben Sie spezielle Interessen oder Fähigkeiten, Frau Braun?“

„… inwiefern?“

„Damit wir Ihnen die passenden Grunderwerb-Stellen anbieten können. Es macht ja zum Beispiel nicht viel Sinn, Ihnen Jobs im Gartenbereich anzubieten, wenn Sie mit Pflanzen nicht umgehen können.“

„Ja klar. Nein, ich … weiß nicht, was ich kann. Ich werde es wohl ausprobieren müssen.“

„Gut, dann werden wir Ihnen die komplette Jobliste zustellen. Sind Sie bereits im Lokalen Info-Netz registriert?“

„Ja. Seit gestern. Brauchen Sie meinen Code?“

„Nein danke, das macht das System automatisch. Ich empfehle Ihnen, in den ersten Tagen die Liste hier im Amt einzusehen. Im Erdgeschoss finden Sie Räume dafür, wo Ihnen auch Helfer zur Verfügung stehen, die Sie bei Bedarf mit den Menüs vertraut machen.“

Ines fühlte sich versucht, die Augen zu verdrehen: Sie hatte ihr Gedächtnis verloren, nicht ihr ganzes Hirn!

„Falls Sie sich entschließen, eine Ausbildung oder Weiterbildung in Anspruch zu nehmen, können Sie sich diesen Zeitaufwand in der Grundbeschäftigung anrechnen lassen.“

„Ich weiß“, sagte Ines.

Sie erntete einen skeptischen Blick. „Haben Sie diesbezüglich schon etwas im Sinn?“

„Nicht im Moment, nein. Ich wüsste gar nicht, was.“

„Es gibt im Versorgungsamtssystem eine ausführliche Aufstellung aktuell zugelassener Ausbildungsberufe.“

„Ich weiß.“

„Haben Sie mal reingesehen?“

„Ja.“

„Und?“

Ines mahnte sich zur Ruhe. „Ich habe nichts gefunden.“

„Die Berufsbilder sind ausführlich geschildert …“

Langsam stieg Wut in ihr auf. „Ich weiß, ich habe aber nichts gefunden, von dem ich sagen könnte, das wäre was für mich. Ich habe auch nichts gefunden, was ich für mich ausschließen könnte.“ Sie merkte, dass sie lauter wurde, konnte aber nichts dagegen machen. „Ich weiß es einfach nicht!“

„Schon gut, Frau Braun, ich wollte Sie nicht bedrängen“, wiegelte die Dame ab. „Es ist nur … eine recht ungewöhnliche Situation. Ich wollte helfen, nichts weiter.“

Ines lächelte gequält. „Ja. Entschuldigen Sie bitte. Es ist … auch für mich eine ungewöhnliche Situation. Kann ich nun für die Bibliothekskosten einen Zuschuss beantragen?“

„Üblich ist das nicht, Frau Braun, zumal es keinen ersichtlichen Grund gibt, warum Sie nicht das Netz zum Erwerb von Büchern benutzen sollten.“ Sie beugte sich in einer Wohlwollen suggerierenden Geste etwas herüber. „Ich schlage Ihnen etwas vor: Ich werde mich mit Ihren Ärzten in Belfast in Verbindung setzen und mir von ihnen bestätigen lassen, dass Sie die Papierbücher als Reha-Hilfe benutzen. Irgendwas von die Sinne aktivieren oder dergleichen wird da womöglich machbar sein.“

Ines fiel ein Stein vom Herzen. „Das wäre wirklich toll.“

„Ich kann Ihnen aber nicht versprechen, dass es eine unbeschränkte Erstattung gibt. Gerade im Luxusgüterbereich sind die Vorschriften recht streng. Womöglich wird man nur die Bibliotheksgrundgebühr übernehmen oder die Ausleihzahl beschränken …“

„Jeder Cent hilft mir“, versicherte Ines.

Papier. Ines strich darüber und lächelte. Die feine Struktur der Oberfläche, die sie mit ihren noch immer sehr empfindlichen Fingerkuppen spüren konnte, erzeugte ein Gefühl von Absolutheit und Unausweichbarkeit, das wohlig ihren Körper durchdrang. Ein Duft von alter Weisheit mischte sich damit. Ehrfurcht überflutete sie. Ja das war Perfektion!

„Kann ich Ihnen helfen?“, stach die mausige Stimme der Bibliothekarin in diese Andacht.

Ines schüttelte den Kopf. „Nein, ich denke nicht. Ich komme schon zurecht.“

„Was haben Sie sich denn vorgestellt?“, fragte die Bibliothekarin. „Ein bestimmtes Genre vielleicht oder ein Autor?“

„Eigentlich suche ich nur Schmökerstoff“, wich Ines aus. „Ich bin in einer Reha-Phase und habe viel Zeit.“

„Da hab ich was für Sie“, sagte die Bibliothekarin und tippelte davon.

Ines fragte sich, welche Lektüre man in einer Reha-Phase wohl zu lesen hatte, und folgte brav der Frau.

„Hier!“, sie blieb stehen und griff nach einem offensichtlich in Handarbeit gebundenen Wälzer. „Der Wüstenplanet.“ Sie reichte ihn schwungvoll herüber, Ines hätte ihn beim Auffangen beinahe fallen gelassen. Sie schlug das Buch auf. Es roch wundervoll nach altem Papier.

„Das ist ein Klassiker!“, sagte die Bibliothekarin, als müsste sie den Wälzer verteidigen.

„Ich weiß.“

„Ach“, sagte die Bibliothekarin enttäuscht. „Dann kennen Sie es schon.“

Ines schüttelte den Kopf. „Nein. Ich weiß nur, dass es als Klassiker gilt.“

Die Begeisterung kehrte zurück: „Hier drin sind alle acht Bände vereint!“

„Acht?“ Ines hatte das Gefühl, das sei die falsche Zahl.

„Ja, alle acht. Plus das berühmte Essay von Gernot Brachman über die Filme.“

Das sagte Ines nichts. Sie hob eine Braue.

„Das mit der Raumstruktur-Analyse“, half ihr die Bibliothekarin.

Ines hatte plötzlich das Wort „Knoten“ im Kopf. Sie nickte, obwohl es irgendwie keinen Sinn zu ergeben schien. Aber sie kannte das; dass die Worte keinen Sinn zu ergeben schienen. Meist fanden sich wie von selbst weitere Worte dazu und fügten sich ein und bildeten einen Gedanken, der ihr vertraut war. ‚Wüste, Essay, Brachman, Raum, Knoten‘, reihte Ines im Geist aneinander. ‚Planet, berühmt, Raumstruktur, Knoten …‘

„Raumknoten!“, entfuhr es ihr.

„Raumknoten?“, wiederholte die Bibliothekarin irritiert. Sie musterte Ines.

„Ja. Raumknoten. Sagt Ihnen das was?“

„Als Buchtitel?“

„Nein, nur so. Als Wort.“

Die Bibliothekarin begann sichtbar, an Ines’ Verstand zu zweifeln. „Meinen Sie … die Passagen?“

Ines war es gewohnt, so gemustert zu werden. Sie konnte darauf keine Rücksicht nehmen. „Was meinen Sie mit Passagen?“ „

Raumpassagen? Knoten in der Raumstruktur, durch die man reisen kann?“, bot die Bibliothekarin an.

Jetzt hatte Ines die Verbindung. „Ja“, antwortete sie. „Ja das meinte ich. Passagen durch Knoten zu fernen Raumsektoren.“

„Eh …“, machte die Bibliothekarin vorsichtig. „Im Wüstenplanet kommt das aber nicht vor.“

„Nein?“

„Nein. Damals wusste man noch nichts von den Knoten.“

„Ich weiß. Damals sagte man Wurmlöcher. Aber das ist nicht ganz dasselbe, nicht wahr?“

Die Bibliothekarin hob die Schultern.

„Entschuldigen Sie!“, erlöste Ines die Frau. „Sie sind ja kein Astrophysiker.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nehmen Sie nun das Buch?“

„Das Buch? Ach ja das Buch! Ja, ich nehm es mit. Wann brauchen Sie es denn zurück?“

Jetzt war die Bibliothekarin wieder in ihrer Welt. „Vier Wochen sind die übliche Zeit. Danach können Sie es verlängern lassen. Wenn es nicht jemand anderes vorbestellt inzwischen. Aber das passiert mit den Klassikern selten. Da ist übrigens ein Chip im Einband, der erinnert Sie an die Frist.“

„Ahja“, meinte Ines. Ein Chip in einem Bucheinband erschien ihr seltsam, aber es gab Aufregenderes. Raumknotenpassagen zum Beispiel. „Haben Sie auch was über Raumknoten?“, fragte sie.

Die Bibliothekarin neigte den Kopf. „Tut mir leid. Da müssten Sie sich an eine Fachbibliothek wenden.“

Ines bedankte sich.

Die Bibliothekarin scannte noch schnell Kunden- und Buchcode ein und verabschiedete ihre seltsame Kundin. Die ging, das Gewicht des Buches in ihrer Tasche schwer auf der Schulter spürend, zur Shuttlestelle. Der Zehnsitzer wartete noch und ein Fahrgast, der Ines heranhasten sah, hielt die Tür geöffnet. Er half beim Einsteigen, nahm ihr die Tasche ab.

„Huch!“, entfuhr es ihm. „Was haben Sie denn da drin? Ein Raketenmodul?“

Ines lachte. „Nur ein Buch.“

„Eines aus Papier nehme ich an“, erwiderte der Mann und ließ zu, dass sich nun die Shuttletüren schlossen. Rucklos setzte sich das Gefährt in Bewegung. Ines nahm auf einem freien Sessel in der vorderen Reihe Platz. Der Mann – Ines bemerkte einen grünen Schimmer in seinen Augen – reichte ihr ihre Tasche und setzte sich neben sie.

„Wohnen Sie hier in Gegend?“, fragte er.

Ines nickte. „Ja. Am Auwald.“

„Schöne Gegend. Wenn ich mich mal zu Ruhe setze, werd ich mir wohl auch so ein Fleckchen suchen.“

„Und was machen Sie so? Beruflich meine ich.“

„Ich bin Erkunder. Und Sie?“

„Mal sehen“, wich Ines aus.

„Mal sehen?“ Der Mann musterte sie, halb amüsiert, halb erstaunt.

„Naja ich … Ich habe mein Gedächtnis verloren. Ich weiß nicht, was ich mal gemacht habe. Oder wozu ich Talent hätte.“

„Ach Sie sind das! Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht sofort erkannt habe, aber ich hatte erwartet, dass Ines Braun … nun ja … entstellt wäre.“

„Nicht äußerlich, nein. Die Ärzte haben gute Arbeit geleistet.“

„Verzeihen Sie, ich muss mich noch vorstellen: Mein Name ist Jon Donald. Ich kenne Ihre Geschichte aus der Anfrage an die Flotte. Nach dem Bild hätte ich Sie wirklich nicht erkannt.“

„Da waren die Narben noch zu sehen, ich weiß. Die Glättung erfolgte erst danach und ich glaube, mein Gesicht hat sich dadurch auch noch mal ein bisschen verändert.“

Donald antwortete nicht. Ines glaubte zu erkennen, dass er in Gedanken versank, und wollte ihn nicht stören. Also schwieg auch sie.

„Haben Sie inzwischen jemanden gefunden?“, fragte Donald plötzlich.

„… der mich kennt?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Kein Hinweis? Auch in keinem Unfallbericht?“

„Offenbar nicht.“

„Haben Sie sie selbst mal gelesen? Die Berichte, meine ich.“

„Ich kann doch nicht einfach zur Flotte gehen und in die Berichte einsehen!“

„Warum nicht? Den Versuch wäre es wert. Wenn sich niemand an Sie erinnert, vielleicht erinnern Sie sich an etwas aus einem der Berichte. – Oh! Ich muss hier raus!“

Das Shuttle verlangsamte seine Fahrt.

„Wenn Sie im Flottenkommando anfragen“, rief Donald beim Aussteigen, „sagen Sie ruhig, dass die Idee von mir war! Jon Donald. Die wissen dann schon.“

„Danke!“, sagte Ines.

Donald hörte es schon nicht mehr: Die Tür hatte sich hinter ihm geschlossen. Ines bemerkte, wie eine Frau auf Donald zukam und er sie bei den Schultern nahm, um sie zu betrachten. Wahrscheinlich waren die beiden einander lange Zeit nicht begegnet. Ines sah Donald der Frau seinen Arm um die Schultern legen, dann fuhr das Shuttle wieder an und ließ die beiden hinter sich.

***

EINSATZPILOT

(2278)

Jon Donald hatte seinen Arm um das Mädchen gelegt. Sie sah zu ihm auf und fragte: „Du bist Einsatzpilot bei der Raumsicherheit? Wie in den Filmen, ja!?“

Wie in den Filmen?! Mädchen!

Die Filme sind nicht mal die halbe Wahrheit.

Klar, manchmal kommt es schon hart auf hart. Aber meistens ist es nur Kleinarbeit und Routine. Und wenn es wirklich mal brenzlig wird, dann geht es gewöhnlich nicht so gut aus wie in dieser bescheuerten Serie. Wenn ich das schon sehe, wie dieses Superteam da durch den Raum düst und irgendwelche Gefahren im letzten Moment doch noch ausräumt. Ich meine: Klar gibt es auch so was wie Helden. Aber nicht … wie soll ich das sagen? Es ist meist mehr ihr Ruf, weißt du.

McMay und Brown zum Beispiel. Die sind doch eine Legende von Team, oder nicht? Was denkst du, wodurch? Durch Kleinkram! Die machen den Kleinkram eben nur besser als andere, perfekter. Auch Sparik war nichts anderes. Aber dadurch sind sie berühmt geworden. Jedes andere Team hätte das damals genauso machen können. Die beiden machen auch nichts anderes als wir. Sonden einfangen, Wracks absuchen …

Ey du, ich kenne Leute, die sind durch zwanzig, dreißig Geisterschiffe gegangen, ohne dass ihnen die geringste Gefahr begegnet wäre. Aber wenn im Film dieser Mike und sein Partner so ein Wrack auch nur scharf angucken, dann wimmelt es dort nur so von Untieren oder durchgedrehten Robotern! Und sie bringen sie natürlich zur Strecke! Und kriegen auch noch raus, was die Mutation oder den Defekt ausgelöst hat!

Du – ich war vor ein paar Tagen bei einem Einsatz. Ich sag dir, Mädchen: Wir wissen nichts! Wir stehen da und glotzen bloß! Da sind dreizehn Leute spurlos verschwunden, einer ist durchgedreht, die Technik zerlegt sich scheinbar von selbst – und das Einzige, was wir machen können, ist, das Wrack zu sperren! Da steht auch ein Tomasz McMay da und hebt die Schultern. Echt.

Soll ich’s dir erzählen? Ja?

Also: Antipluto, kennst du doch, oder? Die Station. Als damals die Spariksache war, fiel der Sender von Antipluto aus. Einfach so. Da aber gerade keine Besatzung auf der Station war und Sparik alle Kräfte erforderte, kümmerte sich die Raumsicherheit erst mal nicht so darum. Was sollte im Sonnensystem schon groß passieren? Sie schickten bloß ein Team hin, um nachzusehen. Das stellte fest, dass der Sender fachgerecht zerlegt worden war. Das löste zwar einige Verblüffung aus, aber Sparik war zu dem Zeitpunkt eben wichtiger.

Nach Sparik dann hat die Raumsicherheit die Station noch mal prüfen lassen. Ohne Ergebnis. Na – da bauten sie den Sender wieder zusammen und schickten eine Art Wachmannschaft hin. Das ging ein Jahr gut. Plötzlich fiel der Sender wieder aus. Genau zu dem Zeitpunkt, als die Besatzung abgelöst werden sollte. Sowohl die aktuelle als auch die neue Mannschaft meldete sich nicht mehr. Genauso das Team, das die Raumsicherheit daraufhin losschickte, das zweite Einsatzteam, das dritte …

Wir waren das vierte. Zwei Schiffe. McMay und Brown auf dem einen und ich mit einer frischbacknen Pilotin im Quick. Ich habe mich nicht wohlgefühlt dabei, ehrlich. Mein Partner war nach unserem letzten Einsatz noch krank. Das heißt, er hatte Erholungsurlaub. Ich kannte das Mädel überhaupt nicht. Na, ist egal. Sie ist ’n guter Pilot. Wirklich. Hätte ich ihr nie zugetraut.

Ich weiß gar nicht, wie wir darauf gekommen sind. Im Nachhinein finde ich es eigenartig. Irgendwie schienen die anderen drei sich total einig gewesen zu sein, dass der Quick als Erster anlegt. Nicht, dass ich denke, McMay und Brown wollten sich drücken. Ich meine: Ich kenne die beiden. Aber … Weißt du, Katja war gerade von der Schule gekommen. Das war ihr erster größerer Einsatz. Als Einsatzpilot zumindest, sie war ja bei Sparik mit dabei gewesen, aber da war sie … nicht draußen sozusagen. Wenn sie mich gefragt hätten, hätte ich gesagt, dass das Mädchen warten soll. Naja – ich wurde nicht gefragt. Wie gesagt, die drei waren sich einig. Ich weiß zwar bis heute nicht, wann sie sich abgesprochen haben, aber … Na ist ja egal jetzt.

Wir sind jedenfalls rein. Ich vorneweg. Totenstill die Station. Das Notlicht brannte. Es war eigenartig, weißt du. Als ob die Geister der Verschwundenen durch die Gänge schwebten. Klingt kitschig, ich weiß. Aber dieser Vergleich kam mir tatsächlich in den Sinn. Wir haben in die Kabinen gesehen, Chaos überall. Das heißt – in der einen Kabine hatte offenbar einer versucht, aufzuräumen. Und das Eigenartigste war dieser … feine graue Sand überall. Fast wie Staub so fein. Überall in den Kabinen. Auch im Gang davor. Manchmal eher wie ein totengrauer Schleier als wie eine Schicht. Das war beklemmend. Wirklich beklemmend.

Katja fand dann irgendwo eine Schachtel. Sie war voll von diesem Staub. Ein größerer Brocken war dabei. Was heißt Brocken – es sah aus wie … Katja sagte, es sähe aus wie ein Fingerknochen. Da war schon was dran. Aber wie ein Knochen, der mal gebrochen war und ein bisschen schief zusammengewachsen ist. Verstehst du? Naja – und … Ich hab versucht, das Ding aus der Schachtel zu nehmen. Da ist es zerbröckelt. Katja hat die Schachtel eingesteckt. Glaub ich …

Wir sind dann in die Zentrale. Ich dachte, ich spinne! Kannst du dir das vorstellen?: Da hatte jemand sämtliche Pulte abgeschraubt und zerlegt! Der Computer hatte keine Vorderplatten mehr, die Funkanlage bestand nur noch aus ihrem Gerippe und einem sorgfältig davor aufgestapelten Haufen Einzelteile. Auf dem letzten nicht demontierten Sessel … lag ein Häufchen dieses grauen Staubes.

Plötzlich kicherte jemand. Wir fahren herum. Da hockt einer in der Ecke neben der Tür und kichert irre. Katja stürzt zu ihm hin, da springt er auf. Ich denke gleich: Den kennst du doch! Und ich hatte recht: Es war Jan. Wir sind auf die gleiche Schule gegangen, weißt du. Er war total beliebt gewesen. Immer lustig und so. ’n dufter Kumpel. Ich kenne keinen, der ihn nicht irgendwie gemocht hätte.

Und … Da stand er nun. Total irre. Ich meine: Hast du schon mal irre Augen gesehen? Ich werde diese Augen mein Lebtag nicht vergessen …

Jan kicherte erst. Dann guckte er … glücklich, ja. Und er sagte was von: „Ich wusste, dass ihr kommt!“, und: „Ich habe euch gerufen.“ Na – und dann wurde er plötzlich wütend. Er ging auf das Mädchen los. Sie hielt seine Handgelenke fest. Er wollte auf sie einschlagen, weißt du. Er muss … Er war sehr schwach, Katja konnte ihn mühelos halten. Jan fauchte sie an. Ich … ich verstand nicht viel. Er sprach leise. Ich hörte was von Staub und … töten und …

Nein, er sagte: „Warum habt ihr sie ermordet?“ Und dann noch etwas, was ich wieder nicht verstand. Aber es muss … ich weiß nicht. Jedenfalls ließ Katja ihn plötzlich los. Nein, nicht plötzlich. Eher so – weißt du – wie wenn sie von einem Schock gelähmt wäre.

Also Jan machte sich frei von ihr. Er kam zu mir. Ich dachte, jetzt geht er auf mich los. Aber er war schon so erschöpft, dass er vor mir zusammenbrach. Ich kam nicht mehr dazu, ihn festzuhalten. Ich beugte mich runter, sah ihn an. Da war nur Hass in seinem Gesicht. Ich hab’ noch nie so’n Hass gesehen.

„Untiere“, flüsterte Jan. Er wollte es wohl schreien, aber … Dann begann er plötzlich zu betteln. „Wir sind doch Menschen!“, stammelte er. Und: „Wir sind eure Brüder. Tötet uns nicht! Tötet nicht die Erde!“

Ich … streichelte ihn. Er … Jan war wie ein verängstigtes Kind. Er … Es tat ihm gut, glaube ich. Er beruhigte sich.

Katja fühlte seinen Puls. „Normal“, sagte sie. Es klang irgendwie unbeteiligt. Ich sah auf. Ich war wütend auf diese kaltschnäuzige Person. Aber ich … ihr ging’s genauso nah. Irgendwie sah ich es, obwohl sie’s nicht so zeigte.

Dann … Jan war eingeschlafen, er hielt meine Hand fest. Wie ein Kind … Also: Ich hörte dann, dass McMay fragte, was los sei. Katja stand auf, trat ein paar Schritte zurück und erzählte es ihm. Nehme ich jedenfalls an. Sie sprach sehr leise. Ich merkte dann, dass sie mich aufmerksam ansah, drehte mich zu ihr um. Ich glaube, sie hatte gerade überlegt, ob ich noch einsatzfähig bin. Sie schien beruhigt. Sie sagte zu McMay: „Kein Problem. Ihr braucht nicht herzukommen.“

Sie sprach noch weiter, aber Jan war plötzlich aufgewacht. Er sah mich an und lächelte. Ganz normal. Ich weiß nicht warum, aber ich war mir sicher, dass er wieder bei sich war. Er lächelte dieses Lausbubenlächeln, das ich an ihm kannte, weißt du.

„Hey Johnny!“, flüsterte er.

„Hey Jan!“, sagte ich. „Was machst du denn für Sachen?!“ Es sollte munter klingen. Klang es aber nicht.

Jan wurde ernst. Er … Er sagte: „Lass mich reden, Jon! Ich hab’ nicht mehr viel Zeit. Jemand hat die Anlagen demontiert. Es waren nicht die Menschen. Keine Automaten. Als wir herkamen, ging erst Peter rein. Peter …“ Jan machte die Augen zu, so als kämpfe er mit der Erinnerung. Ich höre ihn noch …

„Was war dann?“, hab ich ihn gefragt. Ich wollte nicht drängeln, ich hatte nur Angst, er würde bei diesen Erinnerungen wieder in den Wahnsinn fallen. Jan sammelte sich – ich meine so richtig sammeln. Wie wenn du Körner aufliest. Bloß dass die Körner eben Fakten sind.

Peter hat Jan ständig erzählt, was er gesehen hat. Da waren die Kabinen noch unberührt. Und der Staub lag auf Haufen. Ein oder zwei Haufen pro Kabine. In der Zentrale hat dieser Peter – ich glaube, er hieß Peter van Hoefen. Ich hab mal von ihm gehört …

In der Zentrale müssen bis auf ein, zwei Pulte und die Sessel alle Anlagen demontiert gewesen sein. Jan sagte, Peter hätte plötzlich gestöhnt. „Das ist Zauberei!“, soll er gesagt haben. Und dann schrie er: „Nein! Lasst mich in Ruhe! Das dürft ihr nicht!“ Und dann … Jan sagte, es wäre ein Todesschrei gewesen. Ich … Jan schloss die Augen. Ich … ich rüttelte ihn. Er sollte weiter erzählen. Vielleicht …

Nein, ich glaube, ich dachte nur zu einem Teil daran, dass ihm das helfen würde. Ich wollte einfach wissen, was weiter passierte.

Katja war plötzlich neben mir. Sie redete auf Jan ein, er solle weiterreden. Wir müssten alles wissen. Für Sekunden hatte ich das Gefühl, dass wir uns wie Vandalen benehmen. Jan war krank, total erschöpft, und wir wollten ihn zwingen, all die Schrecken wieder aufleben zu lassen. Aber dann … Wir mussten es ja tun! Es war die einzige Chance zu erfahren, was auf der Station geschehen war!

Naja. Jan kam wieder zu sich. Er sagte, dass Peter … Er hieß nicht van Hoefen. Van Hoefen war einer aus der ersten Besatzung. Jans Partner war Chinese, er hieß Peter Li Chen. Also dieser Peter Li Chen sagte, dass Jan abfliegen sollte. Aber er flog nicht. Er wartete. Irrsinnige Hoffnung, dass sich Chen noch mal meldet. Drei Tage. Dann ist er in die Station gegangen. Da waren die Kabinen … Nein, Jan sagte nicht verwüstet. Verwirbelt sagte er. Es war alles auseinandergebaut. Die Staub… Staubhaufen breitgetreten. Und … und in der Zentrale da hatte es inzwischen die restlichen Pulte erwischt. Auf dem einen Sessel …

Auf dem einen Sessel lag Peters Leiche. Er … Stücke davon. Der Körper. Der rechte Arm und … und der Kopf … der Kopf war halb weg. Jan sagte, dass … dass anstelle der … da hätte Sand gelegen. Grauer Sand. Erst dachte ich, dass Jan wieder durchdreht … aber wir … wir haben …

Jedenfalls hat Jan dann das Schiff durchsucht. Nichts. Nur die Robbis – also die Reparaturautomaten – fand er irgendwo. Auseinandergenommen. Als er in die Zentrale zurückkam, war die … war von Peters Leiche nicht mehr viel übrig. Sand. Er hat …

Jan hat ’ne Probe genommen. Dann wollte er abfliegen. Aber es ging wohl nicht. Und funken …

Weißt du, wir haben uns die Boote angesehen. Überall dasselbe: zerlegte Sender, zerlegte Steuerpulte, freigelegte Bordcomputer. Die Computer waren immer nur aufgeschraubt. Nicht ein Teil rausgenommen. Nur eben die Steuerpulte und die Terminals …

Naja. Und dann hat es Jan wohl erwischt. Er sagte, er habe noch die Finger gesehen. Keine Ahnung, was er damit meinte. Sie hätte nach ihm gegriffen. Und dann hat er nur noch wirres Zeug erzählt. Ich meine … nicht nur inhaltlich. Er sagte keine … keine Sätze mehr … nur noch … zusammenhanglose Worte. Und …

Plötzlich bäumte er sich auf. Er wollte … Er krallte sich bei mir fest, wollte … wollte wohl noch etwas sagen, aber …

Wir wollten ihn mitnehmen, zur Erde. Wir suchten eine Decke oder Plane, damit wir ihn tragen konnten. Wir fanden auf der Station nichts Passendes. Da sind wir in den Quick gestiegen. Ich holte eine Plane und stöberte im Laderaum nach irgendwas, was wir als … Sarg benutzen könnten. Da war noch eine alte Kühlwanne. Die haben wir immer … Egal!

Als ich aus dem Laderaum kam und zur Station ging, sah ich Katja in ihrer Kabine sitzen. Sie war fertig. Ich … Wir einigten uns, dass McMay, Brown und ich in die Station gehen. Wir wollten Kameras montieren, für den Fall, dass diese Finger wiederkommen. Naja. Und wir gingen also und … Jan …

Jan lag noch …

Er lag eben nicht mehr so da wie vorher! Er war … er … hatte überall graue Flecke. Auf dem Gesicht. Und auf dem Overall. Direkt über dem Herzen. Und … ich bin rausgerannt.

Ja, ich bin rausgerannt! Das hätte Jim natürlich nie getan! Der Filmheld hätte geschluckt und … Die hätten’s natürlich rausgekriegt! Ich meine: Was da los war. Im Film. Aber es war kein Film. Verstehst du? Es war keiner. Das war echt. Wirklich und wahrhaftig echt. Ich meine …

Die Kameras funktionieren heute noch. Ich wette, die zeigen immer noch … naja.

Entschuldige, dass ich … dass ich laut geworden bin. Ich wollte dich nicht erschrecken. Es ist nur … Das ist die Realität, verstehst du? Abenteuer … Nein, mit Abenteuer hat das nicht wirklich was zu tun. Nicht auf Dauer jedenfalls.

Weißt du, warum es fast nur junge Leute in der Einsatzflotte gibt? Also ich meine jetzt direkt im Einsatz, nicht in den Amtsetagen. Weil kein Mensch die Kraft hat, das über Jahrzehnte unbeschadet zu überstehen. Und wer doch so abstumpft … ich meine das nicht negativ, sondern wenn einer … damit leben lernt, es wegsteckt, es wegstecken kann … dann schraubst du das Risiko, das du eingehst, immer höher. Bis du’s nicht mehr unter Kontrolle hast.

Das Problem ist das rechtzeitige Aufhören. Aufhören, auch wenn du noch so an der Arbeit hängst. Und du hängst an der Arbeit. Oder du bist fehl am Platz.

Und wenn du aufhörst … Wie unser Ausbilder: Dreißig Jahre aktiver Flugdienst. Einsatzinspektor fast die ganze Zeit. Aber er hat nie etwas davon erzählt. Hat all die „Abenteuer“ regelrecht in sich eingeschlossen. Lustige Sachen, ja. Aber … naja.

Ich erzähle einen Haufen Quatsch, ja? Nimm’s mir nicht übel, Mädchen! Aber manchmal überlegt man schon, ob es das überhaupt alles wert ist.

***

Ines: Versuche

(Dezember 2292)

Raumknoten. Ines schlug das Buch halb gelesen zu. Sie hatte den Wust aus Theorien und Formeln nicht verstanden, nur so viel erfasst, dass sich dabei irgendwie die Raumstrukturen so verbogen und verdrehten, dass sie überlappten. Im Gegensatz zu Wurmlöchern, wo sich die Raumstruktur dehnte, so dass sie schließlich einen Tunnel bildete.

Vielleicht, so überlegte Ines, hatte sie ja an der falschen Stelle gesucht. Der Eberon-Sektor war vielleicht gar nicht der Ort, wo sie verunglückt war. Vielleicht passierte es ja am anderen Ende der Galaxis und die Rettungskapsel geriet dann durch einen Raumknoten nach Eberon.

Wenn das so war – Ines lehnte sich zurück – dann war vielleicht sogar der Zeitraum falsch, in dem sie bisher gesucht hatte. Immerhin gab es Knoten, bei denen die Zeit am Ein- und am Ausgang nicht gleichförmig verlief. So schwer vorstellbar das auch sein mochte, es hatte einige Unglücksfälle gegeben, bei denen Raumtechnik durch diesen Effekt beschädigt worden war.

Was waren das gleich noch mal für Fälle? Ines blätterte in dem Buch. Sie fand nichts Konkretes dazu. Ob sie beim Flottenkommando anfragen sollte? Der letzte Versuch, Einsicht in die Berichte zu bekommen, war nicht sehr ergiebig ausgegangen. Obwohl Ines mehrmals erwähnt hatte, dass Jon Donald sie auf diese Idee gebracht hatte, war dem Archiv-Angestellten gerademal so viel Entgegenkommen zu entlocken gewesen, dass er Brauns Anliegen ja verstünde und er ihr auch weiterhelfen wolle, doch er dürfe nun mal nicht. Er könne über die Herausgabe nicht entscheiden. Das müsse schon Dr. Chang tun. Nein, er könne sie nicht direkt zu Dr. Chang verbinden, der Dienstweg müsse nun mal eingehalten werden und sie als Zivilistin müsse sich nun mal an die Anfragestelle der Raumflottenverwaltung wenden. Nein, er wüsste nicht, warum sie bei der Frage nach „Flottenarchiv“ von ihrem Lokalen System an ihn vermittelt worden sei und nicht an die zuständige Stelle, und nochmal nein, er sei nicht dafür da, seinerseits diesen Kontakt herbeizuführen.

So viel also zu Thema ‚Jon Donald – die wissen dann schon‘. Ines war etwas verärgert gewesen, dass sie sich darauf verlassen hatte und so damit abgeblitzt war. Doch was half es. Sie hatte dann also ein formales Schreiben an die Anfragestelle der Raumflottenverwaltung gesandt. Sie hatte erklärt, dass sie gern in die Berichte einsehen würde und warum es ihr so wichtig war.

Das war vor drei Tagen gewesen.

Die Antwort fand Ines heute Morgen in ihrem Terminal. Sie lautete: „In dem von Ihnen bezeichneten Raumsektor und der von Ihnen angegebenen Zeitspanne gab es keine Vorkommnisse mit Sach- oder Personenschaden. Es wurden keine Personen als vermisst gemeldet und keine Rettungskapseln ausgesetzt. Falls Sie weitere Fragen zu den Vereinigten Raumflotten von Erde und Mars haben …“… blabla blabla blabla. Ines hatte frustriert abgeschaltet.

Jetzt, fünf Stunden später, hockte dieser Frust immer noch in ihr. Andererseits hatte sie kaum eine Wahl, dieser Weg schien der einzige zu sein, an die Berichte zu gelangen. Es sei denn, sie würde es noch einmal direkt im Archiv versuchen. Wenn sie diesen Dr. Chang erreichen und erweichen könnte … Entschlossen loggte sich Ines Braun in das System ein und startete einen dritten Versuch.

Es hatte gefroren. Die Luft war klar, ein eisiger Lack bedeckte alles. Ines hatte die Hände in den Taschen vergraben und genoss mit geschlossenen Augen die prickelnd kalte Luft. Aus der Wohnung drang leise Musik auf die Terrasse. Es roch nach Winter.

Stille lag wie Glas über der Landschaft. Eine winzige Gestalt stapfte langsam am Waldrand entlang, Ines beobachtete sie. Wo sie wohl hin wollte? Vielleicht nach Hause. Ihr gefiel der Gedanke: zu Hause am Waldrand. Einen Moment lang fragte sie sich, ob ihr Zuhause an einem Waldrand gelegen hatte, aber es stellte sich kein vertrautes Gefühl dazu bei ihr ein.

Ines hatte gelernt, den Unterschied zwischen neuen und alten Gefühlen zu erkennen. Manchmal flammte auch ein Bild auf, kurz und unfassbar. Aber immerhin.

Nicht immer war so ein Déjà-vu hilfreich. Wenn es zum Beispiel beim Ansehen einer alten Spielfilmserie auftauchte. „Einsatzflotte Raumsicherheit“ – wahrscheinlich hatte Ines die Serie früher regelmäßig gesehen. Die Darsteller schienen ihr vertraut. Manchmal auch Sequenzen der Handlung. Wie neulich die Sache mit dieser Marsmühle. Blödes Wort. Aber das gab es wirklich. Sowohl das Wort als auch diese Gegend auf dem Mars. In den Anfangszeiten der Besiedlung war jene Ebene gefürchtet der Staubstürme wegen, die dort tobten. Völlig unabsehbar war ihr Auftauchen gewesen, die stärksten zerrieben buchstäblich alles Erfassbare zu Grieß.

Doch das war lange her. Vor knapp 20 Jahren war der letzte Sturm gemeldet worden. Da war sie – Ines rechnete nach – so um die 15 Jahre alt gewesen. Jedenfalls von ihrem jetzigen biologischen Alter aus geschlossen. Damals also gab es die Serie schon. Vielleicht entstand sie damals. In dieser Marsmühlen-Episode waren die Schauspieler schätzungsweise Mitte zwanzig, Anfang dreißig. Als sie – Ines – 20 gewesen sein muss, konnten die Leute also so um die vierzig gewesen sein. Dieser Philip Mikels zum Beispiel. Irgendwie war der Gedanke angenehm. Ines wusste nicht, warum. Vielleicht hatte sie als junges Ding für Mikels geschwärmt und damals auch schon solche Überlegungen zum Alter angestellt. Möglich war es. Immerhin hatte sie ohne nachzudenken seine Musik in ihr Medienarchiv geladen. Obwohl er gar nicht so hervorragend sang. Auch die Musik von Phil junior, Mikels Sohn, hatte sie in ihr Archiv geholt. Er war ein begnadeter Musiker – Klavier, Saxofon, Blaronett: Er brillierte mit jedem dieser Instrumente. Ines fühlte sich davon berührt, und dies war ganz eindeutig ein altes Gefühl.

Ein Schrillen unterbrach ihre Betrachtungen: Jemand war an der Wohnungstür. Ines ging öffnen.

„Dr. Chang!“, entfuhr es ihr. „Was tun Sie denn hier? So wörtlich hatte ich Ihr Angebot, sich mit mir zu unterhalten, wirklich nicht genommen!“

Der kleine hagere Mann mit dem hochgezwirbelten Schnauzbart und den schmalen Augen lächelte entschuldigend. „Verzeihen Sie einem alten Psychopeter, doch ich war neugierig. Wenn ich störe, weisen Sie mich hemmungslos ab!“

„Nein“, beteuerte Ines, von der merkwürdigen Ausdrucksweise irritiert. „Sie stören nicht. Kommen Sie ruhig rein.“ Sie öffnete die Tür einladend weit und Chang trat ein, nein: Er tippelte herein. Ines hob hinter seinem Rücken die Brauen – am Bildschirm hatte Chang eher grob und laut gewirkt.

„Wird es Ihnen gerecht, wenn ich die deutsche Sprache benutze?“, fragte Chang.

„Was? Oh ja. Sicher.“ Ines schloss die Tür. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass Chang nicht englisch gesprochen hatte. Sie lotste ihn ins Wohnzimmer und bat ihn mit einer Geste, Platz zu nehmen. „Kann ich Ihnen etwas anbieten?“, erkundigte sie sich.

„Nein, jedoch danke“, lehnte Chang mit einer unfertig wirkenden Verbeugung ab. „Ich habe die Absicht, mich nicht lange aufzuhalten bei Ihnen, weil mir ein Termin im Hals sitzt. Sagt man das so? Im Hals sitzen?“, fragte er, als er Ines lächeln sah.

Sie schüttelte den Kopf. „Im Nacken. Man sagt, es sitzt einem etwas im Nacken. Ich wusste gar nicht, dass Sie deutsch sprechen.“

„Spärlich nur“, winkte Chang ab, zog seine dicke Winterjacke aus und setzte sich lächelnd in einen der Sessel. Besser gesagt: Er hockte sich behutsam auf die vordere Sesselkante. Ines legte die Jacke über eine Stuhllehne. „Meine Frau“, erklärte Chang derweilen, „liebte deutsche Literatur. Als ich sie umwarb, gedachte ich sie mit diesen Kenntnissen zu beeindrucken. Ich glaubte nicht, dass ich die Sprache je wieder würde sinnig nutzen können.“

Ines musterte ihn. „Woher wissen Sie, dass ich deutsch spreche?“

„Des Namens wegen in vorderster Sicht. Ich vermute jedoch sicher, dass jeder Psychologe dies weiß“, lächelte Chang. „Ihr Fall, Frau Braun, ist ein sehr interessanter. Linguisten unter meinen Bekannten vermuten, dass ihre Russisch-Kenntnisse die primären sind. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Russen Deutsch erlernen, während gegenteilig eine Art psychologischer Sperre zu existieren den Anschein hat. Ein sehr bizarres Phänomen.“

„In der Tat“, bestätigte Ines, obwohl sie diese These heute zum ersten Mal hörte. Wahrscheinlich sogar in beiden Leben.

„Ist Ihre Mentalität russisch?“, fragte Chang lächelnd.

„Ich habe keine Ahnung, wie die russische Mentalität sein soll.“

„Melancholisch“, erwiderte Chang, noch immer lächelnd.

Ines drohte, vom bloßen Hinsehen einen Krampf im Gesicht zu kriegen. „Ich bin nicht melancholisch“, sagte sie. „Nein. Ganz bestimmt nicht. Und ich träume auch in Deutsch. Ich bin sicher nicht in Russland aufgewachsen.“

„Wie ungewöhnlich“, meinte Chang. Langsam begann sich sein Lächeln aufzulösen. „Die meisten Menschen träumen sprachlos, auch wenn sie das zu bestreiten neigen.“

„Ah ja? Das wusste ich gar nicht.“

„Dann sind Sie in Ihrem früheren Leben sicher kein Psychopeter gewesen. Sagt man das so: Psychopeter?“

„Psychofritze“, korrigierte Ines. „Oder Heini. Aber das sind eigentlich eher abfällige Formulierungen.“

„Psychoheini“, wiederholte Chang, „wie bizarr. Jedoch möchte ich nicht plaudern, wenn es auch angenehm ist, dies mit Ihnen zu unternehmen. Ich bedachte mir ihre Überlegungen, die Sie Bezug nehmend der Raumknoten sagten, und ermittelte einige Vorfälle, die Interesse bei Ihnen hervorrufen könnten.“ Er kramte in seiner Jacketttasche und holte eine Codecard heraus. Er reichte sie Ines mit einer winzigen Verbeugung. Reflexartig griff sie danach. „Bitte schön, Frau Braun“, sagte Chang. „Dies sind die Zugangsverschlüsselungen, die es Ihnen erlauben werden, die zu jenen erwähnten Vorfällen gehörenden Berichte zu studieren.“

Ines starrte die Plastikkarte an. Dies konnte der Schlüssel zu ihrem Leben sein. Dafür war die Card beängstigend leicht. Vielleicht brachte sie ja gar nicht, was Ines von ihr erhoffte. Die Berichte hatte die Flotte sicher schon durchgesehen, als sie Dr. Sherings Anfragen geprüft hatten. Andererseits hatte Jon Donald vielleicht recht und es kam nicht drauf an, dass jemand sie erkannte, sondern dass jemand ihr vertraut erschien. Jemand oder etwas. Irgendwas …

***

VIERZEHN SEKUNDEN

31. Teil aus der Serie „Einsatzflotte Raumsicherheit“

James Thomson (genannt Jim): Allan Smith

Michael Lown (genannt Mike): Philip Mikels

Parsa Enders: Annely Weller

Alexa Liso: Jana Hershey

David Gill: Jorge Sandel

Tonio McLaughlin: Lew Mellentin

Richard Herrera: Maurice Dulbecco

Oleg Gorschkow (Inspektor): Ros Arber

Nicola Pasti (Vizechef der Raumfahrtbehörde): Erich Leffler

Theodora (seine Sekretärin): Francis Kulkarni

Carlos Mach: Rudolpho Vallejo

Nachrichtensprecher

Jemand 1 … 5

Felix

junger Mann

Drehbuch: Mario Copton

Vorspann

Bild: Weltall. Das Schnellboot 15 – genannt„Quick“ – befindet sich auf dem Rückflug von einem Einsatz zur Basis. Dieses Bild wird zum Bild auf einem Schirm der Basis der Einsatzflotte. Parsa Enders sitzt am zugehörigen Pult. Sie betätigt die Ruftaste. Der Dialog erfolgt zum Teil über die Lautsprecher.

Parsa Enders: Basis zwei ruft Quick! Hallo Michael! Hallo Jim! Quick bitte melden!

Bild: Zentrale des Quick. Jim und Mike in den Pilotensesseln. Sie grinsen sich an, Jim geht auf Sendung.

James Thomson (mit tief verstellter Stimme): Hallo, hallo! Hier spricht der Proxima Centaurus! Unser Gruß gilt allen schönen Terranerinnen! (Er hebt zu Mike hin den Daumen.)

Bild: Basis. Auf dem Schirm noch das anfliegende Schiff.

Parsa Enders: Lass den Quatsch, Jim! Ihr seid im Dienst!

James Thomson (betont ernst): Quick an Basis zwei! Piloten Thomson und Lown vom Routineflug Route achtzehn zurück. Keine besonderen Vorkommnisse.

Michael Lown: Außer intensivem Magenknurren seit zehn Minuten beim Piloten Lown. Und wenn die Diensthabende sich nicht bereit erklärt, sofort nach der Landung mit ihm essen zu gehen, wird er prompt verhungern.

Parsa Enders (lachend): Die Diensthabende lässt sich im Hinblick auf die Gesundheit des Piloten überreden.

Bild: Quickzentrale.

Michael Lown: Man ist zu ewigem Dank verpflichtet.

James Thomson: Darf ich mir auch etwas wünschen?

Parsa Enders: Zum Abendbrot bin ich schon verabredet.

James Thomson: Es ist viel einfacher – obwohl du für einen so charmanten Typen wie mich ruhig mal jemanden versetzen könntest. Aber wenn du uns die Nachrichten hochstellst, sei dir noch einmal verziehen.

Parsa Enders: Die Nachrichten? Hey Jim! Du wirst ja immer anspruchsloser!

James Thomson: Nach der Route achtzehn ist das kein Wunder. Da freut man sich schon über die Neuigkeiten der offiziellen Nachrichtensendungen.

Parsa Enders: Na gut. Aber nur, wenn ihr mich nicht verpetzt!

James Thomson: Nie im Leben! Ich schwöre! Und du bist heute Abend wirklich nicht mehr frei?

Parsa Enders: Schweigt stille, plaudert nicht! Lauscht lieber den Nachrichten! Ich glaube nämlich, wir werden damit noch zu tun bekommen.

Bild: Quickzentrale. Auf dem Nebenbildschirm erscheint der Nachrichtensprecher. Jim setzt sich bequemer. Auch Mike dreht den Sessel mehr zum Nebenschirm.

Sprecher: … In den gestrigen Abendstunden ereignete sich ein tragisches Unglück. Aus bisher noch nicht geklärten Gründen verlor der Pilot des Frachters M14-3 die Kontrolle über das Schiff …

Mike setzt sich gerade hin und hört angestrengt zu.

Sprecher: … und stürzte unweit des Kosmodroms MB8 beim Landemanöver ab.

Bild: Der Nebenbildschirm zeigt Filmaufnahmen des Absturzes: Der Frachter nähert sich scheinbar normal der Oberfläche, bremst aber nicht genug ab und explodiert beim Aufprall hinter einer Hügelkette. Mikes Gesicht versteinert. Zurück zum Sprecher.

Sprecher: Der Pilot Johannes Eigen und die beiden Passagiere, Sadja Wilkins und Michail Welichow, konnten sich nicht retten. Andere Personen kamen nicht zu Schaden. Die unerwartet geringen Sachschäden an der Einrichtung des Kosmodroms sind weitgehend behoben. Die Inspektion Raumsicherheit hat unmittelbar nach dem Unglück die Untersuchungen begonnen. Bisher blieben die Nachforschungen erfolglos.

Titelsequenz und Titelmusik

1

Bild: Herreras Büro. Das gesamte Team ist versammelt. Mike steht am Fenster und blickt hinaus, ohne etwas zu sehen. Untertitel: „Die nachfolgende Episode beruht auf wahren Ereignissen.“

Richard Herrera (über seine Papiere gebeugt): Die Inspektion hat uns den Fall M14-3 übergeben. Sie schließt menschliches Versagen nicht aus.

Michael Lown (herumfahrend): Blödsinn!

Richard Herrera (sieht nur kurz zu ihm auf.)

Michael Lown (geht ein paar Schritte hin und her, um seiner Erregung Herr zu werden, die Hände tief in den Taschen vergraben): Ich kannte Johannes Eigen. Er war das Ideal unseres Lehrganges. Nicht nur unseres. Er … war der beste Pilot, den ich kannte. Johnny ist einfach … (Mike bleibt stehen und sucht nach Worten. Er nimmt dabei die Hände aus den Taschen, hebt sie leicht an.) Wisst ihr … er war … wie extra für diesen Job gemacht. Er … hat nie überlegen müssen. Er wusste einfach, wo welche Probleme auftreten können und wie sie geklärt werden müssen. Und das war immer optimal. Keine … keine provisorischen Sachen. Er hat das Schiff und den Raum einfach im Gefühl gehabt. Versteht ihr? Johnny und … und so ein bekloppter Fehler wie die falsche Geschwindigkeit … das geht einfach nicht zusammen!

James Thomson: Vielleicht hat er das Schiff gar nicht gesteuert.

Richard Herrera (kühl): Er hat es gesteuert.

James Thomson: Gab es ein Notsignal vor der Landung?

Richard Herrera (schüttelt andeutungsweise den Kopf.)

Michael Lown: Aber es muss …!

Richard Herrera (ihn unterbrechend): Sie und Thomson fliegen zum Kosmodrom auf den Mars. Enders und Liso übernehmen die Zusammenarbeit mit der Inspektion. Gill und McLaughlin arbeiten an Erik 20 weiter. Die ersten Berichte erwarte ich in genau drei Stunden.

Alexa erhebt sich als Erste. Ihr folgt Parsa, danach David, Tonio und Mike. Als Jim gehen will, hält ihn Herrera zurück.

Richard Herrera: Passen Sie auf ihn auf! Johannes Eigen war sein Wahlbruder.

2

Bild: Der Quick ist eben im Kosmodrom MB8 gelandet; Mike und Jim steigen aus. Sie werden von einem Mitglied der Inspektion, Oleg Gorschkow, empfangen.

Oleg Gorschkow: Willkommen! (Er reicht beiden die Hand.) Ich zeige Ihnen Ihre Unterkunft. Sie ist zwar nicht gerade komfortabel, liegt aber schön zentral. Sie können sich dort erst mal erfrischen.

James Thomson: Danke!

Michael Lown: Wir würden lieber sofort anfangen.

Oleg Gorschkow: Gut! Wie Sie wünschen. Gehen wir also gleich ins Büro.

Bild: Ein kleines, unordentlich wirkendes Büro. Gorschkow am Terminal des Computers. Jim und Mike hinter ihm, ihm über die Schulter zum Bildschirm blickend. Auf dem Schirm die Bilder vom Absturz im Zeitlupentempo. Rechts oben läuft die Zeit mit.

Oleg Gorschkow: Hier kam die letzte vorschriftsmäßige Meldung. Alles in Ordnung bis dahin. Hier meldete das Kosmodrom zum ersten Mal eine zu hohe Annäherungsgeschwindigkeit. … Hier wird im Kosmodrom Alarm ausgelöst. Es sah nach Kollision mit dem Hauptgebäude aus. Jetzt erhöht sich der Bremsschub schlagartig, sehen Sie? Das müssen fast 3 g über normal gewesen sein. Die Kollision wurde dadurch verhindert, weil sich der Kurs änderte. Wir haben ständig den Laster angerufen – keine Antwort. Hier … jetzt genau steigt der Bremsschub nochmal: 10 g. Aber … (Gorschkow hebt die Schultern) … der Laster war schon nicht mehr zu halten. Zum Glück kam er durch den weiteren Schub so aus der Bahn, dass er nicht im Hafen niederging. Hier, diese Staubwolke, sehen Sie? Das Schiff ist höchstwahrscheinlich in der Mühle niedergegangen. Vielleicht ist es sogar gleich von einer Säule erwischt worden.

James Thomson: Mühle? Säule? Wovon reden Sie?

Oleg Gorschkow (dreht sich zu Jim und Mike um): Die Mühle ist das hinterlistigste Stück Mars, das ich kenne. Ehrlich! Auf den ersten Blick sieht es aus wie eine Pulversandwüste. Wunderbar eben. Keine Magnet-, Funk- und sonstigen Anomalien. Mit einer Ausnahme: die Säulen. (Gorschkow steht auf, kramt von seinem Schreibtisch eine Karte von der Umgebung des Kosmodroms hervor.) Hier, das ist sie. Scharf begrenzt von einem Gebirgszug im Norden und an den anderen Seiten von diesem Hügelhalbring. Er ist nicht hoch. Trotzdem tanzt nie eine Säule darüber hinweg. Diese Säulen sind … Wirbelstürme. So ’ne Art Windhosen. Sie entstehen von einer Sekunde zur anderen an irgendeinem beliebigen Ort der Mühle und fallen genauso plötzlich irgendwann wieder in sich zusammen. Aber in diesen 40, 50, 60 Minuten zermahlen sie erbarmungslos alles, was sie finden: Steine, Sonden, Laster, Menschen. Was übrig bleibt, ist höchstens faustgroß. Bis zum nächsten Sturm, wo es dann restlos zerpulvert wird. Auf Korngrößen von genau null Komma sechs bis null Komma acht eins Millimeter. Egal welches Material. Wie sie das machen, ist unklar. Wir haben Testsonden losgeschickt: Das Letzte, was wir von ihnen hören, ist eine plötzliche Erhöhung des Staubanteils der Luft. Referenzsonden melden, dass die Sonde nach dem Sendeausfall noch etwa fünf, sechs Minuten lang herumgewirbelt wird und dabei in der Säule hochsteigt. Auf acht Meter genau. Egal wie schwer die Sonde ist. Dort beginnt sie dann zu zerfallen. Das ist ein wirklich imposantes Bild! Die Sonde löst sich innerhalb von fünf Sekunden in ihre Bestandteile auf, die dann wiederum nach vier, fünf Sekunden zerbröseln. Aquarien mit Fischen und Algen übrigens steigen vorher auf neun Meter auf. Kleinsäuger auf neuneinhalb Meter. Die Hunde und Affen lösten sich in zehneinhalb Meter Höhe auf. Erst ein Sammelsurium von Körperteilen, dann faustgroße Gewebebrocken, die durch Wasserentzug schrumpfen, dann Bröckchen … (Gorschkow schluckt krampfhaft, räuspert sich.) Seien Sie froh, dass Sie das nie gesehen haben!

Michael Lown: Und die … Referenzsonden?

Oleg Gorschkow: Nichts. (Er lacht hart auf.) Normale Luft außerhalb der Säule, kein Magnetfeld, keine Strahlung. Nichts.

James Thomson: Haben die Säulen irgendeinen Einfluss auf technische Vorgänge?

Oleg Gorschkow: Einen zerstörerischen!

James Thomson: Ich meine … irgendeine Fernwirkung? Irgendwelche Anomalien in den Referenzsonden? Oder der technischen Einrichtung des Kosmodroms?

Oleg Gorschkow (kopfschüttelnd): Die Säule beeinflusst nicht mal Sonden in ihrer unmittelbaren Nähe. Solange sie außerhalb des Soges bleiben.

Michael Lown: Und andere Störungen? Magnetstürme, Strahlen …?

Oleg Gorschkow (ungehalten): Mann! Glauben Sie, wir hätten nicht wie die Irren nach so was gesucht? Es geht schließlich nicht nur um irgendeinen Laster, sondern um die Sicherheit der gesamten Basis!

James Thomson (hält Mike, der aufbrausen will, zurück): Ist schon gut, war ja nur ’ne Frage! Haben Sie nach Trümmern gesucht?

Oleg Gorschkow (lacht böse): Trümmer? In der Mühle?! Mann, hast du nicht zugehört?!

James Thomson (Mike zuvorkommend): Reg’ dich ab! Könnte doch sein! Wir müssen schließlich auch irgendwo anfangen!

Oleg Gorschkow (sich mühsam beherrschend): Tut mir leid! Aber … Wir rotieren seit dem Absturz pausenlos. Wie gesagt, es geht ja schließlich um das Kosmodrom! Wir haben über Satellit gesucht. Es gibt keine Trümmer. Die Säulen haben gründlich gearbeitet. Metall- und Kunststoffgrieß. Null Komma sechs bis null Komma acht Millimeter.

James Thomson: Kann man die Aufnahmen sehen?

Oleg Gorschkow: Sie können. Natürlich. Aber ich sage es gleich: Es bringt nichts.

Michael Lown: Trotzdem! Und mich würde außerdem der Funkverkehr während des gesamten Anfluges interessieren.

Oleg Gorschkow (sieht aus, als verschlucke er eine Bemerkung vom Kaliber „Arschloch“. Er nickt nur.): Wie die Herren wünschen! (Gorschkow ruft eine Mitarbeiterin herein.) Carla, die Herren Einsatzinspektoren möchten das gesamte Material über M14-3 einsehen. (zu Mike und Jim:) Wenn Sie etwas essen wollen, müssen Sie es sich jetzt bestellen. Die Küche hat nämlich etwas gegen Sonderschichten mitten in der Nacht. (Er geht lautstark.)

Carla bringt einen dicken Ordner und drei Filmträger.

3

Bild: Ein Büro der Raumfahrtbehörde. Der Vizechef Nicola Pasti schwitzt sichtlich. Alexa versucht, mit ihm zu sprechen, wird aber ständig unterbrochen.

Alexa Liso: Und Sie haben Johannes Eigen selbst vorgeschlagen.

Nicola Pasti: Was heißt vorgeschlagen?! Er war frei und die Fracht eilig.

Alexa Liso: Und die …

Die Tür geht auf, Jemand 1 kommt.

Jemand 1: Nicki, entschuldige, aber ich brauche dringend dein Amen zu dem Beschluss von gestern.

Nicola Pasti: Zu welchem?

Jemand 1: Dem über die Zusatzbojen.

Nicola Pasti: Ich hab doch gesagt, dass ich es gut finde.

Jemand 1: Jaa! Aber du musst noch unterschreiben. Hier!

Nicola Pasti (überfliegt den gereichten Zettel, unterschreibt.)

Jemand 1 (geht zur Tür, ruft zurück): Also noch mal: Entschuldigung, junge Frau! (geht)

Alexa Liso: Die Passagiere. Ich meine, ob die auch eilig zum Mars mussten.

Nicola Pasti: Welichow ja. Er gehörte sozusagen zur Fracht. Das waren ein paar …

Die Tür geht auf und Jemand 2 stürzt herein. Als er Alexa sieht, zieht er erschrocken den Kopf ein und geht, Entschuldigungen murmelnd, hinaus.