Tote Träume - Petra Ivanov - E-Book

Tote Träume E-Book

Petra Ivanov

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  • Herausgeber: Unionsverlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Nach einem Brand in einer Zürcher Asylunterkunft wird der Sudanese Thok Lado tot aufgefunden. Erste Untersuchungen ergeben, dass der junge Mann bereits vor dem Ausbruch des Feuers nicht mehr am Leben war. Bezirksanwältin Regina Flint und Kriminalpolizist Bruno Cavalli tappen lange im Dunkeln auf der Suche nach dem Mordmotiv. Während Cavalli den Täter über das Opfer zu ermitteln meint, verlangt Flint, da anzusetzen, wo die ersten Spuren hinführten: zum Pfarrhaus. Dort gehen einige als Ausländerhasser bekannte Jugendliche ein und aus.

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Seitenzahl: 458

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Über dieses Buch

Nach einem Brand in einer Zürcher Asylunterkunft wird der Sudanese Thok Lado tot aufgefunden. Während Kriminalpolizist Bruno Cavalli den Täter über das Opfer zu ermitteln meint, verlangt Bezirksanwältin Regina Flint, da anzusetzen, wo die ersten Spuren hinführten: zum Pfarrhaus. Dort gehen einige als Ausländerhasser bekannte Jugendliche ein und aus.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin sowie Journalistin. Ihr Werk umfasst zahlreiche Kriminalromane, Jugendbücher und Kurzgeschichten.

Zur Webseite von Petra Ivanov.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Petra Ivanov

Tote Träume

Flint und Cavalli ermitteln gegen die Brandstifter

Kriminalroman

Ein Fall für Flint und Cavalli (2)

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Die Erstausgabe erschien 2006 im Appenzeller Verlag, Schwellbrunn.

Für die vorliegende Fassung hat die Autorin den Text 2017 überarbeitet.

© by Petra Ivanov 2006

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Jeremiah Deasey

Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz

ISBN 978-3-293-30639-4

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 22.09.2022, 21:12h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

TOTE TRÄUME

Prolog1 – Regina Flint musterte den gelben Strich. Sie trat …2 – Das feierliche Glockengeläute forderte die Menschen unüberhörbar auf …3 – Cavalli betrat erst kurz nach halb acht das …4 – Hätte der Häuptling seine krumme Nase nicht noch …5 – Beethovens Klaviersonate Nr. 26 weckte Regina um Viertel …6 – Cavalli verabschiedete sich von dem Pressesprecher und dachte …7 – Melchior Fontana spielte gedankenversunken mit einem bunt bemalten …8 – Rollschuhe oder Barbiepuppe? Pilecki stand in der Spielwarenabteilung …9 – Pilecki ging Cavallis Unterlagen noch einmal durch …10 – Regina trug alle Zahlen in eine Excel-Tabelle ein …11 – Regina bestellte noch eine Tasse grünen Tee und …12 – Er stand auf und ging zur Spüle …13 – Pfiffe empfingen die Spieler, als sie auf den …14 – Als Cavalli um acht Uhr vor Meyers Wohnung …15 – Um acht hatte Pilecki die Ermittlergruppe um sich …16 – Führen irgendwelche Spuren ins Internet? Zum Beispiel in …17 – Pilecki betrachtete sich im Spiegel. Was er sah …18 – Timon lehnte sich im Stuhl zurück und lächelte …19 – Cavalli hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Es zog …20 – Cavalli atmete den ersten Sonnenstrahl ein, der in …21 – Die Aussicht auf einen Durchbruch hob die Stimmung …22 – Cavalli stand um halb sieben vor dem Institut …23 – Cavalli las das Protokoll sorgfältig durch. Pilecki stand …24 – Regina las das Protokoll der Einvernahme sorgfältig durch …

Mehr über dieses Buch

Über Petra Ivanov

Petra Ivanov: »Meine Figuren sind lebendig. Wenn ich nicht schreibe, verliere ich denn Kontakt zu ihnen.«

Petra Ivanov: »Mein Weltbild hat sich zum Besseren verändert, seit ich Krimis schreibe.«

Mitra Devi: Ein ganz und gar subjektives Porträt von Petra Ivanov

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Für Jonathan,Aljoscha und Fabian

»Ich dachte immer, wenn man Ausländerrichtig kennenlernt, werden alle Vorurteile bestätigt.Aber es ist genau umgekehrt. Man merkt,dass sie ganz normale Menschen sind.«

Jugendlicher in Oberdiessbach

Prolog

Das Feuer brach explosionsartig aus. Die Flammen eilten über den Holzboden und kletterten die staubigen Vorhänge hoch. Dort zögerten sie kurz und leckten am Verputz der Decke. Protestierend färbte sie sich bräunlich und bekam kleine Risse. Hungrig suchten die Flammen Nahrung. Sie verschlangen Holzleisten, Zeitungen, machten sich am Radio zu schaffen, eroberten Kartonschachteln und knabberten am Plastikstuhl. Die Plastikmasse zog sich zusammen und ballte sich zu einem Klumpen. Schwarzer Rauch füllte den Raum.

Das Feuer wurde gieriger. Vergnügt knisterte es, gab ab und zu ein überraschtes Knacken von sich, wenn es unerwartet auf Widerstand traf. Orangefarbene und gelbe Flammen tanzten über die Wände, schossen in die Höhe. Sie machten nicht halt vor dem Fuß, der leblos über den Rand des Sofas baumelte. Hemmungslos züngelten sie am Fleisch, wickelten sich um die Zehen und krochen das Bein hoch. Feine Blasen bildeten sich auf der dunklen Haut. Wo sie aufplatzten, zeigte sich dunkelrotes Fleisch.

Er beobachtete den zerstörerischen Pfad der Flammen. Versuchte, sich abzuwenden. Es gelang ihm nicht. Erschüttert und fasziniert zugleich starrte er auf das hell erleuchtete Gebäude. Das Feuer besaß eine eigene Seele. Er begriff nicht, dass er dieses Monster herbeigerufen hatte. Plötzlich hörte er einen dumpfen Schrei. Erschrocken fuhr er zusammen. Am Fenster im oberen Stock erkannte er die Umrisse einer Frau. Sie presste ihre Hand gegen die Scheibe. Er spürte auf seiner Brust die Wärme, die von der Handfläche ausging. Er rang nach Luft. Starrte in das Weiß ihrer Augen, zwei helle Punkte im schwarzen Gesicht, und suchte Halt an einem Baumstamm, wo er sich gegen die raue Rinde fallen ließ. Der Rauch trübte die Scheibe. Die Frau verschwand hinter dem Ruß. Die Rinde löste sich unter seinem klammen Griff, klebte an seiner feuchten Haut. Er lief in den Wald, entsetzt über seine Tat, mit der er einen Schlussstrich hatte ziehen wollen. Stattdessen hatte er einen weiteren Albtraum ausgelöst.

1

Regina Flint musterte den gelben Strich. Sie trat einen Schritt zurück und kniff die Augen zusammen. Die Linie mündete in eine orangefarbene Fläche, die zu satt wirkte. Regina tauchte den Pinsel ins Zinnoberrot und fügte einige Tupfer hinzu. Die hitzigen Farben spiegelten ihren Gemütszustand. Die letzten Monate waren hektisch gewesen. Selten hatte sie es geschafft, vor zwanzig Uhr die Bezirksanwaltschaft zu verlassen. Eine Einvernahme reihte sich an die andere, zeitraubende Abklärungen füllten die verbleibende Zeit. Berichte und Protokolle verfasste sie oft erst abends. Bis zur Neuorganisation der Untersuchungs- und Anklagebehörden, von der sie sich eine Entlastung erhoffte, musste sie sich noch ein halbes Jahr gedulden.

Mit einer geübten Bewegung mischte sie dem Rot etwas Kadmiumorange bei und nahm ihr Werk in Augenschein. Sie genoss es, beim Malen ihre Gedanken auszuschalten. Viel zu selten nahm sie sich für ihr Hobby Zeit. Meistens erlag sie der Versuchung, zuerst ihre unerledigten Fälle abzuschließen, um danach in Ruhe entspannen zu können. Aber es wurden nie weniger. So war sie am Abend zu erschöpft, um den Pinsel in die Hand zu nehmen.

Als sie nach dem Zinnoberrot griff, läutete das Bereitschafts-Handy. Regina legte die Tube auf den Tisch zurück. Nicht heute, dachte sie. Sie wollte den Samstagabend mit dem EM-Spiel Holland-Tschechien ausklingen lassen und früh zu Bett gehen.

Die Notrufzentrale meldete einen Brand in einer Asylunterkunft in Zürich-Witikon. Resigniert rief Regina ein Taxi, schnappte ihren Dienstkoffer und eilte aus dem Haus.

Der erste Löschzug war schon vor Ort, als sie eintraf. Das brennende Haus befand sich am Waldrand, die schmale Anfahrtsstraße bot kaum Platz für die mächtigen Tanklöschfahrzeuge. Die Autodrehleiter hatte sich einen Weg über die Wiese gebahnt und stand schief im Gras. Ein Rohrführer rannte an Regina vorbei und rief dem Atemschutztrupp etwas zu. Wie farbige Zungen schossen Flammen aus den Fenstern. Hinter den Absperrbändern der Stadtpolizei hatten sich bereits Schaulustige zusammengefunden.

»Manesse Zentrale an Kommando zwei«, knisterte ein Funkgerät. Der Rettungsoffizier – sie kannte Gion Janett von früheren Bränden – eilte an Regina vorbei und hob die Hand zum Gruß. Sie hörte ihn »Großereignis« und »zweiter Löschzug« sagen. Zwei Feuerwehrmänner trugen eine weitere Hochdruckleitung über die Wiese. Wo das Wasser auf die Flammen traf, entstand eine dichte Dampfwolke.

Regina hielt nach dem Einsatzleiter der Kantonspolizei Ausschau. Der Wind drehte, und eine schwarze Rauchwolke kam auf sie zu. Hustend eilte sie ums Gebäude. In der Ferne hörte sie die Sirenen des zweiten Löschzugs. Hinter dem Haus befand sich ein kleiner Garten. Zwischen den unreifen Tomaten stand Janett und wies den Truppführer auf der Drehleiter an. Einige Meter hinter ihm beobachtete Bruno Cavalli das Geschehen.

Als Regina den Polizisten erblickte, blieb sie abrupt stehen. Trotz der Hitze war ihr, als sei sie in kaltes Wasser getaucht. Cavalli hatte sie bemerkt. Er musterte sie von Weitem und machte keine Anstalten, auf sie zuzugehen. In seinen dunklen Augen sah sie einen Anflug von Unsicherheit.

»Was machst du hier?« Regina konnte ihre Freude nicht verbergen. Cavalli lächelte erleichtert. Obwohl sie ihre Beziehung zu ihm schon vor Jahren beendet hatte, die Vertrautheit war noch da. »Du bist doch beim BKA?«

Vor drei Monaten war Cavalli, in Zürich stellvertretender Dienstchef beim Kapitalverbrechen zwei, kurz KV, nach Wiesbaden gereist. Beim Bundeskriminalamt begleitete er die Einführung eines Systems für die geografische Fallanalyse, das Geoprofiling. Dieses analysiert die räumliche Bewegung von Tätern, um auf ihren möglichen Wohnort zu schließen. Das Projekt sollte erst Ende des Monats abgeschlossen sein.

»Wir kamen schneller voran als geplant.«

»Seit wann bist du zurück?«

»Seit einer Stunde.«

Sie lachte: »Kaum zu Hause, und schon brennts. Kann mir gut vorstellen, dass du nicht mal auspacken konntest.« Seine Wohnung lag nur eine Querstraße entfernt.

Er hob eine Augenbraue. »Ich bin dienstlich hier.«

Sie schaute ihn überrascht an. »Dienstlich? Du willst doch nicht etwa behaupten, dass du schon Dienst hast?« Plötzlich verstand sie. Sie würden wieder zusammen an einem Fall arbeiten. Der letzte lag über sechs Monate zurück. Damals war es ihr nur mit großer Mühe gelungen, Cavalli von sich fernzuhalten. Die vielen gemeinsamen Stunden hatten Regina aus dem hart erarbeiteten Gleichgewicht geworfen und ihr gezeigt, dass sich Liebe nicht mit Vernunft löschen lässt.

Bevor sie etwas sagen konnte, wurde sie von einem Feuerwehrmann auf der Drehleiter abgelenkt. Er zeigte auf ein Fenster im ersten Stock des Gebäudes. Janett schrie nach Verstärkung und verschwand um die Hausecke. Die Sanitäter folgten ihm augenblicklich. Fast gleichzeitig tauchten zwei Feuerwehrmänner aus den lodernden Flammen auf. Sie trugen eine verkohlte Leiche heraus. Regina hatte schon viele Verletzte gesehen, aber auf den Anblick eines verbrannten Menschen war sie nicht gefasst. Das Gewebe war stellenweise aufgebrochen. Die hervortretende Muskulatur wirkte wie gekocht. Durch die hitzebedingte Schrumpfung waren Arme und Beine in halb gebeugter Stellung fixiert, die Hände lagen übereinander. Der Tote – sie erkannte nicht, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte – sah aus, als würde er einen Boxkampf austragen. Und ihn verlieren.

Cavalli ging sofort auf die Feuerwehrmänner zu. Sie legten die Leiche ins Gras. »Fasst sie nicht mehr an!«, befahl er. »Ist der Rechtsmediziner unterwegs?«

Ein Feuerwehrmann, kaum zwanzig, zuckte mit den Schultern und deutete auf Janett. Er wandte sich benommen von der Leiche ab.

Janett rief: »Sollte in einer Viertelstunde da sein.« Sein Gesicht glänzte. Bevor er mit dem Truppführer verschwand, fügte er hinzu: »Es sind noch mehr drin.«

Der Gestank von verbranntem Fleisch mischte sich mit dem Rauch. Regina starrte auf das brennende Gebäude.

Cavalli kniete neben der Leiche. Er winkte Regina zu sich. »Schau dir die Stellung der Hände an. Woran erinnert sie dich?«

Widerwillig ging Regina neben ihm in die Hocke. »An einen Boxer.« Sie versuchte, ihre Übelkeit zu unterdrücken.

Cavalli nickte. »Das tun Brandleichen immer. Aber sieh dir die Hände genauer an. Sie sind gefaltet.«

»Das könnte von der Hitzeeinwirkung sein.«

»Schau auf die Mittelfinger.« Cavalli beugte sich noch näher zur Leiche.

Regina erkannte, worauf er hinauswollte. Der linke Mittelfinger schlang sich um den rechten. »Als hätte er – oder sie – gebetet, als klar wurde, dass der Tod bevorstand«, stellte sie fest. Mitleid überkam sie. Sie ignorierte es und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe. Später, wenn sie ihre Arbeit erledigt hatte, würden die Gefühle zurückkehren und sich nicht mehr verdrängen lassen.

Cavalli schloss die Augen und atmete tief ein. Über seinen ausgeprägten Geruchssinn machten sich seine Kollegen zwar lustig, doch sie zweifelten nie am Erfolg seiner Untersuchungen.

»Schön, dass du zurück bist«, sagte Uwe Hahn hinter ihr. Der Rechtsmediziner ließ seine Tasche ins Gras fallen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, begann er mit der Untersuchung. Der zweite Löschzug war inzwischen im Einsatz, und die Feuerwehr hatte den Brand unter Kontrolle.

Regina machte sich auf die Suche nach Janett. Er sprach mit zwei Brandspezialisten der Kantonspolizei.

»Vier Tote.« Janett schaute auf das dampfende Gebäude. Er wollte etwas hinzufügen, brachte die Worte jedoch nicht über die Lippen.

Regina wartete.

Janett räusperte sich. »Zwei Kleinkinder.«

Mit einem flauen Gefühl schaute Regina den Spezialisten nach, die sich auf die Brandstelle zubewegten. »Was sagen die Kollegen von der Brandabteilung?«

»Brandstiftung.« Janett fuhr sich mit dem Ärmel über das feuchte Gesicht.

Regina konnte nicht sehen, ob er Tränen oder Schweiß wegwischte. Gewöhnte man sich je an den Anblick verbrannter Menschen, toter Kinder?

Janett schluckte und fasste das Wichtigste zusammen: »Jemand hat Molotowcocktails durchs Wohnzimmerfenster geworfen.« Er führte sie zu einem breiten Fenster auf der Südseite des Gebäudes. Die Scheibe war zerschlagen. Janett hob eine Scherbe auf und hielt sie Regina hin. »Keine Rußspuren, regelmäßige Bruchkanten. Das heißt, die Scheibe ging vor dem Brand zu Bruch.«

Er bat sie, sich die Ostseite des Hauses anzusehen. Wortlos stapfte er durch das feuchte Gras. Auf den Verputz waren Schimpfwörter gesprayt.

Regina zog die Stirn in Falten. »Ausländer raus«, »Hau ab«, »Arschloch« verkündeten braune Großbuchstaben. »Was hat man sonst gefunden?«

»Zerschmetterte Weinflaschen mit Spuren von Benzin«, sagte Janett. Er wies zwei Feuerwehrmänner an, mit der Sicherung der Brandstelle zu beginnen. »Ich muss weitermachen. Komm, ich mache dich mit dem Pfarrer bekannt. Er hat den Brand gemeldet.« Er führte sie zum Einsatzwagen, wo der Pfarrer auf seine Befragung wartete.

Die Nacht war über die Brandstelle hereingebrochen, doch die Nachtgeräusche im angrenzenden Wald blieben aus. Der Mond hing schwer am wolkendurchzogenen Himmel. Sein Licht dämpfte das aggressive Gelb des Einsatzwagens. Ein feingliedriger Mittdreißiger stand an die Schiebetür gelehnt. Ein Stadtpolizist nahm seine Personalien auf. Regina erfuhr, dass Klaus Pollmann eine Veranstaltung in seiner Kirchengemeinde organisiert hatte, um die Bevölkerung mit den Asylsuchenden ins Gespräch zu bringen. Als eine junge Mutter trotz Anmeldung nicht erschienen war, war er zur Asylunterkunft gefahren.

»Ich dachte, sie hätte Angst«, erklärte Pollmann leise. Es sei in den letzten Monaten öfters zu Konflikten mit Jugendlichen aus dem Ort gekommen. Dabei wurde auch die Sudanesin belästigt. Pollmann ließ seinen Blick über die Dächer von Witikon schweifen. Aus einem offenen Fenster erklang ein Jubelschrei. Schon wieder ein Tor. »Als ich eintraf, stand das Erdgeschoss in Brand. Das muss kurz nach neun gewesen sein.«

»Sind Sie auf dem Weg jemandem begegnet?«, fragte der Polizist.

Der Pfarrer verneinte. Unruhig kaute er auf einem Fingernagel. »Hier oben gibt es vor allem Läufer und Spaziergänger. Vermutlich schauen sich viele das Match an. Das Wetter lädt nicht gerade zu einem Waldspaziergang ein.«

Es war außergewöhnlich kühl für Mitte Juni.

»Sie haben Konflikte mit Jugendlichen aus der Umgebung angesprochen. Was meinen Sie genau?«

Regina trat einen Schritt näher.

»Leichtsinnige Streiche von gelangweilten jungen Menschen. Heranwachsende, die Aufmerksamkeit brauchen, provozieren wollen.« Pollmann schien bei dem Polizisten nach Verständnis zu suchen. »Ich kenne einige aus dem Konfirmandenunterricht. Sie sind nicht böse, bloß überfordert, brauchen ein Ventil. Leider richten sie ihre Aggressionen gegen die Schwächeren.«

»Was haben sie angestellt?«

»Asylsuchende beschimpft, die Unterkunft besprayt. Nasse Erde auf die Scheiben geschmiert. Streiche eben. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass sie jemanden verletzen würden.«

Der Polizist schaute zur Brandstelle hinüber.

Pollmann schüttelte vehement den Kopf. »Auf keinen Fall! Ich sage Ihnen, das sind gute Jungs. Sie stammen aus Familien, die sie umsorgen. Wir sind hier in Witikon. Den meisten fehlt es an nichts.«

Nach Reginas Meinung hatte das wenig zu bedeuten. Doch vermutlich war sie nicht objektiv. Sie war in einem ähnlichen Viertel aufgewachsen und hatte gesehen, was sich hinter den Kulissen abspielte.

»Woher kommen Sie?«, wollte der Polizist wissen.

»Aus Ostdeutschland. Nahe der Grenze zu Polen.« Er machte sich an einem weiteren Fingernagel zu schaffen. »Weiß man schon, ob sie im Haus war, als …? Sie hat zwei kleine Kinder.«

Cavalli kam auf Regina zu. Mit einer kurzen Kopfbewegung forderte er sie auf, ihm zu folgen.

Regina wandte sich an Pollmann. »Ich werde mich bei Ihnen melden. Ich habe noch weitere Fragen an Sie.«

Er sah sie an. »Wissen Sie, was heute für ein Tag ist?«

Regina wusste nicht, worauf er hinauswollte.

»Internationaler Tag des Flüchtlings.«

»Es tut mir leid«, sagte sie und fragte sich, weshalb sie das Bedürfnis verspürte, ihm ihr Beileid auszusprechen.

Cavalli führte sie am Ellenbogen in den Garten.

Hahn packte seine Instrumente zusammen und stand mit einem Seufzer auf. Er schüttelte seine langen Beine. »Er war bereits vor Ausbruch des Feuers tot.«

»Wie, vor Ausbruch des Feuers? Bist du sicher?« Die Frage war Regina herausgerutscht, zu spät fiel ihr wieder ein, dass Hahn sich nie äußerte, wenn er nicht hundertprozentig sicher war.

»Zur Todesursache kann ich dir morgen nach der Obduktion mehr sagen.« Er griff nach seiner Tasche und ging zum Haus.

Regina betrachtete die Leiche, dann wandte sie sich an Cavalli. »Hat sich Uwe zu Geschlecht oder Alter geäußert?«

»Ein junger Mann. Afrikanischer Abstammung.« Er rieb sich den Nasenrücken.

»Was hast du gerochen?«, fragte sie.

»Wo?«

Sie lächelte. »Bist du noch in Wiesbaden?« Ernst wiederholte sie: »Als du bei der Leiche warst, ist dir da etwas aufgefallen?«

»Ach so. Ein leichter Benzingeruch. Vor allem an seinem Rücken. Komm, ich will wissen, wie weit die Brandermittler sind.«

In den umliegenden Häusern waren die Fenster dunkel. Das Spiel war längst vorbei. Die Menschenmenge, die das Flammenspektakel dem Fußball vorgezogen hatte, hatte sich aufgelöst.

»Du hast nicht zufällig etwas Essbares dabei?«, fragte Regina. In der Eile hatte sie ihren Proviant vergessen. Wenn ihr Blutzuckerspiegel absackte, musste sie etwas essen, auch dann, wenn sie keinen Appetit hatte. Wie jetzt.

Cavalli zog ein Päckchen Darvidas aus seiner Tasche.

Dankbar griff Regina zu. »Seit wann stehst du denn auf Vollkorngebäck?«

Als sie seine vergnügte Miene bemerkte, fragte sie: »Hast du sie für mich mitgebracht?« Sie riss das Papier auf. Die Hand war bereits auf halbem Weg zum Mund, als es ihr dämmerte. »Hast du gewusst, dass ich hier sein werde?« Sie deutete sein Schweigen als Zustimmung. Deshalb hatte er also Bereitschaftsdienst. Woher kannte er ihren Einsatzplan?

»Ich habe mit Pilecki getauscht«, erklärte er. Juri Pilecki war Sachbearbeiter beim KV. »Aber ring dir ja kein Lächeln ab«, fügte er trocken hinzu, »ich könnte sonst denken, du freust dich.« Er ging auf Janett zu, der einen Schlauch aufrollte. »Können wir jetzt hinein?«

Janett verwies ihn an die Brandspezialisten und trommelte seine Mannschaft zusammen.

Ein Brandermittler reichte Regina und Cavalli Schutzanzüge. »Die Haustür war beim Eintreffen der Feuerwehr verschlossen, alle Fenster zu. Die Kellertür stand offen. Eine Treppe führt in die Küche. Die Spurensicherung war noch nicht unten.« Er zeigte ins Wohnzimmer. »Der Brand ist in diesem Raum ausgebrochen.« Der Holzboden war teilweise verkohlt, die Einrichtung vollständig zerstört.

Regina hörte beeindruckt zu, wie der Spezialist aus der Beschaffenheit der Brandzehrungen und der Ruß-, Seng- und Schmelzspuren Rückschlüsse auf den Verlauf des Brandes zog.

»Seht ihr diese trichterförmigen Spuren? Man nennt sie Brandtrichter. Das Feuer dehnt sich hauptsächlich nach oben aus. Seitlich erfolgt eine weitaus geringere Ausdehnung. Deshalb brennt die Substanz trichterförmig. Im Idealfall liegt die Brandausbruchstelle im Fußpunkt eines Trichters.« Er hielt kurz inne, damit sie die Informationen verarbeiten konnten. »Fällt euch etwas auf?«

»Es gibt mehrere Brandtrichter«, stellte Regina fest. Der Raum, vor Kurzem bloß vier verkohlte Wände, sprach plötzlich Bände. »Ich nehme an, weil der Brand an mehreren Stellen gleichzeitig ausgebrochen ist?«

Der Brandspezialist nickte. »Ein Hinweis auf Brandstiftung. Schaut euch die Decke an!« Der Verputz war an verschiedenen Stellen kreisförmig abgeplatzt. »Ein weiteres Zeichen für mehrere Brandherde.« Er redete jetzt über die Hitzespuren an den Fensterscheiben und zeigte ihnen den Unterschied zwischen einer eingeschlagenen Scheibe und einer Scheibe, die unter der starken Hitzewirkung gesprungen war.

»Schmilzt Glas nicht?«, fragte Regina.

»Erst etwa bei 800 bis 1400 Grad, je nach Zusammensetzung des Glases. So heiß wurde es hier nicht.«

»Habt ihr Brandbeschleuniger gefunden?«, wollte Cavalli wissen.

Der Spezialist nickte und inspizierte eine Stelle auf dem Boden. »Wenn man Brandbeschleuniger – meistens ist es Benzin – verschüttet, verdampft die Flüssigkeit. Diese Dämpfe brennen zuerst. Die Unterlage bleibt zunächst weitgehend unbeschädigt. Das Untermaterial kann nur am Rand der Benzinlache anbrennen, also dort, wo es nicht durch Brandbeschleuniger abgedeckt ist. Deshalb entstehen anfangs bloß in diesem Randbereich die charakteristischen Brandspuren.« Er zeichnete mit dem Finger die Form nach. »So kann man feststellen, wo flüssige Brandbeschleuniger verschüttet wurden.«

Regina betrachtete den Boden und bemerkte weitere Stellen, die auf Brandbeschleuniger hindeuteten. Fragend schaute sie den Spezialisten an.

Er zeigte auf eine Wand. »Auch diese Abrinnspuren.« Dann begann er, die Aufprallstellen der Molotowcocktails zu deuten. Offenbar hatte der Täter das Benzin im Raum verschüttet, bevor er die Weinflaschen durchs Fenster geworfen hatte.

Im oberen Stockwerk gab es weniger Brandspuren.

»Wo waren die anderen Leichen?«, fragte Cavalli.

»Hier, in diesem Zimmer.«

»Wo lagen sie genau?«

»Die zwei Kinder auf dem Bett, die Frau am Fenster. Ihr könnt alles auf den Fotos sehen.«

»Gut«, lobte Cavalli. »In welchem Zustand waren die Toten?«

»Sie wiesen nur leichte Verbrennungen auf. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass sie an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben sind. Hahn hat keine andere Todesursache feststellen können, doch er wollte sich nicht festlegen.«

»War ihr Fluchtweg abgeschnitten?«

Der Brandspezialist nickte. »Das Feuer wurde durch den sogenannten Kamineffekt die Treppe hinaufgesogen. Dieses Zimmer liegt direkt in der Verlaufsbahn.«

Regina versuchte, sich vorzustellen, was sich in diesem Raum zugetragen hatte. Sie brauchte nicht viel Fantasie, um sich die tragische Abfolge der Ereignisse auszumalen. Betroffen kaute sie auf ihrer Unterlippe.

Cavalli ging zum Fenster und betrachtete die angeschwärzte Scheibe. »Ist das ein Handabdruck?«

Eine handgroße Fläche war etwas heller als das restliche Glas.

»Kann sein. Wir müssen den Laborbericht abwarten.«

»Ist die Spurensicherung am Fenster abgeschlossen?«

»Ja.«

Cavalli versuchte, das Fenster zu öffnen. Der altmodische Riegel klemmte. Die Familie war eingesperrt gewesen. »Das Fenster muss von einem Techniker untersucht werden.«

Regina musterte das Metallscharnier. »Sieht ziemlich alt aus. Möglich, dass es schon lange klemmt.«

Cavalli wandte sich an den Brandspezialisten: »Wann können wir uns an die Arbeit machen?«

»Die Untersuchungen werden zwei bis drei Tage dauern. Danach könnt ihr das Haus auf den Kopf stellen.«

Cavalli würde bestimmt nicht zwei bis drei Tage warten, um sich ein Bild von der Asylunterkunft zu machen. Regina deutete sein Schweigen nicht als Zustimmung, dafür kannte sie ihn zu gut. Draußen schälte sie sich aus dem Overall und atmete tief ein.

»Soll ich dich nach Hause fahren?«, bot Cavalli an.

Dankbar nahm sie an. Es gab keine direkte Busverbindung zwischen Witikon und Gockhausen.

»Mein Wagen steht weiter unten.« Sie bogen in den schmalen Weg ein. Der Kies knirschte unter ihren Füßen.

»Das ist doch deine Laufstrecke.« Regina sprach mit gedämpfter Stimme. »Bist du den Asylsuchenden schon begegnet?«

»Nein. Das Haus stand bis zum Frühling leer.«

»Erzähl von Wiesbaden«, bat sie.

Cavalli erklärte ihr das Geoprofiling. Seine Weiterbildung zum Fallanalytiker stieß nicht bei allen Kollegen auf Verständnis. In vielen Köpfen hatte sich das Bild des Hollywood-Profilers festgesetzt, der mit populärwissenschaftlichen Methoden spektakuläre Fälle aufklärte. Die Realität sah ganz anders aus. Ein Fallanalytiker war ein Experte, der ein Verbrechen systematisch aufarbeitete. Empathie spielte eine wichtige Rolle, doch sie ersetzte weder eine gründliche Fallbearbeitung noch breites Fachwissen. Eine Fallanalyse war vor allem eines: Knochenarbeit.

»Und was macht Zuberbühler?«, fragte er.

Peter Zuberbühler hatte in seinen Bordellen über ein Dutzend minderjährige Prostituierte beschäftigt. Im vergangenen Herbst hatte Regina zusammen mit Cavalli den Mord an einem der Mädchen aufgeklärt. Zuberbühler hatte die schmutzige Arbeit nicht selber verrichtet. Seine Handlanger hatten sich darum gekümmert, dass die Prostituierten gefügig blieben. Doch Regina hatte sich in den Kopf gesetzt, Zuberbühler als Drahtzieher den Tatbestand des Menschenhandels nachzuweisen. Die schwierige Untersuchung hatte sie nicht von ihrem Entschluss abgebracht.

»Du weißt ja, wie sehr mir Zahlen liegen«, meinte sie ironisch. »Ich wühle stundenlang in Geschäftsunterlagen. Versuche, den Geldströmen zu folgen, die Überweisungen zu verstehen. Chinesisch ist einfacher! Aber die Beweise müssen hieb- und stichfest sein. Wenn Bankkonten doch sprechen könnten.«

Cavalli lächelte. »Lieber nicht. Dann würde meines dauernd jammern.«

Regina blickte ihn an. »Die mysteriösen Verwandten?«

Er hatte ihr nie erklärt, weshalb er Geldsorgen hatte. Einmal hatte er angedeutet, dass er Verwandte unterstützen müsse.

Er ignorierte ihre Frage. »Zum Glück wirft das Casino endlich Gewinn ab.« Sie waren bei seinem Volvo angekommen. Er öffnete ihr die Tür. Auf dem Rücksitz lagen eine Reisetasche und eine Kiste mit Ordnern und Büchern. Dazwischen klemmte eine Einkaufstasche mit Lebensmitteln.

»Welches Casino?«, fragte Regina.

»Das im Reservat. Hab ich dir nie davon erzählt?«

Regina stieg ein. »In Cherokee?« Cavalli war auf der Qualla Boundary in North Carolina aufgewachsen, südlich der Smoky Mountains.

»Harrah’s Casino ist seit Beginn der Neunzigerjahre in Betrieb. Wirft inzwischen hundertzwanzig Millionen Dollar pro Jahr ab.«

»Und was hat das mit dir zu tun?« Sie hasste es, ihm die Informationen wie Würmer aus der Nase ziehen zu müssen.

»Jedes eingetragene Stammesmitglied erhält vom Gewinn fünftausend Dollar im Jahr.«

»Du bist doch nur ein Viertel Cherokee?«

»Die Grenze liegt bei einem Sechzehntel. Und meine Großmutter ist eine FBI.« Er spürte ihren fragenden Blick. »Full blooded Indian«, schmunzelte er und lenkte den Wagen in ein ruhiges Wohnviertel.

Regina machte keine Anstalten auszusteigen, nachdem er den Motor ausgeschaltet hatte. »Bekommt auch Christopher die fünftausend?« Cavallis sechzehnjährigem Sohn war seine indianische Abstammung peinlich. Obwohl sein schwarzes Haar und seine hohen, ebenen Wangenknochen keinen Zweifel an seiner Herkunft ließen, weigerte er sich, sich mit der Kultur seiner Familie auseinanderzusetzen.

Cavalli nickte. »Ich habe ihn gleich nach der Geburt registrieren lassen. Aber das Geld bekommt er erst, wenn er volljährig ist. Bis dann zahle ich damit einen Teil seiner Alimente.«

Regina wollte gerade darauf hinweisen, dass er dazu kein Recht hatte, doch Cavalli wechselte das Thema.

»Wann warst du das letzte Mal in der Kirche?«

»Wie bitte?«

»Morgen – nein, heute«, korrigierte er sich, »um zehn Uhr in der reformierten Kirche Witikon. Gottesdienst zum Flüchtlingssonntag. Kommst du?«

Jetzt verstand sie. »Klar.« Sie blieb weiter sitzen.

»Soll ich dich abholen?«

»Nein danke, ich gehe zu Fuß. Ein Spaziergang tut mir gut.« Das Gespräch verebbte. Sie schauten einander unverwandt an. Die Situation schien Regina unwirklich. Sie überlegte, ob sie Cavalli noch auf eine Tasse Tee einladen sollte.

»Dann bis später«, forderte er sie zum Aussteigen auf.

Cavalli parkte vor seiner Wohnung und ging zu Fuß zur Asylunterkunft zurück. Die Luft war kühl und feucht, der Mond endgültig hinter den Wolken verschwunden. Er hielt der Wache seinen Dienstausweis entgegen und zog den Schlüssel hervor, den er dem Brandspezialisten abgenommen hatte. Es blieben ihm nur wenige Stunden, bis sie ihre Arbeit wiederaufnehmen und beim Durchsieben des Brandschutts ein völlig neues Bild des Tatorts zeichnen würden. Wenn der Täter ihm etwas zu sagen hatte, dann musste er jetzt genau hinhören.

Cavalli fing beim Kellereingang an. Langsam durchstreifte er jeden Winkel, leuchtete jede Ecke aus. Prägte sich Gegenstände, Formen und Gerüche ein. Er versuchte, keine Mutmaßungen anzustellen, sondern malte ein Stillleben, das bis zur Klärung des Falls seine Fantasie beleben würde. Die konkreten Spuren konnte er den Technikern überlassen, ihn interessierte mehr, ob die schmutzigen Kinderschuhe im Eingangsbereich oder im Schlafzimmer aufgereiht waren. Ob sich im Kühlschrank Emmentaler oder Lammfleisch, im Spülbecken Gläser mit Alkohol- oder Milchspuren befanden. Was im Flur lag, achtlos hingeworfen, im Glauben an eine baldige Rückkehr.

Er schloss die Augen. Das Bild wurde konkreter. An einigen Stellen blieb es weiß. Er schaute sich diese Stellen genau an und prägte sie sich ein, bis das Bild vollständig war.

Die Dämmerung brach langsam über Witikon herein. Als die erste Amsel ihren Morgengruß anstimmte, schlich Cavalli aus dem zerstörten Gebäude. Er setzte sich ins Gras. Es roch frisch, besänftigte seine vom Brandgeruch schmerzende Nase. Im Gemüsebeet lag ein verkohlter Stuhl. Die Wiese war lange nicht gemäht worden. Am Rand des Gartens, wo das Gras nicht durch die Löschtruppen niedergetrampelt war, stand es fast kniehoch. Im satten Grün leuchtete ein bunter Ball. Feine Asche klebte an der Plastikoberfläche. Daneben wuchsen einige Gräser in bizarren Formen. Auf den zweiten Blick erkannte Cavalli ein kleines Knüpfkunstwerk aus Gras. Rundherum wucherte Pfefferminze.

Der Rohrführer richtete den Wasserstrahl gegen ihn. Schützend hielt er den Arm vors Gesicht. Es war nass. Er setzte sich erschrocken im Bett auf – wo kamen die Flammen her? Das gelbe Licht, das den Fensterrahmen erleuchtete, stammte von der Straßenlaterne. Tränen vermischten sich mit Schweiß. Er atmete zitternd ein und ließ sich aufs Kissen zurückfallen. Schloss die Augen wieder. Es war vorbei. Die Flammen waren gelöscht. Wenn er nur sein Gedächtnis löschen könnte. Doch mit dieser Schuld würde er leben müssen.

Erneut stieg die Verzweiflung hoch und mit ihr der tiefe Wunsch, das Rad der Zeit zurückzudrehen.

2

Das feierliche Glockengeläute forderte die Menschen unüberhörbar auf, sich zum Gottesdienst zu versammeln. Trotzdem fanden nur wenige den Weg in den unförmigen Betonbau. Cavalli schätzte das Durchschnittsalter der Anwesenden im Raum auf über sechzig Jahre. Nur die Asylsuchenden, von Pollmann zum Flüchtlingssonntag eingeladen, waren noch nicht ergraut. Festlich gekleidet saßen sie mit steifem Rücken auf der Holzbank. Cavalli sah drei Frauen und zwei Männer, alle – bis auf einen älteren, dürren Betenden – jung und schwarz. Eine zarte, helle Stimme wurde durch ein Zischen zum Schweigen gebracht, vermutlich ein Kind, das irgendwo am Boden spielte. Keine typischen Asylsuchenden, waren die meisten Gesuchsteller in der Schweiz doch junge Männer.

»Ist hier noch frei?«, fragte eine vertraute Stimme.

Cavalli drehte den Kopf. Reginas blaue Augen funkelten ihn an. Der Duft von feuchtem Laub und Seife umhüllte sie. Rosenblütenseife, stellte er fest.

Regina setzte sich. »Tut mir leid, dass ich so spät bin. Gestern Abend wurde wieder eingebrochen. Ich habe heute Morgen lange mit deinen Kollegen vom Bruch telefoniert.« Der Bruch, wie er in der Strafverfolgung genannt wurde, gehörte zur Spezialabteilung drei der Kantonspolizei und befasste sich mit Einbrüchen und Diebstählen.

»Hast du überhaupt etwas von der Einbruchserie am Zürichberg mitbekommen?«, fuhr Regina fort. »Das war der neunte Einbruch innerhalb von zehn Wochen. Die Täter werden immer frecher. Dieses Mal haben sie nicht nur den Kühlschrank geplündert und Bargeld gestohlen, sondern auch noch einen sündhaft teuren Champagner getrunken. Die Besitzer sind außer sich.«

Die Orgel stimmte das erste Lied an. Cavalli vertiefte sich in den Anblick von Reginas Sommersprossen.

Sie bohrte ihm einen Zeigefinger in die Rippen. »Hallo! Jemand zu Hause?«, flüsterte sie.

Bevor Cavalli antworten konnte, betrat Pollmann die Kanzel. Betroffen schilderte der Pfarrer die Ereignisse des Vorabends. Während er den Tod der vier Flüchtlinge bekannt gab, richtete er seinen Blick zur Decke. Es machte ihm sichtlich Mühe, die Asylsuchenden direkt anzusehen. Seine Augen flossen fast über, und er leitete eine Schweigeminute ein.

Regina und Cavalli wechselten Blicke. Pollmanns Auftritt hatte etwas Theatralisches.

Der Pfarrer sprach in seiner Predigt über Fremdenfeindlichkeit. Mit pathetischen Worten betonte er, dass vor Gott alle Menschen gleich seien. Obwohl Regina nicht religiös war, hatte ihre streng reformierte Erziehung Spuren hinterlassen. Diese hatte weniger den sonntäglichen Kirchgang als das Einhalten festgelegter Normen und Werte beinhaltet. Fleiß, Bescheidenheit, Respekt und Ehrlichkeit waren nur einige davon.

Die Kirchenbesucher schielten verstohlen zu den Asylsuchenden hinüber. Ob die Flüchtlinge die Worte verstanden, die Pollmann so leidenschaftlich in den Raum schmetterte?

Cavalli unterdrückte ein Gähnen. Er faltete die Hände nicht zum Gebet, als Pollmann dazu aufrief. Der Pfarrer schloss mit den Worten: »Wir werden Thok, Zahra, Salma und Maryam in Erinnerung behalten.«

Cavalli blickte fragend zu Regina. Sie antwortete mit einem Achselzucken. War sich Pollmann über die Identität der Toten so sicher? Getragene Orgelklänge begleiteten die schleppenden Schritte der Gläubigen, als sie die Kirche verließen.

Cavalli faltete die Hände über dem Kopf und streckte die Arme durch. Die Akustik im Raum trug das Knacksen seiner Knöchel bis zu Pollmann, der am Ausgang jede entgegengestreckte Hand ein bisschen länger als nötig drückte. Er schaute irritiert. Erst als er den letzten Kirchgänger verabschiedet hatte, schenkte er Regina und Cavalli seine Aufmerksamkeit.

»Willkommen«, begrüßte er sie großherzig, viel selbstsicherer als am Abend zuvor. In der Kirche hatte er offensichtlich Heimvorteil. »Ich hoffe, meine Worte werden Ihnen während den belastenden Ermittlungen Kraft geben.«

»Sie werden mir in Erinnerung bleiben«, versicherte Cavalli.

Der Pfarrer lud sie ins Pfarrhaus ein. »Sie werden bestimmt mit den Flüchtlingen sprechen wollen.«

Als Regina bejahte, fuhr er fort: »Ich stelle Ihnen gern mein Wohnzimmer für die Gespräche zur Verfügung.« Er strich seinen Talar glatt. »Die Asylsuchenden wohnen vorübergehend bei mir. Bis sie einer neuen Unterkunft zugeteilt werden.«

Regina nahm das Angebot an. In einer vertrauten Umgebung wären die Flüchtlinge eher bereit zu einer ersten Aussage.

Das alte Fachwerkhaus lag direkt gegenüber der Kirche. Pollmann führte sie in ein mit schweren Möbeln vollgestelltes Wohnzimmer und verschwand in Richtung Küche. Nachdem er Kaffee und Kekse aufgetischt hatte, stellte ihm Regina weitere Fragen zum Brand. Er konnte nur bekräftigen, was er bereits erzählt hatte.

»Sie haben im Gottesdienst die Namen der Toten genannt. Sind Sie sich über deren Identität so sicher?« Regina beobachtete ihn scharf.

»Um wen könnte es sich sonst handeln?«, fragte der Pfarrer arglos.

Regina hielt die Tasse an den Mund.

»Waren noch andere Menschen im Haus?« Pollmann löffelte gedankenversunken Zucker in seinen Kaffee. »Es kann kein Zufall sein, dass Thok, Zahra und die zwei Kinder spurlos verschwinden, während gleichzeitig vier andere Menschen im Haus …« Er verstummte.

»Wissen Sie immer, wo sich die Flüchtlinge aufhalten?«

»Natürlich nicht.« Pollmann stellte seine Tasse hin und begann, an seinen Fingernägeln zu kauen. »Es ging doch um sie?«

Regina schwieg.

Pollmanns Verwirrung war echt. »Ich weiß nicht … es war einfach naheliegend.«

Regina fuhr fort: »Beschreiben Sie Ihre Beziehung zu den Flüchtlingen.«

»Beziehung?«, wiederholte Pollmann mit dünner Stimme. »Was wollen Sie damit andeuten?«

»Stand Zahra Ihnen nahe?«

Cavalli sah sich betont desinteressiert im Wohnzimmer um. Sie arbeiteten gut zusammen und brauchten einander keine umständlichen Anweisungen zu geben. Er hob ein Amulett auf und drehte es in der Hand.

Pollmann schüttelte den Kopf. »Nicht näher als alle anderen Flüchtlinge in meiner Gemeinde.«

Es donnerte in der Ferne. Pollmann sprang vom Stuhl auf und schloss das Fenster. Dann durchquerte er den Raum in drei großen Schritten und riss das Amulett an sich. »Ein Geschenk«, erklärte er und presste die Lippen zusammen.

»Von wem?«

»Weiß ich nicht mehr.«

Pollmanns schmale Finger flatterten wie Schmetterlinge um seinen Talar, den er mal hier, mal dort zurechtzupfte.

Cavalli verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen ein Klavier. Den Pfarrer behielt er fest im Blick.

Pollmann brachte seine Gäste ins Wohnzimmer. Außer dem alten Mann, der nur Arabisch sprach, verstanden alle Englisch. Den eigenen, knappen Angaben zufolge stammten sie aus dem Sudan und dem Kongo. Sie behaupteten, Zahra El Karib sei mit ihren zwei Töchtern im Haus geblieben, weil das jüngere Mädchen erkältet war. Thok Lado beschrieben sie als Einzelgänger, der nicht gerne unter die Leute ging. Regina tat ihr Möglichstes, um Vertrauen aufzubauen. Trotzdem war das Misstrauen im Raum spürbar. Die meisten Antworten waren einsilbig und vorhersehbar. Da sie so kaum wertvolle Informationen erwarten konnten, vereinbarten sie Termine für Einzelbefragungen. Sie würden sich viel Zeit dafür nehmen müssen.

Pollmann blühte auf, als er sie zur Haustür begleitete. »Soll ich die Flüchtlinge zur Polizei begleiten? Ich fürchte, ein Streifenwagen könnte sie einschüchtern.«

Regina lehnte sein Angebot ab.

»Mir liegt das Wohl meiner Gemeinde am Herzen«, schloss der Pfarrer.

Regina lächelte gequält, Cavalli brachte nur ein kurzes Nicken zustande.

Schweigend entfernten sie sich vom Pfarrhaus. Plötzlich riss die Wolkendecke auf, und ein Sonnenstrahl erinnerte daran, dass in wenigen Tagen Sommeranfang war. Sie kamen an einem Kirschbaum vorbei. Cavalli griff sich einen Ast, um ein paar Kirschen zu pflücken. Er steckte sich eine unreife Frucht in den Mund.

»Was hältst du von ihm?«, wollte Regina wissen.

Cavalli kaute nachdenklich. »Ich schätze, er hat dieser Zahra schöne Augen gemacht und schämt sich jetzt dafür.«

»Wieso sollte er sich dafür schämen? Er ist ja nicht katholisch.«

»Trotzdem gehört es sich nicht, mit seinen Schäfchen zu schlafen.«

Regina warf ihm einen irritierten Blick zu. »Hast du überhaupt keinen Respekt vor der Kirche?« Sie überquerten die Hauptstraße.

»Vor der Kirche, nein. Vor den Göttern schon. Hier müssen wir links. Mein Wagen steht gleich um die Ecke.«

»Göttern? In der Mehrzahl?«

»Gott, Götter, ist ja ein und dasselbe. Die Schöpfung eben.« Er schloss die Tür auf.

Regina stieg ein. »Was hast du Chris erzählt, als die ersten religiösen Fragen kamen?«

»Du meinst, als er noch einen zusammenhängenden Satz über die Lippen brachte?« Nach seiner Scheidung vor zehn Jahren hatte sich seine Beziehung zu dem verschlossenen, introvertierten Jungen ständig verschlechtert. Seit Christopher seine Lehre abgebrochen hatte und nur noch Interesse fürs Kiffen zeigte, brachte Cavalli kein Verständnis mehr für ihn auf. Im Winter hatte er einen letzten Versuch gemacht, an ihn heranzukommen. Sie waren gemeinsam für einige Tage in die Berge gefahren, doch der Ausflug endete vorzeitig wegen eines heftigen Streits. Christophers ständige Forderungen an ihn und seine fehlende Bereitschaft, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, lösten in Cavalli Aggressionen aus.

»Als er klein war, habe ich ihm die Schöpfungsgeschichte der Cherokee erzählt. Ich glaube aber kaum, dass er sich daran erinnert. Und Constanze hat mit Religion überhaupt nichts am Hut.«

»Was besagt eure Schöpfungsgeschichte?«, fragte Regina.

Cavalli antwortete nicht. Er lenkte den Wagen wortlos Richtung Zürich.

Als sie vor einer Ampel standen, seufzte Regina: »Du bist immer noch wie früher. Warum sprichst du nie über deine Herkunft?«

Cavalli schaute auf die Uhr. Vor zehn Minuten hätten sie im Institut für Rechtsmedizin sein müssen. Die Ampel wechselte auf Grün.

»Gibt es auf Cherokee eigentlich ein Wort für Entschuldigung?«, fragte Regina.

»Tsalagi«, korrigierte er.

»Was?«

»Die Sprache heißt Tsalagi, nicht Cherokee«, wiederholte er. Er wechselte die Spur und nahm die nächste Ausfahrt. Die Zufahrtsstraße führte durch eine Parkgarage. Cavalli steuerte auf einen Platz zu, der für die Polizei reserviert war. Er stieg aus, während Regina noch dabei war, ihren Sicherheitsgurt zu öffnen. Vor dem Eingang des IRM blieb er stehen. Seine Reaktion auf ihre Frage hatte nichts damit zu tun, dass er die Schöpfungsgeschichte der Cherokee als Geheimnis betrachtete. Sie war schließlich in jedem Geschichtsbuch des Stammes nachzulesen. Vielmehr ertrug er die ständigen Fragen nicht. Regina war wie ein Blutegel. Sie hörte erst auf zu saugen, wenn man sie mit Gewalt loslöste. Doch im Gegensatz zu einem Egel, der nach einer Blutmahlzeit bis zu zwei Jahre hungern konnte, war sie unersättlich.

Als sie ihn eingeholt hatte, zog er einen Getreideriegel aus der Tasche und schlug einen versöhnlichen Ton an: »Brauchst du eine Stärkung?«

»Nein danke«, antwortete sie kühl und meldete sich am Empfang.

Uwe Hahn holte sie ab. »Endlich. Die Voruntersuchungen sind abgeschlossen. Wir können gleich beginnen.« Er betrat den Obduktionssaal. Sein Assistent hatte bereits die nötigen Instrumente aufgereiht.

»Was haben sie ergeben?«, fragte Regina.

»Die beiden Kinder waren keine sechs Jahre alt. Da sie unterernährt sind, wäre eine radiologische Altersbeurteilung des Skeletts zu ungenau. Man wird die Zahnmineralisation untersuchen müssen. Keine äußeren Zeichen von Gewalteinwirkung. Die weibliche Leiche hat das einundzwanzigste Lebensjahr vollendet.«

Er befestigte die Röntgenbilder und zeigte auf die Schlüsselbeinregion. »Der epiphyseale Knorpel ist noch nicht vollständig verschmolzen. Dieses Stadium der Ossifikation entspricht einer weiblichen Person zwischen einundzwanzig und sechsundzwanzig Jahren. Auch sie weist keine äußeren Verletzungen auf. Die Röntgenaufnahme des jungen Mannes hingegen«, Hahn deutete auf ein weiteres Bild, »zeigt eine Impressionsfraktur an der Schädelbasis.« Er fuhr mit dem Griff eines Skalpells an den Bruchlinien entlang. »Meist trifft die Schlagfläche des verwendeten Werkzeugs verkantet auf den Schädel. Das verursacht diese terrassenförmig abgestuften Impressionen. Die tiefste Stelle wird eventuell Rückschlüsse auf Richtung und Form der einwirkenden Gewalt zulassen. Er war übrigens zwischen siebzehn und neunzehn Jahre alt.«

»Das müssen wir genauer wissen«, drängte Cavalli. »Minderjährige Asylsuchende haben andere Rechte.«

Hahn fixierte Cavalli mit seinen blassen Augen. »Ich weiß.«

Regina hörte aufmerksam zu. Obwohl Hahns Ausführungen oft komplexer als nötig waren, war sie von seiner Kompetenz immer wieder beeindruckt. Er war das Sprachrohr der Toten.

»Du sprichst von einem Werkzeug. Könnte er auch gestürzt sein?«, fragte sie.

»Wenn ich Werkzeug sage, dann meine ich Werkzeug. Wäre die Leiche nicht so stark verbrannt, könnte ich anhand der Haut- und Muskelverletzungen Genaueres dazu sagen. Doch euer Täter war schlau. Viele Spuren sind vernichtet.« Er schaute auf die Uhr. »Mit wem sollen wir beginnen? Ihr könnt wählen: Frau, Kind, Mann?«

»Mann«, antworteten Regina und Cavalli wie aus einem Mund. Hahn nickte, das hatte er erwartet. Er rief seinen Assistenten und verteilte die Kittel.

Auf dem kalten Chromstahl sah der Tote grotesker aus als auf der Wiese. Durch die Schrumpfung der Gesichtsweichteile hing die Zunge aus dem Mund und verlieh ihm ein fratzenhaftes Aussehen. An Kopf und Hals hatte er zahlreiche kleine Schnitte.

»Ich beginne mit dem Offensichtlichen«, sagte Hahn routiniert. Er erklärte, dass es sich bei den Schnitten im Gesicht um Hitzerisse handelte, nicht um Messerschnittverletzungen. »Diese Narben hingegen«, er zeigte auf die Stirn des Verstorbenen, »gehen auf eine scharfe Klinge zurück.« Er machte Regina und Cavalli darauf aufmerksam, dass es keine Krähenfüße um die Augen gab. »Wäre er in den Flammen ums Leben gekommen, hätte er die Augen zusammengekniffen. Dadurch wären die Falten an den äußeren Augenwinkeln von Ablagerungen verschont geblieben. Es gäbe auch andere vitale Zeichen. Seine Schleimhäute wären gerötet, und Rußpartikel wären in den Luftwegen zu finden.«

»Was ist mit den gefalteten Händen?« Die ungewöhnliche Stellung ließ Cavalli keine Ruhe.

»Entweder starb er betend, oder er wurde danach so arrangiert. Mehr kann ich nicht sagen. Hier ist auch etwas Interessantes.« Hahn bückte sich über die verbrannte Hüfte und zeigte auf eine Stelle, die nicht verkohlt war. Auf der Haut war der Abdruck einiger Striche erkennbar. Zwei gerade Linien trafen sich im rechten Winkel, wie die Mitte eines Kreuzes. »Ich habe einige Nahaufnahmen davon machen lassen.«

Cavalli trat näher und ließ die Gerüche auf sich einwirken. »Darf ich ihn zur Seite kippen?«

Hahn nickte.

Cavalli drehte die Leiche behutsam. Etwas landete klirrend auf dem Untersuchungstisch.

»Nur ein Zahn«, beruhigte ihn Hahn. »Sein Kiefer ist etwas brüchig.«

Regina beugte sich ebenfalls näher über die Leiche. »Woher stammen diese wellenförmigen Linien?«

»Das Löschwasser hat die Haut aufgeweicht. Das hat nichts zu bedeuten.«

Hahn stand mit dem Skalpell bereit. Als Cavalli zurücktrat, begann er mit der Leichenöffnung. Regina machte sich Notizen. Kopf-, Brust- und Bauchhöhle lieferten keine neuen Informationen.

Nachdem Hahn die Organe in die Bauchhöhle zurückgelegt hatte, kam die Sprache auf die Identifikation der Opfer. »Die Asyldossiers enthalten medizinische Unterlagen. Lässt du mir diese zukommen?«

Cavalli versprach, sich darum zu kümmern. »Vermutlich liegen sie beim Migrationsamt, aber ich werde heute die Sachbearbeiterin aufsuchen, die in Witikon für die Unterbringung der Flüchtlinge zuständig ist. Vielleicht hat sie Kopien.«

»An einem Sonntagabend? Die wird sich aber freuen«, bemerkte Regina.

Als sie seinen amüsierten Gesichtsausdruck sah, fügte sie hinzu: »Lass mich raten: Sie ist blond und hat einen dreisilbigen Namen.«

»Einen dreisilbigen Namen?«

»Constanze, Jennifer, Elvira, Tatjana, Marina, Christina, Melinda …«, ihren eigenen Namen ließ sie weg.

Cavalli dachte nach. »Das ist mir noch gar nie aufgefallen.« Er strich sich übers Kinn. »Da sie Rita heißt, muss ich meine Hoffnung auf einen netten Abend wohl begraben.« Er machte eine taktische Pause. »Nicht, dass ich besonders auf Sechzigjährige stehen würde.«

Hahn schaute sie missbilligend an. »Wir sind hier fertig. Ihr könnt eure Plänkelei draußen fortsetzen.« Er kehrte ihnen den Rücken zu. Cavalli deutete auf die Tür. Regina folgte ihm.

»Kommst du mit zu Rita?«, fragte er, die frische Luft tief einatmend.

Regina lehnte ab. »Fährst du noch ins Kripogebäude?«

»Ja. Ich will mich einrichten, bevor die Ermittlung richtig anläuft. Hast du während meiner Abwesenheit viel mit dem KV zu tun gehabt?«

»Einige Durchsuchungsbefehle für Pilecki ausgestellt, eine Telefonkontrolle angeordnet. Ich sah mehr vom Gift.« Sie sprach damit den Dienst Betäubungsmittel an. »Aber Tobias habe ich getroffen. Wir waren zusammen essen.«

Cavalli sah sie erstaunt an. »Fahrni? Ist der nicht eine Nummer zu klein für dich?«

Der junge Polizist war erst seit knapp zwei Jahren bei der Kripo.

»Du unterschätzt ihn«, erwiderte Regina. »Er ist nicht halb so naiv, wie er aussieht. Außerdem hat es sich nur zufällig ergeben. Ich habe ihn beim Reiten getroffen.«

»Seit wann reitest du?«

»Ich reite gar nicht. Aber Tobias. Und zwar ein Pferd, das in einem Stall in der Nähe meines Elternhauses steht. Eigentlich ist es erstaunlich, dass wir uns nicht schon früher über den Weg gelaufen sind. Seiner Freundin bin ich schon mehrmals begegnet, aber ich kannte sie nicht persönlich.« Sie waren bei Cavallis Volvo angekommen. »Einige Stunden abschalten täte dir auch gut.«

Cavalli streckte sich. »Ich werde noch einen Abstecher in den Kraftraum machen. Bin total außer Form.«

Regina musterte seinen athletischen Körper und nickte verständnisvoll. »Allerdings. Du hast bestimmt seit über vierundzwanzig Stunden nicht trainiert. Aber pass auf, die Hanteln könnten während deiner Abwesenheit Rost angesetzt haben.«

»Kaum. So weit hätte es Bambi nie kommen lassen.« Jasmin Meyer, oder Bambi, wie die Polizistin von Kollegen ihrer Rehaugen wegen genannt wurde, teilte Cavallis Leidenschaft für Sport.

Als sich Regina verabschiedete, klingelte ihr Handy. Sie kannte die Nummer auf dem Display nicht. Am anderen Ende meldete sich Janett. In einem angenehmen Bariton verkündete er, dass der Brandbericht fertig war.

»Es war heute auf der Wache außerordentlich ruhig«, entschuldigte er sich für seine speditive Arbeit. »Bist du noch im Institut für Rechtsmedizin? Ich könnte dir den Bericht auf dem Heimweg vorbeibringen. Ich verlasse in zehn Minuten die Wache.«

Regina war überrascht. Seit wann bekam die Bezirksanwaltschaft von der Feuerwehr einen schriftlichen Bericht? Da er sich solche Mühe gemacht hatte, wollte sie ihn nicht abweisen. »In Ordnung. Ich bin allerdings fertig hier. Vielleicht kreuzen sich unsere Heimwege? Wo wohnst du?«

»In Witikon.«

Witikon? Wenn Janett von der Wache nach Witikon wollte, lag die Rechtsmedizin weitab vom Weg. »Treffen wir uns am Hauptbahnhof? In einer halben Stunde?«

Janett war einverstanden. Regina legte auf.

Cavalli sah sie skeptisch an. »Er will dir einen Bericht vorbeibringen? An einem Sonntagabend?«

Regina hob die Hände.

Nachdenklich sagte Cavalli: »Die Fachhochschule für Polizei in Brandenburg erforscht Täterprofile von Brandstiftern. Ich habe ein Fallbeispiel studiert. Der Täter war bei der lokalen Feuerwehr.«

Regina lachte ungläubig. »Und hatte zuvor einen jungen Sudanesen erschlagen!«

Cavalli verzog keine Miene. »Nein, einen Äthiopier.«

»Was?«

»Nur ein Witz.« Cavalli grinste. »Aber der Brandstifter war tatsächlich Feuerwehrmann.«

»Ich werde vorsichtig sein«, versprach Regina.

Dieses Mal hielt er die Hochdruckleitung. Sie war unter seinem Arm eingeklemmt, doch er hatte nicht genug Kraft, um sie zu stabilisieren. Der Wasserstrahl tanzte in alle Richtungen. Der Schlauch wand sich wie eine orientalische Tänzerin, die mit den Flammen spielte. Seine Zunge klebte trocken am Gaumen, während er immer tiefer im Wasser stand. Seine Arme zitterten vor Müdigkeit, der Wasserpegel stieg. Er schrie um Hilfe. Doch die Frau am Fenster regte sich nicht. Langsam löste sie sich in Rauch auf. Gleichzeitig zog der Albtraum vorüber und verkroch sich in sein Unterbewusstsein. Er hinterließ eine von Schweiß durchtränkte Hülle.

Er kroch aus dem Bett und bewegte sich schwerfällig in die Küche. Unschlüssig blieb er vor dem Kühlschrank stehen. Aber es schien ihm die Energie zu fehlen, um den Arm zu heben. Schließlich öffnete er die Tür. Kühle Luft schlug ihm entgegen, und er sog sie ein. Er fischte mit steifen Fingern eine Packung Käse aus einem Fach und verschlang die Scheiben, ohne den Geschmack wahrzunehmen. Die Leere in seinem Innern füllte sich nicht.

3

Cavalli betrat erst kurz nach halb acht das Kripogebäude. Der Kollege am Empfang blickte kurz vom Bildschirm auf und winkte ihm. Es war warm im Gebäude. Nicht zum ersten Mal beneidete Cavalli die Offiziere im Kommando, deren Büros sich gegenüber in der alten Kaserne befanden. Die Steinmauern dort sorgten für ein angenehm kühles Klima.

Vor dem Aufzug im ersten Stock standen einige Sachbearbeiter vom Gift und diskutierten angeregt.

»Die Beweise sind eindeutig!« Der Chef der Spezialabteilung vier klatschte energisch in die Hände. »Frei hat gespuckt.«

Ein beleibter Polizist bedauerte, dass die UEFA den Schweizer Nationalspieler freigesprochen hatte. »Wo bleibt die Fairness?« Seine Kollegen quittierten seine Sorgen mit Gelächter.

Cavalli nickte ihnen im Vorbeigehen zu. Er nahm zwei Stufen auf einmal und steuerte die Kripoleitstelle im fünften Stock an, wo der Morgenrapport stattfand. Die Tür war geschlossen. Er machte sich nicht die Mühe anzuklopfen.

»Heitinga hat den Platzverweis verdient«, schlug ihm Juri Pileckis Stimme entgegen. Der drahtige Tscheche stand vor einer Tafel und notierte Zahlen in vier Kolonnen. »Nedvěd war atemberaubend, nur deshalb war es überhaupt – «

»Das heißt noch lange nicht – «

» – sind sowieso Gruppensieger«, stimmten Jasmin Meyer und Heinz Gurtner im Chor ein.

Meyer strich trotzig eine Haarsträhne aus dem Gesicht und kehrte dem unbeliebten Kollegen den Rücken zu. Der Geruch von Schweiß hing in der Luft.

Fahrni hörte dem Wortgefecht irritiert zu. »Es ist doch nur ein Spiel«, wandte er ein.

Niemand beachtete ihn. Er ließ seinen Blick durch den Raum gleiten und entdeckte Cavalli, der in der Tür stand. »Der Häuptling!«

Schlagartig wurde es still.

»Schon zurück?« Pilecki klopfte Cavalli freundschaftlich auf die Schulter. »Genug Theorie? Hast du die echte Arbeit vermisst?«

Cavalli zog eine Augenbraue hoch. »Nennst du das echte Arbeit?«

»Klar. Teambildung.« Pilecki grinste breit. Er war erstaunlich munter. Tschechien musste Holland besiegt haben. »Willst du auch einsteigen?«

Erst jetzt erkannte Cavalli die Zahlen auf der Tafel. Wo er normalerweise die gesammelten Daten eines Falls sorgfältig strukturierte, waren nun alle bisherigen Resultate der Europameisterschaft aufgelistet. Unter jedem Polizisten standen Punktzahlen. Fahrni führte.

Cavalli lehnte dankend ab. Er erzählte kurz, warum er früher als geplant zurückgekommen war. Dann kam er auf den Brand in Witikon zu sprechen. »Wir brauchen die Tafel. Hahn und Flint werden in wenigen Minuten hier sein.« Er griff nach dem Putzlappen.

»Halt, halt, halt.« Pilecki stellte sich vor die Wettliste und hob die Hand. »Wir sind nicht drei Monate lang untätig herumgesessen und haben Trübsal geblasen, nur weil du weg warst. Abgesehen von dieser anspruchsvollen Geschichte«, er deutete auf die Fußballresultate, »ermitteln wir in mehreren Todesfällen. Du kannst nicht einfach reinplatzen und verlangen, dass wir alles stehen und liegen lassen.«

»Die laufenden Fälle werde ich mir mit dir anschauen«, versprach Cavalli. »Jetzt hat dieser Brand Priorität.« Zu Beginn einer Ermittlung war er immer ungeduldig. Ein neuer Fall war wie ein Sprung ins kalte Wasser: Zuerst kam der Kälteschock, der ihn aufrüttelte; dann versank er mit angehaltenem Atem in einem See von Fragezeichen. Bald darauf setzte die Routine ein, und seine Arme und Beine führten automatisch Schwimmbewegungen aus. In dieser Phase passte er sich seiner neuen Umgebung an und wurde ruhiger. Doch so weit war er noch nicht.

Pilecki stimmte zu. »Trotzdem brauchen wir eine Viertelstunde, um die Resultate unserer gestrigen Arbeit zusammenzutragen.« Er kramte einige Franken aus seiner Hosentasche und hielt sie Cavalli hin. »Lade Regina und Hahn zu einem Kaffee ein.«

Cavalli beachtete seine ausgestreckte Hand nicht. Er ging in sein Büro. Kaum hatte er sich an seinen Schreibtisch gesetzt, klopfte es.

Regina blieb auf der Schwelle stehen, als sie Cavallis verschlossene Miene bemerkte. »Schlechter Start?«, fragte sie.

Cavalli deutete auf den Besucherstuhl. »Pilecki ist noch nicht so weit.«

Regina erinnerte ihn daran, dass sie um eins im Bezirksgericht sein musste. Sie hielt ihm Janetts Brandbericht hin. »Ich habe ihn noch nicht genau studiert. Auf den ersten Blick stimmt alles mit den Ergebnissen der Brandermittler überein. Janett hat übrigens eine Spraydose im Wohnzimmer gefunden. Könnte gut diejenige sein, die der Täter benutzt hat, um die ausländerfeindlichen Parolen an die Mauer zu sprayen. Es befand sich noch ein kleiner Rest brauner Farbe drin. Sie ist im Labor.«

»Hast du herausbekommen, warum er dir den Bericht persönlich übergeben wollte?«

Regina zögerte. »Nicht wirklich. Und du? Hast du die Liste der Hausbewohner erhalten?«

»Ja. Elf Personen sind registriert. Es handelt sich ausschließlich um Asylsuchende aus Afrika. Alles sogenannte ›besonders Verletzliche‹: Mütter mit Kleinkindern, ein unbegleiteter Minderjähriger, ein älterer Diabetiker sowie eine Schwangere. Deshalb sind sie separat untergebracht. Ich werde heute als Erstes das Migrationsamt aufsuchen.« Er stand auf. »Gehen wir!«

Die Tür zum Sitzungsraum stand offen. Hahn hatte sich bereits ausgebreitet. Seine langen Beine hatten kaum Platz unter dem Tisch.

Pilecki winkte Cavalli herein. Aus dem Augenwinkel sah Cavalli, dass die Tafel sauber war. Er setzte sich auf seinen angestammten Platz, etwas abseits von den anderen, und berichtete von den Ereignissen vom Wochenende. Dann präsentierte Hahn die Resultate der ersten Obduktion. Man sah ihm an, dass ihm der Tod der Kinder schwer aufs Gemüt drückte.

»Wie lange war der Mann schon tot?«, fragte Pilecki.

»Kann ich nicht mehr feststellen. Die Leiche ist zu stark verbrannt.« Hahn zog ein paar Bilder aus seiner Akte und reichte sie herum. »Vielleicht ein paar Stunden. Oder mehrere Tage.«

Gurtner betrachtete die Bilder nur oberflächlich. Schweißflecken bildeten sich unter seinen Armen. »Bist du sicher, dass er bereits vor dem Brand schwarz war?«

»Thok Lado, gemäß Unterlagen von Witikon siebzehnjährig. Aus der Region Darfur.« Cavalli befestigte das Foto an der Tafel. Dann griff er nach den nächsten Abzügen. »Zahra El Karib, vierundzwanzig Jahre alt. Ebenfalls aus Darfur. Ihre Kinder: Salma, drei Jahre alt, und Maryam, fünf Jahre alt.« Die Runde betrachtete schweigend die Bilder, Betroffenheit machte sich breit.