Tiefe Narben - Petra Ivanov - E-Book
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Tiefe Narben E-Book

Petra Ivanov

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Beschreibung

Bauarbeiten fördern die Leiche einer Frau zutage. Die Rippen wurden mit einer Gartenschere durchtrennt, der Schädel mit einem spitzen Gegenstand aufgebrochen – dasselbe Muster wie beim »Metzger«. Aber der sitzt im Gefängnis. Ein Nachahmungstäter? Doch woher weiß dieser, wie der »Metzger« mit seinem Opfer verfahren ist? Die Einzelheiten waren nur den Ermittlern bekannt. Da verschwindet eine weitere Frau. Mit ihr hatte Kriminalpolizist Bruno Cavalli ein Verhältnis. Verzweifelt hofft er, sie rechtzeitig zu finden. Vertrauen kann er nur noch Staatsanwältin Regina Flint, denn der Täter scheint über Insiderwissen zu verfügen.

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Über dieses Buch

Staatsanwältin Regina Flint und Kriminalpolizist Bruno Cavalli haben es mit ihrem bislang schwierigsten Fall zu tun: Ein brutaler Frauenmord weist auf den »Metzger« hin – aber der sitzt bereits im Gefängnis. Der Täter muss also über Insiderwissen verfügen. Wem können Flint und Cavalli noch trauen?

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin sowie Journalistin. Ihr Werk umfasst zahlreiche Kriminalromane, Jugendbücher und Kurzgeschichten.

Zur Webseite von Petra Ivanov.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Petra Ivanov

Tiefe Narben

Flint und Cavalli ermitteln gegen einen Insider

Kriminalroman

Ein Fall für Flint und Cavalli (5)

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Die Erstausgabe erschien 2010 im Appenzeller Verlag, Schwellbrunn.

Die Autorin dankt der Stadt Dübendorf für die Förderung ihrer Arbeit an diesem Buch.

© by Petra Ivanov 2010

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Jack Sparrow

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30638-7

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Version vom 22.09.2022, 23:23h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

TIEFE NARBEN

Juli 20011 — Heute2 – Er schlug die Decke zurück und legte ein …3 – Aufgespießte Kuhköpfe. Dort, wo der Hals war …4 – Er schaufelte den Rest Spaghetti so rasch in …5 – Regina betrat als Letzte die Kripoleitstelle. Das Gemüsegratin …6 – Cavalli stand vor der Helvti-Bar und blickte die …7 – Er hatte zuerst das Zimmer herrichten wollen …8 – Der Musikwettbewerb war schon im Gang, als Jasmin …9 – Regina legte das Ultraschallbild, das ihr der Frauenarzt …10 – Weine nicht«, flüsterte er. Seine Worte nützten nichts …11 – Gregor Leuthard wälzte sich hin und her …12 – Meyer liebte den Feierabendverkehr. Mit ihrer Ducati flitzte …13 – Cavallis Finger zitterten, als er die Tür aufschloss …14 – Er nahm ihren Teller, schöpfte Reis, Erbsen und …15 – Cavalli ging in die Hocke, um den Fuchs …16 – Der gefürchtete Anruf kam um 7.20 Uhr an …17 – Cavalli hatte seine Kollegen auf 7 Uhr ins …18 – Setz dich.« Cavalli deutete mit dem Kopf zum …19 – Walter Denoth arbeitete seit 29 Jahren bei der …20 – Die kahlen Äste hoben sich dunkel vom bleiernen …21 – Jasmin Meyer versuchte, die Augen zu öffnen …22 – Das Radkreuz fiel krachend zu Boden, als Dash …23 – Behutsam setzte er sich auf den Bettrand …24 – Regina fand keine bequeme Stellung. Auf der Seite …25 – Jasmin Meyer versuchte, sich so zu drehen …26 – Regina stieß sich mit beiden Beinen von der …27 – In der Mitte des Besprechungstisches stand ein rot-grüner …28 – Der Motor des Superbikes heulte auf, als Pal …29 – Tobias Fahrni klemmte sich einen Besucherausweis an die …30 – Sie sah ihm an, dass er ein Geheimnis …31 – Dash tauchte seine Finger in Schmiere, damit man …32 – Zum dritten Mal fragte Fahrni Beat Gutzwiler nach …33 – Wo steckte er nur? Seit gestern harrte sie …34 – Pilecki klopfte mit dem Kugelschreiber auf das Blatt …35 – Sie wusste nicht, ob es Morgen oder Abend …36 – Pilecki holte aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier …37 – Obwohl sie auf dem Rücken lag, hatte Jasmin …38 – Ich bins«, flüsterte Cavalli, um Regina nicht zu …39 – Rose schwebte an ihm vorbei wie eine Duftwolke …40 – Nach mehrmaligem Klingeln öffnete sich ein Fenster im …41 – Der Dampf der Suppe wärmte Meyers Kinn und …42 – Regina betrat am Montagmorgen als Erste die Staatsanwaltschaft …43 – Er ging mit ihr im Raum auf und …44 – Cavalli nahm eine Rolle Packpapier und hielt ein …45 – Sein Plan ging schief. Aufgebracht tigerte er in …46 – Fahrni saß an Meyers Schreibtisch, eine Schachtel Büroklammern …47 – Jedes Mal, wenn sie abdriftete, durchbohrte sie ein …48 – Aus dem Stöpsel in Fahrnis Ohr erklang die …49 – Ruhig lenkte Fahrni den Honda an der nächsten …50 – Jasmin Meyer hörte die zunehmende Aktivität gleichzeitig wie …WorterklärungenAbkürzungen

Mehr über dieses Buch

Über Petra Ivanov

Petra Ivanov: »Meine Figuren sind lebendig. Wenn ich nicht schreibe, verliere ich denn Kontakt zu ihnen.«

Petra Ivanov: »Mein Weltbild hat sich zum Besseren verändert, seit ich Krimis schreibe.«

Mitra Devi: Ein ganz und gar subjektives Porträt von Petra Ivanov

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»Po gjdo ndihm tash asht per mu von.«

(»Aber jede Hilfe kommt für mich zu spät.«)

Aus »Ushtari« von Driton Palushi, Juni 2008

Für Stephanie

Juli 2001

Ein letztes Mal kontrollierte er die schwere Eisentür. Rüttelte daran. Stieß mit der Schulter dagegen. Sie bewegte sich keinen Millimeter. Genau wie geplant. Zufrieden strich er mit der Hand über den roten Lack. Nirwana hatte jemand mit eckigen Buchstaben ins Metall geritzt. Erleuchtung. Wörtlich übersetzt: Erlöschen. Sie würde es nicht als Weg zum Glück betrachten, zumindest nicht zu Beginn. Doch wenn sie ihr bisheriges Leben auslöschte, wenn sie in einen Zustand der Zustandslosigkeit kam, würde er die Leere füllen. Dann sähe sie ein, warum es sein musste. Einsicht, dachte er. Nirwana ist Einsicht.

Seine Kopfhaut kribbelte, als er den Vorrat an Kabelbindern überprüfte. Diese Aufgabe mochte er am wenigsten, doch es war unumgänglich. Manche Frauen mussten zur Einsicht gezwungen werden. Auch vom Klebeband machte er nur ungern Gebrauch. Die Erstickungsgefahr war ihm zu groß. Lange hatte er deshalb nach einem abgelegenen Versteck gesucht, wo niemand ihre Schreie würde hören können. Schließlich hatte er aufgegeben. Die Schweiz war zu dicht besiedelt. Nirgends war man allein. Außer unter Menschen.

Im Winter könnte es hier kühl werden. Er hoffte, dass sie bis dahin so weit sein würde. Sonst müsste er eine Heizung installieren. Das würde zwar teuer, stellte ihn aber nicht vor zu große technische Probleme. Die Sommerhitze war unbedenklich, die dicken Mauern sorgten dafür, dass die Luft angenehm kühl blieb. Etwas feucht vielleicht, doch deshalb hatte er den Teppich verlegt. Die Rottöne des Blumenmusters sollten Geborgenheit vermitteln. Er hatte an alles gedacht. Nichts konnte schieflaufen. Heute Nacht würde sie einziehen. Genau wie geplant.

Aufgeregt schob er eine CD in die Anlage und drehte die Lautstärke aufs Maximum, wie jeden Dienstag-, Donnerstag- und Samstagabend in den letzten fünf Monaten. Er legte sich aufs schmale Bett und schloss die Augen. Ausnahmsweise ließ er die Bilder zu, die ihn immer begleiteten, einer chronischen Krankheit gleich. Wie sie vor ihm stand, die Brüste vom langen, dunklen Haar verdeckt, das sie tagsüber in einem engen Knoten gefangen hielt. Wenn er brav war, teilte sie die Strähnen, damit ihre Brustwarzen zum Vorschein kamen. Dann musste er ganz still liegen, die Hände an die Seiten gepresst. Die kleinste Bewegung genügte, und sie schnalzte missbilligend mit der Zunge. Wenn sie aber zufrieden mit ihm war, zog sie ihn aus. Langsam, die Finger leicht wie Schmetterlingsflügel. Die großen, braunen Augen auf ihn gerichtet. Ihre Haarspitzen kitzelten seine nackte Haut, ihre Brüste schaukelten hin und her.

Er hatte nicht gemerkt, dass er die Hose aufgeknöpft hatte. Sich tadelnd zog er die Hand zurück. Er durfte die Kontrolle nicht verlieren. Alles war genau durchdacht, aber sein Plan verlangte, dass er jeden Schritt so ausführte wie vorgesehen. Schon wieder machte sie ihm einen Strich durch die Rechnung. Er hörte sie in Gedanken lachen, dieses kehlige, abschätzige Lachen, das ihm die Tränen in die Augen getrieben hatte, und er ballte die Hände zu Fäusten. Nicht jetzt, schrie es in ihm. Nicht jetzt. In zehn Minuten musste er los. Genau wie geplant.

JAM BA TASH GATI ME DAL PREJ SHPIS

KUNDËR ARMIKUT ME LUFTU JAM NIS

Dash murmelte die Worte, die er notiert hatte, und ließ seinen Bleistift fallen. Mit Schwung stieß er sich vom Schreibtisch ab, der Drehstuhl wirbelte um die eigene Achse. Als er sich nicht mehr bewegte, legte Dash die Hand auf die Computertastatur. Er stellte den Beat ein, wiederholte den Reim.

NANEN BABEN MOTREN GRUN EDHE FMIN

I SHOF ME LOT NË SY, SEPSE MʼERDH KOHA ME SHKU, E DIN

Wie weiter?

Er fuhr sich mit der Hand durchs stachelige Haar, vergaß, dass er sich bereits zum Ausgehen frisiert hatte. Seine Handfläche glänzte vom noch feuchten Gel. Er fluchte.

»Dash!«, mahnte Bajram Selmani.

Sein Vater hörte alles. Obwohl er meist nur dasaß, den Blick auf eine Zeitung gerichtet, die er nicht las.

Dash klappte mit der sauberen Hand den Laptop zu und ging in die Küche. Dort schnippte er mit den Fingern.

SYT ME LOT KREJT, JUVE JU THAM LAMTUMIR

NANA DHE BABA MʼTHOJN DO TʼPRESUM O BIR

Laut rappte er die neuen Strophen.

Sein Vater sah auf, drehte das kantige Gesicht in seine Richtung, ohne ihn wahrzunehmen. Leise bat er ihn aufzuhören.

»Was?« Dashs Fuß gab immer noch den Rhythmus vor.

»Über den Krieg zu singen, steht dir nicht zu«, sagte sein Vater.

Dash wollte widersprechen, doch Baba widersprach man nicht. Schon gar nicht, wenn er in dieser Stimmung war. Obwohl Bajram Selmani noch nie die Hand gegen seinen Sohn erhoben hatte, fürchtete sich Dash vor ihm. Vor der Leere in seinen Augen. Vor seiner gebückten Haltung, dem Hinken. Auch jetzt, wo er nur dasaß, vor sich ein halbes Kilogramm Lammfleisch in verschweißter Folie.

Verstohlen blickte Dash auf die Uhr. Es war schon halb zehn. Um zehn hatte er sich in der Stadt verabredet. Wenn er nicht rechtzeitig erschien, würden seine Kollegen ohne ihn losfahren. Seit Wochen freute er sich aufs Konzert; es kam nicht oft vor, dass Etno Engjujt in der Schweiz auftrat.

Bajram Selmani stand auf. Wortlos holte er eine CD des Pianisten Desar Sulejmani, die er Dash reichte.

»Das ist richtige Musik«, sagte er.

Dash wippte ungeduldig mit dem Fuß.

»Geh, hör sie dir an«, befahl sein Vater.

»Ich muss los.« Dash bewegte sich rückwärts zur Tür.

»Hör sie dir an«, wiederholte sein Vater.

»Später.«

»Jetzt.«

Dash kam sich vor wie ein Insekt in einem Spinnennetz. Hilflos starrte er in die leeren Augen seines Vaters. Er schluckte mühsam. Wandte seinen Blick vom dünnen Mann ab, der vor ihm saß. Von dem sie sagten, er sei sein Vater.

Der Vater, den Dash in Erinnerung hatte, war stark gewesen. Mit geradem Rücken hatte er am Kopfende des Tisches gesessen, den Erzählungen seiner Kinder aufmerksam zuhörend. Ab und zu hatte er Fragen gestellt, um zu prüfen, ob sie im Schulunterricht tatsächlich aufgepasst hatten. Sie sollten es besser haben als er, studieren, etwas aus ihrem Leben machen. Seine feurigen Reden hallten Dash immer noch in den Ohren. Als die Repressionen der serbischen Behörden zunahmen, unterrichtete Bajram Selmani seine Söhne und die Kinder seiner Brüder selbst. Dash war damals erst sieben gewesen, das lange Zuhören war ihm schwergefallen. Manchmal holte ihn seine Mutter, und er durfte in der Küche helfen. Seinem Vater erklärte sie, sie brauche Dash, damit er Holz hole und anfeuere. Dass er in Wirklichkeit Äpfel schälte, verschwieg Nana. Das war Frauenarbeit.

In seinem Zimmer schob Dash die CD ins Laufwerk und klickte auf Play. Als Klaviertöne aus dem Laptop perlten, holte er seinen MP3-Player hervor. Er steckte die Stöpsel in die Ohren und wählte seinen Lieblingsrap. Mit geschlossenen Augen ließ er sich aufs Bett fallen, die Frisur war ihm egal.

MOTRA: VLLA ALLAHU DOT NDIHMOJ

GRUJA ME LOT NE SY: KURR SDO TË HARROJ

Er schrieb den Reim auf.

Große, braune Augen blickten ihn über den Rand des Weinglases hinweg an. Rehaugen, dachte er. Wie ihre. Er hatte gut gewählt.

Musik rieselte aus verborgenen Lautsprechern, ein Paar tanzte eng umschlungen. Nackte Arme und Beine ineinander verkeilt. Ein Mann gesellte sich dazu, stellte sich hinter die Frau und sah ihren Partner fragend an. Als dieser kaum merklich den Kopf schüttelte, versuchte er es bei einem anderen Paar.

»Ich glaube, das hintere Zimmer ist frei«, flüsterte sie ihm zu, mit der Zunge über sein Ohrläppchen fahrend.

In einem Zug leerte er sein Glas, setzte eine einstudierte, bekümmerte Miene auf.

»Du bekommst nicht etwa kalte Füße?«, scherzte sie. Als er nicht antwortete, verschwand das Lächeln auf ihrem Gesicht. »Im Ernst? Ist es dein erstes Mal?«

Er senkte den Blick. »Wird jemand zusehen?«

»Schon möglich. Ist dir das unangenehm?«

Er wand sich auf dem Barhocker.

»Warum bist du hier?«, fragte sie.

»Ich dachte … die Vorstellung … aber jetzt …«

Sie strich ihm über den Arm. Fast nachsichtig, als tröste sie ein Kind, das sich zu weit von seiner Mutter entfernt hatte. »Zu mir nach Hause können wir nicht.«

Er ließ sich nicht anmerken, dass er über ihre Ehe Bescheid wusste. Scheu bemerkte er, dass er in der Nähe wohne.

Genau wie geplant.

Zusammen traten sie in die Nacht hinaus. Die Personen, denen sie begegneten, starrten zu Boden. Niemand wollte erkannt werden.

Die Fahrt dauerte nur zehn Minuten. Im eigenen Revier zu jagen, war gefährlich, doch wie erwartet hatte gerade die geringe Distanz sie überzeugt. Erst als sie die Metalltür sah, wurde sie misstrauisch. Er beobachtete, wie sich eine Ahnung in ihren Blick schlich. Damit hatte er gerechnet. Zuerst würde sie ihr Unbehagen verdrängen, sich einreden, dass ihre Fantasie mit ihr durchgehe. Wenn sie dann begriff, dass sie ihrem Instinkt hätte folgen müssen, wäre es zu spät.

Hinter den Fenstern der Nachbarhäuser brannten keine Lichter. Das einzige Lebewesen, das sich mit einem leisen Schnurren bemerkbar machte, war eine schwanzlose Katze, die ihm um die Beine strich. Er hatte nie begriffen, warum er Katzen anzog. Weder fütterte noch kraulte er sie. Geräuschlos glitt der Schlüssel ins geölte Schloss.

»Wohnst du hier?«, fragte sie misstrauisch.

Rasch stieß er die Tür auf.

Sie zögerte. »Das ist doch kein …«

Mit der Hand packte er sie am Oberarm und schob sie in den Raum. Als sie den Mund zu einem Schrei öffnete, hatte er die Tür bereits zugeschlagen. Der hohe Ton, der die Stille zerriss, fuhr ihm in die Knochen. Als wäre der Schrei förmlich aus ihr herausgerissen worden. Weit aufgesperrte braune Augen starrten ihn an.

Erst jetzt merkte er, dass sie die Lippen zusammenpresste. Gleichzeitig traf ihn die Erkenntnis, dass der Schrei nicht von ihr, sondern von der Katze stammte, die er in der Tür eingeklemmt hatte.

Sie reagierte schneller als er. Bevor er die Tür richtig schließen konnte, schob sie den Fuß in den Spalt. Er spürte den Widerstand, als er mit aller Kraft dagegen stieß. Das schwere Metall prallte auf die Knochen, die unter dem Druck zerbrachen. Ein weiterer Schrei erfüllte die Dunkelheit, diesmal ein menschlicher. Er schien in seinen Ohren zu explodieren, hallte von den Wänden wider. Lange Fingernägel bohrten sich in seinen Hals, kratzten die Haut auf.

So hatte er das nicht geplant.

Die Wut erfasste ihn wie eine Sturmböe.

Er packte sie an den Haaren, riss sie an sich und begann, auf sie einzuschlagen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass die Tür offen stand. Er musste sie schließen. Sein Blick fiel auf die Dessous, die er extra für sie gekauft hatte. Größe 36. Rote Seide, die ihr dunkles Haar und ihre braunen Augen am besten zur Geltung brachte. Er griff nach dem Büstenhalter, wickelte ihn um ihren Hals. Zog daran, bis sie nur noch röchelte. Selber schuld, dachte er, er hatte viel Angenehmeres damit vorgehabt. Mit gestrecktem Bein versuchte er, die Tür zu erreichen, streifte sie aber nur mit den Zehenspitzen. Er trat einen Schritt näher, hörte sie immer noch röcheln. Jetzt schaffte er es, doch er setzte zu viel Kraft ein, und die Tür sprang wieder auf. Noch einen Schritt. Seine Hand berührte das Metall. Er hörte ein Klicken, als die Tür ins Schloss fiel. Dunkelheit umhüllte ihn. Er tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn aber nicht. Dabei kannte er diesen Raum genau, jeden Winkel hatte er eigens für sie gestaltet. Unzählige Wochen Arbeit investiert. Die sie innerhalb von Sekunden zunichtegemacht hatte. Er stolperte über etwas, fiel hin. Landete weich und warm. Sie röchelte nicht mehr. Sorgfältig löste er den Büstenhalter. Sie regte sich nicht.

Dash schlug die Augen auf, desorientiert und verwirrt. Sein Blick fiel auf den Laptop, der in den Standby-Modus übergegangen war. Da fiel ihm das verpasste Konzert ein. Fluchend setzte er sich auf, zu spät erinnerte er sich daran, dass sein Vater alles hörte. Es kam keine Zurechtweisung. Die Luft war stickig, die Jeans klebte ihm an den Beinen. Er öffnete das Fenster und lauschte. Zu Hause, in Kosovo, war die Nacht vom Bellen der Hunde erfüllt gewesen. Dash hatte keine Ahnung, woher sie alle gekommen waren. Tagsüber versteckten sie sich; kaum ging der Mond auf, krochen sie hervor. Herrenlose, streunende Hunde, die in allen Tonhöhen kläfften, jaulten, heulten. Das Echo hallte durch die Berge. Obwohl sie nie bissen, war er froh gewesen um die schützenden Wände um ihn herum. Um das sanfte Atmen seiner Brüder, die mit ihm das Zimmer teilten.

Die Stille in der Schweiz war ihm zu still.

Er kratzte sich am Kopf, wo das Gel sein Haar in eine pampige Masse verwandelt hatte. Das Display seines MP3-Players zeigte 02:54 Uhr.

VET JU KAM LAN, KAM THAN

QË DOT KTHEHNA PRAP

Ihr dürft ihn nie vergessen, hatte seine Mutter gesagt. Sie schien zu wissen, dass sie Baba nicht wiedersehen würde. Dash hatte geglaubt, Nana habe den Tod seines Vaters in den Sternen gelesen, wenn sie nachts wie er in den Himmel starrte. Aber es war nicht Baba, der starb. Sondern Nana.

UNE BESEN DOT JAV JAP

DO TʼJU PERCJELL NË GJDO HAP

Leise schlich Dash in die Küche. Sein Vater saß immer noch am Küchentisch, den Kopf auf die Zeitung gebettet. Ein dünner Speichelfaden rann aus Bajram Selmanis Mundwinkel, verschmierte die schwarzen Buchstaben. Dash legte ihm die Hand auf die Schulter, doch er rührte sich nicht. Er holte einen zweiten Stuhl, der überhaupt nicht zu jenem passte, auf dem sein Vater saß. Genauso wenig, wie sie zueinanderpassten. Er stellte den Stuhl im gleichen Winkel hin, setzte sich neben seinen Vater und legte den Arm auf den Tisch. Als sein Kopf bequem lag, rutschte er näher an den schlafenden Mann heran, bis er ihn auch am Oberschenkel berührte. Die Wärme, die von seinem Vater ausging, war ihm nicht so vertraut wie das Bellen der Hunde.

DAL PERJASHT, KREJT JAN TUM PRIT

PERMAS I LA FAMILJEN, JAN TU MERZIT

I KQYRI EDHE NIHER PERMAS NISA MU NGUSHTU

PO SYT ME LOT JO NUK MI SHE TI MU

1

Heute

Das hier dürfte euch am meisten interessieren«, sagte Uwe Hahn. Der Rechtsmediziner zeigte auf zwei Knochenstücke. »Brustbein und Rippen.« Er richtete die Lampe so aus, dass sie die Bruchkanten entlang der Rippen beleuchtete, und legte weitere Knochenstücke daneben. Sie passten perfekt zusammen. »Fernando, die Lupe bitte.«

Der Präparator reichte Hahn eine Lupe. Dünne, graue Haarsträhnen fielen dem Rechtsmediziner in die Stirn, als er sich über die Knochen beugte. Er winkte Bruno Cavalli zu sich. Neben dem hellen Rechtsmediziner fiel die indianische Abstammung des Kriminalpolizisten stärker auf als sonst. Seine Haare, die er kürzlich bis auf wenige Millimeter abgeschnitten hatte, glänzten schwarz im künstlichen Licht.

Mit langem Haar hatte er ihr besser gefallen, dachte Regina Flint. Die Staatsanwältin stand etwas abseits, die Hand auf dem Bauch, als wolle sie das wachsende Leben in sich vor dem Tod schützen. Im Institut für Rechtsmedizin war der Tod allgegenwärtig, nicht nur auf den Sektionstischen, sondern auch in den silbernen Kühlfächern der Aufbahrung nebenan oder einen Stock höher, wo trauernde Angehörige empfangen wurden.

»Wie sind die Brüche entstanden?«, fragte Cavalli.

»Es sind keine Brüche«, antwortete Hahn. »Sondern Schnitte. Wenn du die Knochen zusammenfügst, siehst du v‑förmige Scharten. Die Rippen wurden entlang der Knorpelknochengrenze durchtrennt.«

»Eine Säge?«

Hahn verneinte. »Keine Längsspuren oder Kerben.«

»Also auch kein Schlag?«

»Nein.«

Cavalli richtete sich auf. Ungeduldig zog er eine Augenbraue hoch. »Sondern?«

Neben ihm beugte sich Martin Angst über das Skelett. Mit einer Taschenlampe beleuchtete der Kriminaltechniker die Seiten der Knochen. Hahn reichte ihm die Lupe.

»Hast du etwas für mich gefunden?«, fragte Angst.

Hahn verneinte. »Nur biologisches Material.«

»Womit wurden die Rippen nun durchtrennt?«, wollte Cavalli wissen.

»Mit einer Gartenschere.« Hahns Stimme zitterte leicht.

Am Tisch nebenan nahm ein Sektionspfleger eine Niere von einem Tablett. Er spülte sie ab und legte sie in eine Waagschale. Das regelmäßige Rauschen des Wassers löste bei Regina Harndrang aus. Sie fixierte einen grünen Aufkleber am Kasten gegenüber. Plötzlich ging ihr ein Licht auf. Wie oft schon hatte sie während ihrer dreizehn Jahre als Staatsanwältin Hahn am »grünen«, »roten« oder »blauen« Tisch gegenübergestanden? Erst jetzt begriff sie die Bedeutung der Farben. Der Aufkleber des FC St. Gallen wies darauf hin, dass die Behältnisse im Kasten zum grünen Tisch gehörten. Ihr Blick wanderte zum Kasten daneben. Blau. FC Luzern. Sie lächelte.

»Regina?« Hahns Stimme klang besorgt.

»Eine Gartenschere?«, wiederholte sie.

»Soll ich dir einen Stuhl holen?«

»Postmortal?«, fragte Cavalli.

»Unglücklicherweise behält Knochengewebe noch einige Zeit nach dem Tod seine physikalischen und biochemischen Eigenschaften. Deshalb lassen sich Verletzungen, die kurz vor dem Tod entstanden sind, nicht von späteren unterscheiden. Dazu müsste ich die Organe untersuchen.« Hahn musterte die Leiche. »Aber von ihnen ist kaum etwas übrig geblieben. Trotzdem wissen wir, dass es sich um frische Knochen handelt und nicht um ein Skelett aus einem früheren Jahrhundert. Das ist an der unregelmäßigen Bruchkante zu erkennen, die auf eine noch intakte Verbindung von Kristallstruktur und organischem Gewebe hinweist.«

Plötzlich wurde Regina kreideweiß. »Eine Gartenschere?«

Hahn schwieg.

»Der ›Metzger‹?«, flüsterte sie.

»Möglicherweise«, sagte Hahn.

»Aber er sitzt seit vier Jahren im Gefängnis!«

»Die Leiche lag einige Jahre in ihrem Erdgrab«, erklärte Hahn.

»Dann hat der ›Metzger‹ also mehr als eine Frau auf dem Gewissen?« Regina schauderte.

Obwohl das Herbstsemester offiziell schon angefangen hatte, würden die ersten Vorlesungen erst in einer Woche beginnen. Ohne Studenten wirkte das Gelände der Universität Irchel leer. Am künstlichen See setzten sich Regina und Cavalli auf eine Bank. Regina schob sich ein Darvida in den Mund und kaute mechanisch. Cavalli war in den USA gewesen, als der »Metzger«, wie er von den Medien genannt wurde, im Sommer 2001 eine Frau brutal ermordet und aufgeschnitten hatte. Geschlachtet, hätte sie fast gesagt, doch sie versuchte, neutral zu berichten.

Sie war damals noch nicht bei der Staatsanwaltschaft IV gewesen, die auf Gewaltdelikte spezialisiert ist, kannte die Ermittlungen deshalb nur vom Hörensagen. Trotzdem stiegen Bilder in ihr auf, während sie erzählte. Sie sah einen Teich vor sich, dessen Wasseroberfläche mit Seerosen bedeckt war, hörte die Frösche quaken. Die steilen Hänge der ehemaligen Kiesgrube, wo die Leiche gefunden worden war, schirmten das Naturschutzgebiet gegen außen hin ab.

Niemand hatte etwas gesehen. Oder gehört.

Spielende Kinder hatten die Hand zuerst für einen Fisch gehalten.

»Die Kiesgrube in der Nähe des Mattenhof-Quartiers?«, fragte Cavalli. »In Schwamendingen?«

Regina nickte. Die Bilder hatten sich ihr ins Gedächtnis eingegraben, weil sie selbst schon an diesem Teich gestanden war. Sie wohnte in Gockhausen, nur wenige Kilometer entfernt. Auf einem Spaziergang hatte sie den verwachsenen Eingang in die ehemalige Kiesgrube entdeckt, war dem schmalen Pfad gefolgt. Der versteckte Teich war ihr wie ein magischer Ort vorgekommen. Seit dem Leichenfund hatte sie die Kiesgrube gemieden.

Die Rippen der jungen Frau im Teich waren mit einer Gartenschere aufgetrennt, der Schädel mit einem spitzen Gegenstand aufgebrochen worden wie eine Kokosnuss. Das Großhirn hatte Hahn in der Bauchhöhle des Opfers gefunden. Regina erinnerte sich, dass der Rechtsmediziner wochenlang ungewöhnlich schweigsam gewesen war.

Cavalli hörte zu. Als Regina verstummte, krempelte er die Ärmel seines Hemdes hoch und stützte sich mit den Unterarmen auf den Oberschenkeln ab. Er versuchte, sich die Leiche im Wasser vorzustellen. Seine Jeans roch nach Desinfektionsmittel, stellte er fest. Unauffällig schnupperte er an seinem Hemd. Schweiß. Seit der Schussverletzung, die er sich vor sieben Monaten zugezogen hatte, schwitzte er schon bei der kleinsten Anstrengung. Inzwischen galt er wieder als voll arbeitsfähig. Insgeheim zweifelte er jedoch daran, dass er es je wieder sein würde. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, manchmal fürchtete er, wichtige Hinweise zu übersehen. Die drei Wochen, die er nach seiner Verletzung in einem georgischen Gefängnis zugebracht hatte, hatten die Heilung zusätzlich verzögert.

»Cava?« Reginas Stimme kam von weit weg.

»Hm?«

»Ich muss Landolt davon erzählen.«

Einen Moment begriff Cavalli nicht, was sie ihrem Vorgesetzten erzählen wollte. Sein Blick fiel auf ihre Hand, die auf ihrem flachen Bauch ruhte.

»Meine Vertretung muss organisiert werden«, sagte sie.

Cavalli schwieg.

»Hahn weiß, dass ich schwanger bin.«

»Du hast es ihm erzählt?«

Regina schüttelte den Kopf. »Er hat ein feines Gespür für Körper. Auch für lebende.«

Cavallis Blick folgte einem Jungen, der mit seinem Dreirad über den unebenen Weg fuhr. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Rad kippte. »Wer leitete 2001 die Ermittlungen?«

Regina schluckte den Ärger hinunter, den Cavallis Themenwechsel in ihr auslöste. Jedes Mal, wenn sie ihr gemeinsames Kind ansprach, wich er aus. Beharrte sie darauf, über die Zukunft zu reden, so endete das Gespräch immer in einem Streit. Sie hatte einsehen müssen, dass Cavalli im Moment weder psychisch noch physisch in der Lage war, Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. Er schaffte es kaum, nach seinem verletzungsbedingten Urlaub im Beruf Fuß zu fassen. Doch während sie sich wöchentlich mit ihrer Therapeutin traf, um die schrecklichen Erlebnisse in Georgien zu verarbeiten, lehnte Cavalli jede Hilfe ab.

Cavalli wiederholte seine Frage.

»Silvio Tozzi«, antwortete Regina.

Cavalli verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

»Ich weiß«, sagte Regina.

Ihr Abteilungsleiter war nicht bekannt für seinen Arbeitseifer. Wenn sie es mit einem weiteren Opfer des »Metzgers« zu tun hatten, käme sie jedoch nicht darum herum, mit ihm zusammenzuarbeiten. Warum hatte sie ausgerechnet diese Woche Brandtour? Wäre die Leiche zwei Tage später entdeckt worden, hätte Tozzi selbst den Fall übernehmen müssen.

Eine Frau, hatte Hahn gesagt. Um die dreißig Jahre alt. Weitere Äußerungen waren dem Rechtsmediziner nicht zu entlocken gewesen. Über den Todeszeitpunkt wollte er nicht spekulieren. Sie würden sich gedulden müssen, bis die Laborresultate eintrafen. In der Zwischenzeit würde Cavalli die Vermisstenanzeigen durchgehen. Seltsam fand Regina, dass der »Metzger« nie ein weiteres Opfer erwähnt hatte. Er hatte sich freiwillig gestellt und ein vollumfängliches Geständnis abgelegt. In der Strafanstalt Pöschwies saß er eine lebenslängliche Strafe ab.

Das Dreirad kippte, als der Junge den Lenker nach rechts riss. Das Kind stieß einen lauten Schrei aus. Cavalli drehte ihm den Rücken zu.

»Muss ich sonst noch etwas wissen?«, fragte er.

Regina stand auf. »Ich lass dir alle Unterlagen zukommen. Tozzi ist heute Nachmittag am Gericht. Ich werde vermutlich erst morgen mit ihm reden können.«

Nachdem Cavalli Regina am Helvetiaplatz abgesetzt hatte, fuhr er zum Kripogebäude und bog in die Tiefgarage ein. Dort schaltete er den Motor aus und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Sofort sah er vor sich, wie Regina die Hand auf den Bauch gelegt hatte, ganz ruhig, als wolle sie dem Ungeborenen versichern, dass es nicht alleine war. Obwohl ihr die Wochen im Gefängnis genauso zugesetzt hatten wie ihm, lag bereits wieder ein Leuchten in ihren blauen Augen. Dass sie sich auf das Kind freute, war offensichtlich. Dabei hatte sie immer behauptet, ihr Beruf fülle sie voll aus. Er kannte keine andere Staatsanwältin, die ihre Fälle so ernst nahm. Sie nutzte nicht nur ihr Fachwissen, sondern auch ihren Verstand und ihr Einfühlungsvermögen. Angeschuldigten, Zeugen und Opfern begegnete sie respektvoll, versuchte, sich nicht von Vorurteilen leiten zu lassen. Den Vorwurf, sie grenze sich zu wenig ab, quittierte sie mit einem Schulterzucken.

Wie würde sie das mit einem Kind schaffen? Bis jetzt hatte sie keine Forderungen an ihn gestellt. Erwartete sie, dass er sich an der Betreuung beteiligte? Oder lediglich einen finanziellen Beitrag leistete? Er wollte es gar nicht wissen, gestand er sich ein. Nicht, bevor er sich darüber im Klaren war, wie sein Leben weitergehen sollte.

Mit Zeigefinger und Daumen massierte er seinen Nasenrücken. Vor vier Wochen hatte sein Sohn eine Kochlehre begonnen. Im März würde Christopher achtzehn werden. Zehn Tage vor dem voraussichtlichen Geburtstermin von Reginas Kind. Von seinem Kind.

Es klopfte an die Scheibe. Cavalli schreckte auf. Sein Vorgesetzter, Mathias Hug, runzelte besorgt die Stirn. Cavalli ließ die Scheibe hinunter. Ende Jahr würde Hug pensioniert. Lange waren Cavallis Mitarbeiter davon ausgegangen, dass er Hugs Nachfolge als Chef des Dienstes Kapitalverbrechen antreten würde. Seit seiner Verletzung zweifelten jedoch viele daran, dass er die nötigen Fähigkeiten mitbrachte. Cavalli hatte sich zwar immer gegen reine Führungsaufgaben gewehrt, doch nun käme ihm eine Beförderung zum Adjutanten mehr als gelegen. Die Gehaltserhöhung würde er brauchen, um die Alimente zu bezahlen, dachte er grimmig. Deshalb hatte er sich trotz Bedenken um die Stelle beworben.

»Alles in Ordnung?«, fragte Hug.

»Die Knochen stammen mit großer Wahrscheinlichkeit von einem weiteren Opfer des ›Metzgers‹«, sagte Cavalli.

Hug erstarrte. »Der ›Metzger‹ sitzt in der Pöschwies!«

»Die Leiche lag einige Jahre begraben«, erklärte Cavalli.

Hug seufzte erleichtert auf. »Ich dachte schon, wir hätten es mit einem Nachahmungstäter zu tun!«

»Die Schnittspuren an den Knochen decken sich mit jenen am ersten Opfer. Es wurde wiederum eine Gartenschere benutzt, um die Rippen zu durchtrennen.« Als Hug nicht antwortete, fragte Cavalli: »Stand der ›Metzger‹ nie unter Verdacht, weitere Frauen ermordet zu haben?«

»Nicht ernsthaft. Er legte sofort ein Geständnis ab. Ich habe die polizeilichen Ermittlungen damals geleitet. Wir waren verblüfft, zweifelten zuerst an seiner Glaubwürdigkeit. Als die DNA aber übereinstimmte, war der Fall klar.«

»Regina hat nichts von DNA-Spuren gesagt.«

»Im Mund des Opfers wurde ein Eichenblatt gefunden. Es konnte genügend DNA isoliert werden, um die Spur auszuwerten. Das Blatt wurde eindeutig einem Baum zugeordnet, der neben dem Wohnblock des ›Metzgers‹ in Wetzikon stand.«

»Wie kam die Leiche in die Kiesgrube?«

»Das haben wir nie herausgefunden.«

An der Art, wie Hug die Ellenbogen anwinkelte, erkannte Cavalli, dass ihm die Frage unangenehm war.

»Zuerst dachten wir an einen Komplizen«, erzählte Hug. »Aber nichts deutete darauf hin. Lies dich ein. Es ist viel Material vorhanden.«

Cavalli nickte. »Ich möchte mir zuerst den Fundort der Knochen ansehen. Die Leiche lag im Keller eines Bauernhauses, das abgerissen wird.«

»Mach das. Und lass dir Zeit.«

Cavalli ärgerte sich über den Rat, der zwar freundlich gemeint, aber ein Hinweis darauf war, dass Hug ihn noch nicht für gesund hielt. Zweifelte er daran, dass Cavalli dem Fall gewachsen war? Wortlos ließ Cavalli die Scheibe hinauf und startete den Motor. Die Ermittlungsakten würde er später holen.

Der Weiler Stettbach lag hinter einem Hügel am Stadtrand. Wer nur den gleichnamigen Bahnhof kannte, würde nie vermuten, dass sich zweihundert Meter entfernt ein idyllisches Bauerndorf versteckte. Vor hundertfünfzig Jahren hatten Kutschen in Stettbach haltgemacht, bevor sie den Zürichberg überquerten. Heute fuhren hauptsächlich Radfahrer durch den Ort, auf dem Weg zum nahe gelegenen Greifensee.

Vor seiner Verletzung war Cavalli ab und zu an Stettbach vorbeigejoggt, wenn er Regina besucht hatte. Als er die Baustelle im Dorfkern sah, merkte er, wie lange das zurücklag. Vom alten Bauernhaus waren nur noch die Außenmauern übrig; wo einst eine Scheune gestanden hatte, setzten Arbeiter Fenster in neue Reihenhäuser ein. Auch hinter dem Dorfbrunnen ragte ein Baugerüst in die Höhe. Investoren hatten die günstige Lage Stettbachs erkannt. Offensichtlich verdienten sie mehr, wenn sie die alten Gebäude abbrachen, statt sie zu renovieren, dachte Cavalli.

In der Bauruine erblickte er rot-weißes Absperrband; dort hatte man die menschlichen Überreste gefunden. Cavalli stieg durch eine Fensterlücke ein, erstaunt, dass sich weder Baumaschinen noch Arbeiter in der Nähe befanden. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit beendet, der Polizeifotograf den Fundort dokumentiert. Bald dürften die Bauarbeiten wieder aufgenommen werden. Nichts deutete darauf hin, dass das geschehen würde.

Der Wind wehte Cavalli einen pulvrigen Geruch zu, der ihn an Zitronenbrausetabletten erinnerte. Es dauerte einen Moment, bis er den Zusammenhang zur Firma Givaudan herstellte, die an der Glatt Riechstoffe und Aromen produzierte. Er ging in die Knie, bis er nur noch die Bauruine roch.

Aus dem Augenwinkel nahm Cavalli eine Bewegung auf der Mauer wahr. Als er sich umdrehte, sah er eine schwanzlose Katze. Sie marschierte scheinbar gleichgültig über die Backsteine. Regina liebte Katzen, schoss es Cavalli durch den Kopf. Nur die Vernunft hielt sie davon ab, sich eine anzuschaffen. Sie sei zu oft weg, habe nicht die Zeit, sich um ein Haustier zu kümmern, behauptete sie. Vielleicht würde sich das ändern, wenn das Kind da war. Cavalli stellte sich vor, wie sie auf dem Sofa vor dem Schwedenofen saß, das Kind im Arm, eine Katze zu ihren Füßen. Nur er selbst fehlte auf dem Bild.

Im Haus schräg gegenüber hörte er eine Tür ins Schloss fallen, kurz darauf bog eine ältere Frau um die Ecke. Mit einem Sprung durch die Fensteröffnung verließ Cavalli die Bauruine.

»Wohnen Sie hier?«, fragte er, während er seinen Polizeiausweis hervorholte.

»Seit elf Jahren. Davor im Mattenhof.« Die Frau zeigte Richtung Naturschutzgebiet, wo die erste Leiche im Teich gefunden worden war.

Cavalli fragte nach dem Stand der Bauarbeiten. Er erfuhr, dass die Stadt Dübendorf wegen eines Rekurses einen Baustopp verfügt hatte. Das Bauernhaus stand im Inventar der schützenswerten Kulturobjekte. Deshalb hätten alle Mauern unverändert stehen bleiben müssen. Offenbar hatte das die Bauherren nicht gekümmert. Cavalli nahm die Personalien der Frau auf. Möglicherweise würde er sie später vorladen müssen. Er würde der Frage nachgehen, ob der Rekurs tatsächlich mit der Verletzung der Heimatschutzbestimmungen zusammenhing. Vielleicht wollte jemand aus einem andern Grund nicht, dass zu tief gegraben wurde.

Auf dem Weg zurück zu seinem Volvo rief sich Cavalli in Erinnerung, dass der »Metzger« zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Da keine unmittelbare Gefahr mehr von ihm ausging, konnte Cavalli die Ermittlungen also in Ruhe angehen. Außer der Klärung der Identität des Opfers galt es einzig nachzuweisen, dass die Tote ebenfalls auf das Konto des »Metzgers« ging. Die Spuren an den Knochen sprachen eine deutliche Sprache. Auch die geografische Nähe der beiden Leichenfundorte war auffällig. Kurz überlegte Cavalli, die Akten aus dem Büro zu holen; ein Blick auf sein Handy zeigte ihm aber, dass es bereits 18 Uhr war. Ob Regina zu Hause war? Sie hatte ihren Vorsatz, weniger Überstunden zu leisten, bisher unerbittlich in die Tat umgesetzt.

Ihre Tür war verschlossen, doch dahinter hörte er klassische Musik. Obwohl er den größten Teil seiner Kleidung nach dem Desaster im Kaukasus wieder in seine Wohnung in Witikon zurückgebracht hatte, besaß Cavalli immer noch einen Schlüssel. Als er die Tür aufstieß, rief er Reginas Namen. Der Duft von Brokkoli schlug ihm entgegen.

»Du kochst?«, staunte Cavalli, als Regina aus der Küche erschien. Meistens ernährte sie sich von Fertiggerichten.

»Ich muss auf meine Gesundheit achten.«

»Eben. Schieb lieber eine Tiefkühlpizza in den Ofen.«

Sie warf einen Topflappen nach ihm. »Du könntest mir ja helfen.«

Cavalli folgte ihr in die Küche. »Gibt es noch etwas zu retten?«

Sie streckte ihm die Zunge raus. Ihr Gesicht war feucht vom Dampf des Brokkoliwassers, eine Haarsträhne klebte an ihrem Hals. Als er sich vorstellte, die Locke von der zarten Haut zu lösen, verblasste die düstere Stimmung der letzten Monate. Ein Anflug von Leichtigkeit überkam ihn, fast, als hätte er das Glück mit den Fingerspitzen gestreift. Regina strahlte eine Zuversicht aus, die ihn ansteckte.

Bevor er dazu kam, eine Hand nach ihr auszustrecken, drang der Geruch von Verbranntem in seine Nase. Er hob den Deckel der Bratpfanne, und eine Rauchwolke hüllte ihn ein.

»Die Kartoffeln!«, entfuhr es Regina.

Er rettete die wenigen unversehrten Würfel. »Etwas Öl wirkt Wunder. Nur, falls du wieder einmal Bratkartoffeln machen willst.«

»Öl ist nicht gesund«, klagte Regina.

»Dann koch lieber Salzkartoffeln«, grinste Cavalli. Er schüttete das Brokkoliwasser ab und kippte den verkochten Inhalt der Pfanne auf einen Teller. »Und wenn wir gerade dabei sind: So kommst du nicht zu deinen Vitaminen. Die sind jetzt alle im Wasser.«

Entmutigt ließ sich Regina auf einen Stuhl fallen. Cavalli stellte sich hinter sie und strich ihr über den Hals. Sie lehnte sich zurück, überrascht über seine unerwartete Liebkosung. Während der letzten Monate hatte er sich immer mehr zurückgezogen. Er erklärte sein Verhalten damit, dass er Distanz brauche, um die Ereignisse zu verarbeiten. Zugegeben, das war ihre Interpretation, nicht seine, doch darauf lief es hinaus. Cavalli suchte nicht bei Menschen Hilfe, wenn er angeschlagen war, sondern in der Einsamkeit. In dieser Beziehung hätten sie unterschiedlicher nicht sein können.

»Vielleicht gibt dir Chris ein paar Kochstunden«, schlug Cavalli vor. »Seit er im Hotel angefangen hat, sind seine Kochkünste raffinierter geworden.« Cavallis Sohn hatte ein Jahr lang in einer Pizzeria gearbeitet, bevor er seine Kochlehre begann.

Regina schloss die Augen. Ihr Verlangen nach Zärtlichkeit übertraf ihren Hunger. Sie traute sich nicht, sich zu bewegen, aus Angst, Cavalli zöge seine Hände wieder zurück.

»Du musst etwas essen«, flüsterte er ihr ins Ohr.

»Ich habe keinen Hunger mehr«, murmelte sie.

Mit einer Hand griff Cavalli nach einem welken Brokkolistück und schob es ihr in den Mund. Die andere Hand kraulte weiter.

Regina kaute so langsam wie möglich. Sie aß weiter, als sie längst satt war. Nachdem Cavalli den letzten hellen Kartoffelwürfel mit der Gabel aufgespießt hatte, richtete er sich auf. Er sammelte das Geschirr ein und stapelte es in der Spüle. Die Bratpfanne füllte er mit Wasser, stellte sie auf die Ablage und gab zur Sicherheit noch etwas Spülmittel hinzu. Hinter ihm war es still.

Als er sich umdrehte, sah er die Hoffnung in Reginas Augen. Das Glücksgefühl verschwand.

2

Er schlug die Decke zurück und legte ein nacktes Bein darauf. Obwohl die Septembernacht kühl war, schwitzte er. Im Schlaf hatte er sich unruhig hin und her gewälzt, ein Traumbild hatte das andere gejagt.

Ihm war, als spürte er immer noch ihre Hände auf seinem Körper. Mit dem Zeigefinger hatte sie eine Linie von seiner Nase über die Lippen, den Hals, das Brustbein, den Bauchnabel bis zu seinem Geschlecht gezogen. Er hatte lange gebraucht, bis er gelernt hatte stillzuhalten. Das erste Mal hatten ihn Scham und Lust überwältigt. Er war erst vierzehn gewesen, ungeschickt und schüchtern. Fünf trostlose Ferienwochen hatten vor ihm gelegen. Die Zeit hatte sich in die Länge gezogen wie Melasse, eine endlose Reihe von Sekunden, Minuten, Stunden.

Bis sie ihn gefragt hatte, ob er Lust auf ein Spiel habe.

Die Regeln stellte immer sie auf. Dafür war er dankbar. Er schaffte es kaum, sich zu zügeln. Seine Aufregung mischte sich mit Angst, er verstand nicht, was mit ihm passierte. Peinlich genau befolgte er ihre Anweisungen; missachtete er sie nur ein einziges Mal, fiel die Strafe hart aus. Einmal musste er einen ganzen Nachmittag nackt vor ihr stehen, während sie bügelte. Nicht einmal anfassen durfte er sich. Erst als sie hörte, dass sein Vater nach Hause kam, scheuchte sie ihn in sein Zimmer, wo er sich sofort anzuziehen hatte.

Auch jetzt fasste er sich nicht an. Damit bewies er sich, dass er sich unter Kontrolle hatte. Er spürte, wie etwas in ihm aufflammte, das er erloschen glaubte, und biss sich auf die Unterlippe. Als ihm das Schicksal eine zweite Chance gegeben hatte, hatte er alles darangesetzt, sie zu nutzen. Die ersten Monate waren die härtesten seines Lebens gewesen. Zu verzichten, zu vergessen, seine Träume zu begraben, hatte ihn fast um den Verstand gebracht. Mit den Jahren wurde es einfacher. Er war stolz auf seine Selbstbeherrschung. Lernte, mit der Sehnsucht zu leben.

Dass Camille ausgerechnet jetzt wieder in sein Leben trat, würde er ihr nie verzeihen. Camille Sommerhalder. Der Name passte zu ihrem Haar. Nie zuvor hatte er sich in eine Blondine verliebt. Doch er hatte keine Zeit für die Suche gehabt, musste schnell handeln. Camille war ein Geschenk gewesen, eine Bestätigung, dass er richtig gehandelt hatte. Trotz ihres hellen Teints waren ihre runden Augen so braun wie Valerias. Sie erinnerten ihn an zwei glänzende Kastanien, rund, leicht nach vorne gewölbt. Zu Beginn waren sie stets mit einem Tränenfilm bedeckt gewesen. Nach und nach fasste sie aber Vertrauen zu ihm. Als sie ihm erzählte, dass sie auf ABBA stand, deckte er sie mit Musik ein. Sie tanzten zu »Dancing Queen«, ausgelassen und fröhlich, er wirbelte sie herum, bis ihr Haar einen waagrechten Fächer bildete.

Ein Stöhnen entwich seiner Brust. Rasch setzte er sich auf. »Kontrolle«, murmelte er, »Kontrolle. Nicht die Beherrschung verlieren.« Liegestützen halfen. Energie ablassen. Auf, ab, auf, ab. Kniebeugen. Noch eine. Und noch eine. Der Schweiß rann ihm hinab, Salz brannte ihm in den Augen. Trotzdem wurde er nicht müde. Camille hatte ihn verraten. Ausgerechnet jetzt. Jahrelang hatte er durchgehalten, und wofür? Er hörte, wie sie ihn auslachte. »Halts Maul, du verdammte Schlampe!«, schrie er.

3

Aufgespießte Kuhköpfe. Dort, wo der Hals war, nichts als Leere. Blut tropft auf den Boden, lange Zungen baumeln von den leblosen Kiefern. Es sind alles Männer in der Schlachthalle. Metzger, Veterinäre, Kontrolleure. Sie stehen auf Stahlgerüsten und an Computern, in der Hand halten sie Sägen, Messer oder Wasserschläuche. Die weiß gekachelten Wände glänzen nass, Maschinen dröhnen. Tierkörper ziehen an Haken vorbei, Innereien fallen auf Förderbänder. An einer Arbeitsstation wird den Kühen die Haut abgezogen. Ein Kontrolleur schreit, damit ihn der Kollege am Bildschirm trotz des Lärms hört. Der Geruch von Desinfektionsmittel ist allgegenwärtig. Die Arbeiter schwitzen in ihren Gummistiefeln. Sie tragen grüne, rote und weiße Schürzen. Die Grünbekleideten arbeiten im Stall, denn Grün beruhigt die Tiere. Die gelernten Metzger tragen Weiß. Dazwischen sägen, hacken und schneiden Hilfsarbeiter in roten Plastiküberzügen. Ihre Gesichter glänzen unter ihren Helmen. Als die Polizisten die Schlachthalle betreten, hält einer der rot bekleideten Arbeiter inne. Endlich, denkt er, während sie in seine Richtung schauen. Endlich ist es vorbei. Er wischt sein Messer ab und klettert vom Gerüst. Hinter ihm ziehen die leblosen Kühe weiter.

Regina legte den Verhaftsrapport beiseite und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

»Was ist?«, fragte Silvio Tozzi.

Regina schluckte. »Ich kann mir die Szene so lebhaft vorstellen.«

Tozzi blickte auf das nüchterne Protokoll. In wenigen Sätzen hatte der Sachbearbeiter der Kantonspolizei die Verhaftung im Schlachthof festgehalten.

Regina räusperte sich. »Was ist er für ein Mensch?«, fragte sie, bevor die Fantasie erneut mit ihr durchging.

»Bajram Selmani«, begann Tozzi, »war zum Zeitpunkt seiner Verhaftung 38 Jahre alt. Vier Jahre zuvor war er aus Kosovo in die Schweiz geflüchtet. Er fand ziemlich rasch Arbeit im Schlachthof.«

Der »Metzger«, dachte Regina. Sie hatte nach dem Menschen gefragt, nicht nach den Jahreszahlen. Für Tozzi lief es auf dasselbe hinaus. Sie betrachtete die Aktenschränke vor sich. Nicht viel Material, in Anbetracht des Verbrechens. Meist füllten Mordfälle ganze Regale.

»Er hat sofort gestanden«, erklärte Tozzi. »Die Beweislage war klar.«

»Das Eichenblatt«, murmelte Regina.

Tozzi nickte. Als er Regina die Aktentheken zuschob, blitzte ein Siegelring an seinem plumpen Mittelfinger auf.

»Habt ihr nach weiteren Opfern gesucht?«

»Der ›Metzger‹ hat keine erwähnt.«

»Aber habt ihr gesucht?«, bohrte Regina.

»Viclas war damals erst im Aufbau.«

Im Violent Crime Linkage Analysis System, dem Analysesystem zur Verknüpfung von Gewaltverbrechen, wurden alle Tötungsdelikte erfasst. Tauchten Parallelen zwischen Delikten auf, meldete das System einen Hit.

»Außerdem hätte ich mich daran erinnert«, fuhr Tozzi fort. »So viele Morde gibt es in der Schweiz nicht.«

»Vielleicht begann er schon in Kosovo damit.«

»Glaubst du im Ernst, ein Mord wäre dort aufgefallen? Im Krieg?«

Regina gab auf. Tozzis Vorrat an Ausreden war unerschöpflich. Nie würde er zugeben, dass er tiefer hätte graben müssen. Sie hatten den »Metzger« gefunden, das war die Hauptsache gewesen. In einer gewaltigen Aktion hatten sie alle Ärzte und Metzger in Zürich und den umliegenden Kantonen überprüft, genauso Spitalangestellte und Tierklinikpersonal. Sogar die Mitarbeiter des Instituts für Rechtsmedizin waren vorgeladen worden. Aufgrund seiner professionellen Vorgehensweise war man davon ausgegangen, dass der »Metzger« nicht zum ersten Mal einen Körper aufgeschnitten hatte. Die Routinebefragungen hatten unter anderem zum Schlachthof geführt. Selmani hatte sofort gestanden.

Doch sowohl über den Tathergang als auch über das Motiv schwieg er sich aus.

»Trotzdem habt ihr ihm geglaubt?«, fragte Regina.

»Zu Beginn hatten wir unsere Zweifel. Aber dann fand Hahn das Eichenblatt im Mund des Opfers.«

»Stimmt die DNA eines Blatts nur mit einem einzigen Baum überein?«

»Ja, analog zur DNA eines Menschen.«

»Wie kam das Blatt dorthin?«

Tozzi wurde ungeduldig. »Das klingt wie eine Einvernahme. Lies die Akten durch.«

Regina blickte ihm nach, als er schweren Schrittes den Raum verließ. Sie arbeitete erst neun Monate bei der STA IV. Wirkliche Freundschaften hatte sie noch keine geschlossen. Gerade als sie geglaubt hatte, Fuß zu fassen, war sie während eines Ferienaufenthaltes im Kaukasus verhaftet worden. Ihre Kollegin Theresa Hanisch hatte sich um ihre Fälle kümmern müssen, auch Tozzi war gefordert gewesen. Bald würde sie ihnen von ihrer Schwangerschaft berichten müssen. Wieder würde sie einige Monate ausfallen. Wie es danach weiterginge, wusste sie noch nicht. Ihre Stelle wollte sie auf gar keinen Fall aufgeben, doch eine Teilzeitbeschäftigung bedeutete oft gleich viele Stunden Arbeit für weniger Lohn.

Im Vorzimmer war ihr Protokollführer Kevin Sutter in einen Text vertieft. Regina beobachtete, wie sich der bullige Polizist mit der Zungenspitze über die Oberlippe fuhr. Sie schmunzelte, als sie den aufgeschlagenen Duden sah. Endlich nahm er ihre Aufforderung ernst, sein Deutsch zu verbessern. Zu Beginn ihrer Tätigkeit bei der STA IV hatte sie sich über seine vielen Fehler geärgert, was zu einer eisigen Stimmung geführt hatte. Inzwischen hatten sie sich versöhnt, ihre Gefangenschaft in Georgien hatte sogar so etwas wie Beschützerinstinkt in Sutter geweckt.

»Kaffee?«, fragte Regina von der Tür aus.

»Schon so spät?« Sutter sah auf die Uhr.

Sie hatten sich angewöhnt, die Arbeit morgens bei einer Tasse Kaffee, in Reginas Fall Tee, zu besprechen. Während Sutter die letzten Sätze korrigierte, setzte Regina Wasser auf und begab sich zur Kaffeemaschine. Am Montag fiel die Besprechung jeweils länger aus als sonst, da sie die bevorstehende Woche zusammen durchgingen.

Sutter legte einen Sack mit Buttergipfeln auf den Tisch und setzte sich. Sein Hemd spannte an den Schultern, der oberste Knopf sah nicht aus, als würde er der Belastung noch lange standhalten.

An ihrem Grüntee nippend, diktierte Regina die Einvernahmen, für die Sutter Termine finden musste, und kontrollierte mit ihm die Fristen und anstehenden Verhandlungen. Bajram Selmani stand ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. Gerne hätte sie die Unterlagen übers Wochenende durchgelesen, doch sie war nicht dazu gekommen. Seit der Neuregelung der Brandtourentschädigung gab es nur noch einen statt zwei Pikettdienste. Als am Freitag eine Messerstecherei gemeldet wurde, musste Regina ausrücken, obschon sie mit der Stettbacher Leiche und ihren laufenden Pendenzen voll ausgelastet war.

»Diese Woche hast du keine freien Termine«, sagte Sutter. »Willst du Selmani nächsten Dienstag einvernehmen?«

»Das ist zu spät.« Regina kaute nachdenklich an einem Gipfel. Plötzlich kam ihr eine Idee. »Ich fahre morgen Vormittag nach Regensdorf.«

»Morgen ist Abteilungssitzung«, wandte Sutter ein.

»Das geht auch ohne mich.«

»Hanisch wird keine Freude haben.«

»Hanisch findet immer einen Grund, sich über etwas zu ärgern.«

Sutter grinste. »Dann lass ich Selmani also herbringen. Ist neun Uhr gut?«

»Nein, ich möchte ihn in der Pöschwies einvernehmen.« Regina begegnete Sutters erstauntem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Obwohl ihr Offenheit wichtig war, wollte sie ihm ihre wahren Beweggründe nicht verraten.

In der Pöschwies saß Bledar Hasani.

Wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz war Hasani zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. 1,8 Kilogramm Heroin hatte die Stadtpolizei in seiner Wohnung gefunden. Nach wie vor beteuerte Hasani seine Unschuld. Der mehrfach vorbestrafte Drogendealer stritt nicht ab, früher mit Heroin gehandelt zu haben. Doch die 1,8 Kilogramm, die in seinem Flur versteckt gewesen waren, habe er noch nie gesehen. Behauptete er.

Dass Regina seine Klagen nicht mit einem ungläubigen Schulterzucken abtat, lag an einem Pakt, den sie während ihrer Gefangenschaft mit Gott geschlossen hatte, oder wer immer das Schicksal der Menschheit lenkte. Sie hatte versprochen, Hasanis Geschichte nachzugehen, sollte sie der georgischen Hölle entkommen. Obwohl die Wahrscheinlichkeit äußerst gering war, dass Hasani die Wahrheit sagte, wollte sie einen Justizirrtum oder gar ein Komplott ausschließen. Ihren Kollegen hatte sie nichts von ihren Nachforschungen erzählt, denn Hasanis Geschichte, wenn sie denn stimmte, würde hohe Wellen werfen. Der Gefangene behauptete, Oberstaatsanwalt Karl Hofer habe das Heroin in seine Wohnung geschmuggelt.

Sutter stellte keine Fragen, doch Regina sah ihm an, dass er etwas ahnte. Sie hatte Hasani vor drei Wochen bereits einmal aufgesucht. Lange würde sie ihr Interesse an ihm nicht geheim halten können. Wenn ihre Kollegen davon erfuhren, käme sie in Erklärungsnotstand. Nun lieferte ihr Selmani die nötige Ausrede.

Das Telefon riss Regina aus den Gedanken. Sie stellte ihre Tasse hin und schob den Stuhl zurück, doch Sutter war schneller.

»Herr Cavalli ist unten«, leitete er weiter.

»Er soll raufkommen.« Regina fragte sich, was so dringend war, dass er unangemeldet vorbeikam. Eine halbe Minute später stand er bereits in der Tür. Regina unterdrückte ein Schmunzeln, als Sutter salutierte.

Cavalli wartete, bis der Protokollführer den Raum verlassen hatte, bevor er sich an den Besprechungstisch setzte. Er schob Sutters Kaffeetasse beiseite und griff nach dessen Gipfel.

Regina strafte ihn mit einem bösen Blick. Nachdem sie Sutter den Kaffee und den angeknabberten Gipfel gebracht hatte, wandte sie sich an Cavalli. »Ist es wirklich so wichtig, oder brauchtest du bloß frische Luft?« Seit seiner Gefangenschaft hielt es Cavalli kaum mehr in engen Räumen aus. Schon früher hatte er sich lieber im Freien aufgehalten, doch jetzt war das Bedürfnis zum Zwang geworden, dem er sich kaum entziehen konnte.

Ohne zu antworten, legte Cavalli vier Fotos von Frauen auf den Tisch. Er zeigte auf das erste Bild. »Eine 24-jährige Crack-Konsumentin. Sie verschwand immer wieder für längere Zeit. Ging mit jedem Mann Beziehungen ein, der ihr Stoff lieferte. Das letzte Mal gesehen am 2. Februar 2001.« Er zeigte aufs nächste Foto. »17 Jahre alt. Lange Geschichte von Missbrauch durch den Onkel, Alkoholprobleme. Am 25. April 2001 spurlos verschwunden. Sie nahm alles mit, was sie besaß: Kleider, Toilettenartikel, Bargeld.«

»Abgehauen?«

»Mit hoher Wahrscheinlichkeit.«

»Diese Frau hier war zum Zeitpunkt ihres Verschwindens 42 Jahre alt. Hausfrau, gewalttätiger Ehemann. Unauffindbar seit dem 12. Juni 2001.«

»Hahn hat gemeint, das Opfer sei um die dreißig gewesen«, wandte Regina ein.

»Und das hier ist Camille Sommerhalder. Das Bild wurde an ihrem neunundzwanzigsten Geburtstag aufgenommen, drei Tage vor ihrem Verschwinden. Eine Kindergartenlehrerin aus dem Aargau. Zusammen mit einer Freundin ging sie tanzen, kehrte nie mehr zurück. Die Freundin behauptete, ihre Wege hätten sich getrennt, nachdem sie eine Disco in Dübendorf besucht hatten.«

»Waren sie mit dem Auto unterwegs?«

Cavalli nickte. »Genau das habe ich mich auch gefragt. Ja, mit dem Wagen der Freundin.«

»Wer verließ die Disco zuerst?«

»Die Freundin.«

»Sie hat Camille Sommerhalder mitten in der Nacht ohne Auto sitzen gelassen?«

Cavalli verschränkte die Arme.

»Hatten sie Streit?«, fragte Regina weiter.

»Laut Aussage der Freundin nicht.«

»Du glaubst, dass es Camille Sommerhalder ist, nicht wahr?«

»Alles passt. Sie verschwand am 14. Juli, genau eine Woche, nachdem Valeria Leuthard, das Opfer im Teich, getötet wurde. Ich habe Hahn alle Unterlagen über Sommerhalder zukommen lassen. Bald werden wir es wissen.«

Camille Sommerhalder, wiederholte Regina in Gedanken. Der Name hatte etwas Unschuldiges. Sie stellte sich ein Mädchen in einem weißen Kleid vor, eine Blume im Haar. Auf dem Foto trug Sommerhalder enge Jeans und ein hellblaues Top mit schmalen Trägern. Runde, kastanienbraune Augen blickten direkt in die Kamera. Ihr Kinn war leicht schief, sodass ihr Lächeln eher verschmitzt als verträumt wirkte.

»Sie sieht nicht so aus, wie ich mir die typische Discogängerin vorstelle«, sagte Regina.

Cavalli zog eine Augenbraue hoch. »Sie geht ja noch. Aber Selmani? Ich kann mir nicht vorstellen, dass der ›Metzger‹ sich die Nächte in Discos um die Ohren geschlagen hat.«

»Hast du ein Foto von ihm?«

»Im Büro. Er ist«, Cavalli ließ seinen Blick in die Ferne schweifen, während er nach der passenden Beschreibung suchte. Nach langem Schweigen sagte er: »Klein.«

Als Regina ins Einvernahmezimmer der Strafanstalt Pöschwies geführt wurde, verstand sie, was Cavalli mit »klein« sagen wollte. Es war nicht Bajram Selmanis Körpergröße, welche Regina auf etwa 172 cm schätzte, die ihn klein erscheinen ließ. Es war seine Art, sich zu bewegen, sich umzusehen. Er nahm keinen Raum ein. Fast kam es ihr vor, als versuche er, seine Anwesenheit zu verbergen. Seine Hände verschwanden zwischen den zusammengepressten Beinen, seine Schultern krümmten sich über den eingefallenen Brustkasten. Beim Atmen holte er nur gerade so viel Luft, wie er brauchte. Kevin Sutter wirkte neben Selmani wie ein Panzerfahrzeug, dachte Regina, als sich ihr Protokollführer breitbeinig auf einen Stuhl fallen ließ, der unter seinem Gewicht laut knarrte. Wenn es stimmte, was Regina vom Personal der Pöschwies erfahren hatte, würde es nicht viel zu protokollieren geben.

Bajram Selmani hatte seit seinem Geständnis kein Wort gesprochen.

Auch jetzt schien er durch Regina hindurchzublicken. Während sie vortrug, was ihm zur Last gelegt wurde, verspürte sie das Bedürfnis, ihn zu berühren, um einen Kontakt herzustellen. Sein Verteidiger, ein junger Anwalt mit distanziertem Blick, der sich mit Pal Palushi vorgestellt hatte, war das Schweigen offensichtlich gewohnt. Er schien gar nicht erst eine Reaktion zu erwarten. Regina vermutete, dass er nie zu seinem Mandanten durchgedrungen war, auch während des ersten Verfahrens nicht.

Sutters Finger ruhten reglos auf der Tastatur seines Laptops. Die Fragen hatte Regina vorbereitet, Antworten gab es keine einzufügen. Trotzdem führte sie die Einvernahme weiter. Sie sprach leiser als sonst, als fürchte sie, der kleine Mann ihr gegenüber könnte ihren Worten nicht standhalten. Auch als sie auf die Gartenschere zu sprechen kam, regte sich Selmani nicht. »Die Schnittspuren an den Rippen des Opfers gleichen jenen, die bei Valeria Leuthard gefunden wurden«, sagte Regina.

Pal Palushi schloss kurz die Augen.

»Herr Selmani«, wiederholte Regina, »Sie werden des Mordes an einer noch nicht identifizierten Frau verdächtigt. Ich muss Sie …«

Als Selmanis Stimme erklang, zuckten alle zusammen. Er hob den Kopf gerade genug, um Regina in die Augen sehen zu können.

Seine Worte waren klar. »Ich habe sie getötet.«

Nachdem Selmani in seine Zelle zurückgebracht worden war, bat Regina Sutter, ohne sie loszufahren. Sie erklärte, sie wolle alleine mit Pal Palushi sprechen. Sutter stapfte missmutig davon. Regina vermutete, dass er ihre Ausrede durchschaute. Sie schwor sich, Bledar Hasani nicht mehr zu besuchen. Entweder eröffnete sie offiziell ein Strafverfahren, oder sie ließ die Sache auf sich beruhen.

Mit einem Seufzer wandte sie sich an Palushi. Der Verteidiger stand kerzengerade neben seinem Aktenkoffer, trotzdem war er fast einen Kopf kleiner als Regina. Sein Anzug saß perfekt, die Armanischuhe waren auf Hochglanz poliert.

»Danke, dass Sie extra hergekommen sind«, sagte Regina. »Ich weiß, es ist nicht üblich, eine Einvernahme im Gefängnis durchzuführen.«

»Keine Ursache«, sagte Palushi mit kaum wahrnehmbarem Akzent.

»Ich habe die Akten durchgelesen«, fuhr Regina fort. »Bajram Selmanis Sohn wurde im August 2001 ebenfalls einvernommen.«

Zum ersten Mal zeichnete sich auf Palushis Gesicht eine Gefühlsregung ab. Regina war nicht sicher, ob er misstrauisch oder nervös wurde.

»Ja?«

Regina blickte auf ihre Notizen. »Dash Selmani behauptet, sein Vater sei in der Mordnacht zu Hause gewesen.«

Palushi nickte leicht.

»Offenbar war die Staatsanwaltschaft der Meinung, Dash versuche, seinen Vater zu schützen.«

»Richtig.«

Als Regina am Vorabend das Protokoll durchgelesen hatte, war sie sofort zu Tozzi geeilt. Ihr Kollege hatte mit einer ungeduldigen Handbewegung abgewinkt. Selbstverständlich habe er Selmanis Alibi überprüft. Doch dem Jungen, diesem Dash, habe er nicht recht geglaubt. Der 16-Jährige habe damals erst zwei Jahre bei seinem Vater in Wetzikon gewohnt, nachdem er 1999 während der Natoangriffe in Kosovo in die Schweiz geflohen sei. Seine Mutter und die zwei Brüder waren drei Monate zuvor bei einem Anschlag ums Leben gekommen. Tozzi kam während der Untersuchung zum Schluss, Dash lüge, um nicht auch noch seinen Vater zu verlieren.

»Teilen Sie diese Meinung?«, wollte Regina wissen.

»Meine Meinung ist unwesentlich.«

Regina wurde nicht schlau aus dem Verteidiger. Sie fragte sich, ob es etwas zu bedeuten habe, dass er offensichtlich wie Selmani aus Kosovo stammte. Kannte er seinen Mandanten privat? Oder war er ihm zugeteilt worden? Sie fürchtete, in ein Fettnäpfchen zu treten, wenn sie die Beziehung ansprach. Stattdessen fragte sie, wo Dash heute lebe.

»Bei seinem Onkel«, antwortete Palushi. »In Adliswil.«

»Was macht er?«

»Eine Lehre als Automobilassistent.«

Regina richtete sich überrascht auf.

»Haben Sie erwartet, dass er irgendwo eine Strafe absitzt?«, fragte Palushi scharf.

Ertappt sah sie weg. »Es ist ein schwerer Schlag, Eltern und Geschwister so früh zu verlieren.«

Palushis Züge wurden weicher. »Dash ist ein Kämpfer. Als er in die Schweiz kam, war er bereits 14, sprach kein Wort Deutsch. Trotz allem hat er es geschafft, eine Lehrstelle zu finden.«

»Dann haben Sie also noch Kontakt zur Familie?«

Palushi trat einen Schritt zurück. Die Wärme in seinen Augen verschwand. »Warum fragen Sie? Mein Mandant hat gestanden.«

Regina schloss die Akte und steckte sie in ihre Tasche. Ja, Bajram Selmani hatte gestanden. Sowohl den Mord an Valeria Leuthard als auch den an Camille Sommerhalder. Innerhalb von wenigen Wochen hatte Selmani zwei unschuldige Frauen getötet und mit einer Gartenschere aufgeschnitten. Wie eine Nuss knackte er Valeria Leuthards Schädel, entnahm ihr Hirn und legte es in ihre Bauchhöhle. Möglicherweise hatte er dasselbe mit Camille Sommerhalder getan. Warum weitere Fragen stellen? Dass der unscheinbare Kosovare weder eine Erklärung für seine Taten geliefert hatte noch die Details beschreiben wollte, musste sie nicht kümmern.

Trotzdem konnte sie die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Nicht, ohne zu verstehen, was sich in Bajram Selmanis Kopf und Herz abgespielt hatte. Auf sein Geständnis hätte das keine Auswirkung, auch nicht auf den weiteren Verlauf des Verfahrens. Er war bereits 2001 für schuldfähig erklärt worden; gemäß einem psychiatrischen Gutachten litt er weder an Krankheiten, noch hatten die Untersuchungen Anhaltspunkte für eine Sucht wie Drogen- oder exzessiven Alkoholkonsum ergeben. Das Obergericht hatte die Höchststrafe ausgesprochen, Selmani sie wortlos hingenommen.

Pal Palushi reichte ihr die Hand, als müsse er eine unangenehme Pflicht erledigen. Regina hätte es nicht erstaunt, wenn er sich die Finger nach der kurzen Berührung abgewischt hätte. Nachdenklich ließ sie sich auf den Stuhl zurückfallen und nahm eine Packung Darvida aus ihrer Handtasche. Bevor sie sie aufreißen konnte, wurde Bledar Hasani hereingeführt.