Totenkünstler - Chris Carter - E-Book
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Totenkünstler E-Book

Chris Carter

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Beschreibung

Der packende Psychothriller des Bestsellerautors! Ein weiterer Fall für Hunter und Garcia: Hochspannend, brutal und unvorhersehbar! Chris Carter hat jahrelang als Kriminalpsychologe für die Polizei in Los Angeles gearbeitet, das macht seine Bücher so einzigartig. Ein Serienmörder, der es auf Polizisten abgesehen hat … Die Angst geht um beim Los Angeles Police Department. Wer von ihnen wird das nächste Opfer? Ein brutaler Mörder tötet Polizisten und formt aus ihren Körpern abscheuliche Figuren. Er versteht sich als Künstler. Und genau da setzen Profiler Robert Hunter und sein Partner Carlos Garcia mit ihren Ermittlungen an. Hunter weiß, wie Mörder denken. Und das könnte sein Todesurteil sein ... »Auch diesen 4. Fall von Chris Carter mit Hunter und Garcia konnte ich kaum aus der Hand legen. Er ist super spannend, ein echter Pageturner.« Amazon-Kunde »Wie zu erwarten ist dieses Ermittler-Duo einzigartig. Super Story, sehr, sehr spannend und bis zum Schluss musste ich rätseln, wer wohl der Täter ist.« Amazon-Kundin *** Dieses Buch lässt Ihnen das Blut in den Adern gefrieren! Für Psychothriller-Fans ein Muss. ***

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EPUB

Seitenzahl: 580

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Totenkünstler

Chris Carter wurde 1965 in Brasilien als Sohn italienischer Einwanderer geboren. Er studierte in Michigan forensische Psychologie und arbeitete sechs Jahre lang im Psychologenteam der Staatsanwaltschaft. Dann zog er nach Los Angeles, wo er als Musiker Karriere machte. Gegenwärtig lebt Chris Carter in London. Die ersten drei Fälle mit Profiler Robert Hunter standen wochenlang auf der Bestsellerliste; Totenkünstler ist der vierte Fall.

Von Chris Carter sind in unserem Hause bereits erschienen:Der Kruzifix-KillerDer VollstreckerDer Knochenbrecher

Sommer in Los Angeles. Detective Robert Hunter und sein Partner Carlos Garcia sind auf der Suche nach einem Mörder, der ihnen mit jedem Mord ein Rätsel aufgibt.

Das erste Opfer, der 50-jährige Staatsanwalt Derek Nicholson, lag nach einer Tumordiagnose bereits im Sterben. Nun wurde seinem Leiden auf bestialische Weise ein Ende bereitet. Jemand wollte ihn nicht so einfach sterben lassen und hat ihn grausam zu Tode gefoltert. Warum? Hunter und Garcia finden einen blutigen Tatort vor und eine »Skulptur« aus menschlichen Gliedmaßen, die Schattenfiguren an die Wand wirft: einen Hund und einen Raben. In der Mythologie symbolisieren diese Tiere »Lüge«.

Kurz darauf wird ein weiteres Opfer gefunden: der 51-jährige ­Polizist Andrew Dupek. Auch hier hinterlässt der Täter rätselhafte Hinweise: Hunter und Garcia finden einen Kopf mit Hörnern und acht abgetrennte Finger. Und dann gibt es ein drittes Opfer. Hunters Ermittlungsansatz ist klar: Er muss wissen, was die drei Männer miteinander verband. Bislang weiß er nur eines: Er jagt einen unberechen­baren Täter. Einen kranken Geist. Ein Phantom.

Als Hunter schon die Waffen strecken und den Fall dem FBI über­geben will, überschlagen sich plötzlich die Ereignisse.

Chris Carter

Totenkünstler

Thriller

Aus dem Englischen von Sybille Uplegger

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Friedrichstraße 126, 10117 Berlin 2013 © Chris Carter 2012, Published by Arrangement with Luiz MontoroTitel der englischen Originalausgabe: The Death Sculptor (Simon & Schuster Inc.)

Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor. 

Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an [email protected]

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenE-Book-Konvertierung powered by pepyrus

 

ISBN 978-3-8437-0542-4

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

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Leseprobe: Der Totenarzt

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Cover

Titelseite

Inhalt

1

1

»Ach du lieber Gott, ich komme zu spät!«, rief Melinda Wallis und sprang aus dem Bett. Mit müden Augen warf sie einen Blick zum Wecker auf ihrem Nachttisch. Sie war letzte Nacht bis halb vier auf gewesen und hatte für eine Prüfung in Klinischer Pharmakologie gelernt, die sie in drei Tagen schreiben musste.

Schlaftrunken stolperte sie durchs Zimmer, während ihr Gehirn sich darüber klarzuwerden versuchte, was als Erstes zu tun war. Sie lief ins Bad, wo sie einen Blick auf ihr Spiegelbild erhaschte.

»Mist, Mist, Mist!«

Sie griff nach ihrem Schminktäschchen und begann sich das Gesicht zu pudern.

Melinda war dreiundzwanzig Jahre alt und einem Artikel in einem Hochglanzmagazin zufolge, den sie vor einigen Tagen gelesen hatte, für ihre Körpergröße von einem Meter zweiundsechzig ein wenig zu dick. Ihre langen braunen Haare trug sie grundsätzlich zum Pferdeschwanz gebunden, selbst wenn sie abends ins Bett ging, und sie verließ das Haus nie ohne mindestens eine Schicht Abdeckcreme im Gesicht, die die hässliche Akne auf ihren Wangen kaschieren sollte. Statt sich die Zähne zu putzen, quetschte sie sich nur rasch einen Klecks Zahnpasta in den Mund, um den Geschmack der Nacht loszuwerden.

Zurück im Schlafzimmer, fand sie ihre Kleider – weiße Bluse, Strümpfe, knielanger weißer Rock und weiße Schuhe mit flachen Sohlen – ordentlich zusammengelegt auf dem Stuhl neben ihrem Schreibtisch. Sie zog sich in Rekordzeit an und stürzte aus der kleinen Gästewohnung in Richtung Haupthaus.

Melinda war Pflegeschülerin im dritten Jahr an der UCLA, der University of California, und um die erforderlichen Praxisstunden abzuleisten, arbeitete sie jedes Wochenende als Krankenschwester in der ambulanten Pflege. Seit mittlerweile dreieinhalb Monaten betreute sie Mr Derek Nicholson in Cheviot Hills, West Los Angeles.

Keine zwei Wochen vor ihrem Jobantritt hatte man bei Mr Nicholson ein Lungenkarzinom im fortgeschrittenen Stadium festgestellt. Der Tumor war bereits so groß wie ein Pflaumenstein und hatte Metastasen gebildet. Inzwischen hatte Mr Nicholson große Schwierigkeiten beim Gehen, benötigte immer öfter die Hilfe eines Sauerstoffgeräts und konnte kaum noch sprechen. Trotz des Drängens seiner Töchter hatte er eine Chemotherapie abgelehnt. Er sah nicht ein, weshalb er die letzten Tage seines Lebens in einem Krankenzimmer liegen sollte. Lieber wollte er die Zeit, die ihm noch blieb, in seinem eigenen Zuhause verbringen.

Melinda sperrte die Haustür auf und eilte durch die geräumige Eingangshalle, bevor sie das große, aber sparsam möblierte Wohnzimmer betrat. Mr Nicholsons Schlafzimmer lag im ersten Stock. Wie jeden Morgen herrschte im Haus eine fast unheimliche Stille.

Derek Nicholson lebte allein. Seine Frau war zwei Jahre zuvor gestorben. Seine Töchter kamen ihn zwar jeden Tag besuchen, hatten aber ansonsten ihr eigenes Leben.

»Entschuldigung, dass ich mich verspätet habe!«, rief Melinda von unten. Erneut warf sie einen Blick auf die Uhr. Sie war exakt dreiundvierzig Minuten zu spät. »Mist!«, knurrte sie noch einmal. »Derek, sind Sie wach?« Sie hatte die Treppe erreicht und hastete mit großen Schritten die Treppe hinauf.

Gleich an ihrem ersten Wochenende hatte Derek Nicholson sie gebeten, ihn mit seinem Vornamen anzusprechen. Er mochte den förmlichen Klang von »Mr Nicholson« nicht.

Als Melinda sich der Tür zu seinem Schlafzimmer näherte, wehte ihr ein strenger, Übelkeit erregender Geruch entgegen.

Oje, dachte sie. Ganz offensichtlich war es für den ersten Gang zur Toilette bereits zu spät.

»Also, ich mache Sie jetzt erst mal sauber …«, begann sie, während sie gleichzeitig die Tür öffnete, » … und dann bringe ich Ihnen Ihr Frühst …«

Ihr ganzer Körper versteifte sich, ihre Augen wurden weit vor Entsetzen, und alle Luft wich aus ihren Lungen, als hätte man sie ins Weltall geschossen. Sie merkte, wie ihr der Mageninhalt hochkam, und erbrach sich gleich neben der Tür.

»Gott im Himmel!«, wollte Melinda hervorstoßen, doch kein Laut kam über ihre bebenden Lippen. Die Knie gaben unter ihr nach, alles um sie herum begann sich zu drehen, und sie musste sich mit beiden Händen am Türrahmen festklammern, um aufrecht stehen zu bleiben. In diesem Moment fiel der Blick ihrer schreckensgeweiteten grünen Augen auf die Wand gegenüber. Zuerst konnte ihr Verstand das, was sie dort sah, gar nicht verarbeiten, doch dann brach eine entsetzliche, rasende Angst über sie herein wie ein Gewittersturm.

2

In der Stadt der Engel hatte kaum der Sommer begonnen, und schon jetzt lagen die Temperaturen bei annähernd dreißig Grad. Detective Robert Hunter vom Raub- und Morddezernat des Los Angeles Police Department hielt seine Stoppuhr an, als er vor seinem Apartmentgebäude in Huntingdon Park, südöstlich von Downtown L. A., zum Stehen kam. Sieben Meilen in achtunddreißig Minuten. Nicht übel, dachte er, allerdings schwitzte er wie ein Truthahn an Thanksgiving und spürte ein höllisches Ziehen in Beinen und Knien. Vielleicht hätte er sich vorher aufwärmen sollen. Selbstverständlich wusste er, dass man sich vor und nach dem Laufen dehnen sollte, erst recht bei längeren Strecken, aber irgendwie war ihm das immer zu umständlich.

Hunter stieg die Treppe in den dritten Stock hinauf. Er mochte keine Fahrstühle, und der in seinem Haus wurde nicht umsonst von den Bewohnern scherzhaft »Sardinenfalle« genannt.

Er schloss die Tür zu seiner Zweizimmerwohnung auf und trat ein. Die Wohnung war klein, aber sauber und gemütlich, auch wenn man keinem Außenstehenden einen Vorwurf hätte machen können, falls dieser Hunters Möbel für eine Spende der Heilsarmee gehalten hätte: ein schwarzes Kunstledersofa, mehrere Stühle, von denen keiner zum anderen passte, ein zerkratzter Esstisch, der gleichzeitig als Computertisch herhalten musste, sowie ein alter Bücherschrank, der aussah, als würde er jeden Moment unter dem Gewicht, das auf seinen überquellenden Regalbrettern lastete, zusammenbrechen.

Hunter zog sich das T-Shirt aus und wischte sich damit den Schweiß von Stirn, Nacken und muskulösem Oberkörper. Seine Atmung hatte sich bereits wieder normalisiert. In der Küche nahm er einen Krug mit Eistee aus dem Kühlschrank und goss sich ein großes Glas ein. Hunter freute sich auf einen geruhsamen Tag fernab des Police Administration Building, in dem seit kurzem das Raub- und Morddezernat untergebracht war. Er hatte nicht oft frei. Vielleicht würde er nach Venice Beach rausfahren und ein bisschen Volleyball spielen. Er hatte seit Ewigkeiten kein Volleyball mehr gespielt. Oder er könnte ins Stadion gehen, bestimmt spielten die Dodgers an diesem Abend. Doch zuerst musste er duschen und dem Waschsalon einen kurzen Besuch abstatten.

Hunter trank seinen Eistee aus, ging ins Bad und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Eine Rasur wäre auch nicht das Schlechteste. Er wollte gerade nach Rasiergel und Rasierer greifen, als im Schlafzimmer sein Handy klingelte.

Hunter ging hin, nahm es vom Nachttisch und warf einen Blick aufs Display – Carlos Garcia, sein Partner. Erst jetzt sah er den kleinen roten Pfeil am oberen Rand des Displays, der ihn auf mehrere Anrufe in Abwesenheit hinwies. Zehn waren es insgesamt.

»Na toll«, brummte er und nahm das Gespräch an. Er wusste genau, was zehn verpasste Anrufe und sein Partner in der Leitung frühmorgens an einem freien Tag zu bedeuten hatten.

»Carlos«, sagte Hunter, nachdem er das Handy ans Ohr gehoben hatte. »Was gibt’s?«

»Meine Güte, wo warst du denn? Ich versuche seit einer halben Stunde, dich zu erreichen!«

Ein Anruf alle drei Minuten, dachte Hunter. Das verhieß nichts Gutes.

»Ich war laufen«, erwiderte er ruhig. »Und hab danach nicht gleich aufs Handy geschaut. Die verpassten Anrufe sind mir eben erst aufgefallen. Also, was ist los?«

»Die reinste Hölle. Sieh zu, dass du herkommst, Robert. So was wie das hier habe ich noch nie gesehen.« Ein kurzes Zögern. »Ich glaube nicht, dass irgendein Mensch auf der Welt so was schon mal gesehen hat.«

3

Selbst an einem Sonntagmorgen brauchte Hunter für die fünfzehn Meilen zwischen Huntingdon Park und Cheviot Hills annähernd eine Stunde.

Garcia war am Telefon nicht weiter ins Detail gegangen, aber sein offenkundiges Entsetzen und das leichte Stocken in seiner Stimme waren definitiv untypisch.

Hunter und Garcia gehörten innerhalb des Raub- und Morddezernats einer kleinen Sondereinheit an – dem Morddezernat I. Das war dafür eingerichtet worden, um sich ausschließlich mit Serienverbrechen und solchen Morden zu befassen, die stark im Fokus der Öffentlichkeit standen, viel Ermittlungszeit in Anspruch nahmen und spezielles Fachwissen erforderten. Durch Hunters Hintergrund in Kriminalpsychologie kam ihm innerhalb des Dezernats eine ganz besonders wichtige Aufgabe zu. Ungewöhnlich brutale Morde wurden als UV – ultra violent – klassifiziert, dazu gehörten auch solche, bei denen sadistische Gewalt im Spiel war. Robert Hunter und Carlos Garcia bildeten zusammen die UV-Einheit. Entsprechend waren sie nicht leicht zu erschüttern. Sie hatten Dinge gesehen, die sich die meisten Menschen nicht einmal vorstellen konnten.

Hunter hielt neben einem der zahlreichen schwarzweißen Streifenwagen, die vor dem zweigeschossigen Haus in West L. A. parkten. Die Presse war bereits vor Ort und verstopfte die schmale Straße, doch das überraschte ihn nicht weiter. Es war ganz normal, dass die Journalisten vor den Ermittlern am Tatort eintrafen.

Ein Stoß warmer Luft traf ihn, als er aus seinem alten Buick Lesabre stieg. Während er sich die Jacke aufknöpfte und die Dienstmarke an den Gürtel klemmte, ließ er den Blick langsam in die Runde schweifen. Das Haus lag an einem privaten Zufahrtsweg in einer ruhigen Wohngegend, dennoch war die Schar an Zaungästen, die sich hinter der Polizeiabsperrung versammelt hatte, bereits beträchtlich und wuchs stetig weiter.

Hunter wandte sich dem Haus zu. Es war ein hübscher, zweigeschossiger Backsteinbau mit dunkelblau lackierten Fensterrahmen und Walmdach. Der Vorgarten war groß und gepflegt. Rechts neben dem Haus befand sich eine Doppelgarage, jedoch stand – mit Ausnahme weiterer Streifenwagen – kein Fahrzeug in der Einfahrt. Ein Van der Spurensicherung parkte wenige Meter entfernt. Hunter erspähte Garcia, als dieser durch den Vordereingang aus dem Haus trat. Er trug den klassischen weißen Tyvek-Overall. Mit seinen eins achtundachtzig war er gut fünf Zentimeter größer als Hunter.

Vor den Steinstufen, die von der Veranda in den Garten führten, blieb Garcia stehen und schob sich die Kapuze vom Kopf. Seine langen dunklen Haare waren zu einem glatten Pferdeschwanz zurückgebunden. Auch er hatte seinen Partner schnell entdeckt.

Hunter ignorierte die aufgeregte Pressemeute, zeigte dem uniformierten Officer, der am Rand der Absperrung Wache hielt, seine Marke und duckte sich unter das gelbe Flatterband.

In einer Stadt wie Los Angeles galt folgende Regel: Je abscheulicher und blutrünstiger ein Verbrechen, desto glücklicher die Reporter. Die meisten von ihnen kannten Hunter und wussten, in was für Fällen er ermittelte. Ihre Fragen prasselten wie Sperrfeuer auf ihn ein.

»Schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell«, sagte Garcia und deutete mit dem Kopf auf die Pressemeute, als Hunter zu ihm trat. »Und eine gute Story noch schneller.« Er reichte seinem Partner einen nagelneuen, in Plastik eingeschweißten Overall.

»Wie ist das zu verstehen?« Hunter nahm den Plastikbeutel, riss ihn auf und begann sich einzukleiden.

»Das Opfer war Jurist«, erklärte Garcia. »Ein Mr Derek Nicholson, Staatsanwalt bei der kalifornischen Bezirksstaatsanwaltschaft.«

»Na großartig.«

»Er hat allerdings nicht mehr gearbeitet.«

Hunter zog den Reißverschluss seines Overalls zu.

»Man hatte bei ihm Lungenkrebs im Endstadium diagnostiziert«, fuhr Garcia fort.

Hunter sah ihn neugierig an.

»Er hatte nicht mehr lange zu leben. Sauerstoffgerät, die Beine wollten nicht mehr … Die Ärzte hatten ihm höchstens noch ein halbes Jahr gegeben. Das war vor vier Monaten.«

»Wie alt war er?«

»Fünfzig. Es war kein Geheimnis, dass er im Sterben lag. Warum ihn dann noch auf diese Art und Weise ermorden?«

Hunter überlegte. »Und es besteht kein Zweifel, dass es Mord war?«

»O nein, da besteht absolut kein Zweifel.«

Garcia führte Hunter ins Haus und quer durch die Eingangshalle. An der Wand direkt neben der Haustür befand sich das Bedienfeld einer Alarmanlage. Hunter warf seinem Partner einen fragenden Blick zu.

»Der Alarm war nicht aktiviert«, erklärte dieser. »Wie’s aussieht, haben sie die Anlage nur selten benutzt.«

Hunter verzog das Gesicht.

»Ich weiß«, sagte Garcia. »Wozu hat man dann überhaupt eine?«

Sie gingen weiter.

Im Wohnzimmer waren zwei Leute von der Kriminaltechnik damit beschäftigt, die Treppe im hinteren Bereich des Raums auf Fingerabdrücke zu untersuchen.

»Wer hat die Leiche gefunden?«, wollte Hunter wissen.

»Die Krankenschwester des Toten«, antwortete Garcia und lenkte Hunters Aufmerksamkeit auf eine geöffnete Tür an der östlichen Zimmerseite, durch die man in ein geräumiges Büro gelangte. Darin saß, auf einem alten Ledersofa von Chesterfield, eine junge, ganz in Weiß gekleidete Frau mit Pferdeschwanz. Ihre Augen waren vom Weinen verquollen und rot wie Himbeeren. Sie hatte eine Tasse Kaffee auf den Knien stehen, die sie mit beiden Händen festhielt. Ihr Blick wirkte verloren und starr. Hunter fiel die leichte Schaukelbewegung ihres Oberkörpers auf. Sie stand ganz eindeutig unter Schock. Ein uniformierter Polizist leistete ihr Gesellschaft.

»Hat schon jemand mit ihr gesprochen?«

»Ja, ich.« Garcia nickte. »Ein paar grundlegende Informationen konnte ich ihr entlocken, aber sie macht dicht, man kommt nicht an sie ran – was mich nicht weiter überrascht. Vielleicht kannst du es später noch mal versuchen. Du bist in solchen Dingen besser als ich.«

»Sie war an einem Sonntag hier?«, fragte Hunter.

»Sie ist jedes Wochenende hier«, klärte Garcia ihn auf. »Sie heißt Melinda Wallis. Pflegeschülerin an der UCLA. Steht kurz vor dem Abschluss. Der Job war Teil ihrer Praxisstunden. Eine Woche nachdem die Krankheit bei Mr Nicholson diagnostiziert wurde, hat sie hier angefangen.«

»Und die übrige Zeit?«

»Mr Nicholson hatte noch eine andere Pflegekraft.« Garcia zog den Reißverschluss seines Overalls auf und fischte ein Notizbuch aus der Brusttasche seines Hemds. »Amy Dawson«, las er vor. »Im Gegensatz zu Melinda ist Amy keine Pflegeschülerin, sondern examinierte Krankenschwester. Sie hat Mr Nicholson unter der Woche betreut. Außerdem hat er jeden Tag Besuch von seinen zwei Töchtern bekommen.«

Hunter hob die Brauen.

»Sie wissen noch nicht Bescheid.«

»Das Opfer hat also allein hier gewohnt?«

»Richtig. Der Mann war achtundzwanzig Jahre lang verheiratet, aber seine Frau ist vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen.« Garcia steckte das Notizbuch wieder weg. »Die Leiche ist oben.« Er deutete zur Treppe.

Auf dem Weg nach oben achtete Hunter darauf, nicht den Kriminaltechnikern in die Quere zu kommen. Der Treppenabsatz im ersten Stock sah aus wie ein Wartezimmer – zwei Stühle, zwei Ledersessel, ein kleines Bücherregal, ein Zeitschriftenständer und eine Anrichte, auf der mehrere Bilder in geschmackvollen Rahmen standen. Ein schwach beleuchteter Flur führte sie tiefer ins Haus hinein, zu den insgesamt vier Schlafzimmern und zwei Bädern. Garcia ging mit Hunter bis zur letzten Tür rechts. Davor blieb er stehen.

»Ich weiß, dass du schon viel Abartiges gesehen hast, Robert. Da geht es dir wie mir.« Seine latexbehandschuhte Hand lag auf dem Türknauf. »Aber das hier … so was hätte ich mir nicht mal in meinen schlimmsten Träumen vorstellen können.« Er stieß die Tür auf.

4

Hunter stand im Türrahmen des geräumigen Schlafzimmers. Seine Augen nahmen alles wahr, doch sein Verstand hatte Mühe, das Gesehene zu begreifen.

Mittig an der nördlichen Wand des Zimmers stand ein höhenverstellbares Doppelbett. Rechts davon auf dem Nachttisch war ein kleiner Sauerstofftank mit Maske zu sehen. Am Fuß des Betts stand ein Rollstuhl. Weitere Möbel waren eine antik aussehende Kommode, ein Schreibtisch aus Mahagoni sowie eine große Schrankwand gegenüber vom Bett. In der Mitte der Schrankwand stand ein Flachbildfernseher.

Hunter stieß langsam den Atem aus. Er bewegte sich nicht, blinzelte nicht, sagte kein Wort.

»Wo sollen wir hier bloß anfangen?«, flüsterte Garcia neben ihm.

Alles war voller Blut – Bett, Fußboden, Teppich, Wände, Zimmerdecke, Vorhänge sowie fast alle Möbel. Der tote Mr Nicholson lag auf dem Bett. Oder vielmehr: das, was noch von ihm übrig war. Sein Körper war zerstückelt worden. Jemand hatte ihm Arme und Beine abgeschnitten. Einer der Arme war an den Gelenken in kleinere Stücke zerlegt worden. Und beide Füße waren von den Beinen getrennt.

Das Rätselhafteste jedoch war die Skulptur.

Auf einem kleinen Couchtisch am Fenster hatte jemand die abgeschnittenen Gliedmaßen des Opfers zu einem blutigen, bizarren Gebilde zusammengeschnürt.

»Das ist doch nicht euer Ernst«, wisperte Hunter zu sich selbst.

»Ich erspare mir die Frage, weil ich ganz genau weiß, dass Sie so was noch nie gesehen haben, Robert«, meldete sich Dr. Carolyn Hove aus der hinteren Ecke des Zimmers. »Das ist für uns alle Neuland.«

Dr. Hove war die Leiterin des Rechtsmedizinischen Instituts von Los Angeles. Sie war groß und schlank und hatte durchdringende tiefgrüne Augen. Ihre langen kastanienbraunen Haare waren unter der Kapuze ihres weißen Overalls verborgen, ihre vollen Lippen und die zierliche Nase hinter einem Mundschutz.

Hunter sah flüchtig zu ihr hin, dann betrachtete er nachdenklich die großen Blutlachen am Boden. Er zögerte kurz. Es war unmöglich, sich im Raum zu bewegen, ohne hineinzutreten.

»Ist schon gut.« Dr. Hove winkte ihn und Garcia heran. »Der Fußboden wurde bereits fotografiert.«

Trotzdem gab Hunter sich allergrößte Mühe, dem Blut auszuweichen. Vorsichtig näherte er sich dem Bett und der verstümmelten Leiche von Derek Nicholson.

Nicholsons Gesicht war blutverschmiert. Er hatte Augen und Mund weit aufgerissen, als wäre er unmittelbar vor seinem letzten Schrei gestorben. Bettlaken, Kopfkissen und Matratze waren an mehreren Stellen zerrissen.

»Er wurde hier im Bett getötet«, verkündete Dr. Hove und stellte sich neben Hunter.

Dieser betrachtete weiterhin die Leiche.

»Den Spritzspuren und der Blutmenge nach zu urteilen«, fuhr sie fort, »hat der Mörder seinem Opfer so viele Schmerzen wie nur irgend möglich zugefügt und ihm erst dann erlaubt zu sterben.«

»Der Mörder hat ihn bei lebendigem Leib zerstückelt?«

Die Rechtsmedizinerin nickte. »Und er hat mit den kleinen, nicht lebensbedrohlichen Amputationen angefangen.«

Hunter zog die Brauen zusammen.

»Ihm wurden sämtliche Zehen abgeschnitten. Und die Zunge.« Hoves Blick glitt zu der abstoßenden Skulptur aus Nicholsons Gliedmaßen. »Ich würde sagen, das ist zuerst passiert, bevor er zerstückelt wurde.«

»Er war allein im Haus?«

»Ja«, antwortete Garcia. »Melinda, die Pflegeschülerin, die du unten gesehen hast, wohnt zwar übers Wochenende hier, aber sie schläft drüben in der Gästewohnung über der Garage. Ihrer Aussage nach sind Mr Nicholsons Töchter jeden Tag vorbeigekommen und haben mindestens zwei Stunden mit ihrem Vater verbracht. Gestern Abend waren sie bis circa einundzwanzig Uhr hier. Danach hat Melinda Mr Nicholson bettfertig gemacht und noch ein bisschen im Haus aufgeräumt. Gegen dreiundzwanzig Uhr ist sie zurück in ihre Gästewohnung gegangen. Sie war bis halb vier wach, weil sie für eine Prüfung lernen musste.«

Hunter fiel es nicht weiter schwer, nachzuvollziehen, weshalb die Pflegerin nichts gehört hatte. Die Garage lag vorn und war etwa zwanzig Meter vom Haus entfernt. Nicholsons Schlafzimmer wiederum befand sich im rückwärtigen Teil des Hauses, es war das letzte im Flur. Die Fenster gingen zum hinteren Garten hinaus. Man hätte in dem Raum eine Party feiern können, ohne dass Melinda etwas davon mitbekommen hätte.

»Kein Panikknopf?«, wollte Hunter wissen.

Garcia deutete auf eine der Asservatentüten in der Ecke. Sie enthielt ein Stück Kabel, an dessen Ende ein Druckknopf hing. »Der Draht wurde gekappt.«

Hunters Aufmerksamkeit richtete sich auf die Blutspritzer auf Bett, Möbeln und Wänden. »Hat man die Tatwaffe gefunden?«

»Bis jetzt noch nicht«, antwortete Garcia.

»Das sprühnebelartige Blutverteilungsmuster und die ausgefransten Wundränder deuten darauf hin, dass der Täter eine Art elektrische Säge verwendet hat«, warf Dr. Hove ein.

»Eine Kettensäge?«, fragte Garcia.

»Möglich.«

Hunter schüttelte den Kopf. »Eine Kettensäge wäre zu laut. Zu riskant. Das Letzte, was der Täter gewollt hätte, wäre, jemanden auf sich aufmerksam zu machen, bevor er fertig war. Eine Kettensäge ist außerdem schwer zu handhaben, erst recht wenn man auf Präzision aus ist.« Er studierte die Leiche noch eine Zeitlang, bevor er sich vom Bett entfernte und dem Couchtisch mitsamt seiner grotesken Skulptur zuwandte.

Mr Nicholsons Arme waren an den Handgelenken seltsam verdreht und abgewinkelt. Sie bildeten zwei separate, in ihrer Gestalt nicht näher erkennbare Figuren. Noch seltsamer war, dass die abgetrennten Füße an den Armen befestigt worden waren. Zusammengehalten wurde das Ganze von einem dünnen, aber stabilen Metalldraht – derselbe Draht, mit dem der Täter auch mehrere abgetrennte Zehen am Rand der zwei Figuren angebracht hatte. Nicholsons parallel zueinander liegende Beinstümpfe bildeten den Sockel der Skulptur. Alles war über und über mit Blut bedeckt.

Hunter ging langsam einmal um die Skulptur herum. Er bemühte sich, jede Einzelheit zu erfassen.

»Was auch immer das darstellen soll«, sagte Dr. Hove, »so was baut man nicht in ein paar Minuten zusammen. Das hat gedauert.«

»Und wenn der Täter sich so viel Zeit dafür genommen hat«, führte Garcia den Gedanken fort, während er gleichzeitig einen Schritt näher trat, »muss es was zu bedeuten haben.«

Hunter ging auf Abstand und betrachtete das makabre Werk aus der Entfernung. Es sagte ihm rein gar nichts.

»Glauben Sie, Ihr Labor könnte davon eine Nachbildung in Originalgröße anfertigen?«, wandte er sich an Dr. Hove.

Diese schürzte unter ihrem Mundschutz nachdenklich die Lippen. »Warum nicht? Es wurde schon fotografiert, aber ich kann den Fotografen noch mal reinrufen und ihn bitten, Bilder von allen Seiten zu machen. Bestimmt kriegt unser Labor das hin.«

»Dann machen wir es so«, beschloss Hunter. »Hier und jetzt werden wir nämlich nicht dahinterkommen, was es damit auf sich hat.« Er drehte sich zur gegenüberliegenden Wand und erstarrte. Sie war so voller Blut, dass er es beinahe nicht gesehen hätte. »Was um alles in der Welt ist das denn?«

Garcias Blick ging erst zu Hunter, dann zur Wand. Er stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Das … ist eines jeden Menschen schlimmster Alptraum.«

5

Dr. Hove zog sich den Mundschutz herunter und drehte sich zu Garcia um. »Er weiß es noch gar nicht?«

Hunter hob fragend die Brauen.

Erneut öffnete Garcia seinen Overall und holte das Notizbuch aus der Brusttasche. »Ich erzähle dir, was wir bis jetzt wissen, aber damit du dir ein klares Bild machen kannst, muss ich bis gestern Nachmittag zurückgehen.«

»Okay.« Hunter war ganz Ohr.

Garcia las vor. »Gestern gegen siebzehn Uhr ist Nicholsons ältere Tochter Olivia gekommen. Ihre jüngere Schwester Allison kam eine halbe Stunde später. Sie haben zusammen mit ihrem Vater zu Abend gegessen und ihm bis circa einundzwanzig Uhr Gesellschaft geleistet. Dann sind beide nach Hause gefahren. Danach ist Melinda, die Pflegerin, mit Mr Nicholson ins Bad gegangen und hat ihn zu Bett gebracht, genau wie jedes Wochenende. Er brauchte etwa eine halbe Stunde zum Einschlafen. Sie ist die ganze Zeit bei ihm geblieben.« Garcia deutete zum Stuhl auf der anderen Seite des Bettes. »Da drüben hat sie gesessen. Sie hatte sich ein paar Bücher zum Lernen mitgebracht.« Er blätterte eine Seite um. »Als er schlief, hat Melinda das Licht ausgemacht, unten noch die Geschirrspülmaschine ausgeräumt und ist so gegen dreiundzwanzig Uhr zurück in ihre Gästewohnung gegangen.«

Hunter nickte und sah erneut zur Wand.

»Dazu kommen wir gleich«, sagte Garcia. »Melinda weiß noch, dass sie alle Türen abgeschlossen hat, einschließlich der Hintertür in der Küche. Was die Fenster angeht, war sie sich aber nicht ganz sicher. Als ich heute früh hier ankam, waren zwei der Fenster im Erdgeschoss nicht verriegelt, das im Arbeitszimmer und das in der Küche. Die Polizisten, die als Erste am Tatort waren, haben versichert, sie hätten nichts verändert.«

»Mit anderen Worten, die Fenster waren wahrscheinlich die ganze Nacht lang offen«, sagte Hunter.

»Höchstwahrscheinlich, ja.«

Hunters Blick wanderte zu der gläsernen Schiebetür, die auf den Balkon hinausführte.

»Die war angelehnt«, klärte Garcia ihn auf. »Anscheinend ist es hier im Zimmer manchmal ein bisschen stickig, vor allem im Sommer. Mr Nicholson mochte keine Klimaanlagen. Der Balkon geht zum Garten und zum Swimmingpool raus. Das Problem ist, die Wand draußen ist praktisch vollständig mit Zaunwinde bewachsen – die am weitesten verbreitete Kletterpflanze Kaliforniens, wie dir ja bekannt sein dürfte. Das hölzerne Rankgerüst ist stabil genug, dass ein Mensch daran hochklettern kann. Es wäre also nicht weiter schwierig, sich vom Garten aus Zutritt zum Zimmer zu verschaffen.«

»Die Spurensicherung wird sich den Garten und den Balkon vornehmen, sobald sie mit dem Haus fertig ist«, warf Dr. Hove dazwischen.

»Ungefähr um Mitternacht«, fuhr Garcia fort, wobei er immer noch aus seinem Notizbuch ablas, »ist Melinda dann eingefallen, dass sie eins ihrer Bücher in Nicholsons Schlafzimmer vergessen hatte. Sie ist zurück zum Haus, hat die Haustür aufgeschlossen und ist die Treppe hoch.« Garcia ahnte bereits, wie Hunters nächste Fragen lauten würden, und beantwortete sie, noch ehe sein Partner sie stellen konnte. »Ja, die Haustür war abgesperrt. Sie erinnert sich noch daran, dass sie sie aufschließen musste. Und nein, ihr ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen, als sie ins Haus gekommen ist. Auch keine Geräusche.«

Hunter nickte.

»Melinda ist also noch mal hier hochgekommen«, berichtete Garcia weiter, »und weil sie Mr Nicholson nicht stören wollte und genau wusste, wo sie ihr Buch liegen gelassen hatte …«, er zeigte auf den Mahagoni-Schreibtisch an der Wand, » … nämlich auf dem Tisch da, hat sie kein Licht gemacht. Sie ist auf Zehenspitzen ins Zimmer geschlichen, hat sich ihr Buch geschnappt und ist wieder raus.«

Hunters Blick ging zurück zur blutigen Wand neben dem Bett, und sein Herz setzte einen Schlag aus, als er begriff, worauf Garcias Schilderung von der Abfolge der Ereignisse hinauslief.

»Heute Morgen hat Melinda den Wecker nicht gehört. Nach dem Aufwachen ist sie so schnell sie konnte zum Haus gelaufen. Sie hat gesagt, sie hat die Haustür um acht Uhr dreiundvierzig aufgeschlossen. Sie hat auf die Uhr gesehen, weil sie wissen wollte, wie spät sie genau dran war.« Garcia klappte sein Notizbuch zu und steckte es zurück in die Tasche. »Sie ist schnurstracks nach oben, und als sie ins Schlafzimmer gekommen ist, hat sie nicht nur die Leiche gesehen, sondern auch noch diese Botschaft da, die der Täter für sie hinterlassen hat.« Er deutete auf die Wand.

Dort stand zwischen Blutspritzern und Abrinnspuren und in großen blutroten Buchstaben geschrieben:

SEIFROH, DASSDUKEINLICHTGEMACHTHAST.

6

Ein drückendes Schweigen breitete sich aus. Hunter machte ein paar Schritte auf die Wand zu und betrachtete sehr ausgiebig die Buchstaben.

»Was hat der Täter zum Schreiben benutzt, einen mit Blut getränkten Lappen?«, fragte er.

»Das wäre auch meine Vermutung«, stimmte Dr. Hove ihm zu. »In ein, zwei Tagen wird das kriminaltechnische Labor Genaueres sagen können.« Sie drehte sich von der Wand weg und wandte sich abermals zum Bett. Ihre Stimme zitterte vor Bestürzung. »Das da ist jenseits von Gut und Böse, Robert. Schlimmer als jeder Mord, mit dem ich bis jetzt zu tun hatte. Der Täter muss stundenlang hier im Zimmer gewesen sein. Er hat sein Opfer zuerst gefoltert und dann in Stücke geschnitten. Und als wäre das nicht genug, hat er uns auch noch das da hinterlassen.« Sie wies auf die blutige Skulptur. »Und er hat noch Zeit gefunden, eine Botschaft an die Wand zu schreiben.« Sie sah zu Garcia. »Wie alt ist die junge Frau noch gleich? Die Pflegerin?«

»Dreiundzwanzig.«

»Sie wissen besser als jeder andere, Robert, dass sie Monate, vielleicht sogar Jahre in psychotherapeutischer Behandlung verbringen wird, wenn sie das hier irgendwie verarbeiten will. Falls man so etwas überhaupt verarbeiten kann. Der Täter war im Zimmer, als sie zurückgekommen ist, um ihr Buch zu holen. Wenn sie Licht gemacht hätte, dann hätten wir jetzt zwei Leichen, und sie wäre auch Teil dieses widerwärtigen Dings da.« Wieder deutete sie auf die Skulptur. »Ihre Laufbahn als Krankenschwester ist vorbei, bevor sie überhaupt angefangen hat, und wahrscheinlich wird sie ihr Leben lang psychisch labil bleiben. Von den Alpträumen und schlaflosen Nächten will ich gar nicht reden. Sie wissen ja aus eigener Erfahrung, wie zermürbend so etwas sein kann.«

Es war kein großes Geheimnis, dass Hunter unter chronischer Hyposomnie litt. Angefangen hatte sie kurz nach dem Krebstod seiner Mutter. Er war damals sieben Jahre alt gewesen.

Hunter war als einziges Kind armer Eltern in Compton, einem sozialen Brennpunktbezirk im Süden von Los Angeles, aufgewachsen. Da er außer seinem Vater keine Familie hatte, war er in seiner Trauer um seine Mutter ganz allein gewesen. Sie fehlte ihm so sehr, dass es ihm körperliche Schmerzen bereitete.

Es fing nach der Beerdigung an. Immer öfter fürchtete er sich vor seinen Träumen, denn jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er das Gesicht seiner Mutter vor sich. Er sah sie weinen, sah, wie sie ihn mit schmerzverzerrten Zügen um Hilfe anflehte und für ihren Tod betete. Er sah ihren einst gesunden, starken Körper, nun so schwach und aufgezehrt, dass sie nicht einmal mehr aus eigener Kraft sitzen konnte. Er sah ihr Gesicht, das früher so wunderschön gewesen war, mit dem strahlendsten Lächeln, das man sich überhaupt vorstellen konnte, und das sich in ihren letzten Lebensmonaten bis zur Unkenntlichkeit verändert hatte. Und trotzdem hatte er auch dieses Gesicht über alles geliebt.

Der Schlaf wurde für ihn zu einem Gefängnis, dem er um jeden Preis entfliehen wollte. Nicht mehr zu schlafen war die logische Antwort seines Körpers, um die Angst und die schrecklichen Alpträume, die ihn nachts quälten, abzustellen. Ein simpler Abwehrmechanismus.

Hunter wusste nicht, was er auf Dr. Hoves Bemerkung erwidern sollte.

»Wer um alles in der Welt ist zu so was fähig?« Angewidert schüttelte sie den Kopf.

»Jemand mit einer Menge Hass«, sagte Hunter leise.

Plötzlich wurden sie durch lautes Rufen aufgeschreckt, das aus dem Erdgeschoss zu ihnen nach oben drang. Es war eine Frauenstimme, die sich rasch bis zur Hysterie steigerte. Hunter warf Garcia einen besorgten Blick zu.

»Eine der Töchter«, sagte er und strebte dem Ausgang zu. »Sorgt dafür, dass die Tür hier zubleibt.« Er verließ das Zimmer, durchquerte rasch den Flur und erreichte die Treppe. Am unteren Treppenabsatz, halb von zwei uniformierten Polizisten verdeckt, stand eine Frau. Sie war vielleicht um die dreißig und hatte langes blondes Haar, das ihr in sanften Wellen über die Schultern fiel. Ihr Gesicht war herzförmig mit blassgrünen Augen, markanten Wangenknochen und einer zierlichen Stupsnase. In ihrer Miene lag ein Ausdruck blanker Verzweiflung. Hunter war bei ihr, bevor sie sich von den Polizisten losreißen konnte.

»Ist schon gut«, sagte er und hob die rechte Hand. »Ich kümmere mich darum.«

Die Polizisten rückten von der Frau ab.

»Was ist hier los? Wo ist mein Vater?« Ihre Stimme war heiser vor Angst und Sorge.

»Ich bin Detective Robert Hunter vom LAPD«, sagte Hunter mit größtmöglicher Ruhe.

»Es ist mir völlig egal, wer Sie sind. Wo ist mein Vater?«, fragte die Frau erneut und versuchte sich an Hunter vorbeizudrängen.

Dieser machte einen kleinen Schritt rückwärts und versperrte ihr den Weg. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Augenblick, und er schüttelte sachte den Kopf. »Es tut mir leid.«

Sie schloss die tränenfeuchten Augen und fuhr sich mit der Hand zum Mund. »O Gott, Daddy …«

Hunter ließ ihr einen Moment Zeit.

Sie erstarrte, dann schaute sie Hunter an, als sei ihr soeben etwas eingefallen. »Was machen Sie hier? Wieso ist die Polizei im Haus? Warum ist draußen alles abgesperrt?«

Seit die Ärzte vier Monate zuvor die Krankheit bei Derek Nicholson diagnostiziert hatten, war seine Familie auf das Unvermeidliche vorbereitet. Das Ende war absehbar gewesen, insofern kam der Tod des Vaters für seine Tochter nicht wirklich überraschend. Die näheren Umstände hingegen schon.

»Tut mir leid, ich weiß Ihren Namen gar nicht«, sagte Hunter.

»Olivia. Olivia Nicholson.«

Hunter hatte bereits die weiße Stelle an der Haut ihres Ringfingers bemerkt. Entweder war sie kürzlich Witwe geworden oder geschieden. Die meisten Witwen in Amerika haben es nicht eilig, ihren Ehering und den Namen ihres verstorbenen Mannes abzulegen, außerdem sah Olivia noch zu jung aus, um Witwe zu sein, es sei denn, ein tragischer Unfall war der Grund. Hunter tippte auf geschieden.

»Könnten wir uns vielleicht irgendwo unterhalten, wo wir ungestört sind, Ms Nicholson?«, schlug Hunter vor, während er gleichzeitig in Richtung Wohnzimmer deutete.

»Wir können uns hier unterhalten«, gab sie herausfordernd zurück. »Was geht hier vor? Was hat das alles zu bedeuten?«

Hunters Blick schweifte zu den beiden Polizisten, die noch immer in der Nähe der Treppe standen und die Szene neugierig verfolgten. Beide verstanden den Wink sofort und zogen sich in Richtung Haustür zurück. Hunter richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Olivia.

»Ihr Vater ist nicht an seiner Krankheit gestorben.« Er wartete, bis Olivia seine Worte vollständig erfasst hatte, erst dann fuhr er fort. »Er wurde ermordet.«

»Was? Das … das ist doch absurd.«

»Bitte, setzen wir uns doch irgendwo hin«, bat Hunter noch einmal.

Olivia atmete aus. Wieder traten ihr Tränen in die Augen. Endlich gab sie nach und folgte Hunter ins große Wohnzimmer. Hunter wollte nicht, dass sie sich im selben Raum aufhielt wie die Pflegerin.

Olivia nahm in einem hellbraunen Sessel am Fenster Platz. Hunter wählte das Sofa gegenüber.

»Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?«, fragte er.

»Ja, bitte.«

Hunter wartete an der Tür, während ein Uniformierter zwei Gläser mit Wasser holte. Eins davon reichte er Olivia, die es in einem Zug austrank.

Hunter setzte sich wieder und erklärte mit ruhiger, fester Stimme, dass sich in den frühen Morgenstunden jemand Zutritt zum Haus und zu Mr Nicholsons Schlafzimmer verschafft habe.

Olivia zitterte und schluchzte die ganze Zeit und wollte – verständlicherweise – kein Wort glauben.

»Wir wissen noch nicht, warum Ihr Vater ermordet wurde. Wir wissen auch nicht, wie der Täter ins Haus gelangt ist. Im Augenblick gibt es eine ganze Wagenladung voller Fragen und keine Antworten. Aber wir werden alles daransetzen, sie zu finden.«

»Mit anderen Worten, Sie haben keinen blassen Schimmer, was passiert ist«, gab sie aufgebracht zurück.

Hunter schwieg.

Olivia erhob sich und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Ich verstehe das nicht. Wer sollte meinen Vater umbringen wollen? Er hatte Krebs. Er war doch … schon so gut wie tot.« Zum dritten Mal füllten sich ihre Augen mit Tränen.

Noch immer sagte Hunter nichts.

»Wie?«, fragte sie.

Hunter sah sie an.

»Wie wurde er ermordet?«

»Für die genaue Todesursache müssen wir die Autopsie abwarten.«

Olivia runzelte die Stirn. »Woher wissen Sie dann, dass es Mord war? Wurde er erschossen? Erstochen? Erwürgt?«

»Nein.«

Sie machte ein verwirrtes Gesicht. »Woher wissen Sie es dann?«

Hunter stand auf und ging zu ihr. »Wir wissen es.«

Ihr Blick glitt zurück zur Treppe. »Ich will hoch in sein Zimmer.«

Hunter legte ihr sanft die Hand auf die linke Schulter. »Bitte, vertrauen Sie mir, Ms Nicholson. Wenn Sie in sein Zimmer gehen, wird das keine Ihrer Fragen beantworten. Und es wird Ihnen auch nicht in Ihrem Kummer helfen.«

»Wieso nicht? Ich will wissen, was mit ihm passiert ist. Was verheimlichen Sie mir?«

Hunter zögerte kurz, aber er wusste, dass sie ein Recht hatte, es zu erfahren. »Er wurde verstümmelt.«

»O Gott!« Ihre Hände flogen an ihren Mund.

»Ich weiß, dass Sie und Ihre Schwester gestern Abend hier waren. Sie haben mit Ihrem Vater zu Abend gegessen, ist das richtig?«

Olivia zitterte so heftig, dass sie es kaum fertigbrachte zu nicken.

»Bitte«, sagte Hunter. »Behalten Sie Ihren Vater so in Erinnerung, wie Sie ihn bei diesem Abendessen erlebt haben.«

Daraufhin brach Olivia in hemmungsloses Schluchzen aus.

7

Es war bereits Nachmittag, als Hunter und Garcia in ihrem Büro im fünften Stock des Police Administration Building in der West First Street ankamen. Das PAB hatte nach fast sechzig Jahren das Parker Center als Hauptquartier des LAPD abgelöst.

Nachdem sie die Neuigkeiten vernommen hatte, war Captain Barbara Blake ebenfalls an ihrem freien Tag ins Büro gekommen, wo sie die beiden Detectives mit jeder Menge Fragen erwartete.

»Stimmt es, was ich gehört habe?«, fragte sie, kaum dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Jemand hat das Opfer zerstückelt?«

Hunter nickte, und Garcia reichte ihr einen Stapel Fotos.

Barbara Blake war seit drei Jahren Leiterin des Raub- und Morddezernats. Ihr Vorgänger, Captain William Bolter, hatte sie selbst für den Posten vorgeschlagen, und der Bürgermeister der Stadt hatte die Wahl abgesegnet. Blake hatte sich innerhalb kürzester Zeit einen Ruf als energische, durchsetzungsstarke Chefin erarbeitet, die in ihrer Abteilung ein straffes Regiment führte. Blake war eine aparte Person – elegant, attraktiv, mit langen schwarzen Haaren und kühlen dunklen Augen, von denen ein Blick ausreichte, um die meisten Menschen erzittern zu lassen. Sie fürchtete weder Tod noch Teufel, ließ sich von niemandem dumm kommen und hatte keinerlei Hemmungen, selbst hochgestellte Politiker oder Behördenvertreter vor den Kopf zu stoßen, wenn es darum ging, ihre Arbeit zu machen.

Captain Blake sah die Fotos durch, und mit jedem Bild wurde ihre Bestürzung größer. Beim letzten Bild angekommen, hielt sie inne und holte tief Luft.

»Was ist das, in Gottes Namen?«

»Eine … Art Skulptur«, antwortete Garcia.

»Aus den … Gliedmaßen des Opfers?«

»Genau.«

Einige Sekunden lang herrschte Schweigen.

»Hat sie irgendeine tiefere Bedeutung?«, wollte Captain Blake als Nächstes wissen.

»Ja, das hat sie«, sagte Hunter. »Wir wissen nur noch nicht, welche.«

»Wieso sind Sie sich dann so sicher?«

»Weil man, wenn man jemanden einfach nur tot sehen möchte, zu ihm hingeht und ihn erschießt. Man setzt sich nicht dem Risiko aus, entdeckt zu werden, indem man stundenlang am Tatort bleibt, um so ein Ding zusammenzubauen – es sei denn, es ist in irgendeiner Weise wichtig. Und wenn ein Täter etwas so Wichtiges am Tatort zurücklässt, dann tut er das normalerweise, weil er kommunizieren will.«

»Mit uns?«

Hunter zuckte die Achseln. »Mit wem auch immer. Bevor wir die Frage beantworten können, müssen wir erst mal rausfinden, was das Gebilde zu bedeuten hat.«

Captain Blake richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Foto. »Das würde also heißen, dass es keine willkürliche Tat war. Der Täter hat dieses Ding nicht aus seinem plötzlich übersprudelnden sadistischen Schaffenstrieb heraus gebastelt.«

Hunter schüttelte den Kopf. »Höchstwahrscheinlich nicht. Ich würde sagen, er hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, was er mit Derek Nicholsons Gliedmaßen machen wollte, und zwar schon bevor er ihn getötet hat. Er wusste genau, welche Gliedmaßen er brauchte. Und er wusste, wie sein schauerliches Werk im fertigen Zustand aussehen würde.«

»Wie reizend.« Blake stutzte. »Und was hat das hier zu bedeuten?« Sie hielt ein Foto der in Blut geschriebenen Botschaft hoch.

Garcia erläuterte ihr die Zusammenhänge. Als er geendet hatte, war Captain Blake – ganz untypisch für sie – erst einmal sprachlos.

»Womit zum Henker haben wir es hier zu tun, Robert?«, fragte sie schließlich und gab Garcia den Stoß Fotos zurück.

»Ich weiß es nicht genau, Captain.« Hunter lehnte sich gegen seinen Schreibtisch. »Derek Nicholson war sechsundzwanzig Jahre lang für die kalifornische Staatsanwaltschaft tätig. Er hat viele Leute hinter Gitter gebracht.«

»Sie glauben, es könnte ein Racheakt gewesen sein? Wen hat er denn eingebuchtet, Luzifer und die Texas-Kettensägen-Massaker-Bande?«

»Ich weiß es nicht, aber das ist der Punkt, an dem wir ansetzen werden.« Hunter warf Garcia einen Blick zu. »Wir brauchen eine Liste von allen, die Nicholson ins Gefängnis gebracht hat – Mörder, Totschläger, Vergewaltiger, jeden Einzelnen. Priorität haben alle, die innerhalb der letzten …«, er überlegte kurz, » … fünfzehn Jahre entlassen wurden oder auf Bewährung beziehungsweise Kaution freigekommen sind … Und wir ordnen nach der Schwere des Verbrechens. Diejenigen, die wegen wie auch immer gearteter sadistischer Gewaltdelikte verurteilt wurden, sind am wichtigsten.«

»Ich gebe dem Recherche-Team Bescheid«, sagte Garcia. »Aber es ist Sonntag. Vor morgen Abend haben wir sicherlich keine Ergebnisse.«

»Das macht nichts. Außerdem brauchen wir eine zweite Liste mit unmittelbaren Angehörigen, Verwandten, Gangmitgliedern und so weiter – alle, die sich stellvertretend für jemand anderen an Derek Nicholson gerächt haben könnten. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass es sich um einen indirekten Racheakt handelt. Vielleicht sitzt die Person, der Nicholson den Prozess gemacht hat, noch im Gefängnis, und jemand draußen wollte es ihm heimzahlen.«

Garcia nickte.

Hunter griff nach dem Stapel Fotos und breitete sie auf seinem Schreibtisch aus. Sein Blick blieb an der Aufnahme der Skulptur hängen.

»Wie hat der Täter das Ding gebaut?«, wollte Captain Blake wissen, die sich zu Hunter an dessen Schreibtisch gesellt hatte.

»Er hat Draht benutzt, um die einzelnen Teile zusammenzuhalten.«

»Draht?«

»Genau.«

Sie beugte sich vor und studierte das Foto gründlicher. Ein plötzlicher kalter Schauer durchlief ihren Körper. »Und wie sollen wir rausfinden, was dieses Ding bedeutet? Je länger ich es mir ansehe, desto abartiger und sinnloser kommt es mir vor.«

»Das kriminaltechnische Labor wird eine maßstabsgetreue Nachbildung für uns anfertigen. Vielleicht ziehen wir den einen oder anderen Kunstexperten hinzu. Mal sehen, was denen dazu einfällt.«

In ihren langen Jahren bei der Polizei hatte Captain Blake im Zusammenhang mit Mordfällen schon die unvorstellbarsten Dinge erlebt – aber noch nie so etwas wie das. »Haben Sie jemals einen ähnlichen Tatort gesehen oder davon gehört?«, wollte sie wissen.

»Ich weiß von einem Fall, wo der Täter mit dem Blut des Opfers ein Bild auf Leinwand gemalt hat«, sagte Garcia. »Aber das hier ist in einer ganz anderen Liga.«

»Ich habe noch nie von etwas Vergleichbarem gehört oder gelesen«, musste Hunter gestehen.

»Könnte er das Opfer zufällig gewählt haben?«, fragte Captain Blake, während sie die Notizen überflog, die Garcia gemacht hatte. »Ich meine, für mich sieht es so aus, als hätten bei der Tat der Sadismus und die Anfertigung dieses monströsen … Werks im Mittelpunkt gestanden. Er könnte doch Nicholson ausgewählt haben, weil der ein leichtes Opfer war.« Sie blätterte eine Seite in Garcias Notizbuch um. »Derek Nicholson hatte Krebs im Endstadium. Er war geschwächt und praktisch bettlägerig. Vollkommen wehrlos. Er hätte nicht um Hilfe rufen können, selbst wenn der Killer ihm ein Megafon in die Hand gedrückt hätte. Und er war allein im Haus.«

»Captain Blake hat nicht ganz unrecht«, meinte Garcia und wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.

»Für mich klingt das nicht plausibel«, widersprach Hunter. Er stieß sich von seinem Schreibtisch ab und trat ans geöffnete Fenster. »Derek Nicholson war ein leichtes Opfer, das stimmt, aber in einer Stadt wie Los Angeles gibt es viele noch leichtere Opfer – Obdachlose, Streuner, Drogenabhängige, Prostituierte … Wenn dem Täter egal war, wen er umbringt, warum hat er dann das Risiko auf sich genommen, in das Haus eines Staatsanwalts einzubrechen und sich dort stundenlang aufzuhalten? Und so allein war Nicholson ja gar nicht. Die Krankenschwester befand sich in der Gästewohnung über der Garage, vergessen wir das nicht. Und wie wir wissen …«, er tippte auf die Aufnahme der blutigen Botschaft an der Wand, » … hat sie den Täter gestört. Gott sei Dank hat sie kein Licht gemacht.« Hunter wandte sich vom Fenster ab und in den Raum hinein. »Glauben Sie mir, Captain, der Täter wollte genau dieses Opfer. Er wollte Derek Nicholson töten. Und er wollte ihn vor seinem Tod leiden lassen.«

8

Statt in Venice Beach Volleyball zu spielen oder sich die Dodgers anzusehen, verbrachte Hunter den restlichen Tag mit der Sichtung der Tatortfotos. Es war eine zeitraubende Angelegenheit, und die ganze Zeit hindurch quälte ihn dabei eine Frage:

Was um alles in der Welt ist der Sinn hinter dieser Skulptur?

Er beschloss, noch einmal zu Derek Nicholsons Haus zu fahren.

Die Leiche, ebenso wie das makabre Kunstwerk, war ins Rechtsmedizinische Institut gebracht worden. Alles, was blieb, war ein leeres Haus voller Trauer, Schmerz und Angst. Derek Nicholsons letzte Stunden waren in Blut an die Wände seines Schlafzimmers geschrieben, und Hunter las darin nur eins: unvorstellbare Qualen.

Er starrte auf die Botschaft, die der Täter hinterlassen hatte, und in seinem Innern tat sich ein gähnendes Loch auf. Der Täter hatte Derek Nicholson getötet und dabei noch drei weitere Leben zerstört: die von Nicholsons Töchtern und das der jungen Pflegeschülerin.

Die Spurensicherung hatte Fingerabdrücke von mindestens vier verschiedenen Personen im Haus gefunden, deren Analyse noch ein bis zwei Tage dauern würde. Darüber hinaus waren im Schlafzimmer im ersten Stock diverse Haare und Faserproben sichergestellt worden. Die mehrstündige Untersuchung des Gartens sowie des Rankgerüsts an der Wand unterhalb von Derek Nicholsons Schlafzimmer hatte keine Ergebnisse geliefert. Es gab keine Spuren gewaltsamen Eindringens. Kein Fenster war eingeschlagen, keine Tür, kein Fensterrahmen oder Schloss beschädigt worden. Allerdings waren zwei der Fenster im Erdgeschoss über Nacht nicht verriegelt gewesen, und die Balkontür zu Mr Nicholsons Schlafzimmer hatte einen Spaltbreit offen gestanden.

Hunter hatte versucht, mit Melinda Wallis zu reden, aber was Garcia bereits vermutet hatte, war eingetroffen: Sie hatte dichtgemacht. Sie war die Unglückliche, die Derek Nicholsons Leiche in seinem blutgetränkten Schlafzimmer aufgefunden hatte. Ihr Verstand tat sich schwer, diesen Schock zu verarbeiten. Und noch mehr Mühe hatte er, die Gewissheit zu verdrängen, dass sie selbst nur um Haaresbreite dem Tod entkommen war.

Bei seinem zweiten Besuch am Tatort konzentrierte sich Hunter ganz auf das Schlafzimmer, wo er nach Hinweisen suchte, die er beim ersten Mal womöglich übersehen hatte. Er fand nichts, was die Spurensicherung nicht schon vor ihm gefunden hätte, aber die Brutalität der Szene erschütterte ihn aufs Neue. Es war, als hätte der Täter sich absichtlich bemüht, das Blut im ganzen Raum zu verteilen.

Die Botschaft an der Wand war nicht Teil seines ursprünglichen Plans gewesen, sondern ein spontaner Akt dreister Provokation. Der gesamte Tatort schien wie ein Schaufenster, durch das man die rasende, sinnlose Wut des Mörders betrachten konnte, und das machte Hunter zu schaffen.

Es war bereits dunkel, als er wieder in seine Wohnung kam. Er schloss die Tür hinter sich und lehnte sich erschöpft dagegen. Sein Blick glitt durchs dunkle, verlassen daliegende Wohnzimmer, und er fragte sich, ob es wirklich eine gute Idee war, diese Nacht zu Hause zu verbringen.

Hunter lebte allein, hatte weder Frau noch Freundin. Er war nie verheiratet gewesen, und keine seiner Beziehungen hatte sonderlich lange gehalten. Auf Dauer kamen die meisten Frauen nicht damit klar, dass sein Beruf ihm so viel abverlangte. Es machte ihm nichts aus, Single zu sein, und allein zu leben störte ihn auch nicht. Aber nach einem Tag, den er zum Großteil umgeben von Tod und bluttriefenden Wänden verbracht hatte, war die Einsamkeit seines kleinen Apartments mehr, als er ertragen konnte.

Das Nachtleben von Los Angeles gehört zu den lebendigsten und aufregendsten der Welt, und die Bandbreite der Vergnügungen ist groß. Sie reicht von luxuriösen, trendigen Clubs, in denen sich die A-Liga der Hollywood-Prominenz tummelt, bis hin zu kleinen Bars, zwielichtigen Untergrund-Kneipen und den Oasen der Ausgeflippten. Ganz gleich in welcher Stimmung man gerade ist, in L. A. findet man garantiert die dazu passende Lokalität.

Hunter machte sich auf den Weg zu Jay’s Rock Bar, die nur zwei Blocks von seiner Wohnung entfernt lag. Es war eine seiner Lieblingskneipen mit einer erstklassigen Auswahl an Scotch, einer Jukebox voller Rockmusik und freundlichen, quirligen Kellnerinnen.

Hunter setzte sich an die Theke und bestellte einen doppelten zwölf Jahre alten Glendronach mit zwei Eiswürfeln. Single Malt Scotch Whisky war seine größte Leidenschaft, und obwohl er das eine oder andere Mal über den Durst getrunken hatte, verstand er es, den Geschmack und die Qualität eines Whiskys zu würdigen, statt sich lediglich damit zu betrinken.

Hunter nippte an seinem Whisky und wartete, bis sich das weiche Aroma von Haselnuss und Eiche in seinem Mund entfaltet hatte. Es herrschte reger Betrieb in der Bar, und nach allem, was er an diesem Tag gesehen hatte, war er froh, unter Menschen zu sein, die lachten und das Leben genossen.

Unweit von Hunter saßen vier Frauen an einem Tisch und tauschten sich gerade über die schlechtesten Anmachsprüche aus, die sie je von Männern zu hören bekommen hatten.

»Ich war mal in einer Bar in Santa Monica«, sagte eine der vier, eine Frau mit kurzen blonden Haaren. »Da ist dieser Glatzkopf auf mich zugekommen und meinte …«, das Folgende sagte sie in einem tiefen Bariton, »›Baby, für dich lasse ich mich in Fred umtaufen, denn du machst mich heiß wie Feuer und hart wie Stein.‹«

Zwei Sekunden geschocktes Schweigen, dann schallendes Gelächter.

»Das ist so was von lahm«, sagte die Jüngste der Runde. »Aber ich habe noch einen besseren. Letztes Wochenende war ich am Sunset Boulevard unterwegs, und jemand hat mich am helllichten Tag auf offener Straße angehalten und gesagt: ›Ist dein Name zufällig Gilette? Du siehst nämlich so aus, als wärst du für das Beste im Mann.‹«

Erneut lachte die Gruppe.

»Okay, okay«, meldete sich eine langhaarige Brünette zu Wort. »Der kriegt definitiv den Preis für den dümmsten Anmachspruch aller Zeiten. So was Schlechtes habe ich meinen ganzen Lebtag noch nicht gehört.«

Hunter, der ihre Meinung teilte, lächelte vor sich hin. Es war das erste Mal an diesem Tag.

»Nachschub?«, fragte Emilio, der junge puerto-ricanische Barkeeper, wobei er mit dem Kinn auf Hunters leeres Glas deutete.

Hunter riss sich von der Unterhaltung der vier Frauen los, warf einen kurzen Blick auf Emilio und dann in sein Glas. Er war müde, wusste aber, dass er, wenn er jetzt nach Hause ginge, keinen Schlaf finden würde. Er schlief ohnehin kaum. Dafür sorgte seine Hyposomnie.

»Sicher, warum nicht.«

Emilio schenkte ihm noch einen doppelten Whisky ein und ließ einen frischen Eiswürfel ins Glas fallen. Hunter sah zu, wie er knackend zersprang, sobald er mit der goldenen Flüssigkeit in Berührung kam. Ein Mann im zerbeulten grauen Anzug, der am Ende des Tresens saß, hustete einen heiseren Raucherhusten, und Hunters Gedanken wanderten zurück zu Derek Nicholson und dem Mordfall. Warum tötete man jemanden, der schon bald an Lungenkrebs sterben würde? Jemanden, der so oder so zu einem qualvollen Tod verdammt war? Ein Monat, vielleicht zwei, und der Krebs hätte dem Mörder die Arbeit abgenommen. Doch das hatte der Täter offenbar nicht zulassen können … oder wollen. Er selbst wollte die Entscheidung über Nicholsons Tod in der Hand haben. Wollte ihm beim Sterben in die Augen schauen. Gott spielen.

Hunter trank einen Schluck und schloss die Augen. Er hatte ein mieses Gefühl, was diesen Fall anging. Ein ganz mieses.

9

In einer Stadt wie Los Angeles sind Gewaltverbrechen nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil, sie sind mehr oder weniger an der Tagesordnung. Daher verwundert es auch nicht, dass die Leichenbeschauer im Durchschnitt genauso viel zu tun haben wie die Unfallchirurgen. Die Arbeit sammelt sich schneller an, als sie bewältigt werden kann, und alles ist genauestens durchorganisiert. So verstrich trotz des Eilantrags ein ganzer Tag, ehe Dr. Hove mit der Autopsie von Derek Nicholsons Leiche beginnen konnte.

Hunter hatte nur vier Stunden geschlafen. Am Morgen fühlten sich seine Augen sandig an, und der Kopfschmerz, der sich in seinem Nacken eingenistet hatte, war ein typisches Symptom akuten Schlafmangels. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es nichts gab, was er hätte tun oder schlucken können, um ihn loszuwerden. Kopfschmerzen wie diese waren seit mittlerweile gut dreißig Jahren fester Bestandteil seines Lebens.

Hunter wollte sich gerade auf die Fahrt ins PAB machen, als Dr. Hove anrief und meldete, dass die Obduktion von Derek Nicholson nun abgeschlossen war.

Um halb acht Uhr früh brauchte Hunter für die sieben Meilen zwischen seiner Wohnung und dem Rechtsmedizinischen Institut in der North Mission Road nur siebzehn Minuten. Garcia war eine Minute vor ihm angekommen und wartete auf dem Parkplatz. Er war rasiert, und seine Haare waren noch feucht von der Dusche, doch die Ringe unter seinen Augen straften seine frische Erscheinung Lügen.

»Freuen tue ich mich nicht gerade darauf, das kann ich dir mal sagen«, verkündete er anstelle einer Begrüßung, als er aus dem Wagen stieg.

Hunter sah ihn fragend an. »Freust du dich jemals auf irgendwas, wenn wir hier reingehen?«

Garcia warf einen Blick auf das ehemalige Krankenhaus, in dem nun das Rechtsmedizinische Institut untergebracht war. Architektonisch war das Gebäude durchaus beeindruckend. Die Fassade war eine stilvolle Kombination aus rotem Backstein und sandfarbenen Zierelementen. Die imposante Treppe, die zum Haupteingang hinaufführte, ließ das Gebäude, das man sich gut auf dem Campus einer altehrwürdigen Universität hätte vorstellen können, noch eleganter erscheinen. Eine wunderschöne Hülle für ein Haus voller Tod.

»Hast ja recht«, räumte Garcia ein.

Dr. Hove erwartete sie beim Mitarbeitereingang an der rechten Seite des Gebäudes. Ihr seidiges dunkles Haar war zu einem altmodischen Dutt gebunden. Sie trug kein Make-up, und im Weiß ihrer Augen zeigten sich vereinzelte rote Äderchen, die verrieten, dass auch sie in der Nacht nicht viel Schlaf bekommen hatte.

Nachdem sie einander mit einem knappen Nicken begrüßt hatten, folgten Hunter und Garcia ihr schweigend durch einen langen, hell erleuchteten Gang. Zu so früher Stunde war noch niemand auf den Fluren unterwegs, wodurch das Gebäude mit seinen kahlen weißen Wänden und dem vor Sauberkeit quietschenden Linoleumboden nur noch beklemmender wirkte.

Am Ende des Ganges nahmen sie die Treppe ins Untergeschoss und gelangten dort in einen weiteren Flur. Dieser war kürzer und nicht ganz so hell erleuchtet.

»Ich habe den speziellen Sektionssaal benutzt«, erklärte die Rechtsmedizinerin, als sie die letzte Tür auf der rechten Seite erreicht hatten.

Im speziellen Sektionssaal Nummer 1 wurden in der Regel nur solche Leichen obduziert, von denen – etwa aufgrund hochansteckender Viruskrankheiten, Kontamination mit radioaktiver Strahlung, Verseuchung durch chemische Kampfstoffe und Ähnliches – ein erhöhtes Gesundheitsrisiko ausging. Der Raum verfügte über ein unabhängiges Datenbanksystem und eigene Kühlzellen. Seine massive Tür war durch ein elektronisches Schloss mit sechsstelligem Zahlencode gesichert. Hin und wieder wurde der Saal aber auch für Autopsien in besonders brisanten Mordfällen benutzt – eine Sicherheitsmaßnahme, um zu verhindern, dass sensible Informationen nach außen drangen. Hunter hatte den Saal schon oft von innen gesehen.

Dr. Hove tippte eine Ziffernfolge in das metallene Eingabefeld an der Wand, und die schwere Tür öffnete sich summend.

Sie kamen in einen großen, winterkalten Raum. Zwei Reihen von Leuchtröhren, die über die ganze Breite der Decke gingen, spendeten Licht. In der Mitte des Raums standen zwei Sektionstische aus Edelstahl, einer auf Rollen, der andere fest mit dem Boden verschraubt. Neben einer Wand aus Kühlzellen mit ihren kleinen quadratischen, spiegelblank polierten Türen stand ein blauer hydraulischer Flaschenzug. Beide Sektionstische waren mit weißen Laken zugedeckt.

Dr. Hove streifte sich ein frisches Paar Latexhandschuhe über und ging auf den Tisch zu, der am weitesten von der Tür entfernt stand.

»Also, dann zeige ich Ihnen mal, was ich rausgefunden habe.«

Garcia trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Hunter angelte sich einen Mundschutz. Er hatte keine Angst vor Ansteckung, aber er hasste den typischen Sektionssaal-Geruch – als hätte man versucht, etwas Verwesendes mit starkem Desinfektionsmittel wegzuschrubben. Ein schaler Geruch, der sie von jenseits des Grabes anzuwehen schien.

»Die offizielle Todesursache war Herzversagen«, verkündete Dr. Hove, während sie gleichzeitig das weiße Laken wegzog. Darunter kam Derek Nicholsons verstümmelter Torso zum Vorschein, »aufgrund von Blutverlust und wahrscheinlich auch wegen der starken Schmerzen. Aber er hat eine ganze Weile durchgehalten.«

»Wie ist das zu verstehen?«, wollte Garcia wissen.

»Die Verletzungen an Haut und Muskelgewebe deuten darauf hin, dass er sämtliche Finger und Zehen, seine Zunge sowie mindestens einen Arm verloren hat, bevor sein Herz aufhörte zu schlagen.«

Garcia holte tief Luft und schüttelte sich, um das unangenehme Gefühl loszuwerden, das ihm den Nacken hinaufkroch.

»Wir lagen übrigens richtig mit unserer Annahme, dass für die Amputationen eine Art Säge verwendet wurde«, fuhr die Rechtsmedizinerin fort. »Auf alle Fälle etwas sehr Scharfes mit einer gezahnten Klinge. Allerdings war die Zahnung nicht so fein, wie man es vielleicht vermuten würde. Der Abstand zwischen den Zähnen ist auf jeden Fall größer als bei den chirurgischen Instrumenten, die üblicherweise bei Amputationen zum Einsatz kommen.«

»Vielleicht war es ein ganz gewöhnlicher Fuchsschwanz«, sagte Garcia.

»Das glaube ich eher nicht.« Hove schüttelte den Kopf. »Dafür sind die Schnittflächen zu ebenmäßig. Es gibt zwar Ansatzspuren, aber hauptsächlich an den Stellen, wo das Instrument zum ersten Mal in Kontakt mit dem Knochen gekommen ist. Das ist ganz normal, vor allem, wenn man bedenkt, dass das Opfer vermutlich nicht betäubt war. Die Toxikologie muss das Blut noch auf Medikamentenrückstände untersuchen, das wird einen oder zwei Tage dauern, aber ohne Anästhesie müssen die Schmerzen schier unerträglich gewesen sein. Selbst wenn der Täter das Opfer festgehalten hat, muss es geschrien und sich gewehrt haben, was die Amputation natürlich erheblich erschwert hat.«

Garcia sog durch zusammengebissene Zähne die eisige Luft ein.

»Aber es hätte ihn doch gar nicht weiter kümmern müssen, wie lange sein Opfer lebt. Er hätte Nicholson die Arme und Beine einfach irgendwie abhacken können.«

»Hat er aber nicht«, sagte Hunter.

»Nein, das hat er nicht«, pflichtete Dr. Hove ihm bei. »Der Täter wollte, dass sein Opfer so lange wie möglich am Leben bleibt. Er wollte es quälen. Die Amputationen wurden sauber und akkurat ausgeführt.«

»Medizinisches Fachwissen?«, fragte Hunter.

»Selbst unter dem Vorbehalt, dass sich heutzutage jeder, der ein paar Stunden im Internet surft, detaillierte Anleitungen und Diagramme herunterladen kann, in denen erklärt wird, wie man eine ordnungsgemäße Amputation durchführt, würde ich sagen, dass der Täter zumindest ein Grundlagenwissen über chirurgische Eingriffe und menschliche Anatomie hat, ja.« Ihr Blick richtete sich auf den zweiten Sektionstisch. »Er versteht sein Handwerk. Schauen Sie sich das hier mal an.«

10

Da war etwas in Dr. Hoves Verhalten und Tonfall, das die Detectives zutiefst beunruhigte. Sie folgten ihr zum zweiten Sektionstisch.