Toyang − Ruf der Erde - Jinok Kim - E-Book

Toyang − Ruf der Erde E-Book

Jinok Kim

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Beschreibung

Lebensphilosophie zwischen Korea und Europa – und eine Frau, die beide Welten auf beeindruckende Weise vereint Sie trat als Opernsängerin rund um die Welt auf und schuf Kunst aus Tonerde, bevor sie mit 66 Jahren das «hipste Restaurant Berlins» (Stern) eröffnete. Mit ihrem ganzen Wesen und ihrer Kunst verkörpert Jinok Kim einen kulturellen Kosmos zwischen Ost und West − den sie hier zusammen mit ihrem Mann Dirk Eicken entfaltet. Dabei erzählen die beiden von Kimchi und der Kulturtechnik des Fermentierens ebenso wie von Naturwein und deutschen Bio-Aktivisten; sie nehmen uns mit in die Metropole Seoul, aber auch in ihren Garten in Sacrow an der Havel. Eine leidenschaftliche Antwort auf den Ruf der Erde – und ein Wegweiser zu mehr Wertschätzung und Achtsamkeit. «Ein Lehrstück über Zeit, Kreativität und Fermente – die Seele der koreanischen Küche.» Süddeutsche Zeitung über Jinok Kim und ihr Restaurant «NaNum» «Jinok Kim ist nicht nur Inhaberin eines der interessantesten koreanischen Restaurants, sondern zugleich eine Kulturbotschafterin.» Berliner Zeitung

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Seitenzahl: 273

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Jinok Kim • Dirk Eicken

Toyang − Ruf der Erde

Lebenskunst zwischen Korea und Europa

 

 

 

Über dieses Buch

Bevor sie mit 66 Jahren das «hipste Restaurant Berlins» (Stern) eröffnete, trat die in Seoul geborene Jinok Kim als Opernsängerin auf internationalen Bühnen auf, und sie schuf Kunst aus Tonerde. Eine Frau, die mit ihrem ganzen Wesen und mit jeder ihrer Tätigkeiten eine mitreißende Begeisterung verkörpert, einen kulturellen Kosmos zwischen Korea und Deutschland – den sie in diesem Buch zusammen mit ihrem Mann Dirk Eicken eindrucksvoll entfaltet. Dabei geht es unter anderem um Kimchi und ums Fermentieren, eine jahrhundertealte Kulturtechnik, die Kreativität, Geduld und Demut vor dem Wirken der Natur erfordert und fördert. Wir begegnen deutschen Bio-Aktivisten und koreanischen Schamaninnen, kosten Naturwein und lauschen dem epischen Pansori-Gesang; wir folgen den beiden in die Metropole Seoul, aber auch in ihren Garten in Sacrow an der Havel. 

Ein Wegweiser zu mehr Wertschätzung, Achtsamkeit – und eine leidenschaftliche Antwort auf den Ruf der Erde, weil, wie die beiden es formulieren, «eine lebenserhaltende Natur, die uns Menschen die Mittel zum Leben vorhält, im Reich der Erde gründet. In einer Erde, die reich ist. An ihrem Reichtum wird unser Leben gemessen.»

Vita

Jinok Kim ist Restaurantinhaberin, Köchin und Künstlerin. Geboren 1952 in Südkorea, wurde sie an der Seoul National University und an der UdK Berlin in klassischem Gesang ausgebildet, als Opernsängerin trat sie auf Bühnen rund um die Welt auf. 2009 begann sie, inspiriert von der europäischen wie der koreanischen Keramiktradition, Kunst aus Tonerde zu schaffen. 2018, mit sechsundsechzig Jahren, eröffnete sie in Berlin das Keramik-Galerie-Restaurant «NaNum», das inzwischen im Guide Michelin gelistet ist.

 

Dirk Eicken, geboren 1959 in Hagen, ist bildender Künstler und studierte zur gleichen Zeit wie Jinok Kim an der UdK Berlin. Er arbeitet mit Videos, Objekten und Installationen; im Mittelpunkt steht jedoch seit Beginn die Malerei. Seit dreißig Jahren schreibt er Texte, die teilweise Bestandteil der Werke sind, und reflektiert über Ästhetik, Ethik und Kunst. Parallel unterstützt er Jinok Kim seit der ersten Idee zum «NaNum» im Back-up des Restaurants.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung zero-media.net, München

Coverabbildung FinePic®, München

ISBN 978-3-644-02203-4

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

wachküssen

Korea liebt den Infinitiv. Kein ich, kein du, kein sie oder er. Kein Subjekt und kein Objekt, nur der Verlauf des Infinitivs und der dann abgewandelt in Bedeutung und Aussprache. Lustig sieht es mitunter aus, was das Übersetzungsprogramm aus koreanischen Sätzen im Deutschen macht. Nicht selten sind Subjekt und Objekt vertauscht, und es entstehen ganz ulkige Sinnverdrehungen. Geradezu hilflos sucht die KI nach dem Satzbau, eben weil ich und du und sie oder er nicht auffindbar sind, weil das Subjekt oder das Objekt oder gar beide im Koreanischen fehlen.

Nun kann man zwar hoffen, dass Mister Automat weiter emsig trainiert, um das Gemeinte demnächst korrekt zu erfassen. Andererseits ist sein Versagen gerade supergut, könnte gerade so bleiben, weil es einen irren Unterschied kenntlich macht. Hat der Kerl die sinnentsprechende Übersetzung erst einmal geschultert und im Algorithmus eingeebnet, wird dieser Unterschied gar nicht mehr sichtbar sein. So wird man zwar die Übersetzung gewinnen, aber die Kultur verlieren. Die Menschheit ist danach einer weiteren Möglichkeit beraubt, eine Kultur, die anders spricht und anders denkt, kennenzulernen. Mehr noch: Sie weiß nicht einmal etwas davon. Das ist dann gar nicht mehr lustig.

Wachküssen ist ein schönes Beispiel. Man könnte im Deutschen auch Achtsamkeit und Liebe sagen, aber Achtung: Auf diese Weise hätte man zwei Ausdrücke für zwei Ideen aus der Tasche gezaubert. Damit nicht genug: Die zwei Ideen würden eilends auf die Suche nach grammatischen Partnerinnen gehen und sich bald in richtigen Sätzen wiederfinden. Etwa in dieser Art: Die Achtsamkeit öffnet das Bewusstsein, Liebe überwindet alle Grenzen. Und so fort, viele andere Sätze. Seltsame Sätze, alle recht wagemutige Behauptungen.

Wie anders ist doch der Infinitiv wachküssen. Man ist bei der Sache, kümmert sich, probiert aus: Wie geht das denn, wachküssen? Und man stellt fest: wachküssen geht nicht beim Reden, wachküssen geht nur beim Wachküssen.

Mit dieser sprachlichen Eigenart im Koreanischen leben wir, Jinok und Dirk, schon das ganze Leben lang. Wir begegnen Aussagesätzen und Behauptungen – dabei sehen wir den Sinn oft besser in der Verlaufsform aufgehoben. Im Verlauf werden die Farben prächtig, die Eigenschaften erkennbar, Gesten wirksam und Wärme oder Kälte fühlbar. Schließlich wird man sehen, was die Worte bedeuten, ja mit fortschreitender Dauer werden Form und Inhalt hinreißend fassbar. Wir wollen also darüber berichten, was wir tun, was uns umtreibt. Unterwegs werden auch unsere Einstellung und unsere Gedanken anschaulich, aber eben in der Abfolge des Tuns und nicht als Ideengebäude. Unsere ganz dicke feste Gewissheit sagt, dass die Reflexion erst beim Machen beginnt.

Korea, das Land der Morgenstille, und der liebe Infinitiv. Beinahe schon spektakulär, wie eine sprachliche Vorliebe kulturelle Unterschiede widerspiegelt. Diese Unterschiede weiten den Blick, denn sie zeigen, dass es mehr gibt als nur eine Art zu sprechen, zu denken und zu leben. Sie bereichern, inspirieren, ja schenken ganz andere Sichtweisen. Wir berichten also von dieser Kultur im Infinitiv – oder nein, das ist zu viel versprochen, wir machen einen Kameraschwenk zu uns, vom Allgemeinen hin zu unserem Leben, einem Leben zwischen zwei Kulturen, zwischen Korea in Asien im Fernen Osten und Deutschland in Europa im Westen. Doch halt, auch das ist nicht ganz richtig, zwischen, das klingt, als wären wir Hinundherreisende oder hin- und hergerissen, nein, das sind wir ganz und gar nicht, unser Lebensmittelpunkt liegt in Berlin. Unser Leben ist ein Leben mit Korea und mit Deutschland. Eine Liaison beider Länder, mit ihren Eigenarten, ihren Stimmungen und Verhaltensweisen, ihren Einsichten und Ausdrucksformen. Alles das eben im Verlauf, also anhand von Dingen, die wir tun – und weil es sich im Besonderen anbietet: von prägenden Momenten im Leben von Jinok. Eindrücke und Lernprozesse, die ihre Art zu leben ausmachen – als Sängerin, als Keramikkünstlerin, als Köchin und Gastgeberin.

Wir sitzen in Korea in der Nähe der großen Stadt Seoul auf einem sonnigen Felsen, schauen den Abhang hinunter und in das frische grüne Frühlingstal. Der schöne besinnliche Moment gehört zu den vielen Dingen, die wir nun schon bald ein halbes Jahrhundert gemeinsam tun: Wir teilen unsere Zeit. Ebenso teilen wir Erlebnisse, Erfahrungen, Einsichten, unsere Gedanken, Sorgen und Wünsche.

Das Wort teilen ist ein weiteres schönes Beispiel. Korea hört liebend gerne diesen Infinitiv. Der Rest – die Zeit, die Erfahrungen, die Einsichten und ja, auch die Wünsche – ist Nebensache. Hauptsache, wir teilen. Wobei das wir in dieser Wortfolge für koreanische Ohren ebenso überflüssig, viel zu dominant klingt. Ist doch das Subjekt unnötig bei einem laufenden Geschehen. Besser hört sich an: teilen.

Im Deutschen ist es nicht so einfach, auf das Subjekt zu verzichten. Das merkten wir auch bei diesem Buch, wir mussten uns entscheiden. So wählten wir das Wir als Autorenschaft, auch wenn die Sätze von Dirk in die Tasten gedrückt wurden. Denn es sind die gemeinsam gepflückten Gedanken, die hier niedergeschrieben wurden, die so im Verlauf des Weges als Ernte eingefahren wurden und uns desto klarer erscheinen, je länger er wird. Ein Weg zweier Künstler aus zwei unterschiedlichen Kulturen – und ein Weg mit immer wieder neuen Lebensabschnitten, mit immer wieder neuen Horizonten, was in der Summe ein wunderbares Leben ergibt. Mit Schmunzeln und großer Dankbarkeit stellen wir fest, dass unser Dasein noch immer jung und umtriebig verläuft, während wir biologisch betrachtet allmählich doch irgendwie auch ungefragt älter werden.

Werden. Wieder so ein Infinitiv. Das Werden geht in allem weiter, immerzu. Schauen wir uns um auf der Erde, von dem Felsen aus, auf dem wir gerade sitzen, sehen wir es überall und abertausendfach. Ach, die Erde, das große Thema! Für die Vokabel Erde gibt es im Koreanischen verschiedene Worte.Im hier gebrauchten Sinne würde man eher vom Universum sprechen, doch ist das im westlichen Denken recht missverständlich. Die Dinge würden zu schnell rätselhaft werden. Nein, bleiben wir lieber bei der Erde, toyang, der Mutter Erde, und denken sie groß genug.

Die Erde in uns, die Erde zwischen den Händen, die Erde, auf der wir herumlaufen. Erde, die wir essen, die wir teilen, in die unsere wurzeligen Arme kriechen, die uns erden. Nun ja, irgendwie ist halt alles Erde. Ein vielstimmiger Kosmos, über den es unendlich viele Lieder gibt, den Gesang der Erde singen wir Menschen zu allen Zeiten. Der Ruf aber, den die Erde selbst anstimmt, ist so gewaltig – wer kann da schon mithalten? Hören, hinhören, wie er klingt, das ist wohl viel angebrachter, als gegen ihn anzusingen. Der menschliche Gesang von der Erde und die Erde, deren rufender Gesang ertönt, begleiten uns in diesem Buch und spannen den Bogen zwischen östlichem und westlichem Fühlen und Denken.

Die Erde, ja, die ist schon immer da, man muss gar nicht zu ihr hin- oder zu ihr zurückgehen, man ist mittendrin, mittendrauf, eh schon, und kann’s gar nicht ändern. Mittendrin ist man in ihrem orchestralen Wirken, sie durchdringt alle Fasern des Lebens, die Menschen sind selbst nur ein paar Noten auf ihrer nimmer endenden Partitur.

Einigermaßen selig stecken wir beide, zwei umtriebige Wesen mit deutschem Lebensmittelpunkt und koreanischen Infinitiven, in diesem erdenvollen Werden. Von dort wollen wir berichten, davon, wie wir anfingen, auf die Erde zu hören, und wie wir weiterhin lernen, hinzuhören und ein wenig mitzusingen. Wer die Erde groß denkt, hat nicht nur die Erde, auf der wir stehen, im Blick. Auch die eigene innere Entwicklung, die Seele, der Körper, prägende Momente und Einsichten, gehören zur großen Erde dazu. Deswegen sprechen wir über die Stimme im Gesang, die Tonerde von Keramik und die Zubereitung von Speisen, über das Gastmahl, über Heimat und Identität und vieles mehr. Lernen, auf die Erde zu hören, ist für uns eine lange Seelenreise. Unterwegs treffen wir wunderbare Menschen, die ebenfalls von ihrem Ruf durchdrungen wurden, Menschen voller Energie und Lebensfreude, ja richtige Vorbilder, die vormachen und zeigen, wie einzigartig, wie erfüllend es ist, die Erde in sich zu spüren.

So hat sich bei uns nach und nach ein Gedanke eingenistet: Vielleicht könnte die Menschheit zur Abwechslung mal anfangen, sich selbst zu finden, das wäre eine schöne Aufgabe, und – da wir Menschen eben ein Teil der Erde sind – vielleicht könnte sie gerade diesen Teil der Erde mal wachküssen. In der Verlaufsform, im grenzenlosen Infinitiv.

Auch dieser zugegeben recht verwegene Gedanke wird uns auf den folgenden Seiten begleiten, doch eins nach dem anderen. Zunächst sitzen wir auf einem Felsen in Korea in der Nähe der großen Stadt Seoul und teilen die Zeit. Es ist zwar nicht Morgen, aber überraschend still. Die Sonne hat den Stein wunderbar aufgeheizt, und wir genießen auf seiner warmen Unterlage die frische Luft an einem Apriltag voller Erwartungen. Ich frage Jinok, womit wir anfangen wollen?

Zurückzublicken in die Vergangenheit ist nicht unsere liebste Beschäftigung. Künstler schauen sowieso ungern zurück. Viel lieber schauen sie dorthin, wo sie gerade stehen, und sinnieren darüber, was sie als Nächstes tun. Zurück zur Natur, zurück zur Erde – ein solches Motto käme uns nie in den Sinn. Wir können gar nicht zurückgehen, und im Grunde wollen wir gar nicht wissen, wie es früher, damals, vermeintlich einmal gewesen sein soll. Nein, wir sind froh und glücklich, hier im Jetzt zu leben.

Nach vorne schauen, das gefällt uns viel besser, das sind wir gewohnt. Wie also fangen wir an? Am besten, so entscheiden wir, mit jenem Infinitiv, mit dem die Zukunft anfing. Vorhang auf für die Zukunft, die um das Jahr 1970 herum begann.

beginnen

Ungeduldig rüttelte sie am riesigen stählernen Gittertor, dass es anfing zu vibrieren. «Hausmeister!», drang es hell in die morgendliche Stille. Mehrmals. Dann kam er herangeschlurft, brummte ein «Ach, du» und schloss das Tor mit geübten Griffen auf.

Jeden Morgen war es das gleiche Spiel. Er kannte das schon seit ein paar Wochen. Sie klopfte und rief, er kam verschlafen zu ihr und schloss auf. In aller Frühe, fünf Uhr dreißig war es gerade, schlüpfte Jinok durch das Tor und hinein in das große ehrfurchterregende Schulgebäude, das noch ganz leer war. Die Schülerinnen und Schüler, die später lärmend hereinströmen würden, lagen noch zu Hause in ihren Betten; zwei Stunden Zeit also für Jinoks großen Traum. Sie hatte bereits eine halbe Stunde Fußmarsch hinter sich, hatte zu Hause Reis gekocht und ihren Proviant für die Mittagspause vorbereitet. Die Rektorin hatte ihr erlaubt, vor dem Unterricht in eines der Musikzimmer gehen und dort zu üben. Rauf und runter ging es dort mit der Stimme und ebenso auf den Tasten des Klaviers. Immer wieder, jeden Tag, denn es war ein immenses Pensum, das sie in knapp fünf Monaten zu lernen hatte.

Ich hatte keine andere Wahl, es war meine einzige Chance. Der damalige seelische Ausnahmezustand ist ihr noch heute, nach vierundfünfzig Jahren, vollkommen gegenwärtig. Wie kam es dazu? Dafür müssen wir weitere acht Jahre zurückgehen.

Mit zehn Jahren erhielt Jinok ihren ersten Klavierunterricht. Ganz hingerissen war sie von den betörenden Klängen, die sich hinter den weißen und schwarzen Tasten versteckten und nur darauf warteten, gleichsam in Emotion versetzt zu werden. Für Jinok, für ihren Körper, ihre Arme, ihre Hände und Finger und für ihre Ohren eine vollkommen neue Erfahrung. Sie saugte alles auf, lernte rasend schnell. Lieder, die sie bei fortgeschrittenen Schülerinnen gehört hatte, konnte sie sofort am Klavier nachspielen, ohne eine Note gesehen zu haben. Ihre Lehrerin ahnte, dass ein roher Diamant vor ihr am Klavier saß, und nahm Jinok mit in die Welten der Musik. Ein Zauber, der unendlich groß und magisch klang, ein fremdartiges Reich, das Wanderungen in seltsamste, bisher nicht bekannte Ecken der Seele versprach.

Nur ein halbes Jahr später fand all das ein abruptes Ende. Ihr Vater starb. Ab diesem Tag musste die kleine Familie, Mutter und drei Geschwister, alles unternehmen, um finanziell über die Runden zu kommen. Die Mutter ging arbeiten, und Jinok kümmerte sich nach der Schule um den jüngeren Bruder. Unterricht am Klavier, das gab der schmale Geldbeutel nicht her. Die geliebten Tasten, die ihr damit verwehrt waren, malte Jinok auf Papier, und das Papier legte sie vor sich auf den Küchentisch. Täglich spielte sie auf den gemalten Papiertasten. Und ließ den Zauber der Musik erklingen. Ja, doch! Sehr deutlich habe sie die Töne und die Musik vernommen, erzählt Jinok ganz trocken, und noch heute kann man sie ab und zu beobachten, wie ihre Hände auf einem Tisch in die Luft musizieren.

Oft, auch später als Erwachsene, auch in Deutschland und nachdem wir längst ein gemeinsames Zuhause gegründet hatten, kam die schmerzhafte Erinnerung an den Vater hoch, ein Verlust, der zu früh kam und das innige Verhältnis unbarmherzig zerstörte. Wieder und wieder sah sie den Vater im Geiste, wie er abends in ihr Zimmer kam und geröstete Kastanien neben ihrem Kopf auf den Nachttisch legte, damit sie am nächsten Morgen von dem süßen Aroma begrüßt würde. Dabei tat sie nur so, als würde sie schlafen. Dann, eines Tages, waren da keine Kastanien mehr. Seitdem steht Jinok in aller Frühe auf, die schönste Zeit, sagt sie, die produktivste und wachste. Gleichsam die Wärme des verlorenen Vaters einatmend.

Vielleicht war es dieser Hauch, vielleicht war es diese innig empfundene und nach dem Tod ausbleibende doppelte Wärme – die des Vaters und die der Musik –, die etwas auslöste. Allerdings nicht sofort. Es brauchte etliche Zufälle, die sich vielleicht gar nicht so zufällig anbahnten, bis etwas ganz Außergewöhnliches geschah.

Zunächst gingen die Jahre dahin. Die ältere Schwester verließ früh das Elternhaus und gründete eine eigene Familie, sodass die Verantwortung für die häuslichen Aufgaben und für ihren Bruder allein auf Jinoks Schultern lag. In der Schule hatte sie viele Freundinnen, durch ihr offenes Wesen wurde sie Klassensprecherin, und sie nahm regelmäßig an den Veranstaltungen des Schulchores teil. Nur eines gab es nicht, Privatunterricht, Musikunterricht.

Jinok war siebzehn, sie stand kurz vor dem Schulabschluss, als ein Gesangswettbewerb aller Seouler Schulen stattfand. Ihre Freundinnen überredeten sie, daran teilzunehmen. Nun muss man wissen, dass koreanische Eltern unbeschreiblich ehrgeizig sind. Sie investieren Unsummen in die Ausbildung der Kinder. Was diese in der Schule lernen, ist ihnen längst nicht genug, nach Unterrichtsschluss werden die Kinder die Woche über und am Wochenende zu teuren Privatdozenten geschickt. Wie Eltern das finanzieren, ist oft ein Rätsel; wie Kinder das aushalten, ebenso. Das Gleiche gilt für den Gesang. Wer an diesem Wettbewerb teilzunehmen gedachte, hatte jahrelangen privaten Einzelunterricht hinter sich und verfügte obendrein über beste Kontakte. Jinok, die nur auf den gemalten Papiertasten am Küchentisch Musik in ihr Herz zauberte, ohne eine einzige Gesangsstunde, sollte also wirklich neben diesen geschulten und getrimmten Kindern singen?

Sie tat es. Wenigstens einmal im Leben wollte sie auf einer Bühne stehen und singen, bevor sie anfangen würde, Geld zu verdienen, möglichst schnell nach dem Schulabschluss und ohne Studium, um die Familie zu unterstützen. Dieses einzige Mal tat sie etwas für sich – und sie gewann den Wettbewerb.

Wer nun aber denkt, das wäre der große Durchbruch gewesen, alle Tore hätten sich ihr geöffnet, der irrt. Sicher, sie hatte großes Talent, aber Talent allein ist kein Selbstläufer. Es muss gefordert werden, braucht intensives Training, Investition in eine Ausbildung und Förderung durch hervorragende Lehrmeister. Dafür fehlten jedoch nach wie vor die finanziellen Mittel. Zwar fand eine Professorin aus der Jury, die ihr empfahl, sich an der Hochschule für Gesang zu bewerben, eine preiswerte Lehrerin. Aber nach einem Monat brach Jinok den Unterricht ab. Die Art des Unterrichts, die Lehrerin, dafür das wenige Geld, das sie hatten, ausgeben zu müssen – das alles gefiel ihr nicht. So ging sie also wieder in den gewohnten Unterricht, und das «normale» Leben hatte sie zurück. Damit hätte die Episode enden können. Die Umstände erlaubten es nicht, dass dieses Talent sich entfaltete.

Sechs lange Monate vergingen. Äußerlich schien sich nichts zu ändern. Dann aber, im siebenten Monat, schrieb Jinok ihrem Schwager einen langen Brief. Sie erklärte ihm, dass sie gern Gesang studieren wolle und dass die Seoul National University die einzige bezahlbare Schule sei (die Studiengebühren an privaten Universitäten sind außerordentlich hoch); dass es sehr schwierig sei, einen Platz an dieser staatlichen Elite-Uni zu erhalten, und dass sie sich deshalb mit einer guten Lehrerin intensiv auf die Aufnahmeprüfung vorbereiten wolle. Ebendeshalb bat sie ihn um finanzielle Unterstützung.

Sechs Monate hatte es also gedauert, bis diese Idee reif genug war, bis Jinok allen Mut zusammennahm – und schrieb. Schon am nächsten Tag kam der Schwager und half bereitwillig aus. Einmal die Woche konnte Jinok nun Unterricht bei einer Professorin nehmen. Dafür ist sie ihrem Schwager zeitlebens unbeschreiblich dankbar.

Doch nüchtern betrachtet, was hatte Jinok damit eigentlich erreicht? In fünf Monaten stand die Aufnahmeprüfung an. Das waren gerade mal zwanzig Unterrichtsstunden. Das waren gerade mal fünf Monate, die sie Zeit hatte, um vierzig Etüden und fünf Arien technisch zu meistern, einzustudieren und auswendig zu lernen. Fünf Monate Vorbereitung für ein Studium mit Klavier im Nebenfach, Gesang im Hauptfach, für Stimmbildung, Interpretation und Vom-Blatt-Spielen. Wie sollte sie das alles schaffen?

Das ist die Vorgeschichte, weshalb Jinok jeden Tag in aller Frühe am großen Eisentor stand. Im menschenleeren Gebäude, lange bevor alle anderen Schüler kamen, übte sie voller Leidenschaft, fünf intensive Monate. Dann, einen Monat vor der Prüfung, erfuhr sie – zum Glück, muss man ja fast schon sagen –, dass auch das Fach Musiktheorie abgefragt würde. Sie fand eine Studentin, die mit ihr den ganzen theoretischen Teil büffelte. Alles erschien ihr irgendwie machbar, es war wie im Rausch, ohne nachzudenken, ackerte sie einfach weiter und weiter und weiter, die Zeit raste, einen Wecker brauchte sie nicht, der Hausmeister war willig, die Rektorin vertraute ihr, so lernte sie und lernte.

Dann kam die Prüfung an der Seoul National University. Die Aufnahmekandidaten standen vor einem Vorhang, hinter dem die Aufnahmejury saß, man sah sich beiderseitig nicht. Hier ging es um ihre Chance auf eine akademische Ausbildung, unabhängig von den eigenen finanziellen Möglichkeiten. Nur für wenige im Land öffnete sich an diesem Tag der Weg an die renommierte Hochschule, und einigen von den wenigen wurde geholfen mit einem Stipendium.

Nun, man ahnt es wahrscheinlich: Ja, Jinok wurde aufgenommen, und ja, sie bekam das begehrte Stipendium. Obendrein durfte sie der Professorin, die ihr die Bewerbung nahegelegt hatte, ab dem ersten Semester assistieren. Dabei verdiente sie ausreichend, um die Familie zu finanzieren. Ihre Mutter musste seitdem nicht mehr arbeiten gehen.

Die Geschichte endet an dieser Stelle natürlich nicht. Sie geht jetzt erst richtig los. Am Beginn aber lag alles auf der Kippe. Es brauchte da einen Stoß in die gewünschte Richtung, und der konnte nur von Jinok selbst kommen. Sie musste ihr Herz nehmen und den Entschluss fassen, sich die riesengroße Sehnsucht nach Gesang zu erfüllen. Und so weit musste sie erst einmal kommen. Sie musste erst einmal brennen, erst einmal feststellen, dass die Leidenschaft nicht zu löschen war, spüren, dass sie es schaffen konnte. Sie musste mit sich im Reinen sein. Nur so konnte ihr in den Sinn kommen, an jenem denkwürdigen Tag den Brief an ihren Schwager zu schreiben.

Die Episode am Tor der Schule soll einen Eindruck vermitteln von dieser Art von Hingabe und unbändiger Intensität. Sich selbst an die Hand zu nehmen und den Hausmeister gleich mit, läutete eine Verwandlung ein, die unmerklich und zunächst stockend begann. Aus dem Dienst für die Familie und der alltäglichen Armut heraus eines Tages den Stift zu fassen und allen Mut zusammenzunehmen, sie, die so stolz war und nie um etwas gebeten hatte, weil es sich für sie furchtbar erniedrigend anfühlte, nun also einen kühnen Plan zu skizzieren und den Schwager um Unterstützung zu bitten für etwas, das eher unrealistisch erschien – was für ein verwegener Entschluss.

Auf das ganze Leben betrachtet, war es nur ein Moment, aber was für einer. Ein Moment, nach dem alles anders ist. Oft und gern heißt es: Ja, wenn dies und das erreicht sei, dann fange man an, aber so lange wolle man noch abwarten. So ein Entschluss, der ist wie ein kleines Wunder. Jinok schubste sich selbst über die Klippe, und mit einem Mal hatte sich etwas in ihr verändert. Durch die fünf Monate diszipliniertester Arbeit wurde sie von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl getragen, wie Jinok noch heute mit leuchtenden Augen erzählt.

Eine Energieexplosion, deren Bedeutung ihr damals, wie sie sagt, gar nicht vollkommen bewusst war. In diesen fünf Monaten öffnete sich ihr ein bis dahin gänzlich unbekannter Weg: eine bewusste Art zu leben. Während sie in großen Schritten ihrem Traum näher kam, zog sie den Schleier zur Seite und entdeckte sich selbst. Wachte als anderer Mensch auf, verwandelt und erfüllt von einer leidenschaftlichen Hingabe zum Leben. Eine Gegenwärtigkeit, mit der sie die ganze Welt umarmen konnte. Mit wachen Sinnen auf das Dasein zugehen,sagen: Ja, ich mache das! Statt abzuwinken oder verzagt stehenzubleiben, darauf zugehen, das war eine grandiose Entdeckung. Ich sage ihr häufig, sie habe den Tunnelblick verinnerlicht: sich nicht von Problemen oder Hindernissen oder Rückschlägen oder von Erschöpfung irritieren lassen, nein, im Gegenteil, völlig kaputt am Abend ins Bett fallen, am frühen Morgen unbeirrt weitergehen und bei alledem eine große Freude spüren. Brennen für etwas, sagt Jinok so treffend, das ist: leben! L.e.b.e.n.

Im Land der Morgenstille gibt es dafür einen Ausdruck: Dso Shim, wörtlich übersetzt: Herz Anfang. Uns ist nicht bekannt, dass es im Deutschen oder im europäischen Sprachraum einen ähnlichen Ausdruck gibt. Er beschreibt wunderschön, worin das Beginnen gründet: in dem, was zu Anfang im Herzen war. Schlägt man im deutsch-koreanischen Wörterbuch nach, wird der Ausdruck mit «die ursprüngliche Absicht» übersetzt. Herrje, Welten liegen zwischen Herz Anfang und ursprüngliche Absicht.

Es ist schon überraschend, wir schreiben dieses Buch in einem Land, in einer Kultur, die so sehr von Bewegung und Aufbruch geprägt wurde, dass das Dynamische in ihren Erzählungen als heldenhafte Tugend erscheint. Diese Kultur setzte sich tollkühn in Bewegung und erkundete die Weltmeere und fernen Kontinente, sie expandierte und kolonisierte, sie war bei alledem ständig auf Mission, im Religiösen wie im Säkularen, erfand das Narrativ des Fortschritts, der Aufklärung, der Moderne, der universellen Menschenrechte, aber auch der repressiven imperialen Ideologien, versetzte mit der Erfindung des Motors und rasend schneller Rechner unser ganzes Leben in kreiselnde Eile, definierte wahrscheinlich als erster Kontinent den Tagesanfang als morgendliche Rushhour − aber dieses bewegte ruhelose Abendland kennt keinen entsprechenden Begriff für Dso Shim, Herz Anfang.

Wenn in Europa über den Anfang gesprochen wird, lauten die Fragen: Was ist dein Ziel, wohin willst du? Warum willst du es machen? Erst wird das Ziel definiert, danach der Weg bedacht, der zu diesem Ziel führt, und dann werden die einzelnen Schritte und Meilensteine festgelegt. Begriffe, die zum Werkzeugkasten eines jeden Projektentwicklers gehören. Im Vergleich dazu legt die Kultur des Dso Shim nahe, zunächst einmal auf das eigene Herz zu achten. Da gibt es noch gar keine Ziele und Pläne, sondern einen Menschen, der sich selbst kennenlernt. Der in sich hineinhört. Nicht um herauszufinden, wer er sein möchte, sondern wer er jetzt im Moment ist. Findet das Herz darauf keine Antwort, wäre es zu früh, Ziele festzulegen und sich über Pläne den Kopf zu zerbrechen.

Dso Shim sagt: Schaue auf dein Herz am Anfang. Dein Herz sagt dir, wofür du brennst. Wer die Geschichte von Jinoks Anfang näher betrachtet, wird erkennen, dass die Verzauberung, die sie in jungen Jahren ergriffen hatte, niemals aufhörte. Sie wurde auf dem Papiertastenklavier sogar noch größer, gefüllt mit Wärme nach dem Verlust der Wärme des Vaters. Die Liebe zur Musik und zum Singen brach schließlich unerschütterlich hervor. Natürlich hat Jinok dann ein Ziel benannt und einen Plan gefasst, aber viel spannender sind der Mut, die Hingabe, das Glücksgefühl und die Freude, also die Seele der ganzen Angelegenheit, ohne die das Tun gar nicht erfolgt wäre. Bei der Übersetzung von Dso Shim in «ursprüngliche Absicht» geht verloren, dass die Person, der Mensch als Ganzes berührt ist. Die Tätigkeit wird getragen allein vom Herzen, nicht vom planenden Verstand.

Jinok erzählt diese Anfangsgeschichte gern, es ist ihr leidenschaftlicher Appell, sich die Freude in die Seele zu holen.Auf sein Herz schauen, und dann los! Der Weg ist gangbar, da gibt es keinen Zweifel, er wird viele Biegungen machen, Umwege einschließen, Stolpersteine wird es geben, aber er wird ein großartiges Panorama bieten und ein erfülltes Leben schenken. Ihre Geschichte soll eine Vorstellung davon geben, welchen Nährboden die Seele braucht. Bei allen – das betont sie ganz ausdrücklich –, bei allen Menschen ist das Potenzial vorhanden, den eigenen Herz Anfang zu finden. Für sie selbst war diese starke, intensive Erfahrung zeitlebens eine Quelle der Energie. Wenn sie mal müde oder lustlos ist oder irgendwelcher Ärger alle Energie rauben will, dann erinnert sie sich an dieses Gefühl. Es hängt mit Farben getränkt und pitschenass auf der Leine im Garten der tausend Möglichkeiten. Und dann geht es los, dieses Brennen für etwas – ein unendlich schönes ungeduldiges Kribbeln, das im Herzen zündet wie ein Silvesterfeuerwerk und tausend Sterne, tausend Farben herausschleudert, dieser Overkill an Freude, der alle Sachzwänge in die Mülltonne der ewigen Bringtnichtsigkeiten verbannt.

So entstand eine Haltung zum Leben, die bis heute vom Herz Anfang erfüllt ist. Immerzu geschehen so viele Dinge, ja im Grunde bis in die Gegenwart, wir nennen sie «Projekte» und werden auf sie noch zu sprechen kommen. Jedes Mal halten diese Projekte andere Herausforderungen, unbekanntes Terrain, ganz neue Erfahrungen und wundervolle Begegnungen bereit. Wenn man es recht betrachtet, ist es immer wieder – in anderem Gewand – der Anfangsimpuls, die Kraft der Sehnsucht zu singen. Dso Shim versiegt dabei nie.

vergessen

Ein altes koreanisches Möbelstück in der Größe eines Sideboards. Nicht breiter als 1,50 Meter, aus Kakiholz gefertigt. Die Front überzogen mit einer stumpfen schwarzen Lasur, die an den Rändern aufhellt und in den rötlichen Schimmer des Holzes übergeht. In früheren Zeiten war es üblich, in so einem Schränkchen die Schriftrollen und Bücher aufzubewahren. Sie standen nicht im offenen Regal, sie lagen übereinander, Umschlag und Rücken waren nicht zu sehen und in diesem Schränkchen schnellen Blicken entzogen.

Wollte man die Schriften zur Hand nehmen, musste ein einfacher hölzerner Verschlussriegel umgelegt und anschließend die Frontplatte herausgenommen werden. Dieses Brettchen, das man danach in der Hand hielt, war nun die Unterlage für das herausgeholte Schriftwerk. Mit der zweifarbigen Lasur, schwarz und transparent rötlich, stellt es eine Analogie her: Die zwei Farben erzählen von der Stimmung der untergehenden Sonne. Der rot glühende Himmel neigt sich immer mehr zum Dunklen, das Land, die Erde versinken ganz ins Schwarz, und die Seele des Menschen wird in die unergründlichen Weiten des nächtlichen Innenraums gezogen. So sollte dieses Schränkchen, wenn man es öffnete, hineinziehen in das Innere der Bücher und der ins Dunkle hineingemalten Worte.

Viele, viele Jahre nach dem Beginn als Sängerin ereignete sich bei Jinok erneut eine Verwandlung. Wieder war es eine einschneidende Erfahrung, und es werden weitere folgen, die alle zusammen ihren Lebensweg zu einer inneren Wanderung werden ließen. Die einzelnen Etappen sind so etwas wie Wegmarken des Erkennens, oder, weniger hochtrabend: Jinok entdeckt ihr mentales Werkzeug. Eine Wanderung, die über die eigene Person hinausgeht, die so oder ähnlich sicher auch andere Menschen erfahren. Wollte man allerdings den Weg beschreiben, stößt man auf eine grundsätzliche Schwierigkeit: Er ist auf keiner geografischen Karte eingezeichnet, nirgendwo real zu besichtigen, und er ist auch kein gedankliches Gebilde. Jede Theorie darüber wäre verfehlt. Theorien führen dabei recht schnell in die Irre, ja, Jinok kann über ein Thema, das sie interessiert, zwar Berge von Büchern lesen, doch all das Material ist für sie nicht Gegenstand eines Diskurses, sondern wird so lange im Stillen und im fortwährenden Machen gewirkt und geknetet, bis eine Essenz sich im Leben widerspiegelt. Darüber sprechen muss sie dann nicht mehr.

Diese Einstellung erinnert an den berühmten schmalen Gedichtband «Der Ochs und sein Hirte», den wir aus dem obigen kleinen Schränkchen holen. Er soll uns in der weiteren Erzählung mit leuchtenden, schmunzelnden Worten begleiten. Altchinesische Gedichte und Bilder in zehn Abschnitten, die den Schülern des Buddhismus an die Hand gegeben werden. Die Vorrede legt ein wunderbares Zeugnis ab vom Zaudern und Unwillen, Erkenntnisse in Worte zu fassen. Mit seinen Erläuterungen habe er, bekennt der Autor,

grundlos den Frieden der Menschen gestört und versucht,

etwas so Unnötiges zu tun, wie einen eckigen Kreis zu zeichnen.

Nun, er hat es dennoch getan, versucht, die Gedichte und Bilder zu erläutern. Doch gemach, gemach, bevor man sich glücklich schätzt und dem Autor vorschnell für die Deutungshilfen dankt, die er trotz Zauderns in unnachahmlicher Weise spröde minimalistisch zu Papier gebracht hat: Während im Westen überzeugende Antworten und nachvollziehbare Gründe erwartet werden, vermeidet das asiatische Denken gerade solche Antworten und lässt die Erkenntnis – trotz der Erläuterungen – im Schweigen auf sich beruhen.

Das klarste Erwachen übertrifft nicht Taubheit und Blindheit, heißt es denn auch im Moment des Erkennens. In dieser asiatischen Tradition ist Jinok aufgewachsen. Sie spricht ungern über ihre Meinung, viel lieber zeigt sie im Leben, was sie meint. Eine allgemeine Theorie daraus zu destillieren, würde dem vollkommen widersprechen, ja den Frieden stören, wie es der chinesische Autor ausdrückt. In diesem Sinne ist es eigentlich anmaßend, hier auf diesen Seiten etwas zu erzählen, was im Stillen der Seele abläuft und sich weniger in Worten widerspiegelt. Wir haben uns beide gefragt, ob wir überhaupt das Wagnis eingehen sollen. Nun, die Entscheidung ist gefallen. Unvermeidbar ist dabei, dass es immer wieder Passagen gibt, in denen wir aus asiatischer Sicht zu weit gehen, zu viel sagen. Doch wollen wir bei diesem Grenzgang ein wenig das Gefühl vermitteln, wo Unterschiede zwischen Asien und Europa liegen.

Nachdem Jinok mit dem Singen begonnen und dabei erfahren hatte, was für eine Kraft und Lebensfreude dem Beginnen entspringt, geschah viele Jahre später etwas, das ihrem Lebensweg eine vollkommen neue Richtung gab. Der point of turn, wie sie selbst es nennt. Doch der Reihe nach. Zunächst einmal, ausgestattet mit einem Studienplatz und einem Stipendium, hat sie die Chance, richtig loszulegen, in einer anspruchsvollen sängerischen Entwicklung mit Leidenschaft aufzugehen.