Toyotas wahre Stärke - Aino Bender-Minegishi - E-Book

Toyotas wahre Stärke E-Book

Aino Bender-Minegishi

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Beschreibung

Mit diesem Buch erhalten Sie das E-Book inklusive! Unter Toyota Produktionssystem (TPS) versteht die Mehrheit der deutschsprachigen Führungskräfte außergewöhnliche Methodenkenntnis und die perfekte Beherrschung von Produktionsprozessen. Außenstehende vermuten hinter dem TPS oft eine versteckte Methode zur Rationalisierung. Was aber kaum jemand weiß: Hinter dem TPS steht eine auf Wertschätzung und Achtung vor dem Individuum basierende Kultur. Aino Bender-Minegishi ist eine intime Kennerin der japanischen Arbeitswelt und beschreibt in ihrem Buch erstmals den ganzheitlichen Ansatz des TPS, der ohne Menschen nicht zu denken ist. Nur wer Kopf, Herz und Hände der Mitarbeitenden anspricht, wird meisterhaftes Personal auch in seiner Firma hervorbringen.

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Aino Bender-Minegishi

Toyotas wahre Stärke

Erfolgreiche Arbeitskultur mit meisterhaften Mitarbeitern

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Unter Toyota Produktionssystem (TPS) versteht die Mehrheit der deutschsprachigen Führungskräfte außergewöhnliche Methodenkenntnis und die perfekte Beherrschung von Produktionsprozessen. Außenstehende vermuten hinter dem TPS oft eine versteckte Methode zur Rationalisierung. Was aber kaum jemand weiß: Hinter dem TPS steht eine auf Wertschätzung und Achtung vor dem Individuum basierende Kultur. Aino Bender-Minegishi ist eine intime Kennerin der japanischen Arbeitswelt und beschreibt in ihrem Buch erstmals den ganzheitlichen Ansatz des TPS, der ohne Menschen nicht zu denken ist. Nur wer Kopf, Herz und Hände der Mitarbeitenden anspricht, wird meisterhaftes Personal auch in seiner Firma hervorbringen.

Vita

Aino Bender-Minegishi kam 1998 als Dolmetscherin erstmalig mit dem Toyota-Produktionssystem in Berührung. Seitdem arbeitet sie als selbstständige Dolmetscherin und Trainerin in der Lean-Beratung. Für Führungskräfte, die das »Original« erleben wollen, organisiert sie Japan-Study-Tours.

Gewidmet

meinem Lehrmeister

Morihiro Takano

INHALT

VORWORT

MEISTER DER ARBEIT

Alles Toyota oder was?

Kann man noch etwas von den Japanern lernen?

BESTANDSAUFNAHME: DEUTSCHE WERTARBEIT ÜBER ALLES?

Lean Freeze: Nichts geht mehr weiter!

Blitzlicht: Wie arbeiten wir?

Technokrat oder Sozialromantiker?

Schnell oder gut?

DER TOYOTA-WAY: EINE FRAGE DER ARBEITSKULTUR

Was macht eine Arbeitskultur aus?

Lean oder TPS?

»The Toyota-Way« – eine Frage der Werte und Prinzipien

Monozukuri: Die Kunst der Herstellung

DAS HUMAN-MODELL: »MAKING THINGS MEANS MAKING PEOPLE«

Teil I: Die Achse – Grundannahmen und Werte

Die Arbeit: Dienst am anderen

Das Unternehmen: eine Schicksalsgemeinschaft

Der Mensch und die Condition Humaine

Teil II: Das Herz – Haltung

Im Abseits: Moral und Tugend

Gewissenhaftigkeit und die Beherrschbarkeit der Prozesse

Dem Kundenwunsch voraus

Perfektion als Potenzial

Sein Bestes geben

Liebe zur Arbeit

Mut zur Demut

Wer arbeitet, macht Fehler

Dankbarkeit: Das Neue baut auf dem Alten auf

Wertschätzung oder Belohnung?

Fazit: mitgehangen – mitgefangen!

TEIL III: Die Hände – 1×1 des Arbeitens

Knigge

Kommunikation

Zusammenarbeiten

Umgang mit Kunden und Geschäftspartnern

Ordnung und Struktur

Planen – Organisieren – Durchführen

Time-Management

Verbesserungen

5S für Leib und Seele

ALTERNATIVLOS: DIE TEAMARBEIT

Top-down oder kreuz und quer?

Die Puzzleteile passen nicht!

Fauler Kompromiss oder Ideen2?

DIE FÜHRUNGSKRAFT: KUMPEL ODER CHEF?

Steuermann

Verfechter des Wertesystems

Mentor und Meister

Vorbild und Diener

Der Weg zur Führungskraft

FAZIT UND HINWEISE FÜR DEN ZWEIFLER

»Die Japaner sind halt anders« – eine Klischeebereinigung

Werteimport – ist das möglich?

Change: Eine Frage der Entscheidung

DANKSAGUNG

GLOSSAR

ANMERKUNGEN

VORWORT

Bei einem deutschen Automobilhersteller mündet das Montageband in einen riesigen »Finish«-Bereich. Dort stehen mindestens 30 frisch gefertigte High-End-Limousinen, die von einem umfangreichen Mitarbeiterstab »feinbearbeitet« werden. Was dort euphemistisch als »Finish« bezeichnet wird, ist nichts anderes als Nachbearbeitung. Fehler und Mängel, die während der Bearbeitung nicht behoben oder nicht bemerkt wurden, werden hier – soweit es geht – ausgebessert.

Besucht man ein Montagewerk des japanischen Vorzeigeunternehmens Toyota, kann man vom letzten Montageschritt des Fließbandes das Ausgangstor der Werkshalle sehen. Vor der Fahrt zum Verladeplatz auf dem Werksgelände wird jedes Automobil einer letzten Funktionsprüfung und Sichtkontrolle unterzogen. Innerhalb von wenigen Minuten fährt der Wagen durch das Tor. Ein Nachbearbeitungsbereich zur Behebung von Qualitätsmängeln ist nicht vorgesehen.

Die Automobilisten sind bei uns die Vorreiter im Lean Management – der amerikanischen Interpretation des Toyota-Produktionssystems (‣TPS). Seit fast zwanzig Jahren wenden sie die Prinzipien, Methoden und Werkzeuge aus dieser einzigartigen japanischen Unternehmensphilosophie an. Den großen Effizienzsprung haben sie trotzdem nicht geschafft. Was nach außen weiterhin als »deutsche Wertarbeit« firmiert, bedeutet nach innen einen täglichen Kampf mit Qualitätsproblemen auf allen Ebenen. Und für den Kunden: ein »Wagen voller Pflaster« – wie es ein japanischer TPS-Berater treffend bezeichnete1 –, für die er auch noch zahlen muss.

Abbildung 1: Ein Wagen voller Pflaster

Wenn wir im Westen oder in Deutschland an Qualität denken, dann denken wir in erster Linie an die Beschaffenheit eines fertigen Produktes. Seit der Einführung von »Lean« auch an die ‣»Qualität im Prozess«, vor allem in der Produktion. Langsam haben wir Leaner auch verstanden, dass es genauso um die Qualität der Informationen geht – also um einwandfreie Abläufe in den Büros.

Aber wo beginnt gute Qualität? Beginnt sie nicht mit jedem Handgriff, der gemacht wird: beim Verfassen einer E-Mail, beim Säubern eines Werkzeuges, bei der Ablage einer Unterlage? Gute Qualität ist das Ergebnis guter Arbeit: präzises, verbindliches und vorausschauendes Handeln. »Kleinvieh macht auch Mist« – so ermahnte mich meine Großmutter, wenn ich zu faul war, einen Pfennig vom Boden aufzuheben. Dieses Grundprinzip gilt auch andersherum im Arbeitsalltag: Bei den meisten großen Katastrophen, die bei der Arbeit passieren, ist die Ursache das Zusammentreffen einer Vielzahl von Ungenauigkeiten, kleiner Fehler und Nachlässigkeiten. Die Beteiligten sind sich in solchen Fällen schnell einig, hat es sich bei dem »Fall« doch um eine »Verkettung ungünstiger Umstände« gehandelt. Mit anderen Worten: Das ist Schicksal – dagegen kann man nichts machen! Oder vielleicht doch?

Seit fast zwanzig Jahren befasse ich mich mit dem Toyota-Produktionssystem und ich habe immer wieder festgestellt: Man kann so viel ‣Kanban und ‣Poka-Yoke einführen, ‣5S betreiben und Prozesse standardisieren, wie man will, Voraussetzung für den Erfolg von ‣»Lean« ist eine bestimmte Arbeitshaltung, wie sie Teil der Arbeitskultur des »Toyota-Way« ist. Sie prägt das Qualitäts- und Problembewusstsein und definiert den Maßstab bei der Beurteilung eines jeden noch so kleinen Handgriffes, ob es heißt: »Passt schon!« Oder: »Das geht noch besser!«

Ich habe zehn Jahre lang an der Seite des japanischen TPS-Beraters Morihiro Takano – vormals in leitender Funktion bei Isuzu Motors und einer der wenigen, die noch direkt von Taiichi Ohno, der als Gründervater dieses Produktionssystems bezeichnet wird, gelernt haben – gearbeitet. In dieser Zeit habe ich nicht nur das TPS von der Pike auf gelernt, sondern vor allem erfahren, was »gute Arbeit« bedeutet. Mein Lehrmeister war von bestechender Professionalität: immer bestens organisiert, nie ließ er etwas schleifen, erledigte alles umgehend, sehr genau und war dabei nie in Eile. Alles, was er in die Hand nahm, »saß«. Er stellt damit keine Ausnahme unter japanischen Managern renommierter Unternehmen dar. Die genannten Eigenschaften bilden dort die Mindestanforderungen an die Arbeit und je höher die hierarchische Position, umso professioneller die Mitarbeiter. Gilt das auch bei uns?

Wenn wir Lean in unseren Unternehmen einführen oder wenn Lean-Experten das Know-how dafür vermitteln, handelt es sich ausschließlich um die Methoden, Werkzeuge und bestimmte Prinzipien dieses japanischen Produktionssystems. Allerdings ist die erste Stufe des als »TPS-Haus« bekannten Modells des Fertigungssystems von Toyota die Prozessstabilität – erst darauf bauen weitere Konzepte wie ‣Standardisierung und ‣KVP auf. Diese Grundstabilität wird von den Verantwortlichen und Lean-Experten geflissentlich übersehen. Vermutlich wird sie vorausgesetzt – und da liegt bereits der Hund begraben: Unser Haus ist auf wackeligem Boden gebaut. Denn wie soll man von Konzepten, wie ‣Just-in-Time und ‣Jidoka reden, wenn es eine Firma noch nicht einmal schafft, rechtzeitig (wirklich) einwandfreie Ware zu liefern?

Wie gut in einem Unternehmen gearbeitet wird, ist eine Frage der Arbeitskultur: der Werte, des Verhaltens-Kodex und einer genauen Vorstellung von guter Arbeit. Wenn wir auch nur annähernd an das Niveau von Toyota herankommen wollen, müssen wir die herrschende Arbeitskultur in unseren Unternehmen kritisch hinterfragen. Ich habe in meiner ganzen beruflichen Laufbahn bisher nicht ein Unternehmen erlebt, das eine klare Antwort, geschweige denn konkrete Richtlinien, auf diese Fragen formulieren konnte. Das Ergebnis ist eine Kultur des Laissez-faire, bei dem jeder so ziemlich nach eigener Schnauze arbeitet. Da ist es kein Wunder, dass die gesteckten Ziele – und dazu gehört auch Lean – nicht erreicht werden. Und nicht nur das: Die Frustration bei den Mitarbeitern ist am Ende des Tages hoch, weil die »Dinge nicht so laufen, wie sie laufen sollten«. Mit albernen Teambuilding- oder Motivations-Events kommt man dagegen nicht an. Sicherlich liegen wir im Ländervergleich, was Effizienz und Qualität angeht, weltweit ganz vorne mit dabei, nicht umsonst haben wir den Ruf der »perfektionistischen Deutschen«. Aber zwischen uns und Toyota liegen definitiv noch Welten.

Der wichtigste Leitsatz bei Toyota lautet: »Making things means making people«. Auch in unseren Unternehmen wird permanent über Mitarbeiterentwicklung geredet. Die erschöpft sich nur meistens in irgendwelchen Seminarbesuchen oder Beförderungen. Aber wer bringt eigentlich Mitarbeitern das »Arbeiten« bei? Unsere Schulen oder Berufsschulen? Die Universitäten schon gar nicht und leider genauso wenig die Unternehmen selbst. Aber Arbeiten muss wie alles andere erlernt werden und das kann nur Aufgabe des Unternehmens sein.

Ich habe einen Versuch unternommen, in einem »Human-Modell« zusammenzustellen, was einen solchen Toyota-Mitarbeiter idealtypisch ausmacht. Was sind seine Überzeugungen und Werte und worin liegt seine »Professionalität« abseits von spezifischem Fach- und Methodenwissen? Was braucht der einzelne Mitarbeiter, was ist das notwendige persönliche »Rüstzeug«, um TPS oder ‣Kaizen zum Fliegen zu bringen? Die Stärke von Toyota liegt nicht in ihrem System, sondern in einer ganz spezifischen Geisteshaltung – sie ist der Motor all dessen, was wir bei einem Werksbesuch vor Ort sehen können. Ihre Ursprünge sind tief im Arbeitsethos der tradierten ‣Monozukuri-Philosophie, der japanischen Kunst der Herstellung, verwurzelt.

Der Leser mag an dieser Stelle aufschrecken und behaupten: »Mia san mia und die Japaner san die Japaner!« Zweifellos, allerdings kommen wir mit dem »Rosinenpicken«, wie es die Lean-Welt im Westen vormacht, langfristig nicht weiter. Will ein Unternehmen sich für die Zukunft besser aufstellen, und wollen wir als Mitarbeiter mehr Erfüllung in der Arbeit finden – beides hängt untrennbar miteinander zusammen –, kommen wir an grundlegenden Fragen unserer Arbeitskultur nicht vorbei. Dafür müssen wir nicht so werden wie die Japaner. Dafür muss sich ein Unternehmen für seinen eigenen Weg in aller Konsequenz entscheiden und die Prämissen für die Zusammenarbeit vorgeben. Permanent reden wir in der Betriebswirtschaft und im Lean Management über Systeme, Prozesse und Methoden. Es wird Zeit, dass wir über den Menschen reden: Was muss er mitbringen? Schließlich hängt alles von ihm ab: Er ist der Architekt des Hauses.

Abbildung 2: Der Mensch als Architekt des Systems

Der Boom mit Büchern zum richtigen Führungsstil will nicht abreißen. Auch im Lean Management versuchen die mit der Umsetzung Beauftragten nun, nachdem sie das »Was« vermeintlich verstanden haben, der Frage nachzugehen, »wie« die Mitarbeitenden im Unternehmen auf diesem Weg »mitgenommen« werden sollen. Nur wird dabei der zweite vor dem ersten Schritt genommen: Führungskräfte und Lean-Beauftragte müssen zunächst ihre eigene Arbeitsqualität und ihre eigenen Einstellungen hinterfragen, bevor sie anderen den Weg weisen. Sie müssen selbst in ihrem Denken und Handeln die Arbeitskultur verkörpern, die das Unternehmen zum Ideal erhoben hat. So gesehen ist dieses Buch gerade für Lean-Experten und Lean-Beauftragte in der ersten Reihe im Change-Prozess von besonderer Bedeutung.

Das hier vorgestellte Rüstzeug für gute Arbeit (das »Human-Modell«) habe ich um Beschreibungen des japanischen Verständnisses von Teamarbeit und der spezifischen Rolle der Führungskraft ergänzt. Ersteres, weil das gesamte Rüstzeug auf die Teamarbeit als grundsätzlichen Modus der Zusammenarbeit in Japans Unternehmen ausgerichtet ist. Sie ist nicht mit der westlichen Vorstellung von Teamarbeit gleichzusetzen, weshalb sie gesondert behandelt wird. Der Führungskraft wird ebenfalls ein extra Kapitel gewidmet, da sie maßgeblich für die Entwicklung der Mitarbeiter und das gute Gelingen von Teamarbeit verantwortlich ist.

Dieses Buch stellt meine ganz persönliche Sichtweise dar. Die Erkenntnisse basieren auf Erfahrungen, die ich während meines über dreißigjährigen Arbeitslebens in beiden Kulturen gesammelt habe: bei der Arbeit sowohl hier in Deutschland als auch in Japan; mit japanischen TPS-Spezialisten, aber auch westlichen Lean-Experten jeder »Couleur«. Der Leser mag mir meine Pauschalisierungen hier und da nachsehen. Grundsätzlich beschreibe ich in diesem Buch allgemeine Tendenzen. Denn nur so lassen sich strukturelle Unterschiede zwischen den beiden Arbeitskulturen erkennen und benennen. Meine Ausdrucksweise mag oft provozierend erscheinen. Ich möchte mich damit bewusst gegen die allgemeine Neigung zur Relativierung und Intransparenz stellen, die genauso unsere Sprache und letztlich auch unser Denken in der Arbeitswelt geprägt hat.

Alle bisherigen Ansätze, den Toyota-Way zu interpretieren, haben ihre Berechtigung. Ich betrachte meinen Beitrag als Ergänzung. Dabei weniger als ein weiteres Puzzlestück – der Leser mag mir meine mangelnde Bescheidenheit verzeihen –, sondern als bisher fehlenden Ausgangspunkt: den Menschen mit seinem Verständnis und seiner Haltung zur eigenen Arbeit.

Dieses Buch liefert allerdings keinen »10-Punkte-Plan zum Erfolg«. Ziel ist es, in der Gegenüberstellung beider Arbeitskulturen, dort in Japan und vor allem bei Toyota und hier in Deutschland, eine grundsätzliche, längst überfällige Diskussion anzuregen: Was ist gute Arbeit in einer Lean-Kultur, und was braucht es dazu? Trotzdem bekommt der Leser am Ende einzelner Kapitel eine Zusammenfassung mit Tipps und Argumentationshilfen für die Realisierung, das heißt für den Wandlungsprozess im eigenen Unternehmen zu einer erfolgreichen Arbeitskultur. Einzelne Gedanken werden außerdem extra hervorgehoben und bieten einen schnellen Überblick über die Kernaussagen der einzelnen Kapitel. Für den Lean-Anfänger gibt es am Ende des Buches ein Glossar. Pfeile (‣) vor den jeweiligen Fachbegriffen weisen auf die Möglichkeit hin, diese schnell und einfach nachzuschlagen. Denn dieses Buch wendet sich ebenso an all diejenigen, die wissen möchten, was es braucht, um meisterhafte Mitarbeiter zu entwickeln.

MEISTER DER ARBEIT

Ankunft 8:30 Uhr, Nagoya-Centrair-Flughafen, mit der ANA (All Nippon Airways) aus Frankfurt. Zum dritten Mal in einem Vierteljahr werde ich zusammen mit einem Kollegen eine Gruppe Lean-Interessierter auf einer viertägigen Studienreise im industriellen Herzen Japans, der Präfektur Aichi, begleiten. Das Flugzeug ist geparkt, die Anschnallzeichen sind noch nicht erloschen, und ich beobachte das Treiben auf dem Rollfeld. Links neben uns wird ein Flugzeug von einem Lotsen aus seiner Parkposition herausgewinkt. Seine Gesten sind bestechend präzise. Das Flugzeug rollt aus seiner Parkposition heraus und bleibt kurz stehen. In diesem Moment zieht der Lotse seine Arbeitskappe vom Kopf und verbeugt sich tief in Richtung Cockpit. Der Kapitän antwortet mit einem knappen militärischen Salut.

Diese Szene berührt mich tief, auch noch nach Jahrzehnten engster beruflicher wie privater Verbindung mit dem Land Japan. In jenem Moment, damals bei der Landung, erinnerte ich mich an die Worte eines japanischen TPS-Beraters, mit dem ich zehn Jahre lang eng zusammengearbeitet hatte: »Was effektiv und effizient ist, ist auch optisch schön.« Seitdem sah ich in meinem Arbeitsleben immer wieder diese These bestätigt: Gute Arbeit äußert sich in einer schönen, das heißt einfachen und klaren Form. Das Verhalten des Lotsen, das ich beobachten konnte, steht für mich seitdem symbolisch für die Präzision, Perfektion und die Hingabe, welche die Japaner bei der Arbeit an den Tag legen.

Der Flughafen Centrair, wo sich diese Szene abspielte, ist der internationale Flughafen Zentraljapans und nahe der Stadt Nagoya gelegen. Geplante Inbetriebnahme war die Eröffnung der Weltausstellung Ende März 2005, eingeweiht wurde der neue Flughafen am 17. Februar – einen Monat vor dem geplanten Fertigstellungsdatum. An der Konzipierung und Ausführung des Flughafens war Toyota – der größte Arbeitgeber der Region – maßgeblich beteiligt. Es war ein Prestigeprojekt nicht nur für die Region, sondern auch für den Automobilkonzern. Der Flughafen Centrair ist inzwischen das Sinnbild japanischer Funktionalität und Fertigungseffizienz. Er wurde nicht nur vor Termin fertiggestellt, sondern die Kosten lagen auch noch 16 Prozent unter der Budgetvorgabe.2 Und damit nicht genug. Bereits im ersten Geschäftsjahr schrieb der Flughafen schwarze Zahlen und nimmt seitdem den wichtigsten internationalen Flughäfen Japans die Fluggäste weg.

Gerne spricht man vom »Toyota-Airport«. Geschäftsführung und leitende Positionen wurden mit Topmanagern von Toyota besetzt. Einhellig wird der Erfolg dieses Großprojektes dem Managementsystem von Toyota zugeschrieben. Nach dem Erfolgsrezept befragt, antwortete Yukihisa Hirano, der erste Geschäftsführer des Flughafens Centrair, lakonisch: »Wir haben das Selbstverständliche einfach nur selbstverständlich gemacht.«3

Alles Toyota oder was?

Toyota ist und bleibt das Vorzeigeunternehmen Japans. Die ganze Welt schaut trotz mehrerer Rückrufaktionen in der jüngsten Vergangenheit weiterhin neidvoll auf den Erfolg dieses Unternehmens. Bei nahezu gleicher Anzahl verkaufter Fahrzeuge wie der Volkswagen-Konzern im Jahr 2016 betrug die betriebliche Gewinnmarge bei Toyota 8,5 Prozent – in den Jahren davor lag sie bei knapp über zehn Prozent – und bei VW bei nur 5,4 Prozent4.

Seit Erscheinen des Buches The Machine that Changed the World: The Story of Lean Production5 der Amerikaner Womack, Jones und Roos aus dem Jahr 1991 gibt es unzählige Versuche, die seit Jahrzehnten andauernde Erfolgsgeschichte dieses japanischen Automobilherstellers und seines Produktionssystems zu erklären und nachzuahmen. Um das Thema »Lean Production« – die »schlanke Produktion« – herum ist ein großer Markt entstanden, der von Unternehmensberatern hart umkämpft ist. Unternehmen, angefangen von der Automobilindustrie und ihren Zulieferern, aber auch im Maschinenbau, der Elektronikindustrie bis hin zur Stahlbranche – alle versuchen sie, die Methoden und Fertigungsprinzipien von Toyota in ihren Werken zu implementieren, um schneller und kostengünstiger zu produzieren. Aber nicht nur in der Güterherstellung, sondern auch in der Dienstleistungsbranche hat Lean inzwischen Einzug gehalten. Denn es hat sich bewahrheitet, was die amerikanischen Autoren, Womack & Co. schon 1991 in ihrem Buch vorausgesagt haben: Dieses Fertigungssystem ist zum »weltweiten Standardproduktionssystem des 21. Jahrhunderts«6 geworden.

Im Rahmen meiner zwanzigjährigen Tätigkeit als Begleiterin von japanischen Beratern und als Trainerin konnte ich die Bemühungen ihrer Kunden, diese Unternehmensphilosophie einzuführen, ausgiebig beobachten. Dabei kam ich zu dem Fazit: Ja, viele dieser Unternehmen haben eine kurzfristige Produktivitätssteigerung erwirkt. Aber den Durchbruch hat kaum eines geschafft. Dieser legendäre Idealzustand, in dem sich jeder einzelne Mitarbeiter, von der Führungskraft bis zum Menschen an der Maschine oder am Schreibtisch, systematisch, aktiv und nachhaltig für die Verbesserungen aller Abläufe im Unternehmen einbringt, wie dies bei Toyota Unternehmensalltag ist – er will sich nicht einstellen.

Die Kämpfe unter den Lean-Experten um die Deutungshoheit und die richtige Umsetzung dieser Managementphilosophie TPS gehen weiter. Die Bandbreite der Interpretationen ist groß: Von den Technokraten, die auf die konsequente Durchsetzung der Management-Methoden, -Werkzeuge und -Prinzipien, wie sie im TPS formuliert werden, setzen, bis hin zu jenen, die den Geist des Zen und der Samurai beschwören.

Wer schon mal in einem Toyota-Werk war, der spürt in der Produktion auf Anhieb die hohe Produktivität: klare Strukturen, permanenter Materialfluss und Mitarbeiter, die zielgerichtet und konzentriert ihrer Arbeit nachgehen. Trotz eines eindeutig hohen Arbeitstempos ist jedoch von Stress oder Hast nichts zu merken. Der ganze Betrieb bewegt sich in gleichbleibendem Rhythmus wie ein lebendiger Organismus: Alle Arbeitsgriffe sitzen.

Aber das gilt nicht nur für Toyota. Teilnehmer der Japan-Touren betonen immer, wie angenehm es für Reisende in Japan doch sei und wie einwandfrei alles funktioniere. Ob in Restaurants, öffentlichen Verkehrsmitteln oder Geschäften: Überall sei es extrem sauber und ordentlich, nie müsse man warten, und die Qualität der Waren und Dienstleistungen sei von bestechend hohem Niveau. Das prominenteste Beispiel für japanische Effizienz ist ganz ohne Zweifel der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen. Die durchschnittliche Verspätung der Züge auf diesem überregionalen Schienennetz beträgt sage und schreibe drei Minuten! Und das in einem Land, das von Erdbeben und Taifunen gebeutelt ist. Bei der Deutschen Bahn gilt ein Zug überhaupt erst ab 6 Minuten als verspätet.7

Und in der Tat, wenn ich den durchschnittlichen japanischen Arbeiter oder Angestellten mit seinen Kollegen anderswo auf der Welt vergleiche, dann fällt mir in Japan dieser allgegenwärtige Anspruch auf, beste Arbeit zu leisten. Wir Deutschen sind definitiv stark in den Ideen, aber die Japaner sind die Meister der Arbeit. Oder wie es der ehemalige Politiker Lothar Späth bereits vor Jahrzehnten ausdrückte: »Wir Deutschen sind Wissensriesen, aber Realisierungszwerge!«8

Kann man noch etwas von den Japanern lernen?

Und trotzdem: Kann man nach all den Negativschlagzeilen der letzten zwanzig Jahre überhaupt noch eine Lanze für das japanische Arbeitsethos brechen?

Der Finanzcrash Anfang der Neunzigerjahre, seither null Wachstum und inzwischen die höchste Staatsverschuldung weltweit – allerdings bei der eigenen Bevölkerung und nicht im Ausland! –, hat Japan aus der Riege der Top-Industrienationen herauskatapultiert. Die Atomkatastrophe 2011 in Fukushima und die vielfältigen Rückrufaktionen von Toyota werfen dunkle Schatten auf das japanische Vorzeigeunternehmen wie auf das Land. Erwähnt man im Westen Japan als positives Beispiel, gibt es allenthalben skeptische Gesichter, wenn es nicht gerade um Sushi, Zen und Mangas geht. Als Lean-Experte ist man ständig gezwungen, sich gegen diesen vermeintlichen Widerspruch zu wehren. Denn gleichzeitig wird diese Unternehmensphilosophie von westlichen Firmenchefs und Produktionsmanagern ja weiterhin neugierig nachgefragt.

Die Regierung und der Stromerzeuger Tepco mögen im Falle Fukushimas versagt haben, Toyota hat seine Lehren aus dem Desaster von 20109 gezogen. Von oberster Geschäftsleitung wurde öffentlich zugegeben, dass man von den tradierten Firmengrundsätzen zugunsten einer Expansionspolitik abgewichen sei. Priorität habe in Zukunft nicht mehr der Umsatz, sondern wieder die Qualität. »Jeder Rückruf hilft, unser Produktionssystem zu verbessern«, erklärt Ulrich Selzer, bis vor einigen Jahren Geschäftsführer von Toyota in Deutschland, in einem Interview.10

Alles nur Werbung? Bei statistischen Erhebungen in den Kategorien Qualität und Dauerhaftigkeit ist der Autobauer Toyota weiterhin weltweit unter den Top Ten. Ob weniger Rückrufaktionen grundsätzlich Zeichen höherer Qualität sind, wie unsere Autobauer gerne behaupten, darf bezweifelt werden.

Machen wir es uns nicht zu einfach, wenn wir aufgrund durchaus schwerwiegender Verfehlungen eine ganze Volkswirtschaft verdammen? Oder sind »Prestigeprojekte« wie die Hamburger Elbphilharmonie, der neue Stuttgarter Bahnhof und der »neue« Berliner Flughafen, zuletzt dann noch der Diesel-Skandal, gleichermaßen repräsentativ für »deutsche Wertarbeit«?

Japan ist trotz stagnierendem Wirtschaftswachstum vor allem weiterhin eine stabile Wirtschaftsmacht. Das Inselreich hat noch heute die niedrigste Arbeitslosenquote unter den führenden Industrienationen (2016: Japan 3,1 %, Deutschland 4,1 %)11 und steht direkt nach Deutschland auf Platz 4 als Exportnation (2016)12 – und das nach zwei Konjunkturkrisen und zwei Naturkatastrophen innerhalb von 20 Jahren! Japans Unternehmen haben mit denselben Herausforderungen – demografischer Wandel, Globalisierung et cetera – zu kämpfen wie der Westen. Es hat in den Topunternehmen Japans während der letzten zwanzig Jahre zwar Kündigungswellen gegeben, sie bleiben aber weiterhin die große Ausnahme. Ist das kein Erfolgsmodell?

BESTANDSAUFNAHME: DEUTSCHE WERTARBEIT ÜBER ALLES?

Mit einem Team bin ich im Rahmen eines viertägigen Seminars zu Besuch bei einem bedeutenden Zulieferer für Nutzfahrzeuge im Norden Deutschlands. Auch dieser Konzern praktiziert seit vielen Jahren Lean Management. Hier und da sind beeindruckende U-Linien, Kanban-Systeme und Team-Boards zu sehen. Man habe damit einen »großen Sprung nach vorn« gemacht, aber irgendwie komme man nicht mehr weiter und brauche Hilfe – erklärt die Geschäftsleitung.

Bei einer Werksbesichtigung ist zu erfahren, dass die Auftragsbücher gut gefüllt sind. Allerdings ist die Produktion weit im Rückstand. An einer Stelle stapeln sich Halbfabrikate – der Bereich quillt über. Trotzdem produziert man munter weiter. Auf die Frage, warum sie weiter produzieren, obwohl die Ware nicht abfließen kann, heißt es, der für den anschließenden Prozess zuständige Mitarbeiter sei nicht zur Arbeit erschienen. Man habe auf ihn gewartet und erst einmal weiterproduziert, in der Hoffnung, dass er sich nur verspätet habe. Auf die Frage, warum sie ihn zu Arbeitsbeginn nicht sofort angerufen hätten, wird erklärt, dass er taubstumm sei.

Wie ist es möglich, dass man in der Produktion auf einen Mitarbeiter stundenlang wartet? Leben wir in einer verkehrten Welt? Außerdem müsste es eine Selbstverständlichkeit sein, dass man gleich bei der Anstellung Vorsorge trifft, wie man die Kommunikation mit einem taubstummen Mitarbeiter sicherstellt.

An einer anderen Stelle sind Mitarbeiter zu beobachten, die trotz Rückstand lange vor Schichtende begonnen haben, ihren Arbeitsplatz zu fegen. Der zuständige Segmentleiter erklärt, dass nachmittags die Putzkolonne erwartet werde, und für die müsse man aufräumen und vorputzen. Beiläufig wird dann noch erzählt, dass ein Teil der Fertigung aus demselben Segment aus Kostengründen nach Indien verlagert werden soll.

Wie kann so etwas sein? Offenbar ist das Bewusstsein über die prekäre Lage nicht ausreichend nach »unten« durchgedrungen, während man »oben« anscheinend keine klare Vorstellung von der Lage in der Produktion hat. Dieses Beispiel ist kein Einzelfall. Leider sind Szenen dieser Art in Deutschlands Werken zu häufig – egal welche Branche, egal welches Spitzenunternehmen.

Lean Freeze: Nichts geht mehr weiter!

Viele Unternehmen träumen davon, dass sie durch die Implementierung von Lean Management ihre Rendite schlagartig verbessern könnten – Lean quasi als Patentrezept. Dabei scheinen sie die Implikationen dieses »neuartigen« Systems nicht voll zu umreißen. Es fehlt an einer Unternehmensvision und es fehlt eine Roadmap zur Umsetzung. Stattdessen wird das »Projekt Lean« nach dem Prinzip »Mach mal!« nach unten weitergereicht. Ressourcen werden nicht ausreichend zur Verfügung gestellt und die Führungskräfte und Lean-Experten fühlen sich von der Geschäftsführung alleine gelassen. Einerseits hält die Führungsebene am »Business as usual« des ‣»Management by Results« fest, während von nachgeordneten Stellen die Umsetzung von Lean eingefordert wird. So kommt es rasch zu Interessenskonflikten.

Am meisten darunter zu leiden hat das mittlere Management in der Produktion – an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis. Es ist grundsätzlich hoch motiviert, wird aber durch permanente widersprüchliche Vorgaben gelähmt. Wurde dann auch noch versäumt, die Betriebsräte ins Boot zu holen, verkompliziert das die Lage noch zusätzlich. Die Mitarbeiter an der Basis sind völlig überfordert, wenn plötzlich von ihnen Eigeninitiative zur Prozessoptimierung verlangt wird. Der kaufmännische Bereich fühlt sich sowieso nicht angesprochen und verfügt im Zweifelsfall über die besseren Beziehungen zur Konzernleitung. Sie schaffen es immer wieder, sich aus der Verantwortung zu ziehen. Die Unternehmensleitung verwickelt sich bei der Umsetzung von »Lean« immer weiter in Widersprüche. Am Ende des Tages weiß niemand mehr, wo es langgeht: »Lean Freeze«. Jeder duckt sich und hofft, dass der Sturm an ihm vorüberzieht.

Blitzlicht: Wie arbeiten wir?

Vielen Lean-Beauftragten genügt das – die mangelnde Konsequenz der Unternehmensleitung, das mäßige Verständnis der Führungskräfte und die vermeintliche »Lustlosigkeit« der Mitarbeiter – als Erklärung für den schleppenden Erfolg dieser Managementmethode. Das ist nicht falsch, reicht aber nicht aus. Ein tieferer Blick in und eine kritischere Auseinandersetzung mit unserer Arbeitskultur wird bei der Realisierung von »Lean« unerlässlich.

Wenn es um die Arbeitskultur jenseits von Produktionsverfahren, organisatorischen und methodischen Konzepten, wie zum Beispiel die des »Lean« geht, also wie wir unsere Arbeit verstehen und sie im täglichen Miteinander erledigen, ist es aufschlussreich, sie aus dem Blickwinkel der einzelnen Teilnehmer eines Unternehmens zu betrachten.

Grundsätzlich wird vonseiten der Mitarbeiter viel über schlechte Kommunikation geklagt, nach dem Motto »Die eine Hand weiß nicht, was die andere tut.« Fehlende Transparenz führe zu unklaren Anweisungen, Missverständnissen und Gerüchten. Mannigfaltig sind auch die Klagen über schlechte Planung. Der Arbeitsalltag ist geprägt von permanentem »Feuerlöschen« und Improvisieren. Alles müsse »sofort« und »schnell« erledigt werden. Bürosprüche, wie »Wir sind hier auf der Arbeit und nicht auf der Flucht!«, zeugen von einer traurigen Wahrheit. In den Betrieben wird das Gros der Mitarbeiter, die Facharbeiter in der Produktion und die Sachbearbeiter in der Verwaltung, in ihrem Leistungspotenzial vom Unternehmen nicht ausreichend gewürdigt. Selten wird ihre Meinung bei Problemen oder strukturellen Veränderungen eingeholt. Sie fühlen sich übergangen. Dabei müssen sie ständig Fehler der »anderen« und nicht zuletzt die des Managements ausbügeln und sich dabei auch noch anhören, sie seien nicht motiviert.

Die hohe Fluktuation bei Führungskräften und der damit nicht selten einhergehende Kurswechsel sind zusätzliche Belastungen im Arbeitsalltag. An der Schaltstelle zwischen Planung und Umsetzung fühlt sich das mittlere Management getrieben vom Erfüllungszwang der Vorgaben. Auch der anschwellende Wust von Projekten ohne Sinn für eine realistische Terminierung erhöht die Frustration. Diese Führungskräfte sehen sich oft als reine Vollstrecker, obwohl sie die Verantwortung für Qualität und Liefertreue tragen. Immer weisen sie auf die mangelnde Unterstützung der Geschäftsleitung bei der Umsetzung von Unternehmenszielen hin und beklagen die Interessenskonflikte – nicht nur zwischen den Bereichen und Abteilungen, sondern auch den Konkurrenzkampf unter den Führungskräften: Es wird nicht an einem Strang gezogen – es fehlt ein unternehmensübergreifendes Planungs- und Steuerungssystem zur Festlegung und Umsetzung der Unternehmensziele (Stichwort: ‣Hoshin Kanri). Was das Engagement ihrer Mitarbeiter angeht, hört man immer wieder von den Vorgesetzten resignierte Aussagen: Viele Mitarbeiter hätten doch gar kein Interesse an Weiterbildung und aktiver Partizipation. Im Umgang mit ihnen zeigen sie sich oft überfordert und ringen um den richtigen Ton. Denn was ist man heutzutage als Vorgesetzter: Chef, Moderator oder Kumpel?

Die Geschäftsleitung ihrerseits weist bei Kritik lediglich auf die »Erfordernisse des Marktes« hin und fragt sich, warum das mit der Umsetzung immer so »schwierig« sei. Bei allen gegenteiligen Beteuerungen spürt man oft ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber der eigenen Belegschaft: Hinter vorgehaltener Hand werfen sie ihren Leuten mangelnde Kompetenzen und mangelndes unternehmerisches Denken vor. Überstürzte Entscheidungen prägen ihren Managementstil. Langfristige Strategien zur Bewältigung der zukünftigen Herausforderungen sind kaum vorhanden. Gegenüber ihren »Arbeitgebern« sind die Führungskräfte selten fähig, die Belange des Unternehmens zu vertreten, weil sie sich mehr auf Zahlen und Daten als auf die Faktenlage, die Tatsachen vor Ort, stützen. Auch sie fühlen sich letztlich von ihrer Mitarbeiterschaft alleingelassen und unverstanden. In der Konsequenz erreichen uns in regelmäßigen Abständen Nachrichten von Restrukturierungen oder Insolvenzen ehemals bedeutender Unternehmen. Die Zahlen in Deutschland sind zwar insgesamt rückläufig, nehmen aber bei Großkonzernen wieder zu. Alleine im Jahr 2017 haben Konzerne wie Bombardier, Eon, Commerzbank, Siemens – um nur einige zu nennen – Schlagzeilen wegen massiven Personalabbaus gemacht.

Aus Sicht des Kunden sieht es naturgemäß nicht sehr viel besser aus: Als Grund für Verzögerungen in der Produktion werden an erster Stelle Lieferverzögerungen angegeben. Eine Ausliefertreue von 90 Prozent gilt in vielen deutschen Betrieben bereits als »sehr gut«. Für einen Kunden ist jedes Teil, das zu spät kommt, dagegen eine Katastrophe. Auch als Endverbraucher kann ein jeder von uns ein Lied singen von Bestellungen, denen man hinterherlaufen muss. Hinzu kommt die Qualität der Leistung, die nur in Ausnahmefällen einwandfrei ist. Falschlieferungen, eine unsaubere Bearbeitung oder unvollständige Lieferungen sind an der Tagesordnung. Wareneingangsprüfungen sind bei uns in den Betrieben immer noch die Regel. Im Toyota-Firmenverbund werden Wareneingangs- und Warenausgangsprüfungen grundsätzlich nicht vorgenommen. 100 Prozent Qualität genauso wie eine pünktliche Lieferung werden in Japan generell vorausgesetzt, sie bilden die Mindestanforderungen an eine geschäftliche Partnerschaft.

Was resignierend immer noch als »normal« in unseren Unternehmen hingenommen wird, ist in Wirklichkeit ein Kontrollverlust auf allen Ebenen, der sich, wen wundert es, auf das Unternehmensergebnis auswirkt.

Technokrat oder Sozialromantiker?

Die »deutsche Wertarbeit« hat in den letzten 20 bis 30 Jahren trotz reißenden Absatzes massiv gelitten. Das zeigt sich in der Qualität, wie wir heute arbeiten und in der Folge auch in der Qualität unserer Produkte. In vielen Sparten haben uns die Japaner den Rang abgelaufen. In der Zerspanungstechnologie zum Beispiel werden in deutschen Betrieben immer mehr japanische CNC-Maschinen – einst das Steckenpferd der Deutschen – eingesetzt. Präzision, niedrige Anfälligkeit und leichtere Handhabung sind trotz hoher Investitionen rentable Anschaffungen für die Betriebe.

Abbildung 3: Die deutsche Wertarbeit

Unsere weltweit geschätzte Ingenieurskunst kommt aus einer jahrhundertealten Handwerkstradition. Hier liegt der Ursprung »deutscher Wertarbeit«. Gehörten wir zu Zeiten der Massenproduktion und des Produzentenmarktes noch zu den Innovations- und Qualitätsführern, hat sich das Blatt mit der explodierenden Variantenvielfalt der letzten Jahrzehnte geändert. Die Wandlung des Marktes durch eine Vielzahl an Wettbewerbern in einen Käufermarkt hat den Innovationsdruck für Produkte und Produktionssysteme massiv erhöht. Unsere Arbeitssysteme beziehungsweise Managementsysteme mussten zwangsweise infrage gestellt werden.

Unsere heutige Arbeitswelt ist noch immer stark von dem Managementstil des ‣Taylorismus geprägt, der aus Zeiten des Übergangs zur Massenproduktion um 1920 stammt. Der amerikanische Ingenieur Frederick Winslow Taylor (1856–1915) galt als Begründer der Arbeitswissenschaft und des »Scientific Management«. Charlie Chaplin karikierte in seinem Film Modern Times (1936) die von Taylor geschaffene, damals als hocheffizient, aber in weiten Kreisen bereits als inhuman geltende Arbeitswelt. Extrem detaillierte und zerlegte Arbeitsaufgaben und Vorgaben von oben sollten keinerlei Spielraum zur Mitgestaltung der eigenen Arbeit bieten. Die Kommunikation war einseitig, »top-down«, und der Führungsstil autoritär. Der Managementstil galt als »scientific«, da man glaubte, alles durch reine Berechnung lösen zu können (siehe ‣REFA-Methodenlehre). Sämtliche planerischen Tätigkeiten wurden von Ingenieuren oder höheren Angestellten ausgeführt. Diese sollten gleichsam von einfachen Tätigkeiten freigehalten werden. Mitsprache von der ausführenden Seite im Unternehmen war nicht erwünscht. Es galt der Spruch, »arbeiten – nicht denken!« In Zeiten der Massenproduktion, mit einer überschaubaren Anzahl an Fertigungsprozessen und langen Produktlebenszyklen, konnten mit diesem Managementsystem  die Wünsche der Kunden noch ausreichend befriedigt werden.

Mit steigendem Wettbewerbsdruck in den Siebziger- und Achtzigerjahren haben wir unseren Blick auf der Suche nach neuen Arbeitskonzepten und Managementmethoden weiterhin nach Westen, in die USA, gerichtet. Denn das arbeitsteilige System des Taylorismus wusste zwar die Gesetze der Massenproduktion, »je mehr, desto billiger!«, bestens zu nutzen, erwies sich aber als zu starr für einen Käufermarkt mit Bedürfnissen, die sich permanent änderten. Die Kosten stiegen unaufhaltsam weiter, neue Lösungen mussten her. In den Achtzigerjahren waren ‣Outsourcing und später ‣Global Sourcing die Strategien, um in der Beschaffung die Kosten kurzfristig zu senken. Im Bereich der Arbeitsorganisation propagierte man flache Hierarchien und Teamarbeit. Man erhoffte sich dadurch mehr Engagement bei den Mitarbeitern und eine positive Wirkung auf die Personalkosten. Wechselnde Führungskräfte und Quereinsteiger sollten mit neuen Perspektiven und Ideen den Innovationsmotor anwerfen. Projekte überschlugen sich, denn jede neue Führungskraft musste »liefern«. Das Arbeitstempo zog immer mehr an, man arbeitete vor allem zum Wohlgefallen anderer und verlor mehr und mehr den Blick für das Wohl des Unternehmens und das des Kunden.

Das Verhältnis zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten wurde trotz steigendem Druck von oben mit der Zeit immer kollegialer. Der autoritäre Führungsstil verlor an Überzeugung, die Kommunikation geschah fortan auf Augenhöhe. Von den Mitarbeitern erwartete man mehr selbstständiges und selbstverantwortliches Arbeiten. »Solange die Leistung stimmt!«, war nun die Losung. Flexible Arbeitszeiten und zuletzt Homeoffice gaben den Angestellten die Möglichkeit, sich ihre Arbeit nach den eigenen Bedürfnissen einzuteilen. Die Anwesenheit im Betrieb gilt seither als ein zu überwindendes Übel. Zur gleichen Zeit traten die »Soft-Skill«-Gurus auf den Plan. Sie behaupteten fortan, alles sei nur eine Frage der richtigen Motivation und Kommunikation. Seit den Neunzigerjahren wurden Mitarbeiter durch die absurdesten Motivations- und »Teambuilding-Events« geschleust.

Da sich im Laufe der Zeit die Führungskräfte immer mehr nach oben, Richtung Topmanagement, orientierten, brach der Kontakt nach unten zunehmend ab. Dem Team und dem einzelnen Mitarbeiter redete man nicht in seine Arbeit rein (Tabu!). Auch die Vorgesetzten waren frei in der Entscheidung über den passenden Führungsstil. Jeder verrichtete seine Arbeit nach seiner eigenen Façon. Tendenziell kann man in dieser Gemengelage zwei Lager ausmachen: die der »Technokraten«, die in der Tradition der »wissenschaftlichen Herangehensweise« des Taylorismus verhaftet sind (meist Betriebswirte und Ingenieure) und die der »Sozialromantiker«, die aus der Welt der Geisteswissenschaften und der Psychologie kommen. Erstere pochen auf ein härteres Regiment und mehr Vorgaben durch das Führungspersonal, während die anderen nach dem Motto »mehr Selbstbestimmung und Vertrauen!« die Fahnen schwingen. Es pochen im Arbeitsalltag zwei Herzen um die Wette und deutlicher Verlierer ist dabei die Schlagkraft des Unternehmens, denn der nötige Konsens für eine gut funktionierende Zusammenarbeit ist unter diesen Umständen nicht mehr gegeben.

Alles ist ein wenig aus dem Ruder gelaufen und in dieser Situation ist »Lean« als Deus ex Machina auf die Bühne getreten. Mit seinen Produktionskonzepten und Methoden versucht man nun, alles wieder in den Griff zu bekommen. Nach all den vergangenen Experimenten ist es mehr als verständlich, dass die Belegschaft nur schwer mitzieht. Außerdem spüren die Mitarbeiter die Widersprüche, die zwangsweise entstehen, wenn man ein Produktionssystem, wie das von Toyota, aus seinem (arbeits-)kulturellen Kontext reißt und in einen anderen setzt. Denn TPS ist lediglich das, was wir sehen, wenn wir ein Toyota-Werk besichtigen. Es ist das Ergebnis einer ganz konkreten Vorstellung von »guter Arbeit«: Was »Arbeit« für Toyota bedeutet und wie sie zu verrichten ist.

Abbildung 4: Die Schwäche der doppelten Herzen

Schnell oder gut?

Die an Themen schier überbordenden Steuerungs- und Problemtafeln in der Produktion und in den Büros, die getreu der Lean-Methodik gewissenhaft geführt werden, spiegeln den Kontrollverlust bei uns wider. Der Druck auf Führungskräfte und Lean-Beauftragte, schnell Gegenmaßnahmen zu ergreifen, wächst und mit ihm die Verzweiflung. Gerne sprechen die Lean-Experten hierbei von instabilen Prozessen oder fehlenden Standards. Auch das ist nicht falsch. Sie sind allerdings die Folge und nicht die Ursache. Im Durchschnitt (wohlgemerkt!) liegt die Qualität einer ausgeführten Arbeit bei uns – hinsichtlich Genauigkeit, Zuverlässigkeit, Voraussicht – so bitter es klingen mag, hinter der der Japaner zurück, auch wenn wir uns im weltweiten Ländervergleich gut schlagen. Japaner bemängeln unsere Arbeitsqualität immer wieder. Woran liegt das?

Es gibt einen paradigmatischen Unterschied bei der Erledigung von Aufgaben in beiden Arbeitskulturen: Japaner sind eher qualitäts-, wir im Westen dagegen eher effizienzgetrieben. Während in Japan kein Aufwand für gute Qualität zu hoch ist, machen wir relativ schnell Abstriche, wenn dieser sich scheinbar nicht mehr rechnet und nehmen dafür auch gerne mal eine Kundenreklamation in Kauf. Nicht umsonst gehören Prinzipien wie die des ‣Trade-off oder ‣Good-enough-Lösungen zu unserem betriebswirtschaftlichen Begriffsinventar: Qualität ist verhandelbar.

Dieses Prinzip, eher schnell als fehlerfrei zu handeln, zieht sich wie ein roter Faden von der Geschäftsführung bis zum Sachbearbeiter und dem Menschen an der Maschine in unseren Unternehmen durch. Permanente Planänderungen, ständiges Improvisieren und Feuerlöschen sind, wie bereits erwähnt, die Folgen. Der Aktionismus wird gerne mit Zeitdruck erklärt (»Es muss ja heute alles so schnell gehen!«), ist aber kulturell begründet und spiegelt unsere Vorstellung von guter Arbeit wider: Machen! Kurzfristige Erfolge haben Vorrang vor der Nachhaltigkeit unseres Handelns. Qualität und gute Arbeit sind bei uns Mittel zum Zweck – in Japan dagegen Selbstzweck.

Unser Verständnis und Umgang mit TPS oder Lean ist ebenso von diesem Aktionismus und kurzfristigem Denken geprägt. Wir suchen permanent nach wirkungsvollen »Knöpfen«, die uns schnelle Ergebnisse liefern, und Anleitungen, denen wir am liebsten blind folgen würden. Das hindert uns daran, die Tiefe dieser Arbeitsphilosophie, die sich hinter TPS und dem Toyota-Way verbirgt, zu erkennen.

Abbildung 5: Schnell oder gut?

Tipps

PRAKTISCHE TIPPS

Wenn Sie Ihre Arbeitskultur verändern möchten, ist es unerlässlich, dass Sie sich mit dem Ist-Zustand – der Art und Weise, wie derzeit gearbeitet wird – auseinandersetzen. Führungskräfte und Mitarbeiter müssen sich der aktuellen Arbeitsweise und ihrer Probleme bewusst werden, um sich von der Notwendigkeit einer Veränderung zu überzeugen. Machen Sie eine Kartenabfrage im Rahmen eines Workshops oder internen Trainings bei Ihren Mitarbeitern. Jeder Einzelne schreibt auf, womit er tagtäglich zu kämpfen hat. Sie werden sehen, dass sich das im vorigen Kapitel beschriebene Gesamtbild einer Arbeitskultur mehr oder weniger ergibt.

Erläutern Sie den historischen Hintergrund unserer Arbeitskultur (Stichworte: Massenproduktion und Taylorismus), die unsere Arbeitsweise in den Unternehmen geprägt hat. Die Teilnehmer beziehungsweise Mitarbeiter sollten verstehen, dass vor allem ökonomische Rahmenbedingungen eine bestimmte Arbeitskultur hervorbringen und eine Anpassung an neue Bedingungen deshalb erforderlich wird.

Diskutieren Sie ausgiebig die Frage, ob in Ihrem Unternehmen tendenziell eher »schnell« oder »gut« gearbeitet wird. Machen Sie klar, dass, solange es Reklamationen von Kunden im Prozentbereich gibt, nicht von »gut« gesprochen werden kann.

Diskutieren Sie unter Führungskräften und mit Mitarbeitern, wo der vorherrschende Führungsstil im Unternehmen zwischen »top-down« und »laissez faire« zu verorten ist. In den meisten Fällen ist es eine toxische Kombination aus beidem: »top-down« werden Aufgaben vergeben, bei der Ausführung sind die Mitarbeiter alleine gelassen und werden die vorgegebenen Ziele nicht erreicht, erfolgen Konsequenzen.

Da es sich beim Wandel der Arbeitskultur um nichts Geringeres als um ein neues Arbeitsverständnis handelt, ist es wichtig, alle Mitarbeiter aktiv in den Change-Prozess mit einzubeziehen. Das funktioniert zunächst am besten im Rahmen interner TPS- oder Lean-Trainings oder Workshops, weil viel Zeit für Überzeugungsarbeit und intensive Diskussionen benötigt wird. Wichtig ist, dass die Teilnehmer beziehungsweise Mitarbeiter davon überzeugt sind, dass Probleme und Unzufriedenheit eine Folge der bestehenden Arbeitskultur – und nicht einer Landesmentalität! – sind und dass diese verändert werden kann.

DER TOYOTA-WAY: EINE FRAGE DER ARBEITSKULTUR