Traditionelle und kritische Theorie - Max Horkheimer - E-Book

Traditionelle und kritische Theorie E-Book

Max Horkheimer

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Beschreibung

Kritische Theorie soll die Gesellschaft emanzipieren, statt sie wie herkömmliche Forschung nur zu erfassen. Die Grundzüge dieser engagierten Wissenschaft skizzierte Horkheimer erstmals in seinem berühmten Aufsatz von 1937 in der "Zeitschrift für Sozialforschung". Das Nachwort hilft, die schwierigen Konsequenzen dieser einfachen Idee nachzuvollziehen. Außerdem wird die wichtigste Kritik an Horkheimers Argumenten sowie deren Weiterentwicklung in der Frankfurter Schule aufgezeigt und das Fortleben des so wichtigen, epochemachenden Textes bis heute nachgezeichnet. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Max Horkheimer

Traditionelle und kritische Theorie

Herausgegeben von Frieder Vogelmann

Reclam

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

 

Copyright für die Printausgabe:

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2020

Copyright für die digitale Ausgabe:

© Fondazione Max Horkheimer, Lugano

 

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961874-6

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014019-2

www.reclam.de

Inhalt

Traditionelle und kritische Theorie

Zu dieser Ausgabe

Anmerkungen

Literaturhinweise

Kritische Theorie: Die Idee einer emanzipatorischen Wissenschaft

1 Max Horkheimer, das Institut für Sozialforschung und seine Zeitschrift

2 Was ist traditionelle Theorie?

3 Wissenschaft als Ideologie

4 »Es gibt nun ein menschliches Verhalten …«

5 Unmittelbare Reaktionen

6 Philosophie oder Sozialforschung?

7 Kritik der kritischen Theorie

8 Unabgegoltenes

Traditionelle und kritische Theorie

[162] Die Frage, was Theorie sei, scheint nach dem heutigen Stand der Wissenschaft keine großen Schwierigkeiten zu bieten. Theorie gilt in der gebräuchlichen Forschung als ein Inbegriff von Sätzen über ein Sachgebiet, die so miteinander verbunden sind, daß aus einigen von ihnen die übrigen abgeleitet werden können. Je geringer die Zahl der höchsten Prinzipien im Verhältnis zu den Konsequenzen, desto vollkommener ist die Theorie. Ihre reale Gültigkeit besteht darin, daß die abgeleiteten Sätze mit tatsächlichen Ereignissen zusammenstimmen. Zeigen sich dagegen Widersprüche zwischen Erfahrung und Theorie, so wird man diese oder jene revidieren müssen. Entweder hat man schlecht beobachtet oder mit den theoretischen Prinzipien ist etwas nicht in Ordnung. Im Hinblick auf die Tatsachen bleibt die Theorie daher stets Hypothese. Man muß bereit sein, sie zu ändern, wenn sich beim Bewältigen des Materials Unzuträglichkeiten herausstellen. Theorie ist das aufgestapelte Wissen in einer Form, die es zur möglichst eingehenden Kennzeichnung von Tatsachen brauchbar macht. Poincaré vergleicht die Wissenschaft mit einer Bibliothek, die unaufhörlich wachsen soll. Die Experimentalphysik spielt die Rolle des Bibliothekars, der die Ankäufe besorgt, das heißt, sie bereichert das Wissen, indem sie Material herbeischafft. Die mathematische Physik, die Theorie der Naturwissenschaft im strengsten Sinn, hat die Aufgabe, den Katalog herzustellen. Ohne den Katalog könnte man sich der Bibliothek trotz aller Reichtümer nicht bedienen. »Das ist also die Rolle der mathematischen Physik, sie muß die Verallgemeinerung in dem Sinne leiten, daß sie ... den Nutzeffekt erhöht.«1 Als Ziel der Theorie überhaupt erscheint das universale System der Wissenschaft. Es [163] ist nicht mehr auf ein besonderes Gebiet beschränkt, sondern umfaßt alle möglichen Gegenstände. Die Trennung der Wissenschaften ist aufgehoben, indem die auf verschiedene Bereiche bezogenen Sätze auf dieselben Prämissen zurückgeführt werden. Derselbe begriffliche Apparat, der zur Bestimmung der toten Natur bereitsteht, dient auch zum Einordnen der lebendigen, und jeder, der seine Handhabung, das heißt die Regeln des Ableitens, das Zeichenmaterial, das Verfahren beim Vergleich von deduzierten Sätzen mit der Feststellung von Tatsachen und so fort einmal gelernt hat, kann sich seiner jederzeit bedienen. Von diesem Zustand sind wir noch entfernt.

Das ist, freilich im groben, die heute verbreitete Vorstellung vom Wesen der Theorie. Sie pflegt sich aus den Anfängen der neueren Philosophie herzuleiten. Als die dritte Maxime seiner wissenschaftlichen Methode bezeichnet Descartes den Entschluß, »der Ordnung nach meine Gedanken zu leiten, also bei den einfachsten und am leichtesten zu erkennenden Gegenständen zu beginnen, um nach und nach sozusagen gradweise bis zur Erkenntnis der zusammengesetztesten aufzusteigen, wobei ich selbst unter denen Ordnung voraussetzte, die nicht in der natürlichen Weise aufeinander folgen«. Die Ableitung, wie sie in der Mathematik üblich ist, sei auf die gesamte Wissenschaft anzuwenden. Die Ordnung der Welt erschließt sich einem deduktiven gedanklichen Zusammenhang. »Die langen Ketten von ganz einfachen und leicht einzusehenden Vernunftgründen, deren sich die Geometer zu bedienen pflegen, um zu ihren schwierigsten Beweisen zu gelangen, hatten mich darauf geführt, mir vorzustellen, daß alle Dinge, die unter die Erkenntnis der Menschen fallen können, untereinander in derselben Beziehung stehen und daß, wenn man nur darauf achtet, kein Ding für wahr zu halten, das es nicht ist, und stets die Ordnung beibehält, die erforderlich ist, um die einen von den andern abzuleiten, es keine so entfernten Erkenntnisse geben kann, zu denen man nicht gelangte, noch auch so verborgene, die man nicht entdeckte.«2 Je nach der übrigen philosophischen Einstellung des Logikers werden die allgemeinsten Sätze, von denen die Deduktion ihren Ausgang nimmt, selbst noch [164] als Erfahrungsurteile, als Induktionen angesehen, wie bei John StuartMill, als evidente Einsichten, wie in rationalistischen und phänomenologischen Strömungen, oder als willkürliche Festsetzungen, wie in der modernen Axiomatik. In der fortgeschrittensten Logik der Gegenwart, wie sie in HusserlsLogischen Untersuchungen repräsentativen Ausdruck gefunden hat, wird Theorie »als in sich geschlossenes Sätzesystem einer Wissenschaft überhaupt« bezeichnet.3 Theorie im prägnanten Sinn ist »eine systematische Verknüpfung von Sätzen in der Form einer systematisch einheitlichen Deduktion«4. Wissenschaft heißt »ein gewisses Universum von Sätzen ..., wie immer aus theoretischer Arbeit erwachsen, in deren systematischer Ordnung ein gewisses Universum von Gegenständen zur Bestimmung kommt«5. Daß alle Teile durchgängig und widerspruchslos miteinander verknüpft sind, ist die Grundforderung, die jedes theoretische System befriedigen muß. Einstimmigkeit, welche Widerspruchslosigkeit einschließt, sowie das Fehlen überflüssiger, rein dogmatischer Bestandteile, die ohne Einfluß auf die beobachtbaren Erscheinungen sind, bezeichnet Weyl als unerläßliche Bedingung.6

Soweit dieser traditionelle Begriff von Theorie eine Tendenz aufweist, zielt sie auf ein rein mathematisches Zeichensystem ab. Als Elemente der Theorie, als Teile der Schlüsse und Sätze, fungieren immer weniger Namen für erfahrbare Gegenstände, sondern mathematische Symbole. Auch die logischen Operationen selbst sind bereits so weit rationalisiert, daß zumindest in großen Teilen der Naturwissenschaft die Theorienbildung zur mathematischen Konstruktion geworden ist.

Die Wissenschaften von Mensch und Gesellschaft sind bestrebt, dem Vorbild der erfolgreichen Naturwissenschaften nachzufolgen. Der Unterschied zwischen den Schulen der Gesellschaftswissenschaft, die mehr auf Tatsachenforschung und denen, die mehr auf Prinzipien eingestellt sind, hat unmittelbar mit dem Begriff der Theorie als solcher nichts zu tun. Die emsige Sammelarbeit in allen [165] Fächern, die sich mit sozialem Leben befassen, das Zusammentragen gewaltiger Mengen von Einzelheiten über Probleme, die mittels sorgfältiger Enqueten oder anderer Hilfsmittel betriebenen empirischen Forschungen, wie sie seit Spencer besonders in den angelsächsischen Universitäten einen großen Teil der Aktivität ausmachen, bieten gewiß ein Bild, das dem sonstigen Leben unter der industriellen Produktionsweise äußerlich verwandter erscheint als die Formulierung abstrakter Prinzipien, als die Erwägungen über Grundbegriffe am Schreibtisch, wie sie etwa für einen Teil der deutschen Soziologie kennzeichnend waren. Aber das bedeutet keinen strukturellen Unterschied des Denkens. In den späten Perioden der gegenwärtigen Gesellschaft haben die sogenannten Geisteswissenschaften ohnehin nur einen schwankenden Marktwert; sie müssen schlecht und recht versuchen, es den glücklicheren Naturwissenschaften gleichzutun, deren Verwendungsmöglichkeit jeder Frage enthoben ist. Über die Identität der Auffassung von Theorie in den verschiedenen Soziologenschulen untereinander und mit den Naturwissenschaften kann jedenfalls kein Zweifel herrschen. Die Empiriker haben keine andere Vorstellung von durchgebildeter Theorie als die Theoretiker. Sie sind bloß der selbstbewußten Überzeugung, daß angesichts der Kompliziertheit der gesellschaftlichen Probleme und des Standes der Wissenschaft die Arbeit an allgemeinen Prinzipien als bequeme und müßige Angelegenheit zu betrachten sei. Soweit theoretische Arbeit geleistet werden müsse, vollziehe sie sich in stetigem Umgang mit dem Material; an umfassende theoretische Darstellungen sei in absehbarer Zeit noch gar nicht zu denken. Die Methoden exakter Formulierung, besonders mathematische Verfahrensweisen, deren Sinn mit dem umrissenen Begriff von Theorie aufs engste zusammenhängt, sind bei diesen Gelehrten sehr beliebt. Es ist weniger die Theorie überhaupt als die von anderen und ohne eigenen Umgang mit den Problemen einer empirischen Fachwissenschaft von »oben her« entworfene Theorie, deren Bedeutung von dieser Seite bestritten wird. Unterscheidungen wie die zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft (Tönnies), zwischen der mechanischen und organischen Solidarität (Durkheim), zwischen Kultur und Zivilisation (A. Weber) als Grundformen menschlicher Vergesellschaftung enthüllten sogleich ihre Problematik, wenn man sie auf konkrete Probleme anzuwenden versuche. Der Weg, den die [166] Soziologie beim gegenwärtigen Stand der Forschung nehmen müsse, sei der mühsame Aufstieg von der Beschreibung gesellschaftlicher Phänomene zum eingehenden Vergleichen und von da erst zur Bildung allgemeiner Begriffe.

Der hier vorliegende Gegensatz läuft darauf hinaus, daß die Empiriker ihrer Tradition gemäß nur abgeschlossene Induktionen als die höchsten Sätze der Theorie gelten lassen wollen und glauben, man sei von solchen noch weit entfernt. Ihre Gegner halten für die Bildung der höchsten Kategorien und Einsichten auch andere, nicht so sehr vom Fortschreiten der Materialsammlung abhängige Verfahrensweisen für richtig. Mag zum Beispiel Durkheim selbst vielfach mit den Grundansichten der Empiristen übereinstimmen; soweit es ihm um Prinzipien zu tun ist, erklärt er den Induktionsprozeß für abkürzbar. Die Klassifikation gesellschaftlicher Vorgänge auf Grund bloß empirischer Bestandsaufnahmen ist nach ihm weder möglich noch könnte sie die Forschung derart erleichtern, wie man es von ihr erwartet. »Ihre Rolle ist es, uns Anhaltspunkte an die Hand zu geben, an die wir andere Beobachtungen anknüpfen können als die, durch welche wir diese Anhaltspunkte selbst erworben haben. Zu diesem Zweck jedoch muß sie nicht nach einem vollständigen Inventar aller individuellen Züge entworfen sein, sondern nach einer kleinen, sorgfältig ausgewählten Anzahl von ihnen ... Sie kann dem Beobachter sehr viele Schritte ersparen, weil sie ihn führen wird ... Wir müssen also für unsere Klassifikation besonders wesentliche Züge heraussuchen.«7 Ob nun aber die höchsten Prinzipien durch Auswahl, durch Wesensschau oder durch reine Festsetzung gewonnen werden, bedeutet hinsichtlich ihrer Funktion im idealen theoretischen System keinen Unterschied. Gewiß ist, daß der Wissenschaftler seine mehr oder minder allgemeinen Sätze an die neu auftretenden Tatsachen als Hypothesen heranbringt. Der phänomenologisch orientierte Soziologe wird freilich versichern, daß es nach Feststellung eines Wesensgesetzes unzweifelhaft sicher sei, daß sich jedes Exemplar ihm entsprechend verhalten müsse. Aber der hypothetische Charakter des Wesensgesetzes macht sich dann in dem Problem geltend, ob im Einzelfall ein Exemplar des [167] betreffenden oder eines verwandten Wesens vorliegt, ob es sich um ein schlechtes Exemplar des einen oder ein gutes der anderen Gattung handelt. Immer steht auf der einen Seite das gedanklich formulierte Wissen, auf der anderen ein Sachverhalt, der unter es befaßt werden soll, und dieses Subsumieren, dieses Herstellen der Beziehung zwischen der bloßen Wahrnehmung oder Konstatierung des Sachverhalts und der begrifflichen Struktur unseres Wissens heißt seine theoretische Erklärung.

Von den verschiedenen Arten der Einordnung braucht hier im einzelnen nicht die Rede zu sein. Es sei nur kurz angedeutet, wie es sich nach diesem traditionellen Begriff von Theorie mit dem Erklären geschichtlicher Ereignisse verhält. In der Kontroverse zwischen Eduard Meyer und Max Weber tritt das deutlich hervor. Meyer hatte die Frage, ob bei Ausbleiben gewisser Willensentschlüsse bestimmter historischer Personen die von ihnen entfesselten Kriege früher oder später doch zustande gekommen wären, unbeantwortbar und müßig genannt. Weber wollte im Gegensatz dazu erweisen, daß dann Geschichtserklärung überhaupt unmöglich sei. Er entwickelte im Anschluß an Theorien des Physiologen v. Kries und juristischer und nationalökonomischer Autoren wie Merkel, Liefmann und Radbruch die »Theorie der objektiven Möglichkeit«. Die Erklärung des Historikers bestehe ebensowenig wie die des Strafrechtlers in einer möglichst vollständigen Aufzählung aller beteiligten Umstände, sondern im Hervorheben des Zusammenhangs zwischen bestimmten, für den geschichtlichen Fortgang interessanten Bestandteilen des Ereignisses und einzelnen, determinierenden Vorgängen. Dieser Zusammenhang, also etwa das Urteil, daß ein Krieg durch die Politik eines zielbewußten Staatsmanns entfesselt worden sei, setzt logisch voraus, daß im Fall des Unterbleibens dieser Politik nicht der durch sie erklärte Effekt, sondern ein anderer eingetreten wäre. Wird eine bestimmte historische Verursachung behauptet, so schließt das immer ein, daß bei ihrem Fehlen infolge der bekannten Erfahrungsregeln unter den vorhandenen Umständen eine bestimmte andere Wirkung sich geltend gemacht hätte. Die Erfahrungsregeln sind dabei nichts anderes als die Formulierungen unseres Wissens über die ökonomischen, gesellschaftlichen und psychologischen Zusammenhänge. Mit ihrer Hilfe konstruieren wir den wahrscheinlichen Verlauf, wobei wir das Ereignis weglassen [168] und einsetzen, das zur Erklärung dienen soll.8 Es ist ein Operieren mit Konditionalsätzen, angewandt auf eine gegebene Situation. Unter Voraussetzung der Umstände a b c d muß das Ergebnis q erwartet werden, fällt d weg, das Ereignis r, tritt g hinzu, das Ereignis s, und so fort. Solches Kalkulieren gehört zum logischen Gerüst der Historie wie der Naturwissenschaft. Es ist die Existenzweise von Theorie im traditionellen Sinn.

Was die Wissenschaftler auf den verschiedensten Gebieten somit als das Wesen der Theorie ansehen, entspricht in der Tat ihrer unmittelbaren Aufgabe. Sowohl die Handhabung der physischen Natur wie auch diejenige bestimmter ökonomischer und sozialer Mechanismen erfordert eine Formung des Wissensmaterials, wie sie in einem Ordnungsgefüge von Hypothesen gegeben ist. Die technischen Fortschritte des bürgerlichen Zeitalters sind von dieser Funktion des Wissenschaftsbetriebs nicht abzulösen. Einerseits werden durch ihn die Tatsachen für das Wissen fruchtbar gemacht, das unter den gegebenen Verhältnissen verwertbar ist, andererseits das vorhandene Wissen auf die Tatsachen angewandt. Es besteht kein Zweifel, daß solche Arbeit ein Moment der fortwährenden Umwälzung und Entwicklung der materiellen Grundlagen dieser Gesellschaft darstellt. Soweit der Begriff der Theorie jedoch verselbständigt wird, als ob er etwa aus dem inneren Wesen der Erkenntnis oder sonstwie unhistorisch zu begründen sei, verwandelt er sich in eine verdinglichte, ideologische Kategorie.

Sowohl die Fruchtbarkeit neu entdeckter tatsächlicher Zusammenhänge für die Umgestaltung der vorhandenen Erkenntnis wie deren Anwendung auf Tatbestände sind Bestimmungen, die nicht auf rein logische oder methodologische Elemente zurückgehen, sondern jeweils nur im Zusammenhang mit realen gesellschaftlichen Prozessen zu verstehen sind. Daß eine Entdeckung die Umstrukturierung vorhandener Ansichten veranlaßt, ist nie ausschließlich durch logische Erwägungen, des näheren durch den Widerspruch zu bestimmten Teilen der herrschenden Vorstellungen begründbar. Es sind immer Hilfshypothesen ausdenkbar, durch die eine Änderung [169] der Theorie im ganzen vermieden werden könnte. Daß gleichwohl neue Ansichten sich durchsetzen, steht, auch wenn für die Wissenschaftler selbst nur immanente Motive bestimmend sind, in konkreten historischen Zusammenhängen. Das wird von den modernen Erkenntnistheoretikern nicht geleugnet, wenn sie auch bei den maßgebenden außerszientivischen Faktoren weniger an die gesellschaftlichen Verhältnisse als an Genie und Zufall denken. Daß man im siebzehnten Jahrhundert begann, die Schwierigkeiten, in welche die traditionelle astronomische Erkenntnisweise geraten war, nicht mehr durch zusätzliche Konstruktionen zu erledigen, sondern zum kopernikanischen System überging, lag nicht an seinen logischen Eigenschaften – etwa der größeren Einfachheit – allein. Daß diese als Vorzüge wirkten, führt selbst auf die Grundlagen der gesellschaftlichen Praxis jener Epoche. Wie das im sechzehnten Jahrhundert kaum erwähnte kopernikanische System dazu kam, zu einer revolutionären Macht zu werden, bildet einen Teil des geschichtlichen Prozesses, in dem das mechanistische Denken zur Herrschaft gelangt.9 Daß die Änderung wissenschaftlicher Strukturen von der jeweiligen gesellschaftlichen Situation abhängt, gilt jedoch nicht allein für so umfassende Theorien wie das kopernikanische System, sondern auch für die speziellen Forschungsprobleme im Alltag. Ob das Auffinden neuer Varietäten auf einzelnen Gebieten der anorganischen oder organischen Natur, sei es im chemischen Laboratorium oder bei paläontologischen Forschungen, zur Änderung alter Klassifikationen oder zum Entstehen neuer den Anlaß bildet, läßt sich keineswegs nur aus der logischen Situation ableiten. Die Erkenntnistheoretiker pflegen sich hier mit einem nur scheinbar ihrer Wissenschaft immanenten Begriff der Zweckmäßigkeit zu helfen. Ob und wie neue Definitionen zweckmäßig aufgestellt werden, hängt in Wahrheit nicht bloß von der Einfachheit und Folgerichtigkeit des Systems, sondern unter anderem auch von Richtung und Zielen der Forschung ab, die aus ihr selbst weder zu erklären noch gar letztlich einsichtig zu machen sind.

[170] Und wie der Einfluß des Materials auf die Theorie so ist auch die Anwendung der Theorie auf das Material nicht nur ein innerszientivischer, sondern zugleich ein gesellschaftlicher Vorgang. Die Beziehung von Hypothesen auf Tatsachen vollzieht sich schließlich nicht im Kopf der Gelehrten, sondern in der Industrie. Die Regeln, daß Steinkohlenteer, wenn er bestimmten Einwirkungen unterworfen wird, Farbqualitäten entwickelt oder daß Nitroglyzerin, Salpeter und andere Stoffe eine hohe Sprengkraft haben, sind aufgestapeltes Wissen, das in den Fabriksälen der großen Industrien wirklich auf die Tatsachen angewendet wird.

Unter den verschiedenen philosophischen Schulen scheinen besonders die Positivisten und Pragmatisten die Verflechtung der theoretischen Arbeit in den Lebensprozeß der Gesellschaft zu berücksichtigen. Sie bezeichnen die Voraussicht und Brauchbarkeit der Resultate als Aufgabe der Wissenschaft. In der Realität ist diese Zielbewußtheit, der Glaube an den sozialen Wert seines Berufs für den Gelehrten jedoch eine Privatangelegenheit. Er mag ebensowohl an ein unabhängiges, »suprasoziales«, freischwebendes Wissen glauben wie an die soziale Bedeutung seines Fachs: dieser Gegensatz der Interpretation beeinflußt sein faktisches Tun nicht im geringsten. Der Gelehrte und seine Wissenschaft sind in den gesellschaftlichen Apparat eingespannt, ihre Leistung ist ein Moment der Selbsterhaltung, der fortwährenden Reproduktion des Bestehenden, gleichviel, was sie sich selbst für einen Reim darauf machen. Sie müssen nur ihrem »Begriff« entsprechen, das heißt Theorie in dem Sinn herstellen, wie er oben beschrieben wurde. In der gesellschaftlichen Arbeitsteilung hat der Gelehrte Tatsachen in begriffliche Ordnungen einzugliedern und diese so instand zu halten, daß er selbst und alle, die sich ihrer bedienen müssen, ein möglichst weites Tatsachengebiet beherrschen können. Das Experiment hat innerhalb der Wissenschaft den Sinn, die Tatsachen in einer Weise festzustellen, die der jeweiligen Situation der Theorie besonders angemessen ist. Das Tatsachenmaterial, der Stoff wird von außen geliefert. Die Wissenschaft besorgt seine klare, übersichtliche Formulierung, so daß man die Kenntnisse handhaben kann, wie man will. Für den Gelehrten ist das Aufnehmen, Umformen, Durchrationalisieren des Tatsachenwissens, gleichviel, ob es sich um ein möglichst eingehendes Darlegen des Stoffes wie in der Historie und den beschreibenden [171] Zweigen anderer Einzelwissenschaften oder um die Zusammenfassung von Datenmassen und das Gewinnen allgemeiner Regeln wie in der Physik handelt, seine besondere Art der Spontaneität, die theoretische Betätigung. Der Dualismus von Denken und Sein, Verstand und Wahrnehmung ist ihm natürlich.

Die traditionelle Vorstellung der Theorie ist aus dem wissenschaftlichen Betrieb abstrahiert, wie er sich innerhalb der Arbeitsteilung auf einer gegebenen Stufe vollzieht. Sie entspricht der Tätigkeit des Gelehrten, wie sie neben allen übrigen Tätigkeiten in der Gesellschaft verrichtet wird, ohne daß der Zusammenhang zwischen den einzelnen Tätigkeiten unmittelbar durchsichtig wird. In dieser Vorstellung erscheint daher nicht die reale gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft, nicht was Theorie in der menschlichen Existenz, sondern nur, was sie in der abgelösten Sphäre bedeutet, worin sie unter den historischen Bedingungen erzeugt wird. In Wahrheit resultiert jedoch das Leben der Gesellschaft aus der Gesamtarbeit der verschiedenen Produktionszweige, und wenn die Arbeitsteilung unter der kapitalistischen Produktionsweise auch nur schlecht funktioniert, so sind ihre Zweige, auch die Wissenschaft, doch nicht als selbständig und unabhängig anzusehen. Sie sind Besonderungen der Art und Weise, wie sich die Gesellschaft mit der Natur auseinandersetzt und in ihrer gegebenen Form erhält. Sie sind Momente des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, mögen sie selbst auch wenig oder gar nicht produktiv im eigentlichen Sinne sein. Weder die Struktur der industriellen und agrarischen Produktion noch die Trennung von sogenannten leitenden und ausführenden Funktionen, Diensten und Arbeiten, geistigen und manuellen Verrichtungen sind ewige oder natürliche Verhältnisse; sie gehen vielmehr aus der Produktionsweise in bestimmten Gesellschaftsformen hervor. Der Schein der Selbständigkeit von Arbeitsprozessen, deren Verlauf sich aus einem inneren Wesen ihres Gegenstandes herleiten soll, entspricht der scheinhaften Freiheit der Wirtschaftssubjekte in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie glauben, nach individuellen Entschlüssen zu handeln, während sie noch in ihren kompliziertesten Kalkulationen Exponenten des unübersichtlichen gesellschaftlichen Mechanismus sind.

Das falsche Selbstbewußtsein des bürgerlichen Gelehrten unter der liberalistischen Ära zeigt sich in den verschiedensten philoso-[172]phischen Systemen. Einen besonders prägnanten Ausdruck hat es um die Jahrhundertwende im Neukantianismus Marburger Prägung gefunden. Einzelne Züge der theoretischen Tätigkeit des Fachgelehrten werden hier zu universalen Kategorien, gleichsam zu Momenten des Weltgeistes, des ewigen »Logos«, gemacht, oder vielmehr entscheidende Züge des gesellschaftlichen Lebens werden auf die theoretische Tätigkeit des Gelehrten reduziert. Die »Kraft der Erkenntnis« wird »die Kraft des Ursprungs« genannt. Unter »Erzeugen« wird die »schöpferische Souveränität des Denkens« verstanden. Sofern etwas als gegeben erscheint, müsse es gelingen, alle Bestimmungen an ihm aus den theoretischen Systemen, in letzter Linie aus der Mathematik zu konstituieren; alle endlichen Größen lassen sich mittels der Infinitesimalrechnung aus dem Begriff des unendlich Kleinen herleiten, und eben dies sei ihre »Erzeugung«. Das einheitliche System der in diesem Sinn allmächtigen Wissenschaft ist das Ideal. Und weil am Gegenstand sich alles in gedankliche Bestimmung auflöst, ist als Resultat dieser Arbeit nichts Festes, Materielles vorzustellen; die bestimmende, einordnende, einheitstiftende Funktion ist das einzige, worin alles gründet, worauf alle menschliche Anstrengung abzielt. Die Erzeugung ist Erzeugung der Einheit, und die Erzeugung selbst ist das Erzeugnis.10 Der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit besteht nach dieser Logik eigentlich darin, daß von dem armseligen Ausschnitt der Welt, den der Gelehrte zu Gesicht bekommt, immer mehr in der Form des Differentialquotienten ausdrückbar wird. Während in Wirklichkeit der wissenschaftliche Beruf ein unselbständiges Moment in der Arbeit, der geschichtlichen Aktivität der Menschen ist, wird er hier an ihre Stelle gesetzt. Sofern die Vernunft in einer künftigen Gesellschaft tatsächlich die Ereignisse bestimmen soll, ist diese Hypostasierung des Logos als der Wirklichkeit auch eine verkleidete Utopie. Die Selbsterkenntnis des Menschen in der Gegenwart ist jedoch nicht die mathematische Naturwissenschaft, die als ewiger Logos erscheint, sondern die vom Interesse an vernünftigen Zuständen durchherrschte kritische Theorie der bestehenden Gesellschaft.

Die isolierende Betrachtung einzelner Tätigkeiten und Tätigkeits-[173]