Transformative Ethik - Wege zum Leben - Thorsten Dietz - E-Book

Transformative Ethik - Wege zum Leben E-Book

Thorsten Dietz

0,0

Beschreibung

Steht uns eine moralische Revolution bevor? Wir leben in einer Zeit der Polarisierung. Ethische Konflikte nehmen zu - in unserer Gesellschaft ebenso wie in Kirchen und Gemeinden. Was sind die Kriterien für gute und moralische Entscheidungen? In diesem Buch geht es speziell um Veränderungen im Bereich der Ethik. Es hilft Leserinnen und Lesern, moralische Konflikt durch biblische Leitlinien selbstständig zu lösen. Ethik zum Selberdenken. Band 2.1 der Reihe "Interdisziplinäre Studien zur Transformation" (IST) Zur Reihe: Immer häufiger begegnet es uns - das Thema Transformation: Die Bundesregierung hat eine große Studie zu Transformation und Umwelt beauftragt, Christen diskutieren in Vorträgen über die Transformation von Kirche. Aber was heißt das eigentlich? Und was hat es mit unserer Glaubenspraxis zu tun? "Transformation" hat sich zu einem Schlüsselbegriff im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs entwickelt. Er steht für die großen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, die unsere Welt grundlegend verändern - wie Globalisierung, Polarisierung oder Digitalisierung. Er beschreibt aber auch das Ziel von Veränderung, wie z. B. bei der aktuellen Entwicklung einer klimagerechten Gesellschaft. Ein hochaktuelles Thema also, dass sich mit den massiven Umbrüche beschäftigt, die in vielen Bereichen von Gesellschaft und Kirche auf uns zukommen. Hier setzt die neue IST-Reihe an: Sie beleuchtet das Thema aus verschiedenen Perspektiven - mit wissenschaftlicher und theologischer Tiefe, aber zugleich auch mit Blick auf die Glaubenspraxis: Was kann man aus diesen Diskursen für eine Kirche in Transformation lernen? Wie können Veränderungsprozesse aktiv mitgestaltet werden?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 614

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Thorsten Dietz / Tobias Faix

Transformative Ethik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 Neukirchener Verlagsgesellschaft GmbH, Neukirchen-Vluyn Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de, unter Verwendung eines Fotos von Tartila (shutterstock.com)

Lektorat: Hauke Burgarth, Pohlheim Gestaltung und Satz: Magdalene Krumbeck, Wuppertal

Verwendete Schrift: Apollo MT Std, Akko Pro

Gesamtherstellung: PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG, www.ppp.eu ISBN 978-3-7615-6776-0 E-Book

www.neukirchener-verlage.de

Band 2/1: IST – »Interdisziplinäre Studien zur Transformation«

Herausgegeben von Sandra Bils, Thorsten Dietz, Tobias Faix, Tobias Künkler, Sabrina Müller, in Zusammenarbeit mit dem Studiengang Transformationsstudien für Öffentliche Theologie & Soziale Arbeit an der CVJM-Hochschule.

Danksagungen

»Wir müssen die Macht der Liebe entdecken, die heilende Kraft der Liebe. Und wenn wir das entdecken, dann werden wir aus dieser alten Welt eine neue machen können. Liebe ist der einzige Weg.« Martin Luther King

Die Idee, ein Buch über Ethik zu schreiben, schwirrte uns schon lange im Kopf herum: Zu auffällig waren und sind die Diskurse und Streitigkeiten in christlichen Kirchen und Gemeinden rund um moralische Themen. Anfang 2017 trafen wir uns dann zu einem Brainstorming und erarbeiteten einen ersten Entwurf, der in den letzten drei Jahren viele Veränderungen und Entwicklungen erfahren hat.

Nun liegt der Band »Transformative Ethik. Wege zum Leben« vor und ein Weg geht zu Ende oder sagen wir besser, er legt einen Zwischenstopp ein. Denn uns ist beim Arbeiten an diesem Buch sehr deutlich geworden, dass sich ethische Entscheidungen mit den Menschen, ihrem Verständnis der Bibel und ihren Lebenserfahrungen verändern. Und so freuen wir uns auf das Feedback, Ergänzungen und Kritik zu unserem Entwurf, weil wir uns darüber im Klaren sind, dass unser Weg noch nicht am Ende ist. Dafür wird es auch eine Internetplattform geben, auf der wir auf dieses Feedback eingehen werden. Außerdem planen wir zwei weitere Bände, die sich jeweils einem großen Anwendungsthema der Ethik widmen: Band 2/2 »Wege der Liebe. Eine Sexualethik« und Band 2/3 »Wege der Nachhaltigkeit. Eine Umweltethik«. Des Weiteren wollen wir einen Podcast starten, in dem wir aktuelle Themen aufnehmen und diskutieren können.

Ganz hilfreiche und wunderbare Diskussionen hatten wir schon mit den Probeleser:innen und Herausgeber:innen dieses Bandes, die uns teilweise ausführliches Feedback gegeben haben: Prof. Dr. Sandra Bils, Prof. Dr. Rüdiger Gebhardt, Christian Graß, Tim Guttenberger, Prof. Dr. Tobias Künkler, Prof. Dr. Torsten Meireis, Dr. Sabrina Müller, Prof. Dr. Volker Rabens, Jens Stangenberg, Johanna Weddigen. Ganz herzlichen Dank für eure Zeit, Kraft und alle weiterführenden Gedanken!

Dann danken wir ganz herzlich unseren Hilfskräften Ronja Dietrich und Marie Jäckel für die hervorragende Arbeit bei der formalen Erstellung des Buches.

Unser Dank gilt auch dem Neukirchener Verlag und besonders Herrn Siepermann und Frau Atkinson, die die Idee der IST-Reihe und auch dieser Ethikbände von Anfang an gefördert und begleitet haben.

Zudem sind wir für die Unterstützung unserer Familien, Freund:innen und Arbeitgeber dankbar, die uns immer wieder ermutigt und unterstützt haben, dieses herausfordernde und wichtige Thema anzugehen.

Zuletzt wünschen wir uns, dass das Buch positive Impulse für die moralischen Diskussionen und ethischen Urteilsfindungen in Gemeinden, Kirchen und Hochschulen gibt.

Weihnachten 2020, Thorsten Dietz und Tobias Faix

Inhalt

Geleitwort

Endorsements

1/ Die Landkarte lesen:
Standortbestimmung und Wegerfahrungen

1.1 Ziel und Zweck dieser Ethik

1.1.1 Die besonderen Akzente unseres Ansatzes

1.1.2 Inhalt und Aufbau des Buches

1.2 Karte und Gebiet: Eine Erkundung

1.2.1 Auf der Suche nach dem richtigen Weg

1.2.2 Einen Weg zum Selberfinden – eine Ethik zum Selberdenken

1.3 Gebietsstudie und die Notwendigkeit neuer Wege

1.3.1 Wenn die Karte den Weg nicht mehr zeigt

1.3.2 Neue Brücken für neue Wege

1.4 Unsere kulturellen Weltbilder und die Grammatik unseres Lebens

1.4.1 Kultur: Die Grammatik unseres Lebens

1.4.2 Weltbeziehung: Wie ich die Welt um mich herum erlebe

1.5 Kognitive Landkarten und die Frage nach Identität und Glauben

1.5.1 Identität und Haltung: Den inneren Kompass ausrichten

1.5.2 Glaubensentwicklung: Was die eigenen ethischen

Entscheidungen prägt

1.6 Selberdenken: Anwendungen und Übungen

1.6.1 Standortbestimmung: Die Rahmenstory der ethischen

Entscheidung

1.6.2 Standortbestimmung: Auf der Suche nach einem neuen Weg

2/ Das Gebiet erkunden: Ethik und Transformation

2.1 Polarisierung in der Spätmoderne

2.1.1 Moralische Konflikte der Gegenwart

2.1.2 Verquere Lagerbildungen

2.1.3 Transformationen der Gesellschaft

2.2 Ethik als Bearbeitung von moralischen Konflikten

2.2.1 Ethik als Reflexion der Moral

2.2.2 Moralische Konflikte

2.2.3 Wie vernünftig und universal ist Ethik?

2.3 Christliche Ethik der Transformation

2.3.1 Theologische Ethik

2.3.2 Kontextuelle Ethik

2.3.3 Biblische Ethik

3/ Orientierung finden: Ethik und geschichtlicher Wandel

3.1 Ethik und die Methoden der Rechtsanwendung

3.1.1 Juristische und theologische Hermeneutik

3.1.2 Juristische Methodenschritte

3.1.3 Theologische Hermeneutik biblischer Ethik

3.2 Karte und Gebiet

3.2.1 Norm und Situation

3.2.2 Situationsethik und Verantwortungsethik

3.2.3 Ethische Prinzipien und kultureller Wandel

3.3 Das Beispiel christlicher Staatsethik in Antike und Neuzeit

3.3.1 Staat und Gehorsam

3.3.2 Staat und Widerstand

3.3.3 Staat und Transformation

3.4 Ethik für eine Welt kultureller Transformationen

3.4.1 Formen der Ethik

3.4.2 Biblische Ethik im Vollzug

3.4.3 Ertrag für eine transformative Ethik

4/ Das Ziel vor Augen haben:Ethik und die biblische Story

4. 1 Die große Story: Das Narrativ Gottes mit den Menschen

4.1.1 Akt 1: Schöpfung – Identität und Auftrag

4.1.2 Akt 2: Fall – Einschnitt und Gebrochenheit

4.1.3 Akt 3: Erwählung – Bund und Segen

4.1.4 Akt 4: Jesus – Inkarnation und Erlösung

4.1.5 Akt 5: Kirche – Geist und Hoffnung

4.2 Quellen der Ethik im Alten Testament

4.2.1 Exodus: Befreiung und Erlösung – Gottes ganzheitliche Transformation

4.2.2 Tora: Erzählung und Weisung – Gottes Gebote und die Idee vom guten Leben

4.2.3 Schalom: Versöhnung und Ethos – Die Wiederherstellung der Gemeinschaft

4.2.4 Prophetische Kritik: Ethik und Haltung – Der Ruf nach Recht und Gerechtigkeit

4.3 Quellen der Ethik im Neuen Testament

4.3.1 »Dein Reich komme« – Eine Ethik zwischen »schon jetzt und noch nicht«

4.3.2 Ziel und Motiv einer Reich-Gottes-Ethik

4.3.3 Reich-Gottes-Ethik als »dritter Weg Jesu«

4.3.4 Eschatologie der Veränderung – Überrascht von Hoffnung

5/ Wegentscheidungen treffen:Ethisches Urteil und die Bibel

5.1 Gott, Mensch und die Bestimmung der Welt

5.2 Die vier Ebenen ethischer Urteilsbildung

5.3 Ebenen ethischer Urteilsbildung in der Bibel

5.3.1 Einzelurteile und allgemeine Regeln

5.3.2 Allgemeine Regeln und universale Prinzipien

5.3.3 Die christliche Story und geschichtliche Entwicklungen

5.4 Die besondere Bedeutung mittlerer Prinzipien für die ethische Diskussion

5.4.1 Das Beispiel der Medizinethik

5.4. 2 Die vier Ebenen ethischer Normen

5.5 Anwendungsbeispiel: Die »Rute« in der Kindererziehung

6/ Ans Ziel gelangen: Liebe als Wegweiser

6.1 Liebe als Zentrum christlicher Ethik

6.1.1 Liebe im Alten Testament

6.1.2 Liebe bei Jesus Christus

6.1.3 Die paulinische Ethik der Liebe

6.1.4 Ertrag für eine transformative Ethik

6.2 Ethik der Liebe: Geschichtliche Schlaglichter

6.2.1 Die philosophisch-anthropologische Synthese bei Augustinus

6.2.2 Die reformatorische Ausdifferenzierung bei Luther

6.2.3 Die Wandlungen der Liebe in der Neuzeit

6.3 Liebe als erster Wegweiser transformativer Ethik

6.3.1 Gestalten der Liebe

6.3.2 Beziehungen der Liebe (Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit)

6.3.3 Erträge für eine transformative Ethik

6.3.4 Ethik zum Selberdenken: Liebe

7/ Neue Wege schaffen: Freiheit als Wegweiser

7.1 Der befreite Mensch in der Bibel

7.1.1 Menschsein in Beziehung

7.1.2 Das befreite Volk

7.1.3 Praxis der Freiheit bei Jesus nach den Evangelienerzählungen

7.1.4 Theologie der Freiheit bei Paulus

7.2 Geschichte der Freiheit im Christentum

7.2.1 Freiheit des Willens

7.2.2 Freiheit der Kirche

7.2.3 Freiheit des Glaubens in der Reformation

7.2.4 Der Glaube an die Freiheit

7.3 Christliche Freiheit und Menschenrechte

7.3.1 Der lange Weg zu den Menschenrechten

7.3.2 Theologie der Menschenrechte

7.3.3 Wegmarken der Freiheit

7.3.4 Ethik zum Selberdenken: Freiheit

8/ Verantwortung wahrnehmen: Gerechtigkeit als Wegweiser

8.1 Biblische Orientierung

8.1.1 Recht und Gerechtigkeit als Doppelgesicht der Gerechtigkeit Gottes

8.1.2 Sozialgesetzgebung als Beispiel für strukturelle Gerechtigkeit

8.1.3 Die rettende Gerechtigkeit im Neuen Testament

8.1.4 Ertrag für eine transformative Ethik

8.2 Geschichtliche Entfaltung

8.2.1 Philosophische Grundlegung: Aristoteles

8.2.2 Liberale und sozialistische Gerechtigkeit in der Neuzeit

8.2.3 John Rawls und die moderne Gerechtigkeitsdebatte

8.2.4 Gerechtigkeitsdiskurs und transformative Ethik

8.3 Die gegenwärtige Gerechtigkeitsdebatte in theologischer Perspektive

8.3.1 »Blinde« Gerechtigkeit

8.3.2 »Sehende« Gerechtigkeit

8.3.3 Gerechtigkeit und Freiheit im Horizont der Liebe

8.4 Gerechtigkeit zum Selberdenken

9/ Ethik zum Selberdenken:

Acht Schritte für eine gute ethische Entscheidung

Losgehen

Schritt 1: Der Konflikt: Beschreibung der Problemstellung

Schritt 2: Gebiet und Erkundung: Fakten des Falls

Schritt 3: Standortbestimmung: Die eigene Rahmenstory der ethischen Entscheidung

Orientieren

Schritt 4: Das Ziel vor Augen: Die biblische Urteilsbildung und die Story Gottes

Schritt 5: Wegweiser: Motive und Verantwortungsbereiche

Ankommen

Schritt 6: Verschiedene Wege: Handlungsoptionen

Schritt 7: Der richtige Weg? Vorläufige Entscheidung und deren Überprüfung

Schritt 8: Wegentscheidung: Endgültige Entscheidung

Literaturverzeichnis

Bibelstellenregister

Namensregister

Geleitwort

»Mag sein, daß der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.« Dietrich Bonhoeffer1

Ethik lebt als Reflexion auf das Handeln unter der Differenz von Gut und Böse davon, dass wir uns in Freiheit verhalten können. Wenn wir keine Wahl hätten, wenn wir eine Alternative zum Bestehenden nicht einmal denken könnten, wäre Ethik sinnlos. Wenn unsere Handlungen keinerlei Wirkung hätten, wäre sie fruchtlos. Wären wir nicht im Stande, mit anderen zu kommunizieren – und sei es in Gedanken – wäre sie sprachlos. Wenn wir uns aber gemeinsam über das Gute und das Böse verständigen, dann ist dies auch dann, wenn wir Vergangenes bedenken, auf die freie und wirksame Gestaltung unserer Zukunft gerichtet.

Im Licht der Offenbarung Gottes in Jesus Christus betrachtet, bekommen diese Bestimmungen eine besondere Qualität, werden sie zuallererst gegründet und begründet: Gottes Gabe der Freiheit führt zu Freimut, die durch ihn gestiftete Gemeinschaft ermöglicht den Austausch, Gottes Verheißung ermutigt zum Handeln. Ist doch Jesu Predigt vom Reich Gottes kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen, sondern Aufforderung, diesem Reich entgegen zu leben (K. Barth). In diesem Sinne dürfte auch Dietrich Bonhoeffer die Arbeit für eine bessere Zukunft verstanden haben, und in diesem Geist steht auch die vorliegende Ethik zum Selberdenken.

Dass eine christliche Ethik zwingend eine solche sein muss, die zum Selberdenken ermutigt und anregt, ergibt sich schon aus den Befreiungserfahrungen, von denen die Bibel wieder und wieder erzählt. Weil es kein ›Geist der Knechtschaft‹ ist, der hier regiert, ist nicht nur am Sonntag der freie und vernünftige Gottesdienst gefragt, der nicht durch Furcht, sondern durch Einsicht motiviert ist, der alles vorurteilsfrei prüft, das Gute behält und sich auch öffentlich äußert. Freie Einsicht aber bedarf des immer wieder gewährten Zutrauens der Mündigkeit, mit dem auch Gott uns immer wieder würdigt. Deshalb kann die Ethik keine autoritativen Antworten bieten, sondern muss sich als orientierende Beratung verstehen, die zum Selberdenken anleitet und auch auf zunächst fremd scheinende Stimmen hört. Denn immer dann, wenn wir im Brustton der eigenen Selbstgewissheit oder des eigenen Besserwissens moralische Urteile über andere fällen, müssen wir uns fragen lassen, ob wir uns hier nicht eine Autorität anmaßen, die uns nicht zukommt: Gerade, weil wir nicht Gott sind, können und sollen wir einander in Freiheit beraten und zuhören.

Eine Ethik, die beratend und orientierend auf die Freiheit des Selberdenkens baut, die Gottes Verheißungen vertraut und Gottes Wegen zum Leben nachzuspüren sucht, kann keine Ethik sein, die am Bestehenden nur um des Herkommens oder gegebener Machtverhältnisse willen festhält: sie muss transformative Ethik sein. Das bedeutet freilich nicht, dass jede Veränderung gut wäre, aber es bedeutet, im Sinne Bonhoeffers für eine bessere Zukunft tätig zu sein: Und Herausforderungen gibt es wahrlich genug. Gut, dass diese Herausforderungen auch Chancen bieten: im öffentlichen Dialog mit anderen Religionen und Weltanschauungen können wir nicht nur über andere, sondern auch von anderen und über uns selbst lernen. In der Beteiligung an den zivilgesellschaftlichen Diskursen, die die öffentliche Theologie übt, können Einsichten des Glaubens gesellschaftlich fruchtbar werden und sich kritischen Anfragen stellen. In der Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Herausforderungen wie dem Klimawandel und einer Transformation zu ökologischer, ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit, die etwa ein allgemein zugängliches und gut ausgestattetes Gesundheitssystem einschließt, können wir dem Liebesgebot, das auch den Dienst an den fernsten Nächsten einschließt, entsprechen.

Das vorliegende Buch will ein Wegbegleiter sein, der seine Leserinnen und Leser orientiert, ohne sie zu bevormunden, der zu Diskussionen anregt, ohne zu polarisieren, der ethisch informiert, ohne zu erschlagen. Gerade dann, wenn er gleichsam zerlesen im Rucksack verstaut wird, damit auf der nächsten Etappe Platz für eigenes Denken und Wahrnehmen in neuen Horizonten ist, hat er seinen Zweck erfüllt: Das sei Autoren und Lesenden gewünscht.

Dr. Torsten Meireis, Professur für Ethik und Hermeneutik, Director: Berlin Institute for Public Theology, Humboldt-Universität zu Berlin

Endorsements

»Genau der ethische Entwurf, auf den ich mein Leben lang gewartet habe. Jenseits aller Schubladen, biblisch fundiert und vor unserer Zeit und Kultur verantwortet.«

Dr. Michael Diener, Mitglied im Rat der EKD, Kassel

»Die transformative Ethik von Thorsten Dietz und Tobias Faix will Wege zum Leben aufzeigen und zum Selberdenken anleiten. Beides gelingt den Autoren in äußerst anregender, allgemeinverständlicher und überzeugender Weise.«

Dr. Stefan Jäger, Dozent an der Evangelistenschule Johanneum, Wuppertal

»Einführung in eine Ethik zum Selberdenken! Dankbar und hoffnungsvoll, darf ich feststellen, dass dieser Anspruch mehr als gelungen ist. Thorsten Dietz und Tobias Faix gelingt es, bereits gedachten Gedanken Sprachfähigkeit zu verschaffen und neue Gedanken zu beflügeln. Große Empfehlung!«

Mira Ungewitter, Pastorin im Bund der Baptistengemeinden in Österreich, Wien

»Wie eine gute Landkarte hilft diese anschaulich und prägnant geschriebene Ethik, eigene Entscheidungen in Freiheit und Verantwortung zu treffen. Den Autoren gebührt höchste Anerkennung für ihre engagierten Anleitungen zum Selberdenken. Unbedingt empfehlenswert sowohl für die Arbeit in Hochschulen wie in Gemeinden.«

Prof. Dr. Traugott Jähnichen, Ruhr-Universität Bochum

» Thorsten Dietz und Tobias Faix zeigen die Komplexität ethischer Entscheidungen auf und schaffen es zugleich, konkret anzuleiten, wie zu einer eigenen Überzeugung gelangt werden kann.«

Johanna Weddigen, Leiterin der Gefängnisarbeit von Alpha Deutschland und Hochschuldozentin, Hamburg

»In meiner Arbeit als Gemeindepädagogin ist es mir ein besonderes Anliegen, junge Menschen in dem Bilden und Eintreten der eigenen Meinung zu begleiten und zu unterstützen. Die transformative Ethik von Thorsten Dietz und Tobias Faix hat mit dafür gutes Handwerkzeug vermittelt.«

Rebecca Aller, Gemeindepädagogin Niederhöchstadt

»Thorsten Dietz und Tobias Faix haben eine christliche Ethik vorgelegt, die Orientierung nicht nur für den gemeindlichen Binnenbereich, sondern auch für die außerkirchlichen Lebenswelten geben kann.«

Dr. Horst Afflerbach, evangelischer Theologe und Autor, Bergneustadt

»Wir erleben eine Zeit von Umbrüchen. Dazu passt die Frage nach einer tragfähigen Grundlage für das eigene und das gemeinsame Leben – und nach der Ethik, die wesentlich ›Krisenwissenschaft‹ ist. Dieses Projekt zum Selberdenken, das sich sowohl auf das akademische Gespräch und die Ausbildung als auch an die Gemeinde richtet, ist ein wichtiger Beitrag.«

Prof. Dr. Harald Jung, Internationale Hochschule Liebenzell

»Eine hervorragende Einführung in die methodischen und inhaltlichen Grundfragen einer biblisch-theologischen Ethik. Thorsten Dietz und Tobias Faix führen die Leser:innen kundig durch das spannungsvolle Terrain moralischer Konflikte und Begründungsmuster.«

Dr. Manuel Schmid, RefLab Zürich

»Als Karte, Wegweiser und Navigationshilfe für die Lebenswanderung in komplexen lädt dieses Werk dazu ein, die Zusammenschau von biblischen, geschichtlichen, philosophischen und empirischen Facetten zu trainieren.«

Prof. Dr. Andreas Rauhut, Theologisches Studienzentrum Berlin

»Eine Ethik in die aktuellen ethischen Diskurse hinein zu schreiben, ist zugleich notwendig wie mutig. Den Autoren gelingt es dabei, biblisch begründet, verständlich und gleichzeitig auf der Höhe der Zeit zu sein.«

Dr. Jochen Wagner, freikirchlicher Referent der ACK in Deutschland, Kirchberg

»Im Zeitalter der Fake News und der Informations-Sintflut hat genau das gefehlt: eine gründliche, aber eben auch gut lesbare Ethik für Ehren- und Hauptamtliche im CVJM und der Gemeinde.«

Michael Götz, Generalsekretär CVJM Bayern, Nürnberg

»Gesunder Glaube drängt zum Tun. Aber nicht zu einem stupiden Aktivismus anhand eines Regelkatalogs. Vielmehr geht es um Mitdenken und Mündigwerden, um Wahrnehmen und Wahrhaftigsein. Sehr gelungen.«

Jens Stangenberg, Pastor im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Bremen

1 Dietrich Bonhoeffer, Nach zehn Jahren, DBW 8, S. 19–39, hier: S. 36.

1/

Die Landkarte lesen:

Standortbestimmung und Wegerfahrungen

1.1 Ziel und Zweck dieser Ethik

Die meisten Menschen wollen vor allem eins: ein gutes Leben führen. Was aber ist gutes Leben? Geht es um gut im Sinne von angenehm, um ein gelingendes Leben? Oder geht es um gut im Sinne von richtig, moralisch geboten, auch wenn ich dafür einen hohen Preis bezahle? Wie verhalten sich diese beiden Verständnisweisen von »gut« zueinander? Welche Kriterien gibt es für gute Entscheidungen? Gerade in Zeiten, wo das Leben so unterschiedlich wahrgenommen wird. Denn das gute Leben hat individuelle und soziale Aspekte, einen Gegenwarts- und einen Zukunftshorizont. Was geschieht, wenn sich persönliches Glück und allgemeines Wohl nicht gleichzeitig verfolgen lassen? Wenn Freiheit und Bindung in Konflikt treten? Unterschiedliche moralische Entscheidungen führen in unserer Zeit immer wieder zu Spannungen und Polarisierungen. Egal, ob es um den Beginn des Lebens (Schwangerschaftsabbruch) oder das Ende (selbstbestimmtes Sterben) geht. Auch in den christlichen Kirchen und Gemeinden kommt es vielfach zu einem Wandel von theologisch-dogmatischen (wie Taufe, Abendmahl, Prädestination etc.) zu ethischen Auseinandersetzungen (Gender, Klimawandel, Homosexualität etc.). In christlichen Gemeinschaften gibt es aber nicht nur eine Polarisierung von moralischen Meinungen, sondern oftmals auch eine mangelnde Streit- und Diskussionskultur. Denn die Fragen, die gestellt werden, berühren wichtige Grundlagen des Glaubens und Lebens: Wie gewinnen wir Orientierung aus den Leitlinien der Bibel? Welche Rolle spielen Vernunft und Erfahrung? Welche Wege führen zu einem guten Leben?

1.1.1 Die besonderen Akzente unseres Ansatzes

In diese Situation hinein stellen wir unseren Ansatz »Transformative Ethik. Wege zum Leben« zur Diskussion. Damit wollen wir einen bestimmten Akzent setzen, den wir in der bisherigen Diskussion vermisst haben. Was unterscheidet unseren Ansatz von anderen? Dies wollen wir anhand der im Titel beschriebenen Zielsetzungen verdeutlichen:

Transformative Ethik: Wir verstehen und gebrauchen den Begriff Transformation in doppelter Weise: zum einen deskriptiv, als Beschreibung gesellschaftlicher und kultureller Transformationen (wie er in der Soziologie oder der Politikwissenschaft meist gebraucht wird); und zum anderen normativ, im Sinne erstrebenswerter Ziele und Güter (wie er in der Theologie oder Sozialen Arbeit gebraucht wird). Dabei gehörten die Gestaltung der Gesellschaft und die Veränderung der beteiligten Personen immer untrennbar zusammen. Eine ausführliche Beschäftigung mit dem Transformationsbegriff gibt es in Band 1 der IST-Reihe Handbuch Transformation – Ein Schlüssel zum Wandel in Gesellschaft und Kirche.1 Transformative Ethik soll helfen, Entscheidungen für das Leben zu treffen, wohl wissend, dass genau dabei oftmals moralische Konflikte entstehen und ethische Reflexionen nötig sind.Ethik zum Selberdenken: Dieses Buch soll helfen, ethische Entscheidungen selbstständig zu treffen. Es ist deshalb ein Grundlagen- oder Einführungsbuch in die Ethik und kein Anwendungsbuch für einzelne ethische Fragestellungen, auch wenn wir konkrete Probleme hin und wieder beispielhaft anführen. Wir wünschen uns, dass dieser Ansatz eine Ethik der Befähigung ist, der die Lesenden in ihrer Person, in ihrem Glauben und in ihrer Entscheidungsfähigkeit stärkt. Dabei ist uns bewusst, dass wir nicht neutral sind, sondern dass wir auch aus einer Biografie, kulturellen Prägung und Zielorientierung heraus schreiben. Aber genau dies versuchen wir zu reflektieren und im Laufe des Buches immer wieder offenzulegen, sodass es für die Lesenden nachvollziehbar und transparent wird. Ethik zum Leben: Wir glauben an einen Gott, der das Leben geschaffen hat, es liebt und fördert. In diesem Horizont wollen wir eine Ethik zu einem gelingenden Leben vorstellen. Uns ist dabei klar, dass es ganz unterschiedliche Vorstellungen von gelingendem oder gutem Leben gibt.2 Wir glauben dabei zunächst, dass Gott der Schöpfer und Erhalter des Lebens ist und deshalb alles Leben schützenswert ist. Leben existiert immer schon in Beziehung. Leben ist auf Wachstum und Austausch angelegt. Moralische Entscheidungen, die Menschen aus Tradition oder Gewohnheit bedrängen, abwerten oder exkludieren, sind zu hinterfragen. Dies bedeutet aber auch, dass Ethik immer eine verletzliche Ethik ist, vorsichtig und situationssensibel vorgeht und um die Brüchigkeit des (eigenen) Lebens weiß. Wir wollen in diesem Band einen Handlungsrahmen vorlegen, der die Herausforderungen des Lebens mit all seinen Möglichkeiten und Widrigkeiten des Alltags im Blick hat, um darauf aufbauend in den nächsten Jahren verschiedene Anwendungsbereiche genauer zu reflektieren (Band 2/2: Sexualethik; Band 2/3: Umweltethik).Biblische Ethik: In unserer geistlichen Tradition gehört die Bibel als Maßstab des Lebens selbstverständlich dazu und spielt deshalb auch in diesem Entwurf eine zentrale Rolle. Die Suche nach dem richtigen Weg ist in allen Bereichen des Alten Testaments zentral:3 in der Tora (Dtn 30,15), bei den Propheten (Am 5,6; Hes 18,31) wie in der Weisheitstradition (Spr 2,19; 5,6; 6,23). Auch im Neuen Testament spielt die Frage nach dem Weg und dem Ziel des guten Lebens eine wesentliche Rolle. Für die frühen Christ:innen war es eine der ersten Bezeichnungen, sie als »Anhänger dieses Weges« (Apg 9,2) zu benennen. Das Ziel dieses Weges ist abermals: »dass sie Leben und volle Genüge haben« (Joh 10,10). Denn »das Leben ist erschienen« (1Joh 1,2), und sich auf dieses Leben einzulassen, bedeutet das ewige Leben (Joh 17,3). Weil biblische Ethik einem solchen Wegcharakter des Lebens verpflichtet ist, halten wir einen ungeschichtlichen Biblizismus für gleichermaßen problematisch wie eine christliche Bibelvergessenheit. Die Bibel ist keine einfache Gebrauchsanweisung für das Leben. Wir müssen uns die Mühe machen zu erklären, warum wir welche Texte wie auslegen und sie für moralische Entscheidungen hilfreich finden. Auf der anderen Seite lässt sich eine christliche Ethik nicht ohne beständige Auseinandersetzung mit der Bibel in der Auslegungsgemeinschaft der Gläubigen formulieren. Dabei sind wir im steten Gespräch mit bisherigen christlichen Ethiken und Auslegungen der Bibel.

Diese vier Zielsetzungen bilden eine Grundlage, die uns in Aufbau, Logik und Umsetzung des Buches begleitet haben.

1.1.2 Inhalt und Aufbau des Buches

In der Einleitung nehmen wir das große Bild von der Suche des Wandernden nach dem richtigen Weg auf, welches uns durch das Buch begleiten wird. Dieses Kapitel ist für uns, aber auch für die Lesenden besonders wichtig, da es die Grundlogik unserer gemeinsamen Wanderung und Suche nach Wegen zum Leben beschreibt. In Kapitel 2 »Das Gebiet erkunden: Ethik und Transformation« starten wir mit ersten Orientierungsfragen in den Polarisierungen der Spätmoderne und den dadurch aufkommenden moralischen Konflikten. Danach beschreiben wir, was wir von einer Ethik der Transformation erwarten. In Kapitel 3 »Ethik und Kultur« geht es dann um ethische Prinzipien im kulturellen Wandel, vom Verständnis und Gebrauch der Bibel bei ethischen Fragen über die Grundlagen ethischer Methoden (Prinzipienethik, Situationsethik, Verantwortungsethik) bis zu Formen der Ethik (Pflichten-, Güter-, Tugendethik). In Kapitel 4 »Bibel und Ethik« legen wir unsere biblisch-theologische Zielrichtung in der großen Story Gottes offen und arbeiten für eine Ethik zentrale Quellen aus AT (Exodus, Tora, Schalom) und NT (Reich Gottes, bessere Gerechtigkeit Jesu) heraus, um daraus eine Hierarchie biblischer Normen zu bilden, die verschiedene Ebenen ethischer Urteilsbildung aufzeigen. In Kapitel 5 ziehen wir die Konsequenzen aus dieser biblisch-theologischen Zielstellung und fragen, wie sie jetzt konkret für ethische Entscheidungen zu nutzen sind. In den Kapiteln 6 bis 8 beschreiben wir die Wegweiser einer transformativen Ethik: Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit, jeweils mit ihrer biblischen Begründung und der geschichtlichen Verortung. Diese bringen wir in Verbindung mit bewährten sowie aktuellen ethischen Ansätzen, um so Kriterien einer transformativen Ethik herauszuarbeiten. In Kapitel 9 münden die bisherigen Ausführungen in ein Gesamtergebnis unserer Ethik zum Selberdenken, indem wir in unserem Modell drei Etappen (Losgehen, Orientieren und Ankommen) mit insgesamt acht Schritten formulieren, die mit konkreten Fragestellungen für eine gute ethische Entscheidung gefüllt sind. Am Ende jedes Kapitels finden sich Beispielfälle und Übungs- und Vertiefungsfragen zum Selberdenken. Diese sind dann auch eine Art Doppelpunkt für die weiteren Anwendungsbände ethischer Fragestellungen, die in den nächsten Jahren erscheinen werden.

1.2 Karte und Gebiet: Eine Erkundung

1.2.1 Auf der Suche nach dem richtigen Weg

Und während sie darüber diskutieren, merken sie, wie die eigene Vergangenheit die Gegenwart beeinflusst.

Die aufgeschlagene Karte liegt auf den Knien und beide Wanderer schauen kritisch hinein. Sie suchen nach dem besten Weg, um das angepeilte Ziel gut und sicher zu erreichen. Dabei ist der Blick nach vorne gerichtet, klar, denn die beiden wollen möglichst unversehrt ankommen. Aber obwohl sie das gleiche Ziel vor Augen haben, gibt es Streitigkeiten über den richtigen Weg. Das hat gleich mehrere Gründe. Während der eine Wanderer jahrelange Wandererfahrung mitbringt und den kürzesten, aber auch gefährlicheren Weg wählen will, ist der andere, eher ungeübte Wanderer, vorsichtig, möchte lieber den längeren, aber sichereren Weg auswählen. Und während sie darüber diskutieren, merken sie, wie die eigene Vergangenheit die Gegenwart beeinflusst. Auch das Studium der Karte führt zu unterschiedlichen Interpretationen. Denn manche der abgebildeten Zeichen sind auf der erklärenden Agenda nur notdürftig erläutert. Zudem ist die Wanderkarte schon älter und manche der vor ihnen liegenden Wanderwege sind offensichtlich auf der Karte nicht vorhanden. Umgekehrt sind manche Wanderwege auf der Karte zwar eingezeichnet, aber diese scheint es im vor ihnen liegenden Gebiet nicht mehr zu geben. Der eine Wanderer studiert weiter die Karte, weil er sich hier die maßgebliche Orientierung erhofft; haben die Karten doch über Jahrhunderte den Menschen Orientierung gegeben. Der andere Wanderer beginnt hingegen zu zweifeln, an welcher der verzeichneten Weggabelungen sie sich wirklich befinden. Er holt einen Kompass heraus, vergleicht die Umgebung und die Karte und versucht neu, mithilfe der Karte, herauszufinden, wo sie gerade sind und in welcher Richtung das Ziel liegen müsste.

Die moralischen Konflikte der Gegenwart haben immer mehr Sprengkraft. Die Grenzen zwischen dem eigenen Leben und den Einflüssen der globalen Welt verschwimmen zunehmend.

Uns ging es während der letzten Jahre beim Schreiben dieser Ethik ganz ähnlich wie diesen beiden Wanderern. Wir fühlten uns wie auf einer großen Wanderung mit dem Ziel, eine Ethik für die gegenwärtige Situation zu schreiben. Und wie bei allen moralischen Konflikten gibt es nicht den einfachen und kurzen und sicheren Weg ohne Anstrengung. Es gilt, manche Hürde zu nehmen, manche Ungewissheit auszuhalten und bisweilen nach neuen Wegen zu suchen.Das Gebiet, in dem wir uns gerade befinden, ist kein leichtes Gelände. Die Welt um uns herum zerbricht zunehmend in moralische Kulturkämpfe, in denen Moral teilweise als Waffe gebraucht wird, um andere abzuwerten oder auszugrenzen. Die moralischen Konflikte der Gegenwart haben immer mehr Sprengkraft. Die Grenzen zwischen dem eigenen Leben und den Einflüssen der globalen Welt verschwimmen zunehmend. Zu schnell scheint die fluide Moderne vieles, was bisher sicher und klar war, infrage zu stellen: Berufsbilder und Arbeitsformen, Geschlechterrollen und Familienbilder, religiöse und politische Zugehörigkeiten etc. Wer bin ich? Und bin ich nur das, was ich selbst gewählt habe? Oder was andere mir vor- und zuschreiben? Wie kann ich das eine vom anderen unterscheiden?

1.2.2 Einen Weg zum Selberfinden – eine Ethik zum Selberdenken

Bei unserer Suche nach Orientierung haben wir vor allem an einem dicken und bewährten Wanderatlas Maß genommen, der Bibel. Für uns ist sie das zentrale und vertrauenswürdige Buch unserer Lebensreise. Dies hat mit unserer Erfahrung mit diesem »Wanderatlas« zu tun. Er hat uns in unserer Biografie immer wieder gute und sichere Wege in unserem Leben gezeigt und geführt. Dabei geht es uns wie den beiden Wanderern, die die Karte ganz unterschiedlich lesen gelernt und auch sehr unterschiedliche Wege ausprobiert und gefunden haben.

Vielfach kennen wir beide die Erfahrung, dass man manche Wege aus dem Wanderatlas Bibel nicht mehr in der eigenen Wirklichkeit findet, während sich gleichzeitig neue Wege und Möglichkeiten auftun, die wiederum in der Bibel nicht zu finden sind. Jetzt legen wir diesen Entwurf einer Ethik zum Selberdenken vor, der Christ:innen helfen soll, in dieser immer unübersichtlicher werdenden Zeit richtige Entscheidungen zu treffen und einen richtigen Weg zu nehmen, der zu einem guten Leben in der Gemeinschaft mit Gott und den Menschen führt. Aber was ist ein gutes Leben? Was sind die Kriterien für gute und moralische Entscheidungen? Ethische Entscheidungen markieren zum einen immer die Freiheit, die wir haben, und zum anderen die Grenzen dieser Freiheit. Welche ethischen Leitlinien stiften Orientierung? Was sind nur aktuelle Moden, was traditionelle Konzepte, die tragen?

Das Ziel ist eine eigenständige ethische Urteilsfähigkeit.

Wir verstehen Ethik als Reflexion von Moral und moralischem Handeln. Solche Reflexionen schaffen Abstand zu konfliktorientierter Kulturkampfrhetorik. Wir brauchen Ethik, um überhaupt wieder miteinander über unsere moralischen Intuitionen sprachfähig zu werden, weil die Unterscheidung von Reflexion und konkreter normativer Auffassung die Freiheit zur Reflexion und Auseinandersetzung bewahrt, auch wenn die Reflektierenden selbst moralische Prinzipien haben, die ihre Reflexion ihrerseits anleiten. Ohne Ethik gibt es keinen Dialog. Nur durch Ethik werden wir fähig, zwischen die Konfliktlinien zu gehen und jeweils das kommunikative und selbstreflexive Element zu fördern. Das Ziel ist eine eigenständige ethische Urteilsfähigkeit. Damit verbunden ist auch eine Ambiguitätstoleranz gegenüber anderen Weltauffassungen und Werten. Ethik führt nicht immer zu Einigkeit. Aber sie kann Verständnis trotz unterschiedlicher Einschätzungen fördern und zu einer versöhnten Verschiedenheit führen. Wesentlich ist dabei die Anregung, zum eigenen ethischen Urteil mitten in den Streitfragen unserer Zeit zu bekommen. Dabei sollen jeweils verschiedene Perspektiven eine faire Darstellung finden.

Deshalb reden wir von einer transformativen Ethik, weil wir glauben, dass es nicht nur um die Veränderungen unserer Routen durch das Gebiet oder auch des Gebiets selbst geht, sondern dass uns die Beschäftigung mit ethischen Entscheidungen selbst verändert.

Eine Besonderheit unseres Ansatzes ist, dass ein Schwerpunkt auf die Thematik Bibel und Hermeneutik gelegt wird. Die Bibel ist, aus nachvollziehbaren Gründen, gerade im christlichen Kontext oftmals ein Gegenstand von Auslegungskämpfen, in denen um Deutungsmacht gerungen wird. Dabei spielt sie als zentraler Orientierungspunkt eine wichtige Rolle auf der Suche nach dem richtigen Weg.

Der Weg der Wanderer führt nicht nur durch ein Gebiet, das sich verändert hat. Er verändert die Wanderer auch selbst. All ihre Erfahrungen, die guten genauso wie die schlechten, hinterlassen ihre Spuren, denn jede erfolgreiche Zielankunft stärkt, jeder Umweg, jede Gefahr, die man erlebt, prägen einen. Deshalb reden wir von einer transformativen Ethik, weil wir glauben, dass es nicht nur um die Veränderungen unserer Routen durch das Gebiet oder auch des Gebiets selbst geht, sondern dass uns die Beschäftigung mit ethischen Entscheidungen selbst verändert. Ethik, die verändert. So könnten wir es in Kürze ausdrücken, denn wir glauben, dass hinter dem großen Wanderatlas ein großer Gott steht, der uns als Wanderer sieht und durch alle, auch eigene, Veränderungen mitgeht.

1.3 Gebietsstudie und die Notwendigkeit neuer Wege

Wie gut kenne ich das Gebiet, in dem ich mich bewege? Wo stehe ich? Und welche Erfahrungen habe ich mit bisherigen Wanderungen gemacht? Keine Frage, unsere Erfahrungen in der Vergangenheit bestimmen unsere Gegenwart. Und das gilt auch für die Orientierung in verschiedenen Landschaften. Wie viel Erfahrung habe ich in der Wüste, in der Stadt oder im Wald? Das spielt für die Orientierung und manchmal sogar für das Überleben eine wichtige Rolle. Deshalb ist für jede ethische Entscheidung die Kenntnis des jeweiligen Gebiets dringend notwendig. Wir müssen die Kultur, in der wir leben, und durch die wir wandern, kennen- und verstehen lernen. Der Theologe Miroslav Volf stellte dazu sehr treffend fest:

»Die Unterscheidung von einer Kultur darf nie in eine einfache Flucht von dieser Kultur degenerieren. Vielmehr bedeutet es, als Fremdling und Pilger einen Lebensstil in einer Kultur und für eine Kultur zu leben. Im biblischen Sprachgebrauch ist das Reich Gottes nicht von dieser Welt, aber in dieser Welt und für diese Welt. Distanz muss Zugehörigkeit beinhalten, als auch Zugehörigkeit Distanz beinhaltet.«4

Wir wollen jetzt einen ersten groben Blick in die großen gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen wagen, in Kapitel 2 werden wir die Frage der Gebietskunde gründlicher erörtern.

1.3.1 Wenn die Karte den Weg nicht mehr zeigt

Zunächst soll es um einen Überblick gehen, der die kulturelle Entwicklung unserer Karte aufzeigt, um uns dann zu fragen, was dies für unser Denken, Handeln und unseren Glauben zu bedeuten hat. Wenn wir die letzten Jahrhunderte, die Geschichte der Spätmoderne und die großen gesellschaftlichen Transformationen in einem Bild erfassen wollen, greifen wir zurück auf die Beschreibung von »Paradigmenwechsel« durch den Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn. Mit diesem Konzept kann man die fundamentalen gesellschaftlichen Transformationsprozesse beschreiben, die eine ganze Epoche verändert und geprägt haben.5 Als Beispiel nannte Kuhn die kopernikanische Wende vom geozentrischen hin zum heliozentrischen Weltbild oder auch die Erfindung der Dampfmaschinen im Kontext der Industrialisierung, die eine umfassende Veränderung der Welt zur Folge hatte, von einer agrargeprägten Arbeitsweise hin zu einer Industrialisierung, von einer dörflichen Lebensstruktur hin zu einer Verstädterung, von der Großfamilie hin zur Kernfamilie. Und dabei haben sich auch Kirchen und kirchliche Strukturen verändert, so sind beispielsweise neue kirchliche Felder wie die Diakonie oder die Jugendarbeit entstanden. Der momentane Wandel fegt wie ein großer Wirbelsturm über die Erde und verändert durch Globalisierung, Digitalisierung und Individualisierung die Lebensfragen von uns Menschen maßgeblich. Und zwar im Denken, Arbeiten, Glauben. Es geht also darum, wie wir das Leben überhaupt verstehen.

Der momentane Wandel fegt wie ein großer Wirbelsturm über die Erde und verändert durch Globalisierung, Digitalisierung und Individualisierung die Lebensfragen von uns Menschen maßgeblich.

Die Folgen des Sturms sind gravierend und zeigen sich plastisch im folgenden Bild: Eine Brücke steht in der Mitte des Bildes, neben der Brücke fließt ein Fluss. Was ist passiert? Ein Sturm hat den Flusslauf verändert, die Brücke ist aber stehen geblieben und steht nun neben dem Fluss. Der Fluss symbolisiert dabei die Lebenssituation der Menschen, die in der Herausforderung stehen, sich in den großen Transformationsprozessen zu orientieren, Antworten auf die Fragen des Lebens, der Lebensgestaltung und der Sinnorientierung zu bekommen. Die Brücken, die wir uns über manche früheren Lebensfragen mühsam gebaut haben, führen nicht mehr ans Ziel. Dies bedeutet aber auch, dass die Brücke nicht mehr ihren eigentlichen Zweck erfüllt. Die Frage ist: Verhält es sich mit vielen überkommenen Formen der Ethik nicht genauso? Sie passen nicht mehr in die Landschaft. Sie führen nicht mehr ans Ziel, weil die Welt sich radikal verändert hat. Aber dies bedeutet nicht automatisch, dass alle Brücken nicht mehr ans Ziel führen, sondern dass wir die unterschiedlichen Brücken auf ihre Ziele überprüfen müssen: Führen sie noch über den Fluss?

1.3.2 Neue Brücken für neue Wege

Der Sturm6 der Transformation hat viel verändert. Wir befinden uns in einem tiefgreifenden und fortgesetzten Prozess der Spätmoderne, der sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend beschleunigt hat. Wir erleben dabei eine Überlagerung von Transformationsprozessen, die sich in globalen Phänomenen zeigt.

Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: Menschen haben neue Fragen angesichts der fortschreitenden Digitalisierung. Sie müssen um neue Antworten ringen, denn in der Geschichte gibt es keine oder wenig Erfahrungen mit neuen Prozessen der Digitalisierung wie dem autonomen Fahren, den Folgen des von Algorithmen gesteuerten Kaufverhaltens oder der Frage nach dem Wert und dem Besitz unserer eigenen Daten. Auch ein Blick auf die Geschichte der Bibelauslegung bringt uns zunächst nicht viel, weil wir weder im Alten noch im Neuen Testament etwas zur Digitalisierung finden. Dies heißt, dass wir uns neu orientieren müssen, uns zum einen fragen, wie die »Gegend der Digitalisierung« beschaffen ist und wie wir sie möglichst gut verstehen können, und zum anderen, welche Orientierungen wir in der Bibel finden. Zwar sagt die Bibel nichts über Algorithmen oder autonomes Fahren, aber sehr wohl über Gerechtigkeit, Nächstenliebe oder Freiheit. Auf die Bedeutung dieser drei Orientierungshilfen werden wir im zweiten Teil des Buches ausführlicher zu sprechen kommen.

Neben dem Gebiet, in dem wir uns befinden, sind die Erfahrungen, die wir auf unserer Lebenswanderung bisher gemacht haben von großer Bedeutung.

1.4 Unsere kulturellen Weltbilder und die Grammatik unseres Lebens

Die Erfahrung und die Kenntnis der Kultur, in der wir leben, entscheidet mit darüber, wer wir sind und für wen uns andere halten. Warum denke, glaube und lebe ich so, wie ich es tue? Dies ist eine der zentralen Fragen, wenn es um die subjektive Wirklichkeitsdeutung des eigenen Lebens bis hin zur Deutung des eigenen Weltverständnisses geht. Deshalb soll jetzt eine Standortbestimmung folgen. Wo stehe ich in meiner Wanderung? Wie haben mich die bisherigen Wege geprägt und zu der Person gemacht, die ich heute bin? Denn jeder Mensch wird in eine bestimmte Kultur und Zeit hineingeboren und in ihr erzogen.

1.4.1 Kultur: Die Grammatik unseres Lebens

Manche Wertbindungen werden existenziell wichtig, so wichtig, dass sie scheinbar unveränderbar sind und eine unüberwindbare Grenze zwischen Menschen ziehen.

Der Soziologe Rolf Eickelpasch bezeichnet die kulturelle Prägung unseres Alltags als »Grammatik des Denkens, Fühlens und Handelns«7, die uns fast unsichtbar einen Katalog von Spielregeln und Verhaltensmustern diktiert, die uns als Menschen helfen, in unserem Dasein Orientierung und Sicherheit zu finden. Dazu gehören unsere Kultur, Zeit, Land, Stadt, eine eher schuld- oder eher schamorientierte Kultur, die jeweiligen Moralvorstellungen der Kultur, das politische System (Wirtschaft, Verfassung, Religionsfreiheit etc.), die Sprache als kommunikativer Ausdruck der jeweiligen Kultur (inklusive der Symbole), das Bildungssystem und das über Jahrhunderte geprägte Wissen, Denken und Erkennen, die Stellung des Geschlechts in der jeweiligen Kultur, die familiäre Prägung sowie die Verortung in einem bestimmten Milieu, außerdem die eigene Persönlichkeit und die persönlichen Erfahrungen, die Menschen machen. Das macht jeden Menschen so einzigartig und beschert uns eine große und reichhaltige Vielfalt an Persönlichkeiten, unterschiedlichsten Weltdeutungen und kulturellen Lebensformen. Aber gleichzeitig entstehen auch zunehmende Spannungen bzw. Polarisierung zwischen gegensätzlichen Überzeugungen und moralischen Wertvorstellungen. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn wir uns in Zeiten der gesellschaftlichen Veränderungen befinden, wie wir sie eingangs beschrieben haben, und die Brücken nicht mehr über die Flüsse führen, weil diese sich verschoben haben. Während manche Menschen zum Beispiel eher kritisch auf Fortschritt und Neuerungen blicken und neue Brücken eher skeptisch ablehnen, schauen andere voller Optimismus auf jede neue »Brücke«, die über verschobene Flüsse in unbekannte Gebiete führt. Dies hat zur Folge, dass in dieser Spannung manche Wertbindungen existenziell wichtig werden, so wichtig, dass sie scheinbar unveränderbar sind und eine unüberwindbare Grenze zwischen Menschen ziehen.

Wie erleben wir als Mensch die Welt um uns herum und in welcher Beziehung stehen wir zu ihr? Diese Frage halten wir für sehr wichtig, denn wir glauben, dass viele Konflikte, auch und gerade in christlichen Kreisen, schnell der Bibel oder der Theologie zugeordnet werden, aber vielleicht viel tiefer liegen, nämlich in dem, was uns kulturell und theologisch geprägt hat. Welches Weltbild und welches Bibelverständnis steuern unser Denken und unseren Glauben? Es ist wichtig, diese Prägungen zu reflektieren und für sich und andere offenzulegen. Dies ist für ethische Entscheidungen ein zentraler Schritt, sowohl für sich selbst als auch für die Lösung der Konfliktsituation. Dazu sehen wir uns nun die kulturellen Weltbilder unseres Lebens an, um uns und andere besser zu verstehen.

1.4.2 Weltbeziehung: Wie ich die Welt um mich herum erlebe

Eine permanente Beschleunigung lässt uns die Welt, die sich plötzlich schnell verändert, immer fremder erscheinen.

Blieben in den vorigen Jahrhunderten die sozialen Beziehungen und die darauf abgestimmten Identitäten über einen Lebensabschnitt recht konstant, so erleben wir in den letzten Jahrzehnten eine enorme Beschleunigung und Veränderung des eigenen Umfelds. Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt die Steigerungslogik der Moderne im Anschluss an Max Weber kritisch, die uns in eine permanente Beschleunigung führt und uns die Welt, die sich plötzlich schnell verändert, immer fremder erscheinen lässt. Die verschiedenen Reaktionen auf die Wirklichkeit können einerseits mithilfe von Weltbejahung und Weltverneinung und andererseits durch das passive oder aktive Weltverhältnis beschrieben werden. Jeder Mensch erlebt also auf der einen Seite entweder eine grundsätzliche Weltbejahung (eher eine optimistische Sicht auf die Welt) oder Weltverneinung (eher eine pessimistische Sicht auf die Welt) in seiner Entwicklung. Und auf der anderen Seite aktive oder passive Annahmen, ob die Welt, wie wir sie erleben, veränderbar ist (konkret die eigene Situation, in der man steht). Man könnte auch sagen, dass diese Menschen glauben, dass sie die Welt zu einem besseren Ort machen können (durch Bildung, Erziehung, Schöpfungserhalt etc.), während die Menschen, die ein passives Weltverhältnis haben, dies eher kritisch sehen oder sogar ablehnen würden (weil die Welt sowieso nicht mehr zu retten ist).8 Die meisten Menschen haben zumindest eine Neigung in eine der Richtungen und können sich auch selbst ganz gut in eines der vier folgenden Felder einordnen, wohl wissend, dass sich viele auch nicht ausschließlich in ein »Feld« einordnen würden.

Abbildung 1:

Aktives Weltverhältnis

(Können die Welt verändern)

Passives Weltverhältnis

(Können die Welt nur aushalten)

Weltbejahung

(positives Weltbild)

Weltgestaltung

Weltbetrachtung

Weltverneinung

(negatives Weltbild)

Weltbeherrschung

Weltflucht

Diese vier Ausprägungen stellen dabei jeweils eine Art Grundhaltung dar, wie wir auf das Erleben unseres Alltags reagieren, wie wir die momentanen Veränderungsprozesse erleben, wie wir Konflikte wahrnehmen und austragen und was wir dabei wichtig oder eben unwichtig finden. Ob wir gelingende und misslingende Weltbeziehungen erleben, hängt maßgeblich davon ab, auf welche Weise die Welt passiv erfahren oder aktiv angeeignet werden kann.9 Dabei gilt, dass es zunächst nicht eine bessere oder schlechtere Weltbeziehung gibt, im Gegenteil, alle vier Ausprägungen haben ihre Vor- und Nachteile, können Resonanzen hervorbringen oder das Leben verstummen lassen. Dabei sind die Übergänge fließend und können sich im Laufe des Lebens verändern, und auch die Kontexte verändern eine mögliche Bewertung. Eine Weltbejahung kann in einem demokratischen Land anders aussehen als in einer Diktatur, ähnlich ist es mit der Weltverneinung. Ein aktives Weltverhältnis kann die Welt um uns verbessern, Aktivismus kann uns blind gegenüber dem Unverfügbaren machen, Weltverneinung in einen Kulturpessimismus führen.

Abbildung 2: Die möglichen Gefahren und Einseitigkeiten

 

Aktives Weltverhältnis

(Können die Welt verändern)

Passives Weltverhältnis

(Können die Welt nur aushalten)

Weltbejahung

(positives Weltbild)

Verweltlichung

Irrelevanz

Weltverneinung

(negatives Weltbild)

Triumphalismus

Weltflucht

Moral stiftet heute vielfach eine Sprache, mit deren Hilfe Weltbildkonflikte ausgetragen werden.

Moral stiftet heute vielfach eine Sprache, mit deren Hilfe Weltbildkonflikte ausgetragen werden. Dabei laufen immer mehr Konfliktlinien zwischen den Kategorien wie »Liberalen« und »Konservativen«, »Islam« und »säkularer Staat«, »Links« und »Rechts« etc. In den Identitätskämpfen der Gegenwart wird moralische Sprache vielfach missbraucht zur Bekämpfung der anderen Seite auch auf ideeller Ebene. Dabei liegt der Fokus auf der Bekämpfung des anderen und die eigene Selbstwirksamkeit geht mehr und mehr verloren. Uns ist es wichtig, dass wir hinter diese Konfliktfelder schauen und fragen, was denn die Ursachen und Entwicklungen sind.

Diese dichten kulturellen Erfahrungen des Menschen, seine subjektive Weltbeziehung, haben unmittelbare Folgen für das eigene Denken, Glauben und Verstehen. Diesen Zusammenhang versuchen wir in den Begriff Weltbild zu fassen. Die Rede über unser Weltbild ist immer auch selbst Ausdruck eines eigenen spezifischen Weltbildes, das uns sagt, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen. Dieses ist so tief in uns verankert und so selbstverständlich für uns, dass wir es uns kaum anders vorstellen können. Mein Weltbild beschreibt dabei meine Grundbeziehung zur Welt: Wie nehme ich die Dinge um mich herum wahr? Was ärgert mich? Was motiviert mich? Meine Wertungen, an denen ich mich orientiere, sind alles andere als identitätsneutral, sondern bestimmen mein Leben und die Frage: »Wer bin ich?« ist dabei untrennbar mit der Frage: »Wer ist mein:e Nächste:r?« verbunden.

1.5 Kognitive Landkarten und die Frage nach Identität und Glauben

1.5.1 Identität und Haltung: Den inneren Kompass ausrichten

Aus christlich-jüdischer Perspektive gehört es zur Identität des Menschen, dass seine Eigenverantwortlichkeit und Freiheit in der Gottesbeziehung begründet sind. Identität ist kein statisches Konzept, sondern entsteht in der Dynamik der Beziehungen und Handlungen des Menschen gegenüber Gott, den Nächsten, sich selbst und der Natur – wobei besonders der Begegnung mit der oder dem Nächsten eine entscheidende Rolle zukommt.

Die menschliche Identität ist also geprägt von Lern- und Umlernprozessen und somit immer eine narrative Identität, die in immer neuen Selbstdeutungen konstituiert wird.

Kaum jemand hat über unser Selbst ausführlicher und prägnanter geschrieben als der Philosoph Charles Taylor, der die relationale Verfasstheit des Menschen in den verschiedenen Gesellschafts- und Bindungszusammenhängen beschrieben hat. Folgen wir Taylors Annahmen, so ist unser Selbst tief kulturell verwoben in einen moralischen Raum, in dem das, was wir sind, durch starke Wertungen und attraktive Güter bestimmt ist.10 Die menschliche Identität ist also geprägt von Lern- und Umlernprozessen und somit immer eine narrative Identität, die in immer neuen Selbstdeutungen konstituiert wird. Dies scheint besonders bei der hier angesprochenen Thematik von Wichtigkeit zu sein, denn die Frage nach dem guten Leben beeinflusst auch unser eigenes Selbst, welches auf instrumentellen, kognitiven und sozialen Lernprozessen beruht. Die Frage nach dem Selbstkonzept und den Gestaltungsmöglichkeiten in der analogen und der digitalen Welt spielt aufgrund steigender Darstellungsmöglichkeiten eine wesentliche Rolle. Die Konsequenz daraus ist, dass es eine Art selbstgeschaffenen Zwang gibt, sich selbst in ständig neuer Weise zu präsentieren. Klassische Institutionen wie Kirchen, Parteien, Gewerkschaften oder Vereine und die von ihnen angebotenen kollektiven Identitäten verlieren an Binde- und Prägekraft. Familien bestimmen Lebensentwürfe nicht mehr so stark wie früher.

Schauen wir unseren Glauben genauer an, dann stellen wir fest, dass er auch von den Erfahrungen unseres bisherigen Lebens geprägt ist, und wir darum die Welt um uns herum ganz unterschiedlich sehen. Und dies nicht nur, wenn wir aus unterschiedlichen Kulturen und Kontinenten kommen, sondern zunehmend auch in den politischen und religiösen Wahrnehmungen der Gegenwart.

Haltung: Die Entwicklung des inneren Kompasses

Wir glauben, dass gute ethische Entscheidungen nicht nur eine Sache der Orientierung und des Wissens sind. Es reicht weder, nur eigene Interessen zu vertreten, noch möglichst objektiv Sachfragen zu erörtern, denn die Person, die Entscheidungen treffen muss, ist selbst ein Teil der Entscheidung. Ethische Urteile müssen aus einer selbstreflektierten Haltung heraus getroffen werden. Was meinen wir mit Haltung? Die Medizinethikerin Christiane Woopen definiert den Begriff so:

»Eine Haltung zu haben, bedeutet für mich, aus einer Grundüberzeugung heraus zu handeln, die die ganze Person umfasst, also ihren Körper, ihren Geist und ihre Gefühle. Eine Haltung besteht nicht aus einer konkreten Regel wie ›Du sollst nicht töten‹, sie ist vielmehr eine Handlungsdisposition, die sich im Laufe des Lebens und Erlebens einer Person, also im individuellen Lebensvollzug, entwickelt. Die Grundüberzeugung lautet dann zum Beispiel, dass Leben etwas äußerst Wertvolles ist. Und das führt dann zur Handlungsdisposition, Leben zu schützen und zu bewahren, ohne vorher darüber jetzt eigens nachzudenken.«11

Eine Grundeinstellung sollte dabei eine lebensbejahende, entwicklungsfördernde und freiheitsunterstützende Haltung sein, deren Ziel tragfähige Beziehungen zu sich selbst, den Nächst­en, der Umwelt und Gott ist.

Eine innere Haltung setzt sich aus eigenen Werten, Erfahrungen, Wissen und (Glaubens-)Überzeugungen zusammen und ist in der Lage, eine situationsspezifische Sensibilität für andere und ihre Möglichkeiten, Bedürfnisse und Fähigkeiten aufzubauen. Eine Grundeinstellung sollte dabei eine lebensbejahende, entwicklungsfördernde und freiheitsunterstützende Haltung sein, deren Ziel tragfähige Beziehungen zu sich selbst, den Nächsten, der Umwelt und Gott ist. Diese Haltung beinhaltet, dass ich mich selbst korrigieren lasse, lernfähig bin und gleichzeitig, dass ich meine Meinung klar und transparent anderen mitteilen kann und so fähig bin, mich mit anderen auseinanderzusetzen. Haltung bedeutet also, dass ich Verantwortung für mein eigenes Handeln übernehme und die Konsequenzen meines Handelns gegenüber anderen versuche mitzudenken. Eine solche Haltung ist dann wie ein innerer Kompass und gibt mir die Stabilität, die für ein gutes eigenes Urteilen und Handeln nötig ist. Dieser Kompass muss ständig neu ausgerichtet werden. Dafür braucht es zur Reflexion der eigenen Meinung immer wieder Ausrichtungen an fachlichen Grundlagen und biblischen Orientierungen, wie wir sie in unserem Entwurf entfalten wollen. Genauso ist dazu eine Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie nötig, mit dem, was mich kulturell und familiär geprägt hat.

Julius Kuhl, Christina Schwer und Claudia Solzbacher erläutern drei Merkmale/Fragen, die die Entwicklung der eigenen inneren Haltung beschreiben:12

Die persönliche Standfestigkeit und Kohärenz bei eigenen Entscheidungen überprüfen und die persönlichen Werte, Bedürfnisse und Fähigkeiten (eigene und fremde) dabei berücksichtigen. Es besteht immer wieder die Gefahr, bei Entscheidungen an sich und anderen vorbeizuentscheiden. Die eigenen (und fremden) Gefühle, Bedürfnisse und Körperwahrnehmungen in die Entscheidung integrieren und so wahrnehmen. Was macht die Entscheidung mit mir? Welche Reaktionen löst sie aus? Eine Person mit einer gut entwickelten Haltung ideologisiert nicht, sondern macht dem Gegenüber klar und nachvollziehbar, was sie fühlt und sagt. Welche Form von Aufmerksamkeit und Anerkennung brauche ich? Wo werde ich in meinen Entscheidungen beeinflusst, weil ich im Hintergrund des Bewusstseins gelenkt bin? Wie kann ich eine Kohärenz zwischen meinem Sein und meinem Tun, meinen Emotionen und meinem Verstand für mich offenlegen?

Uns ist dabei bewusst, dass die eigene Haltung sich im Laufe des Lebens verändert und entwickelt und mit Erfahrungen, Intellekt, Persönlichkeit und Glaubensreife in einem engen Bezug steht. Darüber hinaus sind uns gerade im moralischen Konflikt zwei Dinge wichtig: Zum einen eine Haltung der Demut, die mir klarmacht, dass all mein Wissen Stückwerk und dass Gott immer noch größer ist, und dass ich mich in einem Vorletzten befinde und das letzte Wort noch nicht gesprochen wurde; und zum anderen die Haltung der Empathie, die die Bereitschaft hat, sich auf andere einzulassen, sich auf andere zuzubewegen, auch und gerade, weil sie anderer Meinung sind. Anderen zuzuhören, sie ernst zu nehmen, die andere Meinung wertzuschätzen ist eine Brücke zum gegenseitigen Verständnis. Die Ethikerin Corine Pelluchon nimmt diese Gedanken auf und entwickelt daraus eine »Ethik der Wertschätzung«13, in der sie betont, dass das Leben jedes Einzelnen besser wird, wenn sie oder er sich nicht nur auf sich selbst konzentriert, sondern auch für andere lebt. Dabei geht es auch um die Überwindungen geprägter Hierarchien des Lebens, wie wir sie bei Mann-Frau, Kultur-Natur, Geist-Körper, Mensch-Tier etc. oftmals erleben. Es geht nicht um herrschen oder beherrschen, sondern um Leben teilen und anteilnehmen, nicht um gewinnen, sondern um das Bedürfnis, für jemanden und mit jemandem zu leben. Pelluchon zeigt auf, dass es auch anders denkbar ist, und dass der Mensch ein ganzheitliches Geschöpf ist und in einem System lebt, das durch Wertschätzung und nicht durch Hierarchie zusammengehalten wird. Ein Leben in Achtung und Fürsorge zu führen, ist in einer individualistischen und durch Konkurrenz geprägten Welt nicht einfach. Deshalb erinnert Pelluchon an das gemeinsame Leben und Sterben, weil erst der Sinn für die eigene Sterblichkeit uns die Tür für die gemeinsame Welt eröffnet. Dass wir verwundbare Menschen sind, diese Erfahrung der eigenen Verwundbarkeit ist für die Wertschätzung des anderen bestimmend. Die Haltung der Wertschätzung erwächst sozusagen aus der Akzeptanz der eigenen Verletzlichkeit. Nur aus dieser Einsicht kann Demut erwachsen, die Grundlage der Wertschätzung anderer Menschen.

1.5.2 Glaubensentwicklung: Was die eigenen ethischen Entscheidungen prägt

In der Ethik geht es immer auch um Fragen der eigenen Glaubensentwicklung. Konzentrieren wir uns auf die religiösen Konflikte und Streitigkeiten, dann stellen wir zunächst fest, dass unser Glaube durch unsere Biografie geprägt ist. Dabei bilden sich theologische Grundverständnisse heraus, die oftmals konfessionell geprägt sind. Verbunden damit ist die Frage, wie der eigene Zugang zur Bibel aussieht und welches zumindest implizite Bibelverständnis bestimmend ist. Versuchen wir dies mit den zuvor gemachten Überlegungen der Kultur, des Weltbilds und der eigenen Identität zusammenzubringen, dann können wir es wie folgt systematisieren:

Abbildung 3: Zyklus der eigenen Glaubensentwicklung:

Weltbild: das Set kultureller Vorannahmen, die mich prägen, meine eigene Erkenntnisfähigkeit: Wie sehe ich die Welt? Was ist lebenswert? Was lehne ich ab? Wo komme ich her? Starke Prägung durch meine Konfession, Familie, Gemeinde, Milieu etc. (ausführlich in Kapitel 1).Theologische Prinzipien: meine expliziten Leitideen, Grundwerte, Maßstäbe für mein theologisches Verständnis. Welche dogmatischen und konfessionellen Prägungen habe ich? Welche Theologie folgt daraus? Wie verstehe ich Schlüsselbegriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe etc.? (ausführlich in Kapitel 6–8).Hermeneutik: mein theologisches Selbstverständnis: Wie begründe ich meine Theologie? Welche Bedeutung hat die Bibel für mich? Wie bearbeite, hierarchisiere, überprüfe ich einzelne biblische Inhalte? In welchem Zusammenhang sehe ich sie? (ausführlich in Kapitel 2 und 3).Glaubenspraxis/Erfahrung: Wie lebe ich meinen Glauben im Alltag? Welche Glaubenserfahrungen mache ich? Wie beeinflussen diese meine Theologie oder mein Weltbild? Welche Konsequenzen hat das für mein Leben? (durchgehend und in Kapitel 9).

Diese vier Bereiche sind dabei nicht statisch, sondern bedingen und beeinflussen sich im Laufe des eigenen Lebens. Das Weltbild bestimmt sozusagen die Perspektive und wird oftmals kaum reflektiert, hat aber eine große Auswirkung auf die Wahrnehmung der anderen drei Bereiche. Nicht selten prägt das Weltbild das jeweilige Schriftverständnis und nicht umgekehrt. Aber solche Prozesse können sich auch umkehren. Biblische Erkenntnisse oder persönliche Erfahrungen können dazu führen, dass eigene Vorannahmen kritisch reflektiert werden. Heute haben vor allem persönliche Erfahrungen einen besonders hohen Stellenwert und die Kraft, die anderen Bereiche zu verändern.

Glaubenspraxis

Hermeneutik

Weltbild

Theologie

Abbildung 3: Zyklus der eigenen Glaubensentwicklung

Kommen wir jetzt auf unsere moralischen Konfliktlinien des Anfangs zurück, dann wäre ein erster Lösungsansatz, den jeweiligen Konflikt präziser zu verorten. Nehmen wir beispielsweise die in der christlichen Welt umstrittenen Themen Homosexualität oder Frauenordination. Oftmals sind wir schnell dabei, diese in der Theologie zu verorten. Dafür gibt es auch gute Gründe, schließlich dreht sich der Streit nicht selten um die Auslegung von verschiedenen Bibelstellen. Aber mit der Zeit merken wir, dass das Problem so nicht gelöst werden kann. Denn mein Gegenüber versteht und interpretiert dieselben Bibelverse ganz anders. Die eigene Theologie ist nämlich nicht einfach neutral oder objektiv, sondern von den anderen drei Bereichen der Glaubensidentität geprägt und abhängig. Die Frage wäre also: Wo ist dieses Thema bei mir vor allem verortet? In den Erfahrungen der eigenen Biografie, im eigenen Weltbild oder in meinem Bibelverständnis?

Fassen wir die ersten Gedanken zu einer Ethik zum Selberdenken zusammen, dann stellen wir fest, dass jede ethische Entscheidung mit meiner Person, meiner Geschichte und meiner Situation zu tun hat. Ich bin nicht ein objektiv entscheidender Mensch außerhalb des ethischen Experimentes, sondern bin durch meine Person, meine Erfahrungen, meine Gebietskenntnisse und die Prägungen meines Lebens immer kulturell gebunden. Wie ich die Karte lese und verstehe, meinen Weg suche, das Wetter einschätze – all das hat mit mir als Person zu tun und beeinflusst meine Entscheidung. Deshalb ist es unumgänglich, dass ich vor jeder ethischen Entscheidung eine eigene Standortbestimmung vornehme und die eigene Wegerfahrung reflektiere. Dafür sollen die nächsten Fragen und Übungen helfen.

1.6 Selberdenken: Anwendungen und Übungen

Im Folgenden wollen wir einige Fragen stellen, die helfen sollen, die eigene Standortbestimmung vorzunehmen und die eigene Wegerfahrung zu reflektieren. Der Soziologe Pierre Bourdieu brachte dies einmal gut auf den Punkt, als er schrieb: »Will man die Welt ändern, muß man die Art und Weise, wie Welt ›gemacht‹ wird, verändern. Das heißt, man muß die Weltsicht und die praktischen Operationen verändern.«14 Und genau das fängt bei einem selbst an, wenn man die eigene Weltsicht versteht, indem man sein eigenes Weltbild, ja seine Beziehung zur Welt versteht.

1.6.1 Standortbestimmung: Die Rahmenstory der ethischen Entscheidung

Wir wollen uns bei der Selbstreflexion an den vier genannten Punkten orientieren, weil diese die wesentlichen Ebenen unseres Lebens umfassen und zusammen ein gutes Gesamtbild ergeben. Im Laufe des Buches werden wir auf alle diese Ebenen noch weiter und vertiefend eingehen. Aber jetzt soll es erst einmal um Sie gehen, Ihre Geschichte und Ihre Erfahrungen. Wenn es Ihnen hilft, können Sie die folgende Übung auch an einem konkreten ethischen Fall durchführen.

a) Beantworten Sie nun diese vier Bereiche für sich persönlich

Weltbild: Das Set kultureller Vorannahmen, die mich prägen, meine eigene Erkenntnisfähigkeit: Wie sehe ich die Welt? Was ist lebenswert? Was lehne ich ab? Wo komme ich her? Starke Prägung durch meine Konfession, Familie, Gemeinde, Milieu etc.

Theologie: Meine expliziten Leitideen, Grundwerte, Maßstäbe für mein theologisches Verständnis. Welche dogmatischen und konfessionellen Prägungen habe ich? Welche Theologie folgt daraus? Wie verstehe ich Schlüsselbegriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe etc.?Hermeneutik: Mein theologisches Selbstverständnis: Wie begründe ich meine Theologie? Welche Bedeutung hat die Bibel für mich? Wie bearbeite, hierarchisiere, überprüfe ich einzelne biblische Inhalte?Glaubenspraxis: Wie lebe ich meinen Glauben im Alltag? Nach welchen Kriterien treffe ich ethische Entscheidungen? Welche Glaubenserfahrungen mache ich? Wie beeinflussen diese meine Theologie oder mein Weltbild?

Reflexion der Übung

In welchen Verbindungen zueinander stehen die vier Punkte in meinem Leben? Wie beeinflussen sie sich gegenseitig?Welcher der Punkte lässt sich meiner Erfahrung nach am schwersten und welcher am leichtesten verändern?Welche Bedeutung hat meine Wahl für meine ethische Entscheidung? Wo gibt es biografische oder kulturelle Erfahrungen, die mich beeinflussen?

b) In welcher Rolle stehen Sie zu einem ethischen Konflikt?

Wir wollen jetzt mit ein paar weiteren Fragen die Einleitung beschließen, die das bisher Erarbeitete mit einem ethischen Konflikt in Beziehung setzen.

Die eigene biografische Prägung und Erfahrungen mit der Thematik

Bin ich selbst von dem ethischen Fall betroffen? Bin ich selbst Teil des Konflikts?In welches der vier Felder würde ich mich am ehesten einordnen: Weltverneinend? Weltbejahend? Weltverändernd? Die Welt aushaltend?Habe ich mit dem ethischen Thema in meinem Leben schon Erfahrungen gemacht? Und wenn ja, welche?Welche Emotionen (und Geschichten) kommen in mir hoch, wenn ich an den ethischen Fall denke?Welche kulturellen und gesellschaftlichen Werte und Normen haben mein Denken und Glauben zu diesem ethischen Thema geprägt?Welche Sätze (von Eltern, Freunden, Lehrer:innen etc.) sitzen fest in meinem Kopf und bestimmen mein Denken und Handeln bei diesem Thema?Mit welcher inneren Haltung gehe ich in die ethische Entscheidung?Wie und wo wird der Konflikt zu meiner Thematik gesamtgesellschaftlich gerade diskutiert?

1.6.2 Standortbestimmung: Auf der Suche nach einem neuen Weg

Mit unserem Ansatz einer transformativen Ethik wollen wir uns weder diesem oder jenem Lager anschließen noch es bekämpfen; vielmehr setzen wir uns mit unserer Position bewusst zwischen verschiedene Stühle, denn wir schätzen die unterschiedlichen christlichen Traditionen und theologischen Ansätze und versuchen, vieles miteinander zu verbinden. Wir halten pietistisch-evangelikale und protestantisch-moderne Positionen nicht für schlechthin unvereinbar, sondern lassen uns leiten vom dem Wort der beiden Theologen Stanley Hauerwas und Will Willimon: »Bei der christlichen Ethik geht es nicht darum, ob sie konservativ ist oder liberal, sondern ob sie ein getreues Zeugnis der Berufung der Kirche zur Nachfolge Jesu ist.«-1 Deshalb ist diese Ethik auch der Versuch, sich dem Zwang der Fraktionen zu entziehen und einen Weg jenseits der ausgetretenen Pfade zu finden. Dabei greifen wir gerne sowohl auf pietistisch-evangelikale als auch protestantisch-moderne Positionen und Ansätze zurück, um von diesen zu lernen, uns an ihnen zu orientieren, sie infrage zu stellen und zu prüfen, um dann doch unseren eigenen Weg zu suchen. Für die Suche nach dem neuen Weg stehen wir auch mit unseren Biografien. Und um unsere eigenen Aussagen selbst ernst zu nehmen, wollen wir nun einen kurzen Abriss unserer Biografie geben, sodass Sie als Leser:in eine bessere Einschätzung von uns als Autoren bekommen.

Mit unserem Ansatz einer transformativen Ethik wollen wir uns weder diesem oder jenem Lager anschließen noch es bekämpfen; vielmehr setzen wir uns mit unserer Position bewusst zwischen verschiedene Stühle.

Thorsten Dietz:Ich bin als Mitglied der evangelischen Landeskirche groß geworden. Der Beziehungsstatus war lange Zeit: freundlich distanziert. Als Jugendlicher wurde ich vollends Atheist. Existenzialistische und marxistische Philosophien erschienen mir weitaus hilfreicher, um die Welt und mich selbst zu verstehen. 1990 begann ich ein Lehramtsstudium mit den Studienfächern Germanistik, Philosophie und Evangelische Religion. Nun begann ich das erste Mal in meinem Leben, intensiv in der Bibel zu lesen. Am Ende dieser Auseinandersetzung stand eine Bekehrung zu Jesus Christus. Auf dem Weg zum christlichen Glauben und im Glauben sind mir drei Prägungen zugewachsen, die mich, meinen Glauben und mein Denken bestimmen.

Meine persönliche Christusbegegnung führte mich in Gemeinden und Gemeinschaften, die man gemeinhin als pietistisch oder evangelikal bezeichnet. Eine jesuszentrierte und bibelbegeisterte Frömmigkeit ist bis heute die Muttersprache meines Christseins. Klassische Frömmigkeitsformen des Pietismus von der regelmäßigen Bibellese bis zur Gebetsgemeinschaft und überhaupt die Vielfalt der Strömungen im Bereich der Evangelischen Allianz haben mein Glaubensleben immer wieder neu angeregt und geprägt.

Im Theologiestudium in Münster, Tübingen und Marburg kam ich mit sämtlichen Strömungen der Theologie in Berührung. Früh und nachhaltig prägte mich die Begegnung mit der reformatorischen Theologie, vor allem mit Martin Luther. Theologen wie Martin Brecht, Oswald Bayer und Dietrich Korsch regten immer neues Studium der Quellen an, was unter anderem zu meiner Promotion über den jungen Luther führte. Diese Verknüpfung von pietistischer Frömmigkeit und reformatorischer Theologie wurde auch für mein ethisches Denken bestimmend. Vor allem die evangelische Freiheit eines Christenmenschen erlebte ich selbst als tröstlich und beflügelnd.

Die Zeit als Vikar und Pfarrer der Westfälischen Kirche im Ruhrgebiet ließ mich neu fragen: Wie können wir heute von Jesus Christus reden? Wie habe ich selbst zum Glauben gefunden? In meiner Jugend ist mir die Frage nach Gott in der Beschäftigung mit der modernen Philosophie gekommen. In meiner Habilitation über religiöse Gefühle bei Jonathan Edwards und Friedrich Schleiermacher wurde mir einmal mehr deutlich, dass der christliche Glaube in der Neuzeit auf ein beständiges Gespräch mit seiner Umgebung nicht verzichten kann. Glaube braucht die Auseinandersetzung mit seiner Zeit in einer Haltung der Dialogizität und der Lernbereitschaft, wenn er nicht zur Ideologie werden will.

Tobias Faix: