Weiterglauben - Thorsten Dietz - E-Book

Weiterglauben E-Book

Thorsten Dietz

5,0

Beschreibung

Wer sich mit dem christlichen Glauben beschäftigt, sieht sich häufig mit der Wahl zwischen liberaler Universitätstheologie oder fundamentalistisch anmutender Bibelgläubigkeit konfrontiert. Beides ist einem alltagstauglichen Glauben, der ehrfürchtig und neugierig gleichermaßen nach dem himmlischen Ewigkeitsfaktor sucht, wenig zuträglich. Dabei sind sich in einer Sache alle einig: Die Bibel ist die Grundlage des christlichen Glaubens. Doch wie kann, darf, muss man mit dem „Buch der Bücher“ umgehen? Fällt ohne klare Begrenzungen, Regeln, Maßstäbe und (Denk-) Verbote nicht alles wie ein Kartenhaus in sich zusammen? Und umgekehrt: Wenn die Bibel einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhält, haben die Kritiker dann nicht doch recht mit ihrer Behauptung, es sei alles nur ein Konstrukt? Wie können wir dann überhaupt noch über Gott reden? Thorsten Dietz schreibt über lebendigen, gelebten Glauben, der Orientierung bietet und Einsatz fordert. Ein Plädoyer für Befreiung und Versöhnung – für Über-den-eigenen- Schatten-Springer - und solche, die es gerne wären.

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Thorsten Dietz

WEITER GLAUBEN

Warum man einen großen Gott nicht klein denken kann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96140-048-5

© 2018 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: fotolia tets

Satz: Brendow Web & Print, Moers

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Vorwort

I Im Sog der Polarisierungen

1. Wachstumsschmerzen

2. Die Freischwimmer-Debatte

3. Zarathustra und sein Schatten

4. Theologie der dritten Wege

II. Gott gehört uns nicht

1. Der Gott zum Anfassen

2. Der offenbar verborgene und verborgen offenbare Gott

3. Geheimnis des Glaubens

4. Gott ist größer – Gott ist näher

III. Eine, meine oder keine Wahrheit?!

1. Was ist Wahrheit?

2. Jesus Christus – die Wahrheit

3. Wahrheit auf Pandora

4. „Das Kreuz Christi allein ist unsere Theologie“ (Martin Luther)

IV. Ist die Bibel Gottes Wort?

1. Streitfall Schriftverständnis

2. Gotteswort in Menschenwort

3. Kritik der Bibel?

4. Sicherheit oder Gewissheit?

V Sind alle Erzähltexte der Bibel historisch wahr?

1. Die 3D-Brille der historischen Bibelforschung

2. Die Sintflut und die modernen Wissenschaften

3. Der Sinn der Sintflutgeschichte heute

4. Gottes Bilder

VI. Die Autorität der Bibel in ethischen Fragen

1. Luthers ethische Auslegung der Bibel

2. Ethische Entscheidungen Luthers in Ehefragen

3. Historisierung biblischer Aussagen

4. Kontextualisierung biblischer Normen für heutige Fragen

5. Norm und Sachverhalt

VII. Allein gehst du ein?!

1. Weiterglauben – und die Gemeindefrage

2. Niedergang oder Erneuerung des Christentums?

3. Flucht aus Evangelikalien

4. Kirche und Gemeinschaft

VIII. Der Fromme der Zukunft wird Mystiker sein

1. Frömmigkeit heute und morgen

2. Mystische Frömmigkeit

3. Glaube als Übungsweg

IX. Im Delta: Christentum in der Umformungskrise

1. Das Delta

2. Kirchen in der Unübersichtlichkeit

3. „Chaos ist eine Leiter“ (Littlefinger)

4. Zwischen Quelle und Mündung

Weitere Bücher

Anmerkungen

Meinen Töchtern Miriam Dietz, Theresa Dietz, Elisa Dietz

Vorwort

Im Mai 2016 habe ich erstmals bei Worthaus e.V. als Referent mitgearbeitet und zwei Vorträge über Martin Luther gehalten. Worthaus ist ein Projekt, das theologische Vorträge über zentrale Aspekte des christlichen Glaubens im Internet zur Verfügung stellt. Anschließend hatte ich in den letzten beiden Jahren viele Gespräche mit Menschen, die sich durch Beiträge von Worthaus sehr bereichert fühlten. Gleichzeitig sind bei mir auch eine Reihe von Rückmeldungen angekommen von Gläubigen, die sich durch diese Impulse verunsichert fühlen, teilweise auch verletzt und verärgert.

Im Herbst 2017 erschien ein vielgelesener Blog-Artikel mit dem Titel: Worthaus – Universitätstheologie für Evangelikale?1 Dort hieß es schon in der Einleitung: „Worthaus macht universitäre Theologie populär – auch unter Evangelikalen.“ Das war nicht als Kompliment gemeint. Ich denke aber, man müsste das zuerst auch als ein solches lesen. Es ist alles andere als einfach, wissenschaftliche Theologie unter Christen populär zu machen. Genau das aber ist vor allem Prof.Dr.Siegfried Zimmer und anderen in den letzten Jahren gelungen. Die Beiträge bei Worthaus werden durchweg von Zehntausenden Christen gehört, teilweise von Hunderttausenden, die in vielen Vorträgen eine wesentliche Hilfe für ihren Glaubensweg finden. Dafür gibt es offensichtlich eine Nachfrage. Die hier versammelten Beiträge setzen sich ebenfalls ein solches Ziel: theologische Erkenntnisse möglichst verständlich zu vermitteln.

Insgesamt ist nicht zu überhören, dass manche Christen erhebliche Anfragen an die moderne wissenschaftliche Theologie insgesamt haben. Das ist ihr gutes Recht – Theologinnen und Theologen sollten genau hinhören, auch, wo sie bisweilen recht pauschal kritisiert werden.

Nun ist es so: Die Universitätstheologie hat keine Mailadresse. Niemand kann sich anmaßen, im Namen der Theologie jede mögliche Frage zu klären. Auch innerhalb der Theologie gibt es viele kontroverse Diskussionen. Aber vielleicht gelingt es ja, manche heiße Debatte unter Christen dadurch etwas zu versachlichen, dass man sie differenziert aufgreift. Manche Beiträge dieses Buches sind aus solchen Diskussionen heraus entstanden. Andere gehen zurück auf eine Reihe von Vorträgen, die ich im Laufe des letzten Jahres gehalten habe.2

Vielleicht hilft insgesamt ein Bild aus der Landwirtschaft, um meine Absicht mit diesem Buch deutlich zu machen.3 In der industriellen Landwirtschaft gab es einen langfristigen Trend zum Anbau in Monokulturen. Die Konzentration auf ein einziges Saatgut ermöglicht die kurzfristig effektive Konzentration der Arbeitsabläufe und erhebliche Ertragssteigerungen. Auf Dauer zeigt sich jedoch mehr und mehr, dass ein solches Verfahren für den Boden wie auch für die Pflanzen (durch vermehrten Schädlingsbefall) und die Umwelt insgesamt ruinös werden kann. Die viel gesündere Entwicklung zeigt sich in einem Mischanbau. Mehrere Pflanzenarten werden zusammen angepflanzt. Was zunächst mehr Mühe macht, erweist sich auf die Dauer als nachhaltiger.

Übertragen wir das Bild auf das Christentum: Es gibt globale Trends zur spirituellen Monokultur. Immer mehr Gemeinden und Kirchen entwickeln ein eindeutiges Profil, in Lehre, Musikstil und Lebensgefühl gewinnt alles eine klare und konsequente Handschrift, sei es liberal, evangelikal, charismatisch etc. Natürlich haben gewisse Konzentrationen ihr Recht und ihre besonderen Chancen. Und doch steigern solche Profilierungen auf Dauer die Gefahr der Vereinseitigung. Gegenseitige Bereicherung fällt aus, genauso wie wechselseitige Kritik. In diesem Buch werden Prozesse der Polarisierung untersucht und beschrieben mit der Absicht, die Brücken, die Übergänge und Verbindungstunnel zwischen den Lagern zu pflegen und zu stärken. Unterschiedliche Frömmigkeitsstile brauchen einander zur Ergänzung, verschiedene Phasen des Glaubens können auch zeitversetzt nebeneinander bestehen, so manche notwendige Auseinandersetzung könnte verständnisvoller und gründlicher geführt werden.

Für freundliche Ermutigungen und kritische Ermahnungen danke ich den Marburger Freunden Michael vom Ende, Tobias Faix, Frank Lüdke und Jürgen Mette. Mit Hinweisen und Korrekturen haben sich Jakob Kimpel und Daria Prinke verdient gemacht.

I. Im Sog der Polarisierungen

1. Wachstumsschmerzen

Im Glauben wachsen – das wollen alle Christinnen und Christen.4 Niemand möchte unreif, naiv oder unmündig glauben. Manche würden das so nicht formulieren, sie würden sagen: Glaube ist für mich aber kindliches, naives Vertrauen auf Gott. Aber genau von dieser Haltung möchten sie gerne durch und durch bestimmt sein. Christen haben Sehnsucht nach mehr Tiefe oder nach mehr Weite. Manchmal bringen solche Entwicklungswege ungeahnte Wachstumsschmerzen mit sich. Denn Christenmenschen können sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln. Für die einen bedeutet Wachstum im Glauben eine immer konsequentere Umsetzung ihres Glaubens in allen Lebensbereichen. Für andere besteht Wachstum nicht zuletzt auch darin, eigene Glaubensüberzeugungen selbstkritisch hinterfragen zu können. Manche Christen wollen raus aus dem, was sie im Rückblick auf ihr bisheriges Glaubensleben als Enge empfinden. Sie haben das Gefühl, viel zu viele Fragen unterdrücken zu müssen, und leiden unter der Sprachlosigkeit in ihren Gemeinden. Andere sind betroffen über solche Ausbruchsversuche. Sie fühlen sich durch solche Formulierungen angegriffen und missverstanden. Aus ihrer Sicht sollte man nicht von Weite reden, wo man die enge Pforte breit machen möchte. Sie weisen den Vorwurf zurück, dass diejenigen, die den schmalen Weg gehen wollen, eine Verengung des Glaubens betreiben. Es geht ihnen nicht um Enge, sondern um Treue und Verbindlichkeit. Was für die einen Wachstum ist, empfinden andere als Verhärtung oder Verfall. Derselbe Glaube erscheint einigen als fest, anderen als eng. Was die einen Freiheit nennen, ist in den Augen der anderen Beliebigkeit.

Solche gegenläufigen Entwicklungen können Gemeinden oder auch ganze Glaubensgemeinschaften lähmen. In wohl allen Religionsgemeinschaften gibt es heute unterschiedliche Vorstellungen von Glaubenswachstum. Die vatikanischen Familiensynoden 2014-15 haben gezeigt, dass der Umgang mit Ehe und Familie in der römisch-katholischen Kirche strittiger ist, als es das Selbstbild der einen Kirche zulässt. Fragen der Sexualethik oder der Ordination von Frauen lassen die anglikanische Weltkirchengemeinschaft seit vielen Jahren erhebliche Auseinandersetzungen erfahren. Im Herbst 2017 kam es auf der Synode der Evangelischen Amtskirche in Württemberg zu großen Spannungen, ob es eine Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren geben darf oder nicht. Ein Ende dieser Polarisierungen ist nicht abzusehen.

Christen driften auseinander. Diese innerchristlichen Konflikte sind eingebettet in umfassendere Auseinandersetzungen in der heutigen Gesellschaft. Nach dem Ende des Kalten Krieges (1989/91) riefen manche ein postideologisches Zeitalter aus. Das Wiederaufflammen ethnischer und militärischer Konflikte auf dem Balkan erschien wie ein letztes Aufbäumen alter Dämonen, die Europa viel zu lange im Griff hatten. Viele träumten nun von einer Konsensgesellschaft, einer neuen Mitte, in der die alten ideologischen Grabenkämpfe des 20. Jahrhunderts überwunden werden sollten. Nicht mehr links oder rechts wollten viele sein, sondern vorne, pragmatisch und zukunftsorientiert. Politiker wie Tony Blair, Gerhard Schröder und Bill Clinton verkörperten um das Jahr 2000 diesen Anspruch der Integration in der politischen Mitte.

Auch im Christentum lassen sich Parallelen zu diesem Trend finden. Die konfessionellen Streitigkeiten der Vergangenheit wurden mehr und abgelöst durch einen Geist des Dialogs. Die weitgehende Einigung in Fragen der Rechtfertigungslehre im Jahr 1999 macht dies deutlich. In der evangelikalen Welt gelang in Deutschland eine Versöhnung von pfingstlich-charismatischen Christen mit Pietisten und Freikirchlern, etwas, das wenige Jahrzehnte früher undenkbar gewesen wäre. Die Evangelische Allianz verstand sich als eine Einigungsbewegung. Inzwischen hat sich der Wind gedreht. In vielen Bereichen der Gesellschaft ist heute die Sehnsucht nach Profilbildung erheblich größer als die nach Konsensfindung. Nicht die Integration aller Flügel, sondern die Polarisierung der Lager bestimmt in vielen Bereichen dieser Welt die politische Öffentlichkeit. Auf entsprechende Beispiele in der christlichen Welt wurde am Anfang verwiesen.

Der Titel dieses Buches, Weiterglauben, markiert diese Spannung: Die einen sehnen sich nach mehr Weite im Glauben; andere empfinden solche Weite als Auflösung, sie wollen am Glauben weiter festhalten. „Weiter“ lässt sich temporal und lokal verstehen: lokal im Sinne von mehr Weite, Flucht aus der Enge, aber eben auch temporal, weiter im Sinne von weiterhin glauben, den Glauben nicht verlieren wollen. Dieses Buch handelt von der Frage, ob und wie beides gelingen kann.

2. Die Freischwimmer-Debatte

Der durch das evangelistische Projekt Jesus House in weiten Kreisen als Evangelist bekannt gewordene Torsten Hebel hat mit seinem Buch Freischwimmer keine typische, im pietistisch-evangelikalen Milieu beliebte Beschreibung seines eigenen Lebensweges vorgestellt.5 Klar und unverblümt berichtet Hebel, wie er an vielen Gewissheiten seines bisherigen Lebens zu zweifeln begann und im Begriff war, sich vom christlichen Glauben insgesamt zu verabschieden. Erst im Laufe dieses Buchprojekts gelingt es ihm, im Gespräch mit christlichen Freunden und Wegbegleitern, einen neuen, für ihn stimmigen Zugang zum Christentum zu finden. Nun dürfte es niemanden verwundern, dass Hebel mit einem solchen Buch Irritationen in Kreisen auslöste, von denen er sich zunehmend entfernt hatte. Als Evangelist hatte Torsten Hebel einen starken Einfluss auf viele junge Menschen, von denen etliche seine Verkündigung als entscheidenden Anstoß zum christlichen Glauben ansahen. Was bedeutet das für den eigenen Glauben, wenn derjenige, dessen Vorbild und Verkündigung man Entscheidendes verdankt, sich von wichtigen bisherigen Überzeugungen distanziert?

Jürgen Schuster, Professor für Interkulturelle Theologie an der Internationalen Hochschule Bad Liebenzell, hat Hebels Beschreibung seiner eigenen Entwicklung aus theologischer Perspektive gewürdigt.6 Schuster sieht in Hebels Weg zunächst eine nachvollziehbare, auch unter jungen Christen häufige Entwicklung. Hebel hat auf seinem Glaubensweg bemerkt, dass die Art zu glauben, die er in seiner Jugend kennengelernt und in seinem Studium vertieft hat, für ihn so nicht mehr passt. Das ist keine ungewöhnliche Erfahrung. Das geht vielen Gläubigen in einem bestimmten Alter so.7 Für viele Menschen ist eine solche Entdeckung der Anlass, sich von ihrem Glauben zu distanzieren. Sie setzen ihre frühere Glaubensweise mehr oder weniger gleich mit dem christlichen Glauben als solchem – und verabschieden diesen. In ihrer Studie „Warum ich nicht mehr glaube“ haben Tobias Faix, Martin Hoffmann und Tobias Künkler eine ganze Reihe solcher Erfahrungen dokumentiert. Im Grunde weiß es jeder: Seit Jahrzehnten befindet sich in den Kinder- und Jugendkreisen christlicher Gemeinden und Werke ein Vielfaches der Menschen, die später im Erwachsenenalter ihren Glauben bewusst leben und sich zu einer Gemeinde halten. Es wird sehr viel investiert in Formate, die Menschen zum Glauben einladen. Trotzdem gibt es auch unter den missionarischen Zweigen des Christentums, den Freikirchen, Gemeinschaften etc. seit vielen Jahren kein nennenswertes Wachstum, sondern weitgehend eine Umverteilung der Gläubigen von weniger attraktiven zu attraktiveren Bewegungen und Gemeinden. Weil zu wenig in Evangelisation oder Jugendarbeit investiert wird? Nein, sondern nicht zuletzt deswegen, weil sehr viele Menschen, die in bestimmten Lebensphasen gewonnen werden, mit der Zeit wieder aussteigen. Das Thema Weiterglauben sollte gerade missionarische Christen interessieren.

Insofern ist für Schuster die Lebensgeschichte von Torsten Hebel bemerkenswert und ermutigend. Denn Hebel gelingt es im Gespräch mit FreundInnen und Vorbildern, nicht einfach den christlichen Glauben insgesamt hinter sich zu lassen, sondern eine bestimmte Gestalt desselben. Er findet einen anderen neuen Zugang zu Jesus Christus und entwickelt allmählich einen Umgang mit dem christlichen Glauben, der für ihn stimmig ist. Diese Entwicklung deutet Schuster mit Hilfe des Konzepts unterschiedlicher Basismentalitäten, wie es in der soziologischen Lebensweltforschung entwickelt wurde und wie es Heinzpeter Hempelmann für die Theologie fruchtbar gemacht hat. In seiner früheren Lebensphase war Hebel durch ein Denken geprägt, das die Soziologen traditionsorientiert bzw. prämodern nennen:

„Dort hat er den christlichen Glauben stark dogmenorientiert erlebt und verinnerlicht. Er war überzeugt von einer hermeneutischen Eindeutigkeit biblischer Texte und christlicher Lehre. […] Es zeigte sich je länger je mehr, dass sein Glaube, der im Kontext eines traditionsorientierten Mindsets geprägt war, nicht mehr zu anderen Aspekten seines Lebens und Denkens passte. Mit anderen Worten, die Diskrepanz zwischen der Denkweise und Formatierung seines christlichen Glaubens einerseits und den Denkmustern und Begründungszusammenhängen der übrigen Bereiche seines Lebens, wurde zunehmend zum Problem.“8

Einen neuen Zugang zum Christentum findet Hebel dadurch, dass er Glaubensweisen kennenlernt, die stärker beziehungsorientiert, erfahrungsoffen und dialogisch eingestellt sind, sprich: die dem postmodernen Mindset stärker gerecht werden, das für sein sonstiges Leben prägend geworden ist. Grundsätzlich ist das für Jürgen Schuster eine lehrreiche und im Ansatz vorbildliche Entwicklung: „Ich gehe weiterhin davon aus, dass vielen Christen aus traditionsorientierten Gemeinden ähnliche Auseinandersetzungen bevorstehen bzw. bevorstehen können.“9

Und zugleich wirft ein solcher Weg Fragen auf. Denn eine solche postmoderne Glaubensweise verhält sich zur prämodernen Frömmigkeit nicht einfach wie Reife zu Unreife. Zu Recht weisen manche Christen darauf hin, dass konservative Glaubensvorstellungen nicht einfach als Zeichen kultureller Rückständigkeit gewertet werden können. Gar nicht so wenige verbinden einen z.B. modernen Musikgeschmack und gehobene Bildung mit traditionellen Familienwerten und konservativer theologischer Lehre.

So unbestreitbar das ist: Für andere Christen entstehen an solchen Ungleichzeitigkeiten Spannungen. Es wird nicht nur Unterschiedliches geglaubt, sondern vor allem auch auf unterschiedliche Art und Weise. Und was Torsten Hebel erfahren hat, ist eine Art Wechsel des Glaubensstils. Mindestens im Ansatz sollte man versuchen, unterschiedliche Glaubensstile zunächst einmal genau wahrzunehmen und zu beschreiben. Vielleicht hat ja jede Glaubensweise ihre Vorzüge und Chancen, zugleich aber auch ihre Risiken. Jürgen Schuster geht in seiner Analyse von der Einsicht aus, dass es den christlichen Glauben nie in Reinform gibt, sondern immer in einem ganz bestimmten kulturell geprägten Stil. Die entscheidende Herausforderung ist stets eine doppelte, nämlich, eine Glaubensform zu finden, die einerseits wirklich in eine bestimmte Kulturform eingeht und die andererseits dem biblischen Evangelium gerecht wird.

Eine solche Deutung des Weges von Torsten Hebel, und überhaupt der ganze Ansatz der Basismentalitäten, hat auch Kritik auf sich gezogen.10 Für manche ist eine solche Deutung selbst schon ein Zeichen postmoderner Auflösung des klassischen Wahrheitsverständnisses. Führt die Unterscheidung solcher grundverschiedener Denkweisen nicht dazu, dass die Auseinandersetzung um die Wahrheit unmöglich wird?

Torsten Hebels Buch Freischwimmer hätte in der evangelikalen Welt den Anstoß zu wichtigen Fragen geben können. Wie gehen wir damit um, dass so viele Menschen den intensiven Glauben ihrer Jugend irgendwann als Verirrung hinter sich lassen? Wie reagieren wir auf die Beobachtung, dass viele sagen: Für echte Zweifel, kritische Fragen, gar für Neuorientierungen in manchen Fragen ist in vielen christlichen Kreisen kein Raum? Viele Fragen sind schlicht tabu. Jeder weiß: Wenn ich dieses Thema aufwerfe, geht es nicht um dieses Thema, sondern darum, ob ich noch dazugehöre, ob ich noch Mitarbeiter sein kann etc. Was können wir lernen von denen, die nach einer Phase des Zweifels oder des Bruchs mit ihrer bisherigen Frömmigkeit neu glauben gelernt haben? Welche Atmosphäre ist wichtig, dass sich Menschen ohne Angst auf solche Wege machen können?

Zu einer intensiven Beschäftigung mit solchen Fragen kam es nach meiner Beobachtung kaum. Wo es eine Freischwimmer-Debatte gab, standen vielmehr andere Fragen im Raum: Wie kann ein evangelikaler Verlag es wagen, ein solches Buch zu veröffentlichen? Wie konnte es überhaupt geschehen, dass man einem solchen Mann eine so große Bühne in vielen bibeltreuen Werken gegeben hat? Wie kann man solche Christen, wie sie in diesem Buch zu Wort kommen, jetzt noch in missionarische Werke einladen? Wie können Theologen aus dem Bereich pietistischer bzw. evangelikaler Ausbildungsstätten auf die Idee kommen, eine solche Entwicklung eines ehemaligen Evangelisten gutzuheißen und sie als hilf- und lehrreich zu verteidigen?

3. Zarathustra und sein Schatten

An vielen Stellen ist zu beobachten, dass wichtige Debatten über aktuelle Herausforderungen überlagert werden von einem regelrechten Sog der Polarisierung. In diesem Sog geht es nicht mehr um das nähere Verständnis der Sachfragen, sondern sofort um: Dieses Denken führt in die Irre bzw. ist das einzig mögliche; so zu fragen ist „liberal“ bzw. „fundamentalistisch“; wer so etwas befürwortet, gehört nicht mehr dazu bzw. muss ausgeschlossen werden etc. Wie kommt es zu dieser Logik der Polarisierung?

Weit verbreitet ist die Diagnose: Eine solche der Logik der Polarisierung gilt als typisch für das, was man Fundamentalismus nennt. Gemeint ist damit die Vorstellung, dass es nur zwei konsequente Haltungen gibt, zwei Lager, zwei Richtungen. Solch fundamentalistisches Denken breite sich aus und mache zunehmend alle produktiven Gespräche unmöglich.

Das Problem ist nun folgendes: Fundamentalismus ist keine wertfreie Beschreibung. Wer Fundamentalismus sagt, möchte die Alarmanlagen seiner Hörer anschlagen lassen. Natürlich kann man sagen, dass Idealtypen wie fundamentalistisch, modern oder postmodern in der soziologischen Betrachtung neutral verwendet werden, nicht abwertend oder verurteilend, sondern beobachtend und beschreibend. Aber die Schwierigkeit ist offenkundig: Es ist eine typisch moderne Herangehensweise, wissenschaftliches Denken als einen eigenen Weltzugang zu verstehen, bei dem man seine Wörter so verwendet, wie man sie definiert hat. In der Lebenswelt der meisten Menschen sind diese Begriffe jedoch keineswegs neutral. Prämodern klingt nach überholt und verstaubt, fundamentalistisch nach böse und gefährlich. Die öffentlichen Warnungen vor dem Fundamentalismus funktionieren nicht selten nach derselben Logik, die man „dem Fundamentalismus“ eigentlich vorwirft: hier die moderne, aufgeklärte, fortschrittliche Weltgemeinschaft – dort die bösen Fundamentalisten, die uns alle ins Unglück stürzen. So aber befördert man genau das Denken, von dem man sich eigentlich abgrenzen möchte.

Sehen wir also näher hin? Was ist gemeint mit Fundamentalismus? Ursprünglich handelt es sich bei diesem Wort um eine konservativ-christliche Begriffsprägung. Im 20. Jahrhundert haben sich manche Christen bewusst als Fundamentalisten bezeichnet, um sich von allen liberalen bzw. modernen Erscheinungen in Theologie und Kirche abzugrenzen.11 Mit der Zeit wurde dieser Begriff übertragen auf radikale Erscheinungen aller Art: Das Wort Fundamentalisten wurde verwandt für religiöse Terroristen, für politische Extremisten und überhaupt für alles, was auf radikalen Widerspruch zur Mehrheitsgesellschaft setzt. Fundamentalismus gilt als „Aufstand gegen die Moderne“12. Dass sich auch sehr konservative Christen heute nicht mehr so nennen lassen möchten, ist nur zu verständlich.

Im Folgenden möchte ich einen anderen Zugang zum Thema des Fundamentalismus suchen, einen Umgang mit diesem Begriff, bei dem nicht sofort bestimmte Gruppen gemeint sind, sondern potenziell jede Denkrichtung, wenn man sie immer weiter radikalisiert. Man versteht keine radikale Denkweise, wenn man nicht jeweils mitbedenkt, gegen was genau jemand seinen radikalen Widerspruch formuliert.

Lernen lässt sich das beim Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900). Nietzsche kann man als eine Art Prophet der fortgeschrittenen Moderne bezeichnen, egal, ob man diese nun Spätmoderne oder Postmoderne nennt. „Gott ist tot“, dieser berühmte Ausspruch steht in Nietzsches Werk für den Schwund vieler traditioneller Gewissheiten, in der Religion, der Moral und der abendländischen Kultur insgesamt.

Mit dieser Beobachtung stand Nietzsche im 19. Jahrhundert keineswegs allein. Karl Marx beschrieb diesen Prozess schon in seinem kommunistischen Manifest von 1848 – als eine Folge der Entstehung des modernen Kapitalismus:

„Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“13

Für Marx waren diese Erschütterungen Folge der Industrialisierung und der zunehmenden Marktorientierung der ganzen Gesellschaft. Aus seiner Sicht wurden durch diese Auflösung aller Traditionen die Voraussetzungen geschaffen für eine neue Gesellschaft der Zukunft, die Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden ohne religiöse Vorurteile schaffen wird.

Viele andere hingegen, konservative Christen und Monarchisten zumal, versuchten, den Verfall der Werte zu stoppen durch Stärkung von Autorität und Tradition, mehr und mehr auch der patriotischen und nationalistischen Orientierung der Bevölkerung.

Nietzsche hielt weder die Errichtung eines utopischen Kommunismus noch die Rettung des christlichen Abendlandes für möglich. Zugleich staunte er über die Sorglosigkeit vieler Zeitgenossen, als könnte die permanente Auflösung aller überkommenen Gewissheiten folgenlos bleiben. Für Nietzsche war klar, dass es früher oder später zu heftigen Gegenbewegungen kommen müsste gegen die Umwertung aller bestehenden Werte. Diese Entwicklung würde ihre Schattenseite mit sich bringen. In seinem Werk Also sprach Zarathustra (1883) stellte Nietzsche diese Erwartung in Gesprächsform vor, zwischen Zarathustra, dem Vorreiter des radikalen Zweifels – und seinem „Schatten“. Was das für ein Schatten ist, wird durch dessen eigene Rede deutlich:

„Mit dir strebte ich in jedes Verbotene, Schlimmste, Fernste: und wenn irgendetwas an mir Tugend ist, so ist es, dass ich vor keinem Verbote Furcht hatte. Mit dir zerbrach ich, was je mein Herz verehrte, alle Grenzsteine und Bilder warf ich um, den gefährlichsten Wünschen lief ich nach – wahrlich, über jedwedes Verbrechen lief ich einmal hinweg. Mit dir verlernte ich den Glauben an Worte und Werte und große Namen. […] ‚Nichts ist wahr, alles ist erlaubt‘: so sprach ich mir zu. In die kältesten Wasser stürzte ich mich, mit Kopf und Herzen. Ach, wie oft stand ich darob nackt als roter Krebs da!“14

Was ist der Schatten? Ein Bild für diejenigen, die dieser Bewegung der allgemeinen Verunsicherung und Auflösung bereitwillig gefolgt sind – und dann einen radikalen Kurswechsel vollziehen. Es spricht gewissermaßen ein ehemaliger Jünger des Zarathustra, der diesem gefolgt ist durch alle Zweifel hindurch zur Auflösung aller früheren Gewissheiten. Doch der Rausch permanenter Befreiung scheint umzuschlagen in das Gefühl unsäglicher Leere. Was ihn einst angezogen hat, stößt ihn nun ab. Dem Rausch der großen Abschiede folgt der Kater eines umfassenden Verlustgefühls. Nietzsche lässt Zarathustra antworten:

„Deine Gefahr ist keine kleine, du freier Geist und Wanderer! Du hast einen schlimmen Tag gehabt: sieh zu, dass dir nicht noch ein schlimmerer Abend kommt! Solchen Unsteten, wie du, dünkt zuletzt auch ein Gefängnis selig. Sahst du je, wie eingefangene Verbrecher schlafen? Sie schlafen ruhig, sie genießen ihre neue Sicherheit. Hüte dich, dass dich nicht am Ende noch ein enger Glaube einfängt, ein harter, strenger Wahn! Dich nämlich verführt und versucht nunmehr jegliches, das eng und fest ist.“15

Nietzsche macht an dieser Stelle eine wesentliche Beobachtung. Der Schatten, d.h. der Mensch, der sich mit Zarathustra losgerissen hat von allen Traditionen und Ordnungen, kann nicht einfach zurück. In einer Zeit, in der sich vieles auflöst und alles im Fluss ist, entsteht zwar eine neue Sehnsucht nach beständigen, unveränderlichen Wahrheiten; aber die alten Gewissheiten sind nicht einfach wieder verfügbar. Attraktiv wird daher nun „jegliches, das eng und fest ist“.

Mit seinem Bild des Schattens macht Nietzsche deutlich, wie Fundamentalismus funktioniert: Er ist eine Reaktion auf eine ungeheure Verunsicherungserfahrung. Und nun ist er radikal auf das fixiert, was er ablehnt. Er lebt nicht mehr in der fraglosen Gewissheit altehrwürdiger Tradition, sicher ist er sich vor allem in der Wut auf das, was ihn verunsichert hat. Nun lebt er gewissermaßen in permanenter Absetzung von seinem Gegner. Nichts ist für die Sehnsucht nach der großen Freiheit beflügelnder als die Beschäftigung mit den Ketten ehemaliger Gefangenschaft. Nichts ist für das Streben nach Sicherheit und Halt so bestärkend wie der angstvolle Blick auf die Mächte der Auflösung. Jeder Radikalismus lebt von der intensiven Beschäftigung mit seinem Gegenbild. Anfällig kann man dafür an allen Seiten des Spektrums werden: im radikalen Kampf gegen links wie gegen rechts, gegen Liberalität wie gegen Fundamentalismus. Je mehr sich eine Strömung durch die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft an den Rand gedrückt fühlt, desto anfälliger wird sie für eine solche Radikalisierung.

Ich möchte daher vorschlagen, die Erscheinung des Fundamentalismus mit Hilfe zweier Metaphern wahrzunehmen: als Seismograph und als Überdosierung. Als Seismograph reagieren fundamentalistische Strömungen auf kulturelle Veränderungen, auf den Verlust ehemaliger Geborgenheit, auf den Schwund früherer Wertschätzungen oder ganz allgemein die Erschöpfung früherer Gewissheiten, die vielen Menschen Halt und Orientierung gaben. Und mag man die fundamentalistischen Reaktionen noch so aggressiv und unverständig finden, in der besorgten oder wütenden Wahrnehmung von Veränderungen zeigt sich eine Sensibilität, die auch denen nicht gleichgültig sein sollte, die sich davon unbetroffen fühlen. Sehr häufig führen sämtliche Versuche, fundamentalistisch denkende Menschen auszugrenzen oder lächerlich zu machen, nur dazu, dass sie sich untereinander umso enger und entschiedener zusammenschließen und in ihrem Ausschluss einen Beleg, ja einen Beweis für das Recht ihrer kritischen Sicht auf die Außenwelt sehen. Daher ist es an der Zeit, nach den Wahrheitsmomenten fundamentalistischer Denkweisen zu fragen. Und wenn wir die Formel vom „Aufstand gegen die Moderne“ ernst nehmen, so reagieren Formen des Fundamentalismus ja auch auf problematische Erscheinungen der Moderne: die mit der zunehmenden Individualisierung verbundenen Entfremdungsprozesse in Familie und Nachbarschaft; die mit der Verwissenschaftlichung des Weltumgangs einhergehende Abwertung von Lebenserfahrung, Weisheit und Traditionen. Im Fundamentalismus verdichtet sich ein Krisenbewusstsein für die problematischen Seiten der Moderne.

Man mag fundamentalistischen Haltungen vorwerfen, sich einseitig und ungerecht von einem Kulturpessimismus bestimmen zu lassen, der nicht wahrzunehmen vermag, dass die negativen Seiten der Modernisierung seit Generationen öffentlich diskutiert werden.16