Transgender - Preston Sprinkle - E-Book

Transgender E-Book

Preston Sprinkle

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Beschreibung

Ein zugänglicher und praktischer Leitfaden für alle, die sich in der Transgender-Diskussion zurechtfinden wollen. Mitfühlend, biblisch und zum Nachdenken anregend. Mit großer Wertschätzung und Sorgfalt wagt sich Preston Sprinkle, Theologe und Buchautor, an das heiß diskutierte und sensible Thema "Transgender". Dabei erläutert er, was es bedeutet, Transgender, nicht-binär oder gender-queer zu sein und wie sich diese Identitäten zum Mann- oder Frausein verhalten. Um der Frage nachzugehen, wer oder was über das Geschlecht eines Menschen bestimmt, der sich "wie im falschen Körper" fühlt, bedient er sich theologischer, medizinischer und philosophischer Denkfiguren. Auf der Suche nach Antworten durchleuchtet er nicht nur gesellschaftliche Geschlechter-Stereotypen und aktuelle Trends und Meinungen, sondern zieht auch neueste wissenschaftliche Erkenntnise zurate. Zugleich zeigt der Autor anhand vieler persönlicher Geschichten die Leidensproblematik von Betroffenen auf, diskutiert geschlechtsumwandelnde Operationen und sensibilisiert für die Erfahrungs- und Gefühlswelt von Trans-Personen, die oft von großer Zerrissenheit geprägt sind. Auf diese Weise stattet Sprinkle die Leser mit praktischem Handwerkszeug aus, um dem Thema ethisch und theologisch fundiert zu begegnen und Betroffenen mit dem nötigen Einfühlungsvermögen und Offenheit entgegenzukommen.

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Was andere an diesem Buch begeistert

Dr. Preston Sprinkle ist eine der wichtigsten Stimmen zur ­biblisch-theologischen Sexualethik: bibeltreu, intelligent, gut recherchiert, nuanciert, aufgeschlossen und überzeugungsstark, einfühlsam und mit einem nüchternen, realistischen Blick auf die Welt. Dieses Buch enthält keine trockenen Daten; es besteht aus den echten, fesselnden Geschichten von Angehörigen sexueller Minderheiten, die Jesus nachfolgen wollen, mitten im Kulturkampf der Ideologien und Agenden. Es ist das beste Buch, das ich zu diesem Thema gefunden habe.

John Mark Comer, Pastor der Bridgetown Church und Autor von Das Ende der Rastlosigkeit, Live No Lies und Ruhe. Arbeit. Ewigkeit.

Es gibt viele gute Bücher über Transgender-Identitäten, aber wenn Sie nach einem Buch suchen, das wissenschaftlich fun­diert ist, theologisch in die Tiefe geht und Seite für Seite von Gnade durchtränkt ist, dann ist Transgender genau das Rich­tige. Egal, ob Sie ein Wissenschaftler sind, der sich gründ­lich mit dem Thema auseinandersetzen will, ob Sie ein Transgender-Kind haben, dem Sie helfen wollen, ob Sie den Trans-Menschen in Ihrem Umfeld ein besserer Freund sein wollen oder ob Sie selbst mit Ihrer geschlechtlichen Identität ringen: Dieses Buch wird eine wertvolle Ressource sein. Ich bin Preston Sprinkle dankbar, dass er ein so wichtiges und aktuelles Buch geschrieben und die dafür notwendige Recherche unternommen hat.

Sean McDowell, PhD, außerordentlicher Professor an der Talbot School of Theology und Autor von Same-Sex Marriage

Mit seinem neuen Buch hat Preston Sprinkle der Kirche einen großen Dienst erwiesen, indem er die Transgender-Debatte biblisch, einfühlsam und mit einem seelsorgerlichen Herzen durchleuchtet hat. Seine biblische und exegetische Glaubwür­digkeit ist offensichtlich und sein Umgang mit der Bibel ist von Sorgfalt und Präzision geprägt. Als Pastor, der zahlreiche herzliche Beziehungen zu Transgender-Menschen pflegt, verfügt er über ein besonderes Einfühlungsvermögen, das ihn befähigt, der Kirche insgesamt guten, klugen Rat zu geben.

Auch wenn manche Leserinnen und Leser mit Preston nicht in allen Punkten übereinstimmen werden: Sein Ansatz ist sowohl biblisch fundiert als auch beziehungsorientiert und voller Mitgefühl. Ich kenne kein besseres Werk zu diesem vielschichtigen Thema als „Transgender“ und niemand ist besser geeignet als Preston Sprinkle, dieses Buch zu schreiben.

Scott B. Rae, Professor und Dekan des Fachbereichs für christliche Ethik, Talbot School of Theology, Biola University

Als jemand, der Jesus nachfolgt und sich gleichzeitig seiner geschlechtlichen Identität nicht sicher ist, habe ich nach Literatur gesucht, die gut recherchiert, mitfühlend und praktisch ist. Es ist erstaunlich, wie Preston Sprinkle diesen drei Ansprüchen in seinem Buch Transgender gerecht wird. Jedem, der Trans*-Menschen besser verstehen will oder für sich selbst nach Antworten sucht, kann ich dieses Buch nur wärmstens empfehlen. Auf jeden Fall ist es ein wunderbarer Einstieg zu einer tieferen Auseinandersetzung mit diesem herausfordernden Thema.

Benjamin Schulke

Preston Sprinkle

TRANSGENDER

Eine wertschätzende Annäherung aus christlicher Perspektive

Aus dem Englischen von Beate Zobel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Der Fontis-Verlag wird von 2021 bis 2024 vom Schweizer Bundesamt für Kultur unterstützt.

Originally published in English under the title: „Embodied“ © 2021 Preston Sprinkle Published by David C Cook 4050 Lee Vance Drive, Colorado Springs, Colorado 80918 U.S.A.

Diese Buch erschien zuerst auf Englisch unter dem Titel: „Embodied“ © 2021 Preston Sprinkle Herausgegeben von David C Cook 4050 Lee Vance Drive, Colorado Springs, Colorado 80918 U.S.A.

In diesem Buch werden unter anderem die Geschichten von Personen erzählt, die sich selbst nicht als ausschließlich männlich oder weiblich verstehen. Wo sie zu Wort kommen, wird das Pronomen „sier“ verwendet, und zwar ohne Flexion.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird überwiegend das generische Masku­linum verwendet, also z. B. von „dem Teenager“ oder „dem Jugendlichen“ gesprochen. Wo nur männliche Begriffe und Pronomen stehen, gelten diese im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Menschen und beinhalten keine Wertung.

Es wurden folgende Bibelübersetzungen verwendet und wie folgt gekennzeichnet:

L – Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.EÜ – Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. © 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.Hfa – Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®, Herausgeber: Fontis-Verlag Basel.NGÜ – Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen. Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.ZB – Zürcher Bibel © 2007 Zürcher Bibel/Theologischer Verlag Zürich.ELB – Elberfelder Bibel © 1985/1991/2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen.

Alle Hervorhebungen in Zitaten und Bibelzitaten sind vom Autor hinzugefügt.

Copyright der deutschen Ausgabe: © 2024 by Fontis-Verlag Basel

Umschlaggestaltung und Satz (Print): Gabriel Walther Media & Design, Berlin E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Stefan Jäger

ISBN (EPUB) 978-3-03848-459-2

Für Lesli,Mentor*in, Freund*inund treu im Dienst für Jesus und die Menschen

INHALT

Vorwort

Kapitel 1: Menschen

Kapitel 2: Zehntausend Geschlechter

Kapitel 3: Was bedeutet es, trans* zu sein?

Kapitel 4: Männlich und weiblich im Bilde Gottes

Kapitel 5: Geschlechterstereotype

Kapitel 6: Aber was ist mit Eunuchen? … und andere Fragen

Kapitel 7: Und was ist mit Intersexualität?

Kapitel 8: Ein männliches Gehirn einem weiblichen Körper

Kapitel 9: Eine weibliche Seele in einem männlichen Körper

Einschub

Kapitel 10: ROGD – zunehmende ­­Trans-Identifizierung unter Jugendlichen

Kapitel 11: Geschlechtsangleichung für Nachfolger Jesu

Kapitel 12: Pronomen, Toiletten und Schlafräume

Fazit: Grenzenlose Liebe

Anhang: Selbstmordgefährdung von Trans*-Menschen

Anmerkungen

VORWORT

Die Idee zu diesem Buch entstand an einem kühlen Oktoberabend im Jahr 2014 in East Chicago. Ich saß dick eingemummelt draußen und rauchte mit meinem schwulen Freund Kevin zusammen eine Zigarre. Er ermutigte mich, mein Buch über Homosexualität fertigzuschreiben.

„Aber ich bin nicht schwul“, sagte ich. „Gibt es nicht schon zu viele Heteros, die meinen, sie müssten über Homosexualität schreiben?“

„Stimmt schon“, nickte Kevin, „aber es gibt nicht viele Hetero-Christen, die so über uns reden wie du. Du versuchst wirklich, dich in uns hineinzuversetzen. Das gibt uns das Gefühl, dass du uns wirklich im Blick hast.“

Ich lehnte mich zurück, zog an meiner Zigarre und ließ das Kompliment auf mich wirken. Doch während ich noch über seine freundlichen Worte nachdachte, äußerte er einen weniger ermutigenden Gedanken.

„Weißt du, Preston, leider wird das Thema schon nicht mehr aktuell sein, wenn dein Buch herauskommt. Ich denke, es wird bald mehr um geschlechtliche Identität als um sexuelle Orientierung gehen. Das Buch ist überholt, bevor es überhaupt in die Läden kommt.“

Er sollte recht behalten. Nach diesem Gespräch verging noch ein Jahr, bis im November 2015 mein Buch People to Be Loved: Why Homosexuality Is Not Just an Issue erschien. Inzwischen beherrschten Transgender-Themen die Medien. Die amerikanische TV-Persönlichkeit Caitlyn Jenner, die 1976 als Mann olympisches Gold gewonnen hatte, outete sich 2015 als Trans-Frau und erregte mit ihrer Transition internationale Aufmerksamkeit. In den USA liefen erfolgreiche Fernsehserien wie Transparent und Orange Is the New Black, in denen Transgender-Personen wichtige Rollen spielten, und die Reality Show I Am Jazz zeigte den Alltag von Jazz Jennings, einem Transgender-Teenager.

Vielgelesene Zeitschriften wie National Geographic und Time brachten Artikel über Transgender-Personen auf den Titelseiten. Im Juni 2015 wurde die gleichgeschlechtliche Ehe in allen fünfzig US-Bundesstaaten legalisiert, was einen bedeutenden Fortschritt für die Homosexuellen-Aktivisten bedeutete. Damit rückte die Diskussion um Transgender-Rechte als „nächste Aufgabe der Bürgerrechtsbewegung“ in den Vordergrund.1 Trans*-Themen wurden immer mehr zum zentralen Thema der LGBTQ-Diskussion (das Sternchen und die Buchstaben LGBTQ erkläre ich später).

Angesichts dieser Entwicklung wandte ich mich, kaum dass People to Be Loved fertig war, dem Trans*-Thema zu. Und einmal mehr wurde ich enorm herausgefordert. Schon während meiner Arbeit an People to Be Loved war ich er­schüttert darüber, wie viel Leid und Schmerz homosexuelle Menschen ertragen müssen – auch in Kirchen und Gemeinden. Auch bei meiner Recherche für das vorliegende Buch ging mir das Unrecht, das Trans*-Menschen zugefügt wird, sehr nahe. Millionen von homosexuellen und Trans*-Personen, die in Kirchen und Gemeinden aufgewachsen sind, haben sie später verlassen, aus Scham und als Reaktion auf Spott und Verachtung. Viel zu oft hörte ich von ihnen den Satz: „Ich bin noch nie einem Christen begegnet, der nett zu mir war.“

Aber ich bin nicht trans*, sagte ich mir selbst immer wieder, es ist nicht meine Aufgabe, über Trans*-Identitäten zu schreiben. Ich habe diese Bedenken ernst genommen, als ich anfing, mich mit dem Trans*-Thema zu beschäftigen. Egal mit wie viel Mitmenschlichkeit ich mich dem Thema nähere, egal mit wie vielen Trans*-Personen ich befreundet bin – ich werde doch nie wirklich fühlen können, was es bedeutet, trans* zu sein. Die Kluft zwischen mir und den Menschen, die hier das Thema sind, wird nie ganz verschwinden.

Im Laufe der Jahre wurde ich unendlich oft von Eltern, Pastoren, Christen und auch von Trans*-Personen gefragt, was die Bibel und die Wissenschaft zu diesem Thema sagen. Keiner von ihnen erwartete, dass ich ihnen anhand meiner eigenen Erfahrungen erklärte, was es heißt, trans* zu sein. Aber sie baten mich darum, ihnen zu helfen, theologisch und wissenschaftlich über das Wesen des Menschen nachzudenken.

Was bedeutet es, männlich oder weiblich zu sein? Sind das die beiden einzigen Optionen? Kann ein Mann sich weiblich verhalten, darf eine Frau sich männlich verhalten? Kann man im falschen Körper geboren sein oder die Seele eines anderen Geschlechts haben? Mit welchen Pronomen soll ich über meine Trans*-Freunde sprechen? Wo lassen wir Trans*-Teenager im Sommerlager schlafen? Oder, die drängendste Frage: Mein Kind hat sich kürzlich als trans* geoutet. Ich weiß nicht genau, was das jetzt für uns bedeutet und was ich tun soll. Ich liebe mein Kind von ganzem Herzen und möchte Jesus mit meinem Verhalten Freude machen – können Sie mir dabei helfen?

Mit diesem Buch würde ich gern dazu beitragen, dass wir über dieses Thema gründlicher nachdenken und es mit mehr Liebe durchdringen – an beidem fehlt es leider oft. Auch wenn die meisten Leserinnen und Leser dieses Buches vermutlich Nicht-trans*-Christen sind, so hoffe ich doch, dass das Buch auch Trans*-Christen helfen wird, die sich fragen, wie sie ihre religiöse und ihre geschlechtliche Identität miteinander vereinbaren sollen. Ich habe versucht, ein Buch zu schreiben, in das die Stimmen, Bedürfnisse, Sorgen und die Weisheit von Trans*-Personen einfließen. Gegen Ende meiner Arbeit am Text bat ich mehrere Trans*-Personen und intersexuelle Menschen, das Manuskript zu prüfen. Manche ihrer Kommentare waren ermutigend, andere vernichtend. Aber alle waren hilfreich und haben dem Buch seine aktuelle Gestalt verliehen. Ich hoffe, dass alle, über deren Erfahrungen ich hier berichte, sich beim Lesen wertgeschätzt und wahrgenommen fühlen, auch wenn sie (ebenso wie so mancher Leser) nicht mit allem übereinstimmen, was ich darlege.

Um diesem Thema gerecht zu werden, habe ich mich mit verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen auseinanderge­setzt (u. a. Neurowissenschaften, theologische Anthropologie, Endokrinologie, Geschlechtertheorie und klinische Psycholo­gie). Mehr als ein Dutzend Wissenschaftler dieser Fachbereiche haben mein anfängliches Manuskript gelesen. Ich glaube, ich habe keines meiner Bücher so vielen Fachleuten zur Prüfung vorgelegt. Alle Textstellen, die jetzt noch falsch, verletzend oder irgendwie daneben sind, gehen allein auf mein Konto und liegen nicht in der Verantwortung meiner Prüfleser (oder meines tapferen Lektors).

Eine der Personen, die das Manuskript vorab gelesen hat, möchte ich ganz besonders hervorheben. SierI ist für mich ein*e Freund*in – eigentlich Mentor*in – und hat mich während der Auseinandersetzung mit diesem Thema engmaschig begleitet. Sier hat mir geholfen, die feinen Nuancen zu begreifen, hat mir bei Bedarf in den Hintern getreten und mir die Liebe Jesu vorgelebt. Ich verdanke dieser Person viel mehr, als sier ahnen kann. Sier ist dieses Buch gewidmet.

I Lesli versteht sich selbst nicht als ausschließlich männlich oder weiblich. Daher verwende ich für Lesli ein besonderes Pronomen. Im Deutschen handelt es sich um das Neopronomen „sier“, das ebenfalls weder männlich noch weiblich ist. In Kapitel 12 gehe ich ausführlich auf den Gebrauch von Pronomen für Transgender-Personen ein.

Kapitel 1

MENSCHEN

Mein*e Freund*in Lesli wurde als Mädchen geboren. Aber seit dem vierten Lebensjahr erlebte sier das Leben als Junge.II Lesli fühlte sich wie ein Junge. Dachte wie ein Junge. Spielte wie ein Junge. „Wenn die anderen Mädchen ‚Vater-Mutter-Kind‘ spielen wollten oder ihren Puppen und Kuscheltieren imaginäre Mahlzeiten auf Plastikgeschirr servierten, dann hatte ich Lust auf Fußball“, erzählte mir Lesli. „Als ich vier war, erklärte ich, dass ich die Superheldin Wonder Woman eines Tages zur Frau nehmen würde und wir Kinder mit Superkräften haben würden. Das erschien mir ganz natürlich.“2

Lesli erinnert sich auch daran, dass sier Jesus schon als kleines Kind von ganzem Herzen liebhatte. „Zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen gehören die Kindergottesdienste und der christliche Kindergarten. Ich war mir immer sicher, dass ich Gottes geliebtes Kind bin. Soweit ich mich erinnern kann, gab es keine Zeit in meinem Leben, in der die Wahrheit Gottes nicht tief in meinem Leben verwurzelt war.“

Mit zunehmendem Alter wurde es für Lesli immer schwerer, sich in der Jugendgruppe wohlzufühlen. „Ich empfand eine zunehmende innere Distanz zwischen mir und den anderen Mädchen“, erinnert sich Lesli. „Ich konnte mit ihren Themen immer weniger anfangen, je femininer diese wurden. Sie konnten Stunden damit zubringen, sich zu schminken, ihre Haare zu stylen und über Jungs zu reden. Das alles interessierte mich überhaupt nicht.“

Lesli war allein, wie fast alle Kinder, die mit ihrer Geschlechtsidentität zu kämpfen haben. Da war niemand zum Reden und niemand, der zuhörte. Leslis Themen schienen keinen zu interessieren. So versank Lesli zunehmend in dunkle Phasen der Depression. Das führte dazu, dass auch suizidale Gedanken nicht mehr weit waren. „In der High-School spielte ich die Rolle, die von mir erwartet wurde, während ich immer bedrückter wurde und immer häufiger über Selbstmord nachdachte.“

Endlich nahm Lesli allen Mut zusammen und beschloss, den Pastor von sier Gemeinde um Hilfe zu bitten. Lesli erzählte ihm von der schwierigen emotionalen Situation und hoffte auf seelsorgerlichen Beistand. Was geschah? „Mein Pastor begleitete mich zur Tür und bat mich, nie wiederzukommen. Daran habe ich mich gehalten. In den folgenden achtzehn Jahren habe ich keine Kirche mehr betreten. Von dem Tag an hasste ich Christen, ganz besonders Pastoren.“

Lesli sehnte sich danach, Jesus nachzufolgen, wurde aber aus der Kirche hinauskomplementiert, weil sier an Geschlechtsdysphorie litt (also der Inkongruenz zwischen dem angeborenen Geschlecht und der gefühlten Geschlechtsidentität).

In diesem Buch geht es um Menschen. Schöne, ehrliche und mutige Menschen wie Lesli. Und Menschen wie Carol und Stephanie.

Stephanie wuchs als ein stereotypisch feminines Mädchen heran, das dem autistischen Spektrum angehört.3 Mit drei­zehn Jahren erklärte sie ihrer Mutter Carol, dass sie trans­­geschlechtlich wäre. Diese Mitteilung schien wie aus dem Nichts zu kommen. Es gab keine auf Geschlechtsdysphorie hindeutende Vorgeschichte, keine stereotypisch jungenhaften Interessen oder Verhaltensweisen. Dann fand Carol heraus, dass in Stephanies Klasse vor Kurzem das Transgender-Thema im Unterricht behandelt worden war und dass sich über 5 % der Schülerinnen und Schüler dieser Schule als trans-geschlechtlich oder nicht-binär identifizierten.

Carol ging mit Stephanie zu einer Gender-Klinik, um sich beraten zu lassen. Von ihrem Gespräch mit dem Arzt berichtete Carol:

Ich sollte meine Tochter mit männlichen Pronomen ansprechen, ihr einen männlichen Namen geben und ihr einen Binder kaufen, der die Brüste flacher erscheinen lässt. Der Arzt empfahl keine therapeutische Begleitung und die sozialen Faktoren, die das Denken meines Kindes vermutlich beeinflusst hatten, wurden nicht berücksichtigt. Stattdessen wurde ich angewiesen, meiner Tochter pubertätshemmende Medikamente verschreiben zu lassen.

Ärzte in den USA raten oft zur Hormonbehandlung, wenn Kinder schon vor Beginn der Pubertät mit ihrer Geschlechtsidentität ringen. Aber man weiß wenig über die langfristigen Auswirkungen dieser Therapie. Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft sind negative gesundheitliche Folgen für die Knochen, das Herz und das Gehirn möglich.III Trotzdem sagten die Ärzte zu Carol, dass Pubertätsblocker die beste Behandlung für ihre dreizehnjährige Tochter seien. „Man erklärte mir, dass diese Medikamente gut erforscht seien und Stephanie die Möglichkeit geben würden‚ in Ruhe herauszufinden, was ihr Geschlecht sei. Man sagte mir auch, dass Stephanies Selbstmordrisiko steigen würde, wenn ich nicht in die Behandlung einwilligen würde.“

Carol befürchtete, das Sorgerecht für ihr Kind zu verlieren, wenn sie die empfohlene Medikation ablehnen oder infrage stellen würde. Zu viele kritische Fragen konnten einem als religiöser Fanatismus oder mangelnde Akzeptanz ausgelegt werden. In New Jersey, wo Carol und Stephanie lebten, „ermutigt das Bildungsministerium die Schulen offiziell dazu, solche Eltern zu melden“. Trotzdem wunderte sich Carol: „Warum verabreichen Ärzte Kindern Medikamente angesichts einer nicht nachweisbaren, in Entwicklung begriffenen Geschlechtsidentität?“

Dieses Buch handelt von Menschen. Menschen wie Lesli, Stephanie und Carol. Und von Menschen wie Alan.

Alan wuchs als Sohn eines Pastors auf, konnte es aber kaum erwarten, endlich die High-School abzuschließen und die Gemeinde seiner Eltern zu verlassen.4 Seit er denken konnte, verspürte Alan das ungesuchte Verlangen, sich wie eine Frau zu kleiden, zu bewegen und zu verhalten. Doch es gab niemanden, mit dem er darüber reden konnte. Die Einstellung der Menschen in seiner Kirche zu LGBTQ-Themen trieb ihn zusätzlich in die Isolation. Seine Scham wuchs. „Die Heuchelei der Christen, die behaupteten, von Gnade erfüllt zu sein, sich aber (besonders in Bezug auf queere Menschen) ganz anders verhielten, verletzte mich sehr.“

Nach der High-School verließ Alan die Gemeinde. Eines Tages bat ihn ein christlicher Freund, ihm von sich zu erzählen. Alan offenbarte ihm alles: den Wunsch, eine Frau zu sein, die sexuelle Anziehung zu Männern und seine Unfähigkeit, gemäß den eigenen sexualethischen Überzeugungen zu leben. Die Reaktion seines Freundes überraschte ihn: „Statt der Verurteilung, die ich erwartet hatte, wurde mir gesagt, dass Gott mich nicht hasst, sondern dass ich von Gott und den Menschen geliebt bin.“

Diese einfachen Worte berührten Alan tief und so öffnete er sich für Jesus.

„Wäre ich dieser reinen, unverfälschten Gnade nicht be­gegnet, dann hätte ich mein Geschlecht gewechselt, wäre eine Trans-Frau geworden und aus der Kirche ausgetreten“, sagte Alan.

Ich lernte die biblischen Vorstellungen von Männlichkeit zu akzeptieren – aber nicht wegen der überzeugenden exegetischen Argumente gegen Transsexualität, auch nicht aufgrund einer Hetzrede gegen Homosexualität, sondern weil ein Mann mir den Raum gab, offen über meine Wünsche zu sprechen, und mich wissen ließ, dass er und Gott mich trotz allem liebten.

Alans Aussage ist so gehaltvoll, dass ich sie wiederholen möchte: „… weil ein Mann mir den Raum gab, offen über meine Wünsche zu sprechen, und mich wissen ließ, dass er und Gott mich trotz allem liebten.“ Es war Liebe, nicht Logik, der es gelang, Alans Herz zu verwandeln. Menschen werden selten mit Argumenten ins Reich Gottes gebracht.

Dieses Buch handelt von Menschen. Es sind Menschen wie Lesli, Stephanie, Carol, Alan und viele andere, die wir auf den folgenden Seiten kennenlernen werden. Ich werde von Kat und Christian erzählen und von meiner Freundin Kyla, die vor acht Jahren die Transition zum Mann vollzog, aber einige Jahre später Jesus begegnete, detransitionierte und nun wieder als Frau lebt. Es wird auch um Benjamin gehen, einen Pastor, der schon sein ganzes Leben lang mit Geschlechtsdysphorie ringt. Das Buch beschreibt Väter, deren Töchter jetzt Söhne sind, und Söhne, deren Väter jetzt Mütter sind. Wir werden Menschen wie Matt kennenlernen, dessen wiederkehrende Ängste nur dann nachlassen, wenn er Frauenunterwäsche trägt. Und es wird um Leute wie meine liebe Freundin Hannah gehen, eine der freundlichsten, unterhaltsamsten und biblisch versiertesten Christinnen, die ich kenne, und die vor drei Jahren von einem Mann zur Frau transitionierte.

Menschen und Konzepte

In diesem Buch geht es um Menschen. Ganz unterschied­liche, wunderbare Menschen, geschaffen in Gottes Ebenbild, oft ausgegrenzt und missverstanden, beschämt und gemieden von denen, die ihr Erleben nicht teilen. Menschen, die in Gottes Augen unendlich wertvoll sind. Um ihnen gerecht zu werden, müssen wir auch die Konzepte verstehen: biblische, theologische, wissenschaftliche, medizinische und philosophische Konzepte über die menschliche Natur, den männlichen und weiblichen Körper und darüber, was es bedeutet, gemäß dem Bild zu leben, nach dem Gott uns geschaffen hat.

Es gibt zwei gefährliche Trends, die ich manchmal in der Transgender-Diskussion beobachte. Der erste Trend besteht darin, dass Kulturkrieger sich gegen alles erheben, was irgendwie mit Trans* zu tun hat. Sie interessieren sich nicht im Geringsten für tatsächliche Trans*-Menschen. Ihnen geht es nur darum, die Transgender-Ideologien zu widerlegen, von denen sie in den sozialen Medien lesen. Frauen werden zu Männern. Männer werden zu Frauen. Zehntausend Geschlechter! Sind denn alle verrückt geworden? Sie lesen oberflächliche und polarisierende Artikel, die sich über Trans*-Menschen lustig machen und die Trans-Debatte als unlogisch und unwissenschaftlich darstellen. Sie sind zufrieden, wenn sie ihre Zuhörer überzeugen und die Diskussion gewinnen können. Ihre politischen Standpunkte übernehmen sie oft von nur einem Politiker, der ihnen besonders zusagt. Gleichzeitig ahnen sie nicht, dass die Person, neben der sie Sonntag für Sonntag im Gottesdienst sitzen, insgeheim mit ihrer Geschlechtsidentität ringt. Diese Person zerreißt es fast innerlich, aber sie hat niemanden, mit dem sie reden kann. Sie erlebt die Kirche nicht als Krankenhaus für Heilige, sondern als Minenfeld für Ausgegrenzte – und viele Christen bemerken es nicht einmal.

Der zweite Trend besteht darin, gegen den ersten Trend aufzubegehren, Wissen und Erkenntnisse außer Acht zu lassen und zu lieben statt zu denken. Ich werde die Menschen einfach lieben – fertig. Manche meinen damit: Es ist mir zu schwierig, mich mit der theologischen und wissenschaftlichen Komplexität der menschlichen Natur auseinanderzusetzen. Das belastet mich nur.

Ich kann das durchaus nachvollziehen. Manche theologi­schen Diskussionen sind leider unangenehm, hasserfüllt und lassen die Liebe zu den Menschen, um die es geht, vollständig vermissen. Aber wenn das Pendel zu weit in die andere Richtung ausschlägt – wenn Mitgefühl das Nachdenken ersetzt –, kann das auch Schaden anrichten.5

Die christlichen Wirtschaftswissenschaftler Steve Corbett und Brian Fikkert beschreiben dies in ihrem treffend betitelten Buch When Helping Hurts (Wenn Helfen wehtut).6 Mitgefühl ohne kritisches Denken kann dazu verleiten, Dinge zu tun, die einer Person zwar kurzfristig angenehm sind, ihr aber auf lange Sicht dennoch schaden. Wenn mir Blut aus einer großen Wunde spritzt, brauche ich keinen Arzt mit Einfühlungsvermögen. Dann hoffe ich auf einen Chirurgen, der weiß, was zu tun ist.

Menschen und Konzepte. Beides ist wichtig und notwendig. Jesus stellt in seinem Reich alles auf den Kopf: Ausgestoßenen wäscht er die Füße, Ausgegrenzte sind willkommen und Entmenschlichten gibt er ihre Würde zurück. In seinem Reich wird die Wahrheit gefeiert und verkündigt. Jesus liebt alle, die seiner Wahrheit nicht genügen. Wir werden das Reich Gottes auf bessere Weise leiblich verwirklichen und die Menschen mehr lieben können, wenn wir einige grundlegende (und z. T. recht komplexe) biblische, theologische und wissenschaftliche Konzepte darüber verstanden haben, was es bedeutet, ein Mensch zu sein – ein geschlechtliches und leibliches Wesen, das das Gottes Bild in sich trägt.

Die Frage der Inkongruenz

Weil dieses Buch von verschiedenen Menschen handelt, wer­den wir verschiedenen konzeptionellen Fragen nachgehen: Sind männlich und weiblich die einzigen Optionen? Was ist mit Menschen, die intersexuell sind? Kann jemand mit einem männlichen Gehirn in einem weiblichen Körper geboren wer­den oder andersherum? Müssen Männer sich männlich und Frauen sich weiblich verhalten, um Gott zu gefallen? Ist eine Transition – ein Wechsel des Geschlechts – für einen Christen überhaupt denkbar? Und welche Pronomen sollten Nicht-trans-Menschen für Trans-Menschen gebrauchen?

Auf diese und viele andere Fragen werden wir noch eingehen. Aber eine Frage liegt allem zugrunde. Sie ist die Ausgangsfrage für alle weiteren Themen und wir werden immer wieder auf sie zurückkommen. Sie lautet:

Wenn jemand eine Inkongruenz zwischen seinem biologischen ­Geschlecht und seinem inneren Selbstempfinden erlebt, woran entscheidet sich dann, wer er ist – und warum?

Ein Beispiel: Wenn ein biologischer Mann denkt oder glaubt, dass er eine Frau ist, ist er dann eine Frau oder ein Mann? Wenn sier das Gefühl hat, dass sier weiblich ist, und der Körper sagt, dass sier männlich ist, was ist sier dann und warum? Bestimmt eher der Körper oder der Geist, wer wir sind?

Warum sollte der Körper wichtiger sein als die Seele, wenn es zwischen ihnen keine Übereinstimmung gibt? Oder warum sollte die emotionale und mentale Wahrnehmung wichtiger sein als die körperliche Erscheinung, wenn eine Inkongruenz vorliegt? Dies sind keine abstrakten intellektuellen Fragen der Kategorie: „Wie viele Engel können auf einem Stecknadelkopf einen Reigen tanzen?“ Nein, das sind elementare Fragen, die darüber entscheiden, wie sich Nachfolger Jesu verhalten, die eine Inkongruenz zwischen ihrem biologischen und ihrem so­zialen Geschlecht erleben.

Das Thema der Inkongruenz ist letztlich eine Frage der menschlichen Ontologie. Dieser philosophische Begriff hat mit der Natur des Seins zu tun, besonders mit der Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, zu dem auch ein Körper mit biologischem Geschlecht gehört. Die Ontologie ist keine abstrakte philosophische Disziplin, die nur in akademischen Elfenbeintürmen stattfindet. Vielmehr ist sie grundlegend für die Gestaltung der Nachfolge Jesu und das Ziel, ihm ähnlicher zu werden. Wir müssen zuerst verstehen, wer wir sind (Ontologie), bevor wir herausfinden können, wie wir gemäß den Vorstellungen Gottes werden sollen (Jüngerschaft). Die Ontologie ist integraler Bestandteil der Jüngerschaft, denn Jüngerschaft bedeutet, unserer Bestimmung gemäß zu leben – als Ebenbilder Gottes.

Ein weiterer entscheidender Aspekt, unserer Bestimmung gemäß zu leben, ist, gütig zu sein. Der Güte Gottes Gestalt zu geben (Römer 2,4), wie Jesus es getan hat – insbesondere jenen gegenüber, die in der Kirche beschämt und geächtet wurden –, gehört wesentlich zur Nachfolge. Ganz besonders gegenüber Menschen wie mein*er Freund*in Lesli.

Es wäre uns eine Ehre

Wir erinnern uns: Lesli wurde aus dem Büro eines Pastors geworfen, nachdem sier ihn um Hilfe gebeten hatte. Aber kein Mensch kann ohne Liebe und Gemeinschaft leben. Also suchte Lesli anderswo nach Annahme und Nähe und fand diese in der LGBTQ-Community. Dort traf Lesli auch andere Menschen, die Spott und Ablehnung durch Christen erfahren hatten.

Dann verliebte sich Lesli in eine Frau namens Sue und die beiden heirateten. Sue litt an einer seltenen Krankheit, die ihre Hände zittern ließ. Eines Abends ging sie nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen, aber ihre Hände zitterten so stark, dass sie sich beim Anzünden der Zigarette selbst in Brand setzte. Lesli erledigte gerade den Abwasch, als sier Sue schreien hörte. Sier rannte nach draußen, um zu sehen, was los war. Da stand Sue bereits in Flammen. Sie wurde sofort ins Krankenhaus gebracht, aber die Verbrennungen waren zu schwer. Drei Tage später war Sue tot.

Der Verlust der geliebten Partnerin war für Lesli unerträglich. Lesli stand noch unter Schock, als sier Sues Beerdigung organisieren musste. Nachdem Lesli achtzehn Jahre lang keinen Fuß in eine Kirche gesetzt hatte, rief sier nun die einzige Kirche an, die sier kannte, weil Sue dort einmal ehrenamtlich mitgearbeitet hatte. Allerdings war das eine der konservativsten Kirchen in der ganzen Gegend. Als Lesli die Nummer wählte, nahm der Pastor selbst den Hörer ab. Stotternd sagte Lesli: „Hallo, mein Name ist Lesli. Meine Frau ist gerade gestorben. Wir sind lesbisch, aber, ähm … ich wollte fragen, ob Sie die Trauerfeier ausrichten würden.“

Der Pastor sagte nicht: „Geben Sie mir ein bisschen Bedenkzeit“, oder: „Das ist schon möglich, aber zunächst möchte ich Ihnen darlegen, wie wir zu einem lesbischen Lebensstil stehen.“ Nein. Voller Mitgefühl und Überzeugung sagte der Pastor:

„Es wäre uns eine Ehre.“

„Ihr Verlust tut mir sehr leid“, fuhr der Pastor fort, „das muss schrecklich für Sie sein. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie die Trauer sich anfühlt, die Sie gerade erleben. Bitte, Lesli, erlauben Sie uns, alle Details der Beerdigung zu regeln – wir würden gern die Kosten übernehmen, das Organisatorische erledigen und alles tun, was jetzt nötig ist. Gestatten Sie uns, Ihnen in dieser schweren Zeit beizustehen.“

Die Gemeinde umgab Lesli mit Liebe – etwas, das sier von Christen so noch nie erfahren hatte. Diese praktische christ­liche Nächstenliebe brachte Lesli zum Glauben zurück und sier Leidenschaft für Jesus wurde neu entfacht. Lesli ist angekommen, ist mit uns zusammen Teil der neuen Schöpfung Gottes, bis in alle Ewigkeit – nur weil ein Pastor den Mut hatte, Gottes Freundlichkeit auszuleben.

Lesli ist einer der wunderbarsten, christlichsten und aufopferungsvollsten Menschen, die ich je getroffen habe. Wenn ich Gebet brauche, wende ich mich an Lesli. Wenn ich mich nach Ermutigung sehne, bitte ich Lesli um einen Video-Call. Wenn ich einen kräftigen geistlichen Tritt in den Hintern brauche, schwingt Lesli sier Bein in meine Richtung.

Lesli verkörpert für mich die Gnade, Wahrheit und Freundlichkeit Gottes. Ich habe erlebt, wie Lesli bis in die frühen Morgenstunden aufblieb, um Teenager vom Selbstmord abzubringen. Lesli hat ein offenes Ohr, wenn diese Teenager niemanden haben, mit dem sie reden können. Sie wissen, dass sie Lesli offen sagen können: „Ich habe das Gefühl, im falschen Körper geboren zu sein, und ich weiß nicht, was ich machen soll. Vielleicht ist Selbstmord die einzige Lösung für mich.“

Lesli ist kein Thema und keine Debatte.

Lesli rettet buchstäblich das Leben von Menschen.

Lesli ist nicht nur bedürftig, sondern wird gebraucht.

Lesli ist kein Störfaktor in unserem gewohnten kirchlichen Ablauf, wo Menschen meinen, alles im Griff zu haben. Lesli ist ein Geschenk für die Kirche und die Kirche ist Jesus ähnlicher, weil Lesli ein Teil von ihr ist. Lesli ist nicht perfekt (und es ist sier sehr wichtig, dass ich das hier betone). Aber Lesli verkörpert die Freundlichkeit und Wahrheit, die sier von Jesus empfangen hat, als ein Pastor mutig genug war zu sagen: „Es wäre uns eine Ehre, an Ihrer Seite sein zu dürfen.“

Indem wir weiter über Fragen im Zusammenhang mit Trans*-Identitäten nachdenken, wollen wir uns immer vor Augen halten: Vielleicht gibt es in unserer Jugendgruppe ein vierzehnjähriges Mädchen, das kaum noch weiterleben kann, weil es sich nicht wie ein Mädchen fühlt und niemanden hat, mit dem es reden kann. Es wurde in Gottes Ebenbild geschaffen und ist von Jesus geliebt.

Werden wir es auch lieben?

II Ich erzähle diese Geschichte aus Leslis Perspektive, wie Lesli sier Gefühle be- schreibt und wie sier die Kindheit und Pubertät erlebt hat. Später werde ich noch darauf eingehen, was es bedeutet, „wie ein Junge“ zu denken und zu spielen.

III Wir werden dies in Kapitel 11 ausführlicher besprechen.

Kapitel 2

ZEHNTAUSEND GESCHLECHTER

Dem Sprachgebrauch kommt im Reden über Transgender eine hohe Bedeutung zu. Doch der Versuch, mit der wachsenden Zahl von Fachbegriffen mitzukommen, kann sich anfühlen, als wollte man einen platten Reifen an einem fahrenden Auto reparieren. Es gibt Hunderte von Termini, die man erörtern könnte. Aber das wäre die reinste Kraftverschwendung, da es uns nur immer tiefer ins linguistische Dickicht führen würde.

Deshalb werden wir in diesem Buch nicht auf jeden Fachbegriff eingehen. Dafür gibt es Google. Dennoch möchte ich einen Überblick über einige der wichtigsten Bezeichnungen geben, die in der Trans*-Debatte häufig Verwendung finden. Und ja, ich werde auch das Gender-Sternchen (*) thematisieren. Doch die meiste Zeit werden wir uns (vor allem in der zweiten Hälfte dieses Kapitels) mit den beiden wichtigsten Begriffen der Trans-Thematik beschäftigen: biologisches Geschlecht (engl. sex) und Geschlechtsidentität bzw. soziales Geschlecht (engl. gender).

Schlüsselbegriffe

Fangen wir mit dem Begriff an, der für den Inhalt dieses Buches steht: transgender, Trans-Identität oder Trans-Geschlechtlichkeit. Laut dem christlichen Psychologen Mark Yarhouse ist transgender „ein Oberbegriff für alle Arten und Weisen, wie Menschen ihre Geschlechtsidentität erleben, darstellen und ausdrücken und worin sie sich von den Menschen unterschei­den, deren Gefühl der Geschlechtsidentität mit ihrem biologischen Geschlecht übereinstimmt“7.

Es ist wichtig, dass es sich um einen Sammelbegriff handelt, ein Dach, unter dem sich viele verschiedene Transgender-Ausprägungen versammeln. Dieses Dach bezieht den Mann ein, der sich nicht männlich fühlt. Er bezeichnet sich als transgender und möchte damit seinen inneren Zwiespalt und seine Abweichung von der Norm beschreiben.

Unter diesem Dach ist auch die Person, die unter schwerer Geschlechtsdysphorie leidet und das Gefühl hat, im falschen Körper geboren worden zu sein. Transgender ist ein weiter Begriff, mit dem wir uns im nächsten Kapitel ausführlich be­fassen werden.

Auch der Begriff nicht-binär bezieht sich auf eine Vielzahl von Geschlechtsidentitäten, die nicht ausschließlich männlich/weiblich (maskulin/feminin) sind. Binär ist etwas, das zwei Möglichkeiten bietet. Man kann es sich als ein Entweder-oder vorstellen: schwarz oder weiß, gut oder schlecht, männlich oder weiblich. Menschen, die sich als nicht-binär bezeichnen, haben das Gefühl, dass diese binären Kategorien ihre Erfahrung in Bezug auf ihr Geschlechtsempfinden nicht widerspiegeln. Vielleicht haben Sie auch schon Begriffe wie gender-queer, gender-fluid oder pan-gender gehört. Diese Bezeichnungen werden in der Regel ebenfalls für nicht-binäre Identitäten verwendet, von Menschen, deren Selbstwahrnehmung nicht mit der Mehrheit der männlichen und weiblichen Erfahrungen übereinstimmt.

Damit keine Missverständnisse entstehen: Alle nicht-intersexuellen Menschen (und die meisten intersexuellen Men­schen, wie wir noch sehen werden) sind biologisch männlich oder weiblich, unabhängig davon, wie sie sich identifizieren. Wenn sich also jemand als non-binär oder gender-queer bezeichnet oder einen anderen Begriff mit dem Wort -gender ­gebraucht, bedeutet das in der Regel nicht, dass er/sie biolo­gisch weder männlich noch weiblich wäre. Es bedeutet viel­mehr, dass die Person sich nicht in die sozialen Kategorien von Männlichkeit und Weiblichkeit einordnen lässt, sondern eine Inkongruenz zwischen ihrem Körper und ihrer Seele erlebt.

Transgender bezeichnet in der Regel eine biologisch weibliche Person, die sich als männlich identifiziert – oder umgekehrt –, während eine Person non-binär ist, wenn sie sich weder als männlich noch als weiblich identifiziert. Ich weiß, das wirkt zunächst verwirrend. Aber es wird einfacher, nachdem wir uns mit dem biologischen Geschlecht und der Geschlechtsidentität auseinandergesetzt haben.

Da sich im thematischen Umfeld der geschlechtlichen Identität manche Begriffe teilweise überschneiden, hilft man sich gern mit dem *-Sternchen. Ein Sternchen hinter dem Wort trans* bedeutet, dass man trans als weit gefassten Oberbegriff verwenden und eine ganze Reihe von Identitäten einschließen möchte, die nicht im engeren Sinne transgender sind, z. B. nicht-binär, gender-queer und dergleichen. So werde ich es auch in diesem Buch tun.

Geschlechtsdysphorie ist der psychologische Fachbegriff für das Unbehagen, das manche Menschen empfinden, wenn ihr inneres Selbstverständnis nicht mit ihrem biologischen Geschlecht übereinstimmt. Das Wort kann als allgemeine Beschreibung der Gefühle einer Person oder auch als psychologische Diagnose verwendet werden. Im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM), dem weltweit gültigen Klassifikationssystem für psychische Störungen, wurde die Geschlechtsdysphorie früher als Geschlechtsidentitätsstörung bezeichnet. In einer neueren Ausgabe des DSM von 2013 wurde der Begriff in Geschlechtsdysphorie geändert.

Das Erleben einer Dysphorie kann unterschiedlich ausgeprägt sein. Die Dysphorie kann in Wellen auftreten oder ein Leben lang im Hintergrund mitschwingen. Für Menschen, die nicht davon betroffen sind, ist es sehr schwer vorstellbar, wie sich das anfühlt. Deshalb es ist umso wichtiger, den Betroffenen zuzuhören. Manche beschreiben ihre Dysphorie wie folgt:

… das Gefühl, dass dich jeder einzelne Mensch im Raum anstarrt. Als ob dein Herz aufgerissen ist und sie darin herumstochern. Das mag für jemanden, der noch nie eine Geschlechtsdysphorie erlebt hat, ziemlich hart klingen, aber ich erlebe das in gewissem Maße fast jedes Mal, wenn ich mich an öffentlichen Orten aufhalte, wo ich unter Menschen bin. Es passiert auch, bevor ich mich zum Ausgehen bereit mache, was mir das Leben sehr schwer macht. Es ist ein großer Kampf, auch nur das Haus zu verlassen, und nachdem ich stundenlang gekämpft habe, bin ich erschöpft und am Boden … Ich fühle mich unfähig, gedemütigt und möchte einfach nur noch verschwinden.8

Ein elektrischer Strom schießt durch meinen Körper, der in den Gelenken schmerzt, mir den Magen umdreht, meine Hände zittern lässt und in den schlimmsten Momenten der Dysphorie auch Übelkeit verursacht. Wenn ich nachts im Bett liege, fühlt es sich so an, als ob die elektrischen Schaltkreise in meinem Körper nicht zusammenpassten oder als ob man zwei falsche Puzzleteile gewaltsam ineinanderstecken würde.9

Es kommt mir vor, als wäre mir irgendein gruseliges Serum in den Körper gespritzt worden, das ein seltsames, taubes und doch schmerzhaftes Gefühl hervorruft und sich in mein Fleisch frisst. Mein Rumpf und meine Gliedmaßen fühlen sich an, als wären sie unter Strom, aber ohne Kribbeln. Mein Magen ist immer unruhig und mein ganzer Körper ist ständig angespannt und verdammt müde von dem dauernden Stress.10

Können wir uns vorstellen, wie es Menschen geht, die unter Geschlechtsdysphorie leiden und Aussagen zu hören bekom­men wie „Gefühle bestimmen nicht, wer man ist“, „Das ist alles nur Einbildung“, „Warum hast du dich entschieden, trans zu sein?“ oder „Du rebellierst gegen Gott“. Statt über ihre Er­fahrungen zu urteilen, sollten wir den Personen zuhören und sie liebhaben.

Nein, nicht jeder, der sich als trans-geschlechtlich identi­fiziert, leidet unter Geschlechtsdysphorie. Und nicht jeder, der Geschlechtsdysphorie erlebt, identifiziert sich als transident. Geschlechtsdysphorie und transgender sind keine Synonyme.

Transition ist der von den meisten Trans*-Personen bevor­zugte Begriff für das, was auch als „Geschlechtsangleichung“ bezeichnet wird. Die Transition kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden: sozial, hormonell, chirurgisch und juristisch. Eine Person, die sich sozial transitioniert, wird anfangen, sich wie das Geschlecht, mit dem sie sich identifiziert, zu kleiden und zu verhalten. Dazu nimmt sie möglicherweise einen neuen Namen an und wählt Pronomen aus, die ihrer Geschlechts­identität und nicht ihrem biologischen Geschlecht entsprechen.

Eine hormonelle Transition bedeutet, dass hohe Mengen an Hormonen eingenommen werden, die typischerweise vom an­deren biologischen Geschlecht produziert werden: ­Personen, die männlich werden wollen, nehmen Testosteron, und Personen, die weiblich werden wollen, nehmen Östrogen. Dieser hormonelle Eingriff wird als „geschlechtsangleichende Hor­montherapie“ (GaHT) bezeichnet oder als „Hormoner­satz­the­rapie“ (HT oder HRT von engl. hormone replacement therapy).

Die chirurgische Transition wird auch als „geschlechtsangleichende Operation“ bezeichnet (GaOP), im Englischen spricht man von „gender confirmation surgery“ (GCS) oder „sex reassignment surgery“ (SRS). Jeder Begriff hat seine eigenen ideologischen Bezüge; es gibt keine neutrale Bezeichnung, die allen gefällt. Wir werden hier die Abkürzung GaOP verwenden, die im deutschsprachigen Raum in der medizinischen Fachwelt gebräuchlich ist.

Für biologisch weibliche Personen, die körperlich männlich werden wollen, kann eine GaOP eine doppelte Brustentfernung (Mastektomie), eine Gebärmutterentfernung (Hysterektomie), eine Eierstockentfernung (Ovarektomie) und eine Phalloplastik (Konstruktion eines Penis) umfassen, wobei sich nicht jeder für all diese Maßnahmen entscheidet und die Phalloplastik nur selten durchgeführt wird.

Bei biologischen Männern, die körperlich weiblich werden wollen, kann die GaOP die Konstruktion einer Vulva und einer Scheide anstelle von Penis und Hoden beinhalten, zusammen mit Brustimplantaten und anderen kosmetischen Verände­rungen. Allerdings nehmen die meisten trans*-identifizierten Menschen keine chirurgische Angleichung vor.11

Der Begriff Trans-Mann bezeichnet eine biologisch weib­liche Person, die sich als männlich identifiziert, entsprechend ist eine Trans-Frau eine biologisch männliche Person, die sich als weiblich identifiziert. Um die Begriffe nicht zu verwechseln, kann man sich klarmachen, dass sich das Wort „Frau“ oder „Mann“ in diesen Begriffen darauf bezieht, wie sich eine Person innerlich identifiziert.

Aus dem Englischen kommen die Abkürzungen FtM/MtF, die auch im Deutschen verwendet werden, vor allem im medi­zinischen und juristischen Zusammenhang. FtM steht für female to male, also für Trans-Männer, und MtF bedeutet male to female und beschreibt Trans-Frauen. Meist werden diese Abkürzungen für Trans*-Menschen verwendet, die eine Form der Transition durchlaufen haben. Von vielen Trans*-Personen wird der Begriff jedoch abgelehnt, weil er impliziert, dass eine Person ihr Geschlecht durch die Transition ändert, statt den Körper der gefühlten Identität anzugleichen.

Cis-gender, cis-geschlechtlich oder kurz cis ist ein Begriff, der sich auf diejenigen bezieht, die sich mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren. Cis kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „diesseits, auf dieser Seite bleiben“. Das ebenfalls lateinische trans bedeutet „über“ oder „darüber hinaus“. Im Grunde genommen bezeichnet cis-gender alle, die sich nicht als trans* identifizieren.

Da der Begriff manchmal mit ideolo­gischen Unterstellungen und Bedeutungszuschreibungen ein­hergeht, werde ich ihn in diesem Buch vermeiden, es sei denn, der Kontext oder das Zitat erfordern es. Statt cis verwende ich den neutraleren Begriff nicht-trans* für Menschen, die sich nicht als trans* identifizieren.

Unter dem Begriff der Intersexualität werden etwa sech­­zehn medizinische Erkrankungen zusammengefasst, bei denen eine Person mit einem oder mehreren atypischen Merkmalen in ihrer sexuellen Anatomie oder ihren Geschlechtschromosomen geboren wird. Der medizinische Begriff für intersexuelle Erkrankungen lautet „Varianten (oder: Unterschiede) der Geschlechtsentwicklung (oder: Geschlechtsdifferenzierung)“ (im Englischen differences/disorders of sex development), abgekürzt DSD. Die Bezeichnung „Hermaphrodit“ sollte man vermeiden, dieses Wort ist ein potenziell beleidigender und sehr veralteter Begriff.

Wir werden das Thema Intersexualität in Kapitel 7 eingehend behandeln. Bis dahin ist es wichtig, zwei Dinge zu wissen: (1) Intersexualität ist etwas anderes als Transsexualität. (2) 99 % der intersexuellen Menschen sind biologisch männlich oder weiblich (nur 1 % ist beides). Mit anderen Worten: Intersexuelle Menschen sind nicht „weder männlich noch weiblich“.

Damit sind wir bei der Frage: Was ist männlich und weiblich? Sind dies Identitäten oder Realitäten (oder beides)? Das heißt, identifizieren sich Menschen als männlich, weiblich, beides oder keines von beiden? Oder ist es eine biologische Tatsache, dass sie männlich oder weiblich geboren werden? Die Antworten auf diese Fragen hängen davon ab, welchen Zusammenhang wir zwischen dem biologischen Geschlecht und der geschlechtlichen Identität bzw. dem sozialen Geschlecht sehen.

Damit kommen wir zum eigentlichen Kern des Themas.

Sex und Gender

Biologisches Geschlecht (engl. sex) und geschlechtliche Identität (engl. gender) sind die beiden wichtigsten Konzepte in diesem Zusammenhang. Alles andere leitet sich von diesen beiden Begriffen ab. Es ist wichtig, dass wir den Unterschied verstehen.

Beginnen wir mit dem Begriff, der weniger umstritten ist: dem biologischen Geschlecht.

Sex – das biologische Geschlecht

Der Mensch ist, wie die meisten Lebewesen, äußerlich erkenn­bar zweigeschlechtlich, also geschlechtsdimorph. Zur Ge­schlechtsdimorphie gehört, dass sich der Mensch fortpflanzt, indem die Keimzellen (Spermien) der einen Geschlechtsart mit den Keimzellen (Eizellen) der anderen verschmelzen, um einen neuen Organismus zu erzeugen. Die Rollen bei der Fortpflanzung werden in den Kategorien „männlich“ und „weiblich“ klassifiziert.

Männliche und weibliche Menschen unterscheiden sich voneinander hinsichtlich ihrer Fortpflanzungsorgane. Weibliche Menschen entwickeln innere (Eierstöcke, Gebärmutter, Vagi­na) und äußere (Brüste, Vulva) anatomische Merkmale, die zum Teil zur Fortpflanzung beitragen. Auch männliche Men­schen entwickeln anatomische Merkmale, die zur Fortpflanzung beitragen (Penis, Hoden).

Die beiden Kategorien des Menschen unterscheiden sich auch hormonell, was zu ihrer Zweigeschlechtlichkeit beiträgt. So haben weibliche Organismen einen höheren Östrogenspiegel und männliche einen höheren Testosteronspiegel. Diese Sexualhormone führen zur Entwicklung verschiedener sekundärer Geschlechtsmerkmale wie Brüsten und breiteren Hüften bei Frauen und mehr Muskelmasse und Gesichtsbehaarung bei Männern.

Sexualhormone können auch das Verhalten beeinflussen (so macht ein hoher Testosteronspiegel eine Per­son körperlich aggressiv), allerdings ist das Ausmaß, in dem dies zutrifft, allgemein umstritten.

Wen das jetzt an den Biologieunterricht in der Schule erinnert – bitte wach bleiben! Dieses Wissen über Keimzellen und Fortpflanzung ist wichtig für unser Thema!

Genetisch gesehen unterscheidet das Vorhandensein eines Y-Chromosoms die männlichen von den weiblichen Indivi­duen. Die weiblichen Personen haben XX-Chromosomen, die meisten männlichen haben XY-Chromosomen. Einige Men­schen verfügen über ein zusätzliches X-Chromosom (oder möglicherweise über zwei oder drei zusätzliche X-Chromo­somen oder ihnen fehlt ein X-Chromosom), was auf einen intersexuellen Befund hinweist.

Die Intersexualität wirft eine Reihe eigener Fragen auf. Es ist besser, das Thema als Ganzes zu erörtern, als es immer wieder kurz zu erwähnen. Zu oft muss Intersexualität als Argument herhalten. Für intersexuelle Menschen ist das erniedrigend. Deshalb werde ich meine intersexuellen Freunde ehren, indem ich in einem separaten Kapitel ausführlich über Intersexualität spreche, Betroffene zu Wort kommen lasse und dann erst darauf eingehe, wie sich die Intersexualität auf unser Thema auswirkt. In den nächsten Kapiteln möchte ich mich also auf Menschen konzentrieren, die nicht intersexuell sind, sondern deren biologisches Geschlecht eindeutig ist.

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass eine Person aufgrund von vier Faktoren biologisch entweder männlich oder weiblich ist:

das Vorhandensein oder Fehlen eines Y-Chromosoms

die inneren Fortpflanzungsorgane/primären Geschlechtsmerkmale

die äußeren geschlechtsspezifischen Körpermerkmale/sekundären Geschlechtsmerkmale

das Hormonsystem, das die sekundären Geschlechtsmerkmale hervorbringt

Bevor ich mich dem sozialen Geschlecht zuwende, möchte ich darauf hinweisen, dass alles, was ich bisher über die biologischen Geschlechter gesagt habe, wissenschaftlich fundiert ist und in jedem Biologie-Lehrbuch nachgelesen werden kann.12 Es handelt sich um Fakten, die unter Wissenschaftlern und Forschern und jedem, von dem Sie in der Notaufnahme operiert werden könnten, anerkannt sind, egal ob jemand konservativ oder liberal ist.

Hilary Lips zum Beispiel ist eine renommierte Psychologin und Feministin, die eines der führenden wissenschaftlichen Bücher über das biologische Geschlecht und die geschlechtliche Orientierung geschrieben hat. Darin erklärt sie, dass sich das biologische Geschlecht auf „die biologische Männlichkeit oder Weiblichkeit einer Person“ bezieht und „der Erörterungen der Anatomie und der Klassifizierung von Individuen auf der Grundlage ihrer anatomischen Zuordnung vorbehalten ist“.13 Die feministische Philosophin Rebecca Reilly-Cooper definiert „weiblich“ und „männlich“ als „allgemeine biologische Kategorien, die für alle Arten gelten, die sich sexuell fortpflanzen“.14 Die American Psychological Association (weltgrößter Psychologenverband mit knapp 130 000 Mitgliedern und Sitz in Nordamerika) erklärt: „Das biologische Geschlecht bezieht sich auf den biologischen Geschlechtstyp einer Person und wird üblicherweise als männlich, weiblich oder intersexuell kategorisiert. Es gibt eine Reihe von Indikatoren zur Bestimmung des biologischen Geschlechts, zu denen die Geschlechtschromosomen, die Keimdrüsen, die inneren Fortpflanzungsorgane und die äußeren Genitalien zählen.“15

Der Geschlechtsdimorphismus bei nicht-intersexuellen Men­schen ist eine feststehende, beobachtbare, objektive, wissenschaftliche Tatsache, vergleichbar mit der Überzeugung: „Die Erde ist rund und nicht flach.“ „Ein Organismus ist männlich oder weiblich, wenn er so beschaffen ist, dass er eine der bei­den Rollen bei der Fortpflanzung erfüllen kann“; und „es gibt keine andere allgemein anerkannte biologische Einteilung der Geschlechter“.16

Das bedeutet aber nicht, dass unsere Weiblichkeit und Männ­lichkeit keine Auswirkungen auf andere Aspekte unseres Lebens hätten. Natürlich haben sie das. Sexualhormone zum Beispiel haben nachweislich einen Einfluss auf Gedanken, Gefühle, Interessen und soziale Kontakte von Männern und Frauen.

Aber wir entscheiden nicht, ob eine (nicht-intersexuelle) Person aufgrund ihrer Gefühle, Verhaltensweisen oder Inte­ressen biologisch männlich oder weiblich ist – das sind Krite­rien, die unter die Kategorie „geschlechtliche Identität“ oder „soziales Geschlecht“ fallen (siehe nächster Abschnitt).

„Männlich“ und „weiblich“ sind Kategorien des biologischen Geschlechts, die auf Strukturen der Fortpflanzung beruhen.

Der Wert, den wir dem Mann- oder Frausein beimessen, die Art und Weise, wie wir unsere männlichen und weiblichen Körper deuten und wie Männer und Frauen miteinander um­gehen – das alles ist von kulturell bedingten Realitäten geprägt, die sehr viel mehr als nur die biologische Fortpflanzungsstruktur umfassen. Aus diesem Grund sagen einige Wissenschaftler, dass das biologische Geschlecht selbst auch ein soziales Konstrukt sei. (Judith Butler und Anne Fausto-Sterling sind führende Vertreter dieser Ansicht.) Ein Argument dafür ist die ärztliche Praxis, intersexuellen Babys ein bestimmtes Geschlecht „zuzuweisen“. In diesen Fällen lassen sich Ärzte möglicherweise von der kulturellen Annahme leiten, dass alle Menschen eindeutig männlich oder weiblich sein müssen, und konstruieren für solche Kinder ein biologisches Geschlecht.

Einige Genderforscher, die zu den Vertretern der Konstruk­tionslehre zählen, weisen auch darauf hin, dass wir das Körperliche nicht eindeutig vom Kulturellen, die natürliche Anlage nicht von den Einflüssen der Umwelt, das biologische Geschlecht nicht vom sozialen Geschlecht trennen können. „Während wir wachsen und uns entwickeln“, schreibt Anne Fausto-Sterling, „konstruieren wir unsere Körper buchstäblich …, indem wir unsere Erfahrungen in unser eigenes Körperinneres einarbeiten. Um diese Behauptung zu verstehen, müssen wir die Unterscheidung zwischen dem leiblichen und dem sozialen Körper überwinden.“17 Darüber hinaus ist es kaum möglich, unsere geschlechtlich definierten Körper zu betrachten, ohne sie durch eine kulturelle und soziale Brille zu sehen. Ein Körper mit einem biologischen Geschlecht befindet sich nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum, wie die Vertreter der sozialen Konstruktion zu Recht betonen.

Die Debatte über die Bedeutung der Männlichkeit und Weiblichkeit kann dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mensch einen geschlechtlichen Dimorphismus aufweist. Ich kann zum Beispiel einen 1,80 m großen, durchtrainierten männlichen Körper betrachten und alle möglichen Vermutungen über die Person anstellen – Vermutungen, die von meiner Kultur geprägt und beeinflusst sind. Wenn ich dann herausfinde, dass er ein miserabler Sportler ist und im örtlichen Homosexuellen-Chor im Sopran singt, werden meine kulturellen Grundannahmen vielleicht infrage gestellt. Aber das ändert nichts an der schlichten Tatsache, dass er auf der „männlichen“ Seite der sexuell dimorphen Optionen steht, ob er nun meinen kulturellen Erwartungen entspricht oder nicht.