Trauer als wandelnde Kraft - Christoph Bevier - E-Book

Trauer als wandelnde Kraft E-Book

Christoph Bevier

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Beschreibung

Bei der Trauer von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen geht es um die Verluste, die durch krankheitsbedingte Einschränkungen entstehen, wie auch um Abschiede durch Sterben und Tod. Der als Klinikseelsorger in einer psychiatrischen Klinik tätige Autor Christoph Bevier gibt einen Einblick in die Geschichte des Umgangs mit psychisch erkrankten Menschen, eine kurze Beschreibung der wichtigsten Störungsbilder und eine Bestimmung von Trauer. Er erklärt, bei welchen Störungsbildern Trauer erschwert auftreten kann und wie eine hilfreiche Begleitung aussehen kann. Einen besonderen Schwerpunkt legt er dabei auf Spiritualität und Kunst. Hauptanliegen des Buches ist es, Begleiter:innen Ängste vor psychischen Störungen zu nehmen, Stigmatisierungen zu verhindern und Trauer als einen normalen, wichtigen und hilfreichen Prozess auch bei psychisch beeinträchtigten Menschen wahrzunehmen und zu gestalten.

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Hrsg. von Monika Müller, Petra Rechenberg-Winter, Katharina Kautzsch, Michael Clausing

Die Buchreihe Edition Leidfaden – Begleiten bei Krisen, Leid, Trauer ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen für Tätige in der Begleitung, Beratung und Therapie von Menschen in Krise, Leid und Trauer.

Christoph Bevier

Trauer als wandelnde Kraft

Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen begleiten

Vandenhoeck & Ruprecht

Das Titelbild zeigt ein Fenster der Pfarrkirche St. Valentin in Limbach, das von Gabriele Wilpers gestaltet ist. Die Asche der abgebrannten Kirche erscheint in einem Fenster der wieder errichteten Kirche als Symbol der Wandlung, die Trauer ermöglicht. Der Stein ist ein Symbol für die Schwere und das Beharren der Trauer.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Gabriele Wilpers

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99418-5

Inhalt

Vorbemerkungen

1Einleitung: Trauer bei Menschen mit psychischen Erkrankungen

Hinführung

Gespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer psychiatrischen Klinik

2Zur Geschichte von Menschen mit psychischen Erkrankungen

3Trauer als wandelnde Kraft – Verständnis von Trauer

4Formen psychischer Erkrankungen

Allgemeine Bemerkungen

Umgang mit Menschen mit psychischen Auffälligkeiten

Krankheitsbilder, Diagnosen

Schizophrenie

Affektstörungen

Manie

Depression

Bipolare Störung

Neurotische Störungen, Belastungsstörungen und Persönlichkeitsstörungen

Neurotische Störungen, Belastungsstörungen

Persönlichkeitsstörungen

Abhängigkeitserkrankungen

Körperliche Störungen mit hauptsächlich psychischen Auswirkungen

Suizidalität

Skills

5Trauer und Trauerbegleitung bei psychischen Erkrankungen

Trauer bei psychischen Erkrankungen als Umgang mit Verlust

Trauer als nichtpathologische Perspektive

Trauernde Angehörige

Eltern, deren erwachsene Tochter oder erwachsener Sohn psychisch erkrankt

Psychische Erkrankung in einer Ehe oder Partnerschaft

Kinder, deren Eltern psychisch erkranken

Trauer bei psychischen Erkrankungen als Umgang mit Verlust durch Tod

Zwei grundsätzliche Herausforderungen

Vulnerabilität

Ambivalenzen

Traueredukation

Krankheitsbilder und ihre möglichen Auswirkungen auf Trauer bei Verlust durch Tod

Schizophrenie

Affektstörungen

Neurotische Störungen, Belastungsstörungen und Persönlichkeitsstörungen

Abhängigkeitserkrankungen

Körperliche Störungen mit hauptsächlich psychischen Auswirkungen

Suizidalität

Interventionen

6Trauer, die psychotherapeutische Hilfe braucht

7Spiritualität und Kunst

Spiritualität

Spiritualität und Trauer

Spiritualität und psychische Erkrankungen

Negatives Wirken von Spiritualität

Positives Wirken von Spiritualität

Kunst

Glossar: Auffällige psychische Phänomene

Dank

Literatur

Fachliteratur

Erfahrungsberichte und Aufsätze von Betroffenen

Poetische und essayistische Literatur

Der Patient

Der Patient ist krank. Des-halb muß er geheilt werden.

Der Patient würde auch gepflegt

sein.

Er versteht sich gut mit den

Ärzten.

Der Patient kann als geheilt ent-

lassen werden.

Ernst Herbeck: Im Herbst da reiht der Feenwind (1992, S. 74)

Vorbemerkungen

Weder konnte ich mich ganz für das generische Maskulinum – weil es mir zu einseitig scheint – noch für eine konsequent inklusive Sprache entscheiden – weil sie mir unleserlich scheint und meinem Sprachgefühl widerspricht. Deshalb habe ich mich für eine Mischform entschieden und verwende manchmal das generische Maskulinum, manchmal die Partizipform und manchmal gemeinsam die weibliche und die männliche Form.

Man kann darüber diskutieren, ob Krankheitsbilder, Diagnostik, Pathologien … nicht grundsätzlich verfälschend und festschreibend sind, und ihnen die Fähigkeit absprechen, Wirklichkeit von Menschen mit psychischen Störungen oder Erkrankungen – und selbst diese Bezeichnungen sind schon fragwürdig – angemessen abzubilden und zu beschreiben. Die Grenzen zwischen verschiedenen Dimensionen psychischer Befindlichkeit sind fließend, deshalb haben Grenzziehungen und Diagnosen in diesem Bereich immer etwas Verfälschendes und Hegemoniales. Ein ideales Buch würde Phänomene psychischer Störungen ausschließlich mit Einzelfallbeschreibungen darstellen, aber solch ein Buch wäre unendlich. Kategorisierungen, Einteilungen, Krankheitsbilder … sind deshalb – im Wissen um ihren falschen Anspruch auf Hegemonie und ihre Beschränktheit – nötig, um eine Basis für die Beschreibung zu haben. Menschen dürfen nicht auf eine Erkrankung oder Diagnose reduziert werden, vielmehr ist die Erkrankung als ein Teil ihrer Lebens- und Persongeschichte zu verstehen. Es geht mir in diesem Buch um den Zusammenhang und das gegenseitige Beeinflussen von psychischen Erkrankungen und Trauerverläufen, dazu verwende ich die Fachsprache und psychiatrischen Kategorien.1

Die Fallvignetten in diesem Buch sind entweder anonymisiert oder mit den Beteiligten besprochen.

In einem Seelsorgegespräch am Anfang meiner Tätigkeit in der Psychiatrieseelsorge erzählte mit ein Patient, er habe sich nach einer jahrelangen ambulanten Therapie bei einem Psychologen nach dem Auftreten extremer Panikattacken zu einer stationären Therapie entschlossen. Dazu brauchte er einen Bericht von diesem Psychologen. Der Psychologe habe ihm den Bericht zugeschickt und er habe ihn natürlich gelesen. In dem Bericht bescheinigte ihm der Psychologe eine »durchschnittliche Intelligenz«. Ihn habe das sehr verletzt und er habe dies als einen Vertrauensbruch des Psychologen empfunden. Damals trat mir deutlich vor Augen, wie schnell und nachhaltig man Menschen durch diagnostische Sprache verletzen kann.

Der Patient erzählte mir auch von seiner Wahrnehmung in der Klinik: Er müsse sich immer deutlich machen, dass er aus eigener Entscheidung hierhergekommen sei und die Behandlung in der Hand habe. Das System Psychiatrie erlebe er als überwältigend. Soviel Hilfe er bekomme, sosehr erlebe er auch die diagnostische, festschreibende Macht, das »Behandeltwerden«, ein »Fall« sein, das Übergehen seiner Individualität. Er könne das einordnen, sagte er, als Dinge, die in einem System vielleicht unvermeidlich seien, aber er leide dennoch darunter.

________________

1Zum Sprachgebrauch von »Beeinträchtigung«, »Störung«, »Erkrankung«, »Krankheit«, »Kränkung« siehe meine Bemerkungen am Anfang des Kapitels 4: Formen psychischer Erkrankungen.

1Einleitung: Trauer bei Menschen mit psychischen Erkrankungen

Hinführung

Das Thema Trauer war für mich von Anfang an, seit ich in der Psychiatrie als Seelsorger arbeite, präsent. Stationen empfahlen Patientinnen und Patienten, die mit Verlusterfahrungen und Trauer beschäftigt waren, mit der Seelsorge zu sprechen. Ich ging oft mit Patientinnen und Patienten spazieren, die in Trauer waren. Manche trugen den Verlust naher Angehöriger, der viele Jahre und Jahrzehnte zurücklag, als eine präsentische Erfahrung mit sich, als sei der oder die Angehörige erst vor wenigen Wochen verstorben. Andere beschäftigte die Vorstellung, sie seien schuld am Tod ihrer Angehörigen, sie hätten etwas falsch gemacht oder unterlassen, was den Tod der Angehörigen verursacht habe. Andere waren durch die Trauer oder mit der Trauer in eine depressive Erkrankung gekommen und fragten sich, ob die Trauer ursächlich für die Depression sei oder die Depression die Trauer so schwer und erdrückend mache.

Ich machte die Erfahrung, dass diese Menschen es als sehr hilfreich empfanden, dass jemand da war, der Zeit für sie hatte, sie ernst nahm und ihnen zuhörte. Es war schon sehr viel wert für sie, dass sie nicht das Gefühl vermittelt bekamen, falsch zu fühlen, falsch zu handeln, falsch zu sein in ihrer schweren Trauer. Sie schätzten es, keine Empfehlungen oder Normen gesagt zu bekommen, Trauer müsse nach so und so vielen Jahren »bearbeitet« sein, Schuldgefühle seien falsch, der Tod gehöre zum Leben und so weiter.

Für mich als Seelsorger war es auch wichtig, den Patientinnen und Patienten Angebote zu machen, wie sie ihre Trauer als wandelnde Kraft leben könnten. Ich fragte sie, ob sie sich vorstellen könnten, mit mir zu beten. Ich bot ihnen Imaginationsübungen an, die ich aus den Büchern von Roland Kachler und Luise Reddemann kannte. Wenn möglich, machten wir die Imaginationsübungen in der Kirche der Klinik. Die Imaginationen bewirkten sehr oft eine Verwurzelung der Menschen in sich selbst und hatten eine mit der eigenen Geschichte versöhnende Wirkkraft.

Je länger ich in der Psychiatrie arbeitete, desto mehr wurde mir bewusst, mit wie vielen Abschieden und Verlusten Patientinnen und Patienten beschäftigt sind. Verlust von Gesundheit. Verlust von Freiheit. Verlust von Identitätszuschreibungen. Verlust von Zukunftsvorstellungen. Verlust von Berufstätigkeit. Verlust von Partnerschaft.

Ein Patient muss nach seiner Psychoseerfahrung lange von seinem Beruf pausieren und stellt irgendwann fest, dass er überhaupt nicht mehr in seinen Beruf zurückkann. Er steht vor der Aufgabe der Trauer um sein Bild von sich selbst, Trauer um die Vorstellungen von der eigenen Zukunft. Er muss sich von vielem, was ihm verlässlich schien, verabschieden. Trauer hilft ihm, sich auf sein verändertes Leben mit seiner Erkrankung einzustellen. Sie ist eine Kraft der Veränderung und sie öffnet einen Weg, das Unveränderliche anzunehmen und sich den neuen Aufgaben und Herausforderungen zu stellen.

Ein Patient erzählt, wie viel Lebenszeit er für die Organisation seiner Sucht verbrauchte und was er alles an Kreativem, seinem Leben Förderlichen mit seiner Kraft und Zeit hätte tun können. Er hält seiner Sucht seit einigen Jahren stand und lebt abstinent, aber die Vorstellung, viele Jahre verschleudert zu haben, belastet ihn immer noch. Trauer hilft ihm, sich auf den Schmerz der Sucht einzulassen, auf die Vergeblichkeit, die sie produziert und deren Sinnbild sie zugleich ist. Trauer hilft ihm, sich von der Fixierung auf das eigene Fehlverhalten zu lösen und das gedankliche Spiel mit einem Rückfall zu reduzieren. Trauer hilft ihm auch, den Lustfaktor bei Rausch und Verschwendung zu würdigen.

Einen Forensik-Patienten quält, dass er in einem psychotischen Schub einen Freund attackiert und umgebracht hat. Er trauert und weiß nicht recht, ob er überhaupt trauern darf, weil er derjenige ist, der den Mann getötet hat. Er weint und sagt gleichzeitig: »Unglaublich, dass ich weine, ich habe kein Recht dazu.« Als Täter trägt er die Schuld; als Forensik-Patient ist er nach § 63 StGB schuldunfähig; die Trauer billigt er den Angehörigen seines Freundes zu, aber nicht sich selbst. Er befindet sich in mehreren Trauerprozessen, die er sich nicht erlaubt. Trauer um seinen Freund. Trauer um seine Integrität. Trauer um seine Gesundheit. Trauer um seine Freiheit. Mit welcher Trauer soll er beginnen? Jede Trauer scheint ihn zu überfordern.

Angehörige kamen in meinen Blick.

Ein Vater schaut wie gebannt auf seine psychotische Tochter, die ihr Zimmer nicht mehr verlässt und manchmal laut herumschreit. Er kann von nichts anderem mehr reden als von seiner Tochter. In seinen Worten hält er die Phantasie von der gesunden Tochter fest und stellt sie gegen die Realität, die er als unbegreiflich und unerträglich erlebt. Die Tochter habe gerade ein Studium begonnen. Sie müsse zu den Vorlesungen gehen. Sie müsse sich auf die Klausuren vorbereiten. Sie vernachlässige die Beziehung zu ihrem Freund. Sie sei auf dem Weg ins Leben – und jetzt schließe sie sich in ihrem Zimmer ein, dusche nicht mehr, putze sich nicht mal mehr die Zähne und komme den ganzen Tag nicht ins Freie. Der Vater spricht mit vielen Fachleuten und beharrt aufseinem Standpunkt, dass nicht sein könne, was ist. Trauer hilft ihm, sich der Realität langsam anzunähern, denn Trauer wird seinen Gefühls- und Handlungsspielraum erweitern. Trauer bedeutet in seinem Fall, die eigene Seele und das eigene Herz langsam und liebevoll auf den Weg zu schicken, die Erkrankung seiner Tochter zuzulassen und anzuerkennen, die Fixierung auf das Ergehen und Befinden der Tochter zu lockern und aufzuhören, das eigene Leben, die eigenen Wünsche, die eigenen Bedürfnisse zu vernachlässigen. Trauer hilft ihm, eine neue Balance zu finden zwischen Fürsorge für die Tochter und Fürsorge für sich selbst.

Beziehungen unter Erwachsenen sind betroffen.

Ein Mann, dessen Ehefrau seit vielen Jahren an Depressionen leidet, sagt, er könne nicht mehr, er halte die Depressionen seiner Frau nicht mehr aus, er halte die Angst nicht mehr aus, ob sie sich etwas antue, er könne nicht mehr alles für sie organisieren, er könne nicht mehr die gesamte Verantwortung für ihr Leben tragen und sich selbst und die eigenen Bedürfnisse und Wünsche ans Leben völlig zurücknehmen. Er traut sich nicht, die Entscheidung ernsthaft zu durchdenken, weil er befürchtet, dass seine Frau bei einer Trennung Suizid beginge. Am liebsten, sagt er, wäre mir, sie stürbe, dann wäre ich frei – und erschrickt sofort über seine Aussage und nimmt sie zurück, so habe er das nicht gemeint, da sei etwas mit ihm durchgegangen. Dabei war sie nur Ausdruck seiner tiefen Verzweiflung.

Trauern bedeutet für ihn, sich auf den Verlust einzulassen, dass seine Frau nicht mehr die ist, die er geheiratet hat, sondern eine andere geworden ist, eine Frau, die an schweren, wiederkehrenden depressiven Phasen leidet. Der Hinweis auf Trauer und das aktive Trauern helfen ihm, seine Gefühle und Gedanken nicht mehr mit Schuld aufzuladen, sondern sie als das anzuerkennen, was sie sind: eben seine Gefühle und Gedanken.

Auch professionell Helfende sind mit Trauer im beruflichen Kontext beschäftigt.

Eine Patientin begeht Suizid, nachdem sie wieder einmal auf einer Station in der psychiatrischen Klinik aufgenommen worden ist. Sie hat viele, oft monatelang andauernde Schübe ihrer depressiven Erkrankung erlebt, spürt, dass ein neuer Schub kommt, und lässt sich auf der Station aufnehmen, um den Schub möglichst abzufangen. Nach einigen Tagen merkt sie, dass die Depression zunimmt, sie kommt in einen Zustand von Hoffnungslosigkeit, Müdigkeit und Schwachheit und beschließt, dass sie diese nächste Phase der Depression nicht mehr aushalten will. Sie begeht Suizid. Wenn es auf der Station zu einem Suizid kommt, heißt es oft, das sei nachvollziehbar, man dürfe sich kein Urteil erlauben, dieser Mensch habe so viel erlitten, wer weiß, wie man selbst gehandelt hätte. Es ist eine rationale Haltung, die als professionell eingeschätzt wird. Man benennt das Elend und lässt es doch nicht an sich heran.

In vereinzelten, persönlicher werdenden Kontakten zeigt sich, dass manche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tiefer von dem Schicksal der Patientin betroffen sind. Sie stellen ihre eigene Arbeit infrage, sie stellen das System infrage, in dem sie arbeiten. Was nutzt unsere Arbeit überhaupt, wenn wir dieser Frau nicht helfen konnten? Haben wir zu wenig getan? Hätte man sie in eine Klinik einweisen müssen, in der eine speziellere Behandlung möglich gewesen wäre? In solchen Fragen scheint Trauer durch: Trauer als Schuldgefühl. Manche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sagen auch: Das ist schlimm. Mir geht das richtig zu Herzen. Mich hat das richtig kalt erwischt. Man kann eine elektrische Kerze zum Gedenken im Flur der Station aufstellen oder einen kleinen Tisch, auf dem Patientinnen und Patienten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine Karte, ein Bild, eine Blume, einen Grashalm, eine Kastanie oder einen aufgeschriebenen Satz niederlegen können. So wird der Abschied sichtbar und die Trauer bekommt eine Lebensform und Gestalt.

Gespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer psychiatrischen Klinik

Zur Vorbereitung dieses Buches habe ich einige Gespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der psychiatrischen Klinik geführt, in der ich als Seelsorger arbeite. Ich traf auf viel Wohlwollen. Wenn ich mein Anliegen vortrug, über das Thema Trauer bei Menschen mit psychischen Erkrankungen zu sprechen, hörte ich oft Sätze wie: Das ist ein wichtiges Thema, gut, dass das Thema jemand aufgreift. Einige Beobachtungen aus diesen Gesprächen gebe ich im Folgenden wieder.

•In allen Gesprächen zeigte sich die Erfahrung, dass die Trauerthematik in Gestalt von Verlust- und Abschiedserfahrungen in der Psychiatrie stark präsent ist und sich nicht selten in affektiven Störungen und dysfunktionalen Verhaltensweisen unverarbeitete Trauerprozesse verbergen.

•Das Thema Trauer löste bei allen Gesprächspartnerinnen und -partnern intensive Erinnerungen an Patientinnen und Patienten aus, in denen eine enge Verbindung, große Fürsorge und oft etwas Liebevolles aufschienen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren bei dem Thema Trauer sehr schnell eng mit ihren Patientinnen und Patienten verbunden, und sofort tauchten Schicksale vor ihrem inneren Auge auf.

•Das Verständnis von Trauer als Reaktion auf den Verlust von Lebensperspektiven und Lebensentwürfen wurde in den Gesprächen oft genannt und beschrieben. Die Verluste seien oft so gewaltig, dass die Trauer blockiert werde und Patientinnen und Patienten in der Wut und Aggression stecken blieben. Viele Patientinnen und Patienten verharrten im Widerstand und bräuchten deshalb Menschen, die ihnen helfen, den Widerstand aufzugeben. Den Widerstand aufzugeben sei Trauerarbeit. Trauerarbeit geschehe hier vor allem als Benennen der Wirklichkeit und der Gefühle.

•Trauer als Reaktion auf Verlust durch Tod, sagte eine Mitarbeiterin der Pflege, sei in der Psychiatrie eher selten, und es bleibe auch dann die Schwierigkeit, Krankheits- und Trauerphänomene zu differenzieren. Trauer als Reaktion auf Verluste, die durch die Krankheit entstehen, sei in der Psychiatrie häufiger, werde aber oft umschrieben mit Worten wie »Last«, »Krise«, »Klage«, »Müdigkeit« oder mit diagnostischen Vokabeln. Trauer verstecke sich hinter solchen Begriffen und tauche nicht auf, weil sie als solche nicht benannt werde. Da Trauer nicht als solche benannt werde, verhalte sich das Umfeld auch weniger stützend und tragend als im Fall von Trauer bei Verlust durch Tod. Gerade bei Psychoseerkrankungen, aber auch bei anderen psychischen Erkrankungen kämen Stigmatisierungen hinzu, was nicht nur den Umgang mit Trauer bei den Patientinnen und Patienten, sondern auch bei Angehörigen erschwere. Einem Angehörigen werde es gesellschaftlich viel schwerer gemacht, zu sagen: »Mein Sohn ist depressiv« oder »Meine Tochter hat eine Psychose« als: »Ich bin Witwer« oder »Mein Mann ist verstorben«. Es sei einfacher zu sagen: »Ich kann nicht schlafen, weil mein Mann vor Kurzem verstorben ist« als: »Ich kann nicht schlafen, weil mein Sohn an Depressionen leidet« oder »Ich kann nicht mehr schlafen, weil ich an Depressionen leide«. Die Wirklichkeit von Stigmatisierungen schaffe Tabus, die Gefühle wie Scham, Schuld und Angst betreffen. Trauer als Verlust von Gesundheit und anderem werde so an den Rand gedrängt oder habe keinen Ort, sondern sei einfach da und wirksam, ohne angesehen und gewürdigt zu werden.

•Es gibt auch eine politische Dimension von Trauer in der Psychiatrie. Seit den 1980er und den 1990er Jahren setzen sich psychiatrische Kliniken vermehrt auch offiziell mit der eigenen Vergangenheit in der Zeit des Nationalsozialismus auseinander. Gedenksteine und Gedenkstätten wurden errichtet, und zum Jahrestag der Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar finden in vielen psychiatrischen Krankenhäusern Gedenkveranstaltungen statt. Gedenkarbeit ist auch Trauerarbeit. Nicht nur in Bezug auf die Verbrechen in der NS-Zeit, sondern auch in Bezug auf die gesamte Geschichte der Psychiatrie besteht Anlass zu Trauerarbeit.

•Trauer stört die Abläufe und das Selbstverständnis der Institution. Zu Trauer als Reaktion auf Verlust gehören Hilflosigkeit in Gestalt von Lähmung, Überforderung oder Orientierungslosigkeit. Die Institution des Krankenhauses aber will entscheiden, analysieren, Diagnosen machen, Therapien festlegen … kurz: handeln – die Institution kann nicht sagen: Wir handeln nicht, weil wir überfordert oder hilflos sind. Selbst wenn es so wäre, würde sie die Illusion, handeln zu können, aufrechterhalten und fiktiv oder zum Schein oder in Ersatzhandlungen handeln. Insofern ist Trauer eine Störung der Institution. Trauer passt nicht recht hinein.

•Bedeutsam fand ich den Hinweis auf die berufsspezifische Sicht, die unterschiedliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf Patientinnen und Patienten haben. Pflegende könnten zum Beispiel Schlaflosigkeit oder Vergesslichkeit eher als Symptome innerhalb eines Trauerprozesses erkennen als Ärzte und Ärztinnen, die eher diagnostisch auf den Patienten blickten und mit den genannten Symptomen eher Kriterien für eine Depression erfüllt sähen.

•Eine grundsätzliche Erkenntnis, die ich von vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als Klage gehört habe, stelle ich an den Schluss. Die hochgradige Arbeitsteilung in der Institution habe die Tendenz, den Fokus auf die Patientinnen und Patienten zu vernachlässigen oder ganz zu verlieren. Man habe oft das Gefühl, nicht mehr so, wie es eigentlich nötig wäre, mit den Patientinnen und Patienten in Kontakt zu kommen und ihnen Kontakt schuldig zu bleiben, weil sich Aufgaben wie Dokumentationen, Teamsitzungen, Konferenzen dazwischenstellen und als wichtiger gelten. Das eine, was die Abläufe und Verwaltung betreffe, gelte als unerlässlich, das andere, was die konkrete Begegnung mit dem Patienten oder der Patientin betreffe, gelte als variabel und im Ermessen der Kapazität liegend. Das hat auch Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Trauer und den Umgang mit Trauer, da Trauerphänomene in der Psychiatrie ohnehin randständig sind und leicht übersehen werden. Versteckte und verborgene Phänomene werden so noch weniger entdeckt. (Dieser Aspekt wurde durch die Covid-19-Pandemie und die daraus folgenden Hygienemaßnahmen in den Kliniken noch um ein Vielfaches verstärkt.)

Mit diesem Buch möchte ich gern alle Leserinnen und Leser erreichen, die mit Menschen mit psychischen Erkrankungen arbeiten, im psychiatrischen Feld – ambulant, teilstationär, stationär –, in der Trauerbegleitung, in der Seelsorge, in Hospizhilfen, in der Pflege, im Bildungsbereich. Und ich möchte Angehörige und Leserinnen und Leser erreichen, die von psychischen Erkrankungen und Trauer betroffen sind.

2Zur Geschichte von Menschen mit psychischen Erkrankungen

In der Literatur zur Geschichte der Psychiatrie werden verschiedene Bezeichnungen für das Phänomen von psychischen Erkrankungen verwendet. »Wahn«, »Wahnsinn«, »Geisteskrankheit«, »Nervenkrankheit«, »psychische Erkrankung« sind die am häufigsten gebrauchten. Die Bezeichnungen legen unterschiedliche Schwerpunkte, die alle nicht ganz falsch, aber immer auch Interpretationen sind. Bei »Wahn« und »Wahnsinn« klingt etwas Irrationales, Unkontrollierbares, Grenzüberschreitendes, Gefährliches, aber auch Poetisches und Reizvolles mit. Bei »Geisteskrankheit« klingt etwas Ungreifbares, außer Kontrolle Geratenes, existenziell schwer Bedrohliches, aber auch etwas Spirituelles und von Transzendenz Berührtes an. Die Bezeichnung »Nervenkrankheit« intendiert ein naturwissenschaftliches, physikalisches und neurologisches Verständnis der Erkrankung und zugleich eine größere Beeinflussbarkeit und mögliche Beherrschbarkeit.

Das Wort »Psychiatrie« kam Anfang des 19. Jahrhunderts auf und wurde von dem Mediziner Johannes Christian Reil geprägt (Shorter, 1999, S. 36). Reil begründete eine eigene Disziplin: die Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Johann Christian Reil sah vor allem zwei Aspekte als zentral für die neue Disziplin: die Absonderung der Kranken in einer Anstalt mit ihrer täglichen Routine und Behandlung und die Beziehung zwischen Arzt und Patient, die eine klare Beziehungsstruktur bot (Shorter, 1999, S. 37). Ich ziehe die Bezeichnungen »Psychiatrie«, »psychische Erkrankungen« und »psychische Beeinträchtigung« vor, weil sie mir die nüchternsten und am wenigsten mit Interpretationen aufgeladen scheinen.

Psychische Erkrankung ist ein Phänomen, das vermutlich Menschen von Anfang an begleitet und betroffen hat. Trauer ist dabei allgegenwärtig und wird doch in der Literatur nicht als solche benannt. Verlust ist in dieser Geschichte ein gewaltiges Motiv. Verlust von Würde. Verlust von Lebensaufgaben. Verlust von Zugehörigkeit und Gemeinschaft. Verlust von Beziehung. Verlust von Gesundheit. Verlust von Identität. Verlust von Freiheit. Verlust von Selbstbestimmung. Verlust von Lebensmöglichkeiten. Verlust von Sinn. Allein schon die Betrachtung von Fotografien in Büchern oder Ausstellungskatalogen zur Psychiatriegeschichte gibt ein Gefühl für das Elend, das psychisch erkrankten Menschen zugefügt wurde. Nackte Menschen in Badewannen, wo sie in lauwarmem Wasser als Dauerbad viele Stunden liegen mussten. Menschen in Handfesseln und Gürtelring. Menschen, an denen bei einer Lobotomie ein Gerät durch die Augenhöhle geführt wird, um Nervengewebe im Gehirn zu zerstören. Menschen, die im sogenannten Zwangsstuhl stecken. Heruntergekommene und verwahrloste Menschen, die in riesigen Hallen in Betten liegen und leer in die Kamera blicken.

Die Geschichte von Menschen mit psychischen Erkrankungen lässt sich in einer groben Perspektive in drei Phasen unterteilen. In einer ersten Phase gab es noch keine Unterbringung in öffentlichen Einrichtungen wie Hospitälern, Asylen oder Anstalten. Psychisch erkrankte Menschen lebten entweder auf Wanderschaft (sie schlossen sich zum Beispiel Bettlern an)2 oder sie wurden zu Hause in ihren Familien versorgt. Der Umgang mit