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Wie das Leben mit seinen Höhen und Tiefen, so versetzt auch die Erfahrung von Verlust den Menschen ungewollt und meist sehr schmerzlich in Bewegung – oder aus der Bewegung heraus in die Erstarrung. Körperliche Bewegung kann von großer Bedeutung sein im Umgang mit Verlusterfahrungen. Die Kraft der Körperlichkeit kann heilsam wirken. Das gilt für Sport, Atemübungen, einen Spaziergang oder wortlose Gesten von Menschen im Umfeld des trauernden Menschen – auch für Tanz bei Trauerfeiern. Der Tänzer und Choreograf Felix Grützner geht den Zusammenhängen zwischen Trauer und Bewegung nach: Wie kann Bewegung Menschen durch Trauerprozesse begleiten? Welche Formen der Bewegung können für Trauernde hilfreich sein?
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Seitenzahl: 114
Veröffentlichungsjahr: 2018
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EDITION Leidfaden
Hrsg. von Monika Müller
Die Buchreihe Edition Leidfaden ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen im (semi-)professionellen Umgang mit Trauernden.
Felix Grützner
Trauer und Bewegung –Von der Kraft derKörperlichkeit
Vandenhoeck & Ruprecht
Hiltrud Weller, Monika Müller, Matthias Schnegg und Martina Kern, die mich im besten Sinn in Bewegung gebracht haben und von denen ich lernen durfte und darf
Conny M. und Sibylle P. für ihr Vertrauen und ihre Offenheit
Mit 16 Abbildungen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-647-90086-5
Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter:www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
Umschlagabbildung und Fotos im Buch: Anna C. Wagner, Köln
© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,
Theaterstraße 13, D-37073 Göttingenwww.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim
Inhalt
Einleitung
Walzer im Tränenpalast?
Bewegung – Vorbemerkung zur Begrifflichkeit
1Trauer ist Bewegung: Ausdrucksformen der Klage
Körperliche Dimensionen
Gegenbewegung
Zerstörte Ordnung
Außenbewegung
Außenbewegung als Trauerausdruck
Achtsamer Umgang
Bewegung nimmt Raum
Klage sucht das Gegenüber
2(Aus-)Wege: Erhebe dein Gesicht!
Kreuzweg upside down
Wegfindung
Verortung
Wert des Stillstands
Den Blick erheben
3Raus aus dem Kopf: Kraft der Körperlichkeit
Auf dem Schulhof
Selbstwahrnehmung durch Bewegung
Grenzen der Körperlichkeit
Hingabe an den Augenblick
Wirkung von außen nach innen
Verkörperung
Gehen und kommen lassen
Selbstwirksamkeit erfahren
4Spielraum – Bewegungsraum: Orte der Bewegung
Der öffentliche Raum
Privater Raum
Geschützter Raum
Bewegungsraum Ritual
Bewegungsräume für Trauernde
Spielraum Seminar
Begegnungsräume
5Tanz und Trauer: (Er-)Lösung?
Tanz als spirituelle Praxis: Erfahrungsbericht eines Lebenstänzers
Ausdruckstanz am Altar
Schauend sich mitbewegen
Tanz als Dienst
Tanz bei Trauerfeiern
Klagen in Tanzen verwandeln
Lebenstanz – nicht Totentanz
Die Tür öffnen – Erfahrungsbericht einer Tochter
Nähe spüren – Erfahrungsbericht einer Mutter
Kraft des Tänzerischen
Weinende Hände
Der innere Tanz
Lösung?
6Bewegung ist Haltung: Trauernde begleiten
Haltung annehmen?
Wagnis Nähe – Mind the Gap
Haltung zwischen Stabilität und Labilität
Bewegung ermöglichen
Bewegung als Grenzerfahrung
Bewegung als Ressource – eine Checkliste
Bewegung bleibt Wagnis
Wir dürfen stehenlassen!
Bewegte Begleiterinnen und Begleiter
Einstimmung des Instruments
Ergänzung zur klassischen Supervision
Den Körper sprechen lassen
Der Wald der Schwankenden
Doch ein Walzer?
7Es wird gehen: Wegweiser und Übungsformen
Mögliche Effekte körperlicher Bewegung im Trauerprozess
Übungen
Schlussbemerkung: Leben ist Bewegung – manchmal sogar Tanz
Literatur
Einleitung
Walzer im Tränenpalast?
Berlin, Friedrichstraße. Neben dem Bahnhofsgebäude liegt heute etwas abseits vom täglichen Gedränge der »Tränenpalast«, die ehemalige Ausreisehalle der Grenzübergangsstelle Friedrichstraße. Seit 2011 ist hier die Ausstellung »Alltag der deutschen Teilung« zu sehen. Zwischen 1962 und 1989 verabschiedeten hier Ost-Berliner Bürger, die keine Reisefreiheit hatten, ihre Besucher aus dem Westen. Der Volksmund gab diesem Zweckbau einen poetischen Namen: Tränenpalast. Er ist ein »real existierender« Symbolort des Abschieds, der Verlusterfahrung und damit der Trauer.
Stellen wir uns vor, was sich in den Jahren der deutschen Teilung tagtäglich in dieser Halle vollzog; versetzen wir uns für einen Moment an diesen Ort und werden zu imaginären Zeugen des Geschehens: Wir stehen oberhalb auf einer Balustrade und schauen hinab in die Halle. Von den Gesprächen der Reisenden oder den knappen Anweisungen der Grenzbeamten können wir nur ein undefinierbares Rauschen und Brummen vernehmen. Unser Blick schweift über die Menschen dort unten, bleibt hier und dort hängen.
Eine junge Frau mit Kopftuch winkt heftig mit dem rechten Arm und scheint dabei auf den Zehenspitzen zu balancieren, um sich größer zu machen. Wir folgen ihrem angestrengten Blick, können aber das Ziel ihrer Geste in der Menge nicht ausmachen. Ihr scheint es ähnlich zu gehen. Resigniert lässt sie Arm und Blick sinken, wendet sich um und verschwindet im Strom der Menschen. Nicht weit von der Frau mit dem Kopftuch umarmen sich ein älterer und ein jüngerer Mann. Ihre Arme greifen fest umeinander und beide Körper pressen sich eng aneinander. Ihre Gesichter können wir nicht sehen, doch scheint die Intensität ihres Abschiednehmens auch so spürbar. Jetzt lösen sich die Arme und beide treten einen Schritt zurück. Unbeweglich stehen sie in der Menge. Das Gesicht des älteren Mannes spricht Bände: die Stirn in Falten geworfen, die Augen unentwegt über das Gesicht seines Gegenübers wandernd, der Mund zusammengekniffen. Ohne dass er ein Wort spricht, meinen wir zu hören: »Pass auf dich auf!« und »Vergiss mich nicht!« und »Ich schaffe das schon!« Das Gesicht des jungen Mannes sehen wir nicht.
Das junge Pärchen weiter vorne will gar nicht voneinander lassen. Sie halten sich an beiden Händen, die Finger eng ineinander verflochten, als wollten sie sich miteinander verknoten. Sie weint und fragt mit wortlosem Blick: »Warum?« Er weint nicht, doch seine hochgezogenen Schultern und sein versteinertes Gesicht sprechen von tiefer Verzweiflung. Dann dreht er unter größter Kraftanstrengung den Kopf hin zur großen Uhr in der Halle. Als er sich zurückwendet, ist alle Spannung aus seinem Körper gewichen. Seine Finger entgleiten denen seiner Geliebten und er geht langsam, wie von einer unsichtbaren Kraft gezogen, rückwärts stolpernd zu den Abfertigungsschaltern. Sie beginnt erst langsam, dann immer schneller den Kopf zu schütteln. Ihr Mund ist jetzt geöffnet. Ihr Schrei geht im allgemeinen Lärm in der Halle unter.
Nur drei imaginierte Episoden von hunderten, die sich täglich so oder ähnlich im Tränenpalast abgespielt haben werden, sei es dramatisch oder ganz unauffällig. Zwei Dinge vermögen sie vor Augen zu führen: Die deutsche Teilung war Ursache tiefen menschlichen Leids. Und: Jenseits aller Worte findet Leid seinen Ausdruck über den Körper, in Blicken, in Gesten, in Haltungen und Bewegungen. Und wir als Zuschauende, als Zeugen, ahnen, was im Inneren dieser Menschen vor sich geht.
Abschied nehmen müssen, Abschied (er-)leben müssen und Verlust erfahren: Das, was wir Trauer nennen, ist Teil jeden menschlichen Lebens. Wir müssen Abschied nehmen von Menschen, Dingen, Orten, Zeiten, Fähigkeiten. Ohne ihn, sie oder es zurückzubleiben oder weitergehen zu müssen, das verändert, das macht etwas mit uns oder aus uns. Trauer lässt uns weder unberührt noch unbewegt, selbst da, wo nicht einmal wir selbst dies wahrnehmen. Wie wir als imaginierte Zeugen im Tränenpalast sahen, bringt uns die Erfahrung von Verlust meist ungewollt in Bewegung – oder eben aus der Bewegung in die Erstarrung.
Ist Bewegung – oder Erstarrung als »Nicht-Bewegung« – Ausdruck von schmerzhaftem Verlust und Trauer, so lässt sie ein inneres Geschehen außen sichtbar werden, in Tränen, im verkniffenen Mund, in verkrampften Händen oder im leeren Blick und in automatisierten Handlungen.
So wie eine Verlusterfahrung uns unfreiwillig bewegt oder aus der Bewegung in die Erstarrung führt, können andere Erfahrungen uns herausbewegen aus der Trauerbewegung oder Trauererstarrung. Bewegung im Innen wie im Außen kann Impulse setzen, kann hilfreich unterstützen, wenn es darum geht, Haltungen zu verflüssigen, neue Standpunkte zu finden oder (Aus-)Wege zu bereiten. Der Vergleich mit den Kugeln auf dem Billardtisch liegt nahe: Kugeln werden angestoßen und geraten in Bewegung, sie rollen, bleiben liegen, stoßen andere Kugeln an oder werden über die Bande abgelenkt. Ein neuer Stoß verändert die Situation, Kugeln werden wieder in Bewegung versetzt. Anders aber als beim Billard vermögen Menschen sich grundsätzlich auch aus sich heraus eigenständig zu bewegen, nicht allein durch den Anstoß von außen. Und natürlich ist menschliches Leben nicht wie der mit der Wasserwaage ins absolute Lot gebrachte und fixierte grüne, weiche und griffige Filz, auf dem die Kugeln optimal gleiten können. Unser Leben kann im Ganzen in Bewegung und aus dem Lot geraten, so als würde jemand den gesamten Spieltisch verrücken und schräg stellen. Und der »Filzteppich« unserer Lebensgrundlage hat manchmal durchgescheuerte Stellen, blank gerieben von der Zeit oder schweren Erfahrungen. Dann bleiben die Kugeln hängen oder geraten ins Schlingern.
Trauer hat viel mit Bewegung oder deren Verlust zu tun. Bewegung wiederum kann von großer Bedeutung sein im Umgang mit dem, was Verlusterfahrungen in uns und mit uns geschehen lassen. Dieses Buch möchte den unterschiedlichen Zusammenhängen zwischen Trauer und Bewegung nachspüren: Welche Bewegung im Innen und im Außen kann Trauer bewirken? Wie kann Bewegung Trauerprozesse begleiten? Welche Formen der Bewegung können für Trauernde hilfreich sein?
Kehren wir noch einmal in den Tränenpalast zurück: Welche Szenen haben sich dort wohl am 9. November 1989, dem Tag der Grenzöffnung, abgespielt? Es wurde nicht dokumentiert. Aber wir können uns vorstellen, wie statt Tränen der Trauer nun solche der Freude flossen und hier und da Menschen zu einer imaginierten Musik anfingen, miteinander Walzer zu tanzen. Happy End also? Mit der Grenzöffnung endete manches Leid, doch entstand durch sie auch neues. Eine nächste Szene könnte in einer kleinen Stadt in der Uckermark spielen, wo im Spätherbst 1989 eine Gruppe Jugendlicher ihre Heimat verlässt, um im Westen ihre Zukunft zu suchen. Umarmungen, Tränen, verkniffene Münder …
Wenn in diesem Buch von Trauer die Rede ist, dann geht es in erster Linie um die Verlusterfahrung durch den Tod eines Menschen. Was jedoch für die daraus resultierenden Situationen gilt, trifft auch für andere Verlusterfahrungen zu: für den Verlust der Gesundheit infolge einer schweren oder chronischen Erkrankung oder das Ende einer intensiven Beziehung, um nur zwei Beispiele zu nennen. Bewegung hat für alle Formen der Trauer eine Bedeutung.
Es wird in diesem Buch nicht darum gehen, durch Bewegung Trauer zu überwinden oder in ein Leben ohne Trauer zu gelangen. Vielmehr wird es um mögliche Wege durch die Trauer gehen. Das Buch möchte dazu beitragen, die Zusammenhänge zwischen Trauer und Bewegung besser verstehen zu können, und eine Ahnung davon vermitteln, welches Potenzial die Kraft der Körperlichkeit für trauernde Menschen bergen kann.
Bewegung – Vorbemerkung zur Begrifflichkeit
Der Begriff der Bewegung wird im Folgenden in unterschiedlicher Weise genutzt und erhält unterschiedliche Vorsilben, um den Charakter der jeweils gemeinten Bewegungsform zu spezifizieren. Bezeichnet Innenbewegung Veränderungen und Wechsel im Denken, Fühlen und Wahrnehmen des Menschen, so zielt Außenbewegung auf die körperliche Dimension: Veränderungen in der Körperhaltung, im körpersprachlichen Ausdruck oder durch Fortbewegung und Ortswechsel. Außenbewegung ist eine wahrnehmbare oder wahrgenommene Bewegung: Ein Mensch geht mit hängenden Schultern und leerem Blick über die Straße, einige Passanten sehen dies, andere nicht. Zu Innen- wie zu Außenbewegung kann es Gegenbewegung geben. Diese kann vom Individuum selbst ausgehen oder ihm von außen, von mehr oder weniger nahestehenden Menschen entgegengebracht werden: das Angebot, gemeinsam einen Spaziergang zu machen, oder die Anweisungen der Physiotherapeutin, den Hals lang zu machen. Gegenbewegung kann als Antwort auf eine bereits erfolgte oder sich vollziehende Außen- und/oder Innenbewegung verstanden werden. Sie kann auch auf Formen der Unbeweglichkeit zielen. Schließlich gibt es die Eigen- und die Fremdbewegung, die beide eine Wirkung auf das Individuum haben können. In der Eigenbewegung wohnt die für sie notwendige Energie im Individuum selbst, aus dem heraus auch der Impuls zur Bewegung entspringt. Eigenbewegung kann aber auch die Folge eines von außen erfolgenden Anstoßes sein: Die Einladung zum gemeinsamen Spaziergang wird angenommen und der Mensch verlässt das Haus. Eigenbewegung ist aktives, aber nicht zwingend bewusstes Tun. Fremdbewegung hingegen meint Bewegung in der Umwelt des Individuums, in der es umgebenden Natur oder in den Menschen in seiner Umgebung. Das Individuum erfährt Fremdbewegung als Wahrnehmung beispielsweise in der Betrachtung eines fallenden Blattes oder einer sich drehenden Tänzerin. Eine mögliche Folge von Fremdbewegung kann eine Eigenbewegung sein: Der Mensch läuft auf das Blatt zu, um es aufzufangen (Außenbewegung), oder fühlt sich angesichts der leichtfüßigen Tänzerin wie selbst emporgehoben (Innenbewegung). Es versteht sich von selbst, dass kaum eine der hier beschriebenen Bewegungsformen für sich allein existiert. Sämtliche Bewegungsformen können ineinandergreifen, einander entgegenlaufen oder ineinander übergehen. Den Begriff der Trauerbewegung verwende ich in diesem Buch für das Mit-, Gegen- oder Nacheinander aller möglichen Bewegungsformen im besonderen Kontext der Verlusterfahrung und ihrer Folgen für den Menschen – im Außen wie im Innen.
1Trauer ist Bewegung: Ausdrucksformen der Klage
Conny M., die ihre 22-jährige Tochter vor knapp zehn Jahren durch Suizid verloren hat und die vor einigen Jahren eines meiner Seminare besucht hat, beschreibt ihr Trauererleben so: »Es war, als ob ich innen einfrieren würde.« Dieses gefühlte Erkalten, der Verlust von Wärme und Bewegungsfähigkeit, auch von emotionaler Schwingungsfähigkeit, waren für Conny, der wir im weiteren Verlauf des Buchs immer wieder begegnen werden, inneres Erleben und körperliche Wahrnehmung. Ein Erleben, das für sie in größtem Widerspruch stand zu dem, was alles sich im Außen weiterhin bewegte: »Alles geht einfach so weiter! Das darf doch nicht sein!«
