Trauer und Freude (Fachratgeber Klett-Cotta) - Klaus Onnasch - E-Book

Trauer und Freude (Fachratgeber Klett-Cotta) E-Book

Klaus Onnasch

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Beschreibung

Wie Trauernde ihre Emotionen besser verstehen können und was in schweren Stunden hilft - Innovativer Ansatz zum Umgang mit Trauer - Autor ist vernetzt mit den wichtigsten Verbänden für Trauernde - Gefragter Vortragsredner zum Thema Was geschieht in uns, wenn wir einen schweren Verlust erleiden? Welchem Stress sind wir dabei ausgesetzt, und welche heilenden Kräfte schützen uns? Wie wirkt sich die Trauer aus und wie kann Freude wieder möglich werden? Die Grundlagen dieses innovativen Buches liegen in den langjährigen Erfahrungen des Autors in der Trauerbegleitung, aber auch dem Wissen über Trauerrituale in anderen Kulturen und Religionen sowie den aktuellen biologischen Erkenntnissen zum Prozess der Trauer. Gerade die hoch aktuellen Forschungsergebnisse zum Stressgeschehen können Hinweise geben, wie sich leibseelische Prozesse in uns vollziehen und wie wir sie gestalten können. Somit unterstützt das Buch Menschen, die einen schweren Verlust erlitten haben, sich selbst besser zu verstehen und einen eigenen Weg zu finden, in dem die Freude nach und nach wieder Platz findet. Oft reagieren wir bei Verlusten mit Flucht, Aggression oder auch mit Erstarrung. Das sind uralte Reaktionsweisen, die wir mit Reptilien gemeinsam haben und die uns das Überleben ermöglichen können. Weiter hingegen führen uns bewusste Gefühle, mit denen wir die Situation wahrnehmen, reflektieren und gestalten können. Zu diesen Gefühlen gehört die Trauer. Sie ist auf das Mitteilen ausgerichtet, sie kann erleichtern und kann Stress reduzieren. Fühlen sich Trauernde aufgenommen und gut begleitet, können Tränen der Trauer zu Tränen der Freude werden. Der Zusammenhang von Trauer und Freude erscheint zunächst ungewöhnlich, die Ver-bindung beider Gefühle wird aber eingehend begründet und anschaulich dargestellt. Dabei ist dieses Buch ein Grenzgänger zwischen verschiedenen Wissenschaften und Kulturen sowie zwischen Theorie und Praxis. »Diese Bündelung von Wissen und Erfahrung … ist so sicherlich einzigartig.« (Prof. Dr. med. Günter H. Seidler zu diesem Buch). Biologische Erkenntnisse zeigen: Beide Gefühle Trauer wie Freude können dazu beitragen, das Alarmsystem im Gehirn herunterzufahren;  sie können den Körper durcheinanderschütteln und Entspannung ermöglichen, auch wirken sie anste-ckend und können dazu führen, dass andere mitfühlen. Trauernde können so besser verstehen, welche Prozesse in ihnen vor sich gehen und wie sie sie gestalten können. In der Antike zeigt sich, dass Tragödie und Komödie heilende Wirkungen haben. Im Christentum wird der Verlust Jesu durch seinen Tod am Kreuz in tiefer Trauer erlebt, dann wird die Auferstehung Jesu in großer Freude gefeiert. Im Islam erleidet Maria bei der Geburt ihres Sohnes zunächst Verlassenheit und Verzweiflung, dann aber entdeckt sie, dass ein Bach zu ihren Füßen fließt und der Palmbaum neben ihr reife Datteln gibt; so kann sie ihr Auge »erheitern«. In Kulturen Afrikas südlich der Sahara werden die Gefühle nach dem Tod eines Menschen in der Gemeinschaft zum Ausdruck gebracht, im Singen und Trommeln, in Worten und im Tanzen. Meist wird die Bestattung als großes Fest gefeiert, dabei gehen Trauer und Freude oft inei-nander über. Bei dem Tag der Toten in Mexiko wird die Anwesenheit der Toten zuhause und dann am Grab festlich begangen, auf dem Friedhof wird zusammen gegessen und getrunken, musiziert und getanzt. Rituale dieser Art werden in vielen Teilen der Welt praktiziert. Auch in Deutschland gibt es zunehmend eine Vielfalt kreativer Trauerweisen. Manche Begleitungen stehen unter dem Leitsatz: "Wer der Trauer Raum gibt, schafft Platz für das Lachen." Dieses Buch richtet sich an: - Trauernde - TrauerbegleiterInnen, HospizmitarbeiterInnen, Leiter von Trauergruppen - PsychotherapeutInnen, beratende PsychologInnen

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Seitenzahl: 265

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Klaus Onnasch

Trauer und Freude

Das eigene Leben nach schwerem Verlust gestalten

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wallbaum/Weiß/Freiburg

unter Verwendung eines Fotos von istock/Boule

Zeichnungen: Ev Pagel

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98345-6

E-Book: ISBN 978-3-608-12121-6

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20490-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Robert Göder

Vorwort

Günter H. Seidler

Geleitwort

Einführung

Kapitel 1

Erfahrungen

Kapitel 2

Alte Geschichten und neue Entwicklungen

Kapitel 3

Biologische Erkenntnisse

Trauer und Freude als Gefühle

Die lebensnotwendige Balance

Stress durch Verlust der Balance

Die Möglichkeiten der Trauer

Einblicke in das Gehirn

Regulierungen bei Verlust

Kapitel 4

Kulturelle und religiöse Traditionen

4.1 Steinzeit

4.2 Griechische Antike und Hellenismus

4.3 Trauer und Freude im Christentum

4.4 Trauer und Freude im Islam

4.5 Trauer und Freude in afrikanischen Kulturen

4.6 Trauer und Freude in Kulturen Mexikos: Der Tag der Toten

4.7 Umgang mit Trauer in Deutschland

Kapitel 5

Der Spielraum in Trauer und Freude

Kapitel 6

Entwicklung von Kulturen der Trauer und Freude

Bleibende Beziehung in der Liebe

Die Wellen im Trauerprozess

Das Kaleidoskop mit sechs Facetten

Farben in Trauer und Freude

Freude im Hospiz

Untersuchungen zu Trauer und Trauma: Der Erfahrungsraum

Ein Rückschlag in der Entwicklung: Der problematische Begriff »Anhaltende Trauerstörung«

Zeiten der Trauer und Freude

Räume der Trauer und Freude

Erfahrungen während der Corona-Krise 2020

Kapitel 7

Zusammenfassung

Kapitel 8

Erfahrungsberichte aus der Trauerbegleitung nach dem Spielraum-Modell

8.1 Bericht einer Teilnehmerin

8.2 Bericht eines Teilnehmers

Worte des Dankes

Literaturverzeichnis

Robert Göder

Vorwort

Trauern gehört zum Menschsein. Die Werbung spielt uns eine permanent unbeschwerte und glückliche Welt vor – aber das Leben ist nicht statisch, und Veränderung bedeutet auch Abschiednehmen von geliebten Menschen. Wir erleben diese schmerzhaften Verluste und wissen dann nicht, wie wir damit umgehen sollen.

Dr. Klaus Onnasch, vielseitiger Pastor und Trauerbegleiter, hat vor über 40 Jahren begonnen, Gruppen für Trauerbegleitung anzubieten. Ausgehend von eigenen tragischen Erfahrungen und auch neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen hat er viele Menschen in der Trauer begleitet. In Kiel hat er 2006 den Kieler Arbeitskreis Trauerbegleitung mitbegründet, auch das Zentrum für Integrative Psychiatrie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein ist in diesem Netzwerk beteiligt; regelmäßig werden Fortbildungen angeboten. Aus den Einsichten dieser intensiven Arbeit, aber auch aus dem umfassenden theoretischen Wissen des Autors schöpft das vorliegende Buch.

Das Besondere dieser Hilfestellung ist der einerseits persönliche und andererseits ganzheitliche Ansatz. Klaus Onnasch nimmt Bezug auf seine reichhaltigen Erfahrungen in der Trauerarbeit, bezieht aber auch wichtige Ergebnisse neurobiologischer Forschung und den Umgang in anderen Kulturen und Religionen mit ein. Dabei besitzt er die besondere Fähigkeit, sehr einfühlsam, anregend und verständlich zu schreiben. Somit hilft dieses Buch nicht nur Trauernden, einen eigenen Weg in der Trauer zu finden, sondern ist auch eine wahre Fundgrube für alle, die sich über Trauer informieren möchten: Was passiert während der Trauer im Gehirn? Was wissen wir von Bestattungen aus der Steinzeit? Wie trauern Menschen in christlichen und islamischen oder auch in afrikanischen Traditionen?

Wie das Leben selbst spielt sich auch der Trauerprozess zwischen unterschiedlichen Polen ab, Klaus Onnasch bezeichnet dies als einen »Spielraum«. Es mag zunächst überraschen, es wird beim Lesen des Buches aber sehr einleuchtend und nachvollziehbar, wie neben der tiefen Trauer auch die Freude in diesem »Spielraum« wieder ihren Platz findet.

Ich wünsche allen Menschen, die einen nahen Menschen verloren haben oder auch aus anderen Gründen trauern, Kraft und Zuversicht, um aus der Trauer wieder zur Freude zu finden. Das vorliegende Buch möge dabei eine besondere Hilfe und Unterstützung sein!

Prof. Dr. med. Robert Göder

Stellv. Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Zentrum für Integrative Psychiatrie ZIP gGmbH, Campus Kiel

Universitätsklinikum Schleswig-Holstein

Günter H. Seidler

Geleitwort

Aus der Affektforschung ist zu lernen, dass sich fünf bis acht Grund- oder Primäraffekte unterscheiden lassen, und schon Descartes handelt in seiner Affektlehre die Freude neben der Traurigkeit ab. In der bisherigen Forschung war das Bemühen meist darauf gerichtet, diese Grundelemente von Affektivität gut voneinander zu differenzieren, ihre Unterschiedlichkeit in der Physiologie und im Verhalten herauszuarbeiten und sie vielleicht sogar polar zueinander anordnen zu können.

Klaus Onnasch geht einen anderen Weg. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass er nicht Forschungsergebnisse aus dem Labor experimenteller Affektforschung vorstellt, sondern sich auf Wahrnehmungen, Beobachtungen und Erlebnisse bezieht, die alle einen »Sitz im Leben« haben, in seinem eigenen oder in dem anderer Menschen, die er in leidvollen Passagen begleitet hat: »Trauertränen« und »Freudetränen« können sich durchaus mischen! Das ist denn auch das Programm des Buches, wenn Klaus Onnasch nämlich immer wieder zeigt, wie Trauer und Freude zusammenhängen können. Er bezieht sich dabei nicht nur auf die bereits angesprochenen eigenen Erfahrungen als Betroffener und als Begleiter, sondern er untersucht das Verhältnis von Freude und Trauer sowohl in anderen Religionen wie auch zu anderen Zeiten. Dabei holt er weit aus und verknüpft Befunde aus Geschichts- und Religionswissenschaft mit neurobiologischen Erkenntnissen. Diese Bündelung von Wissen und Erfahrung in Zusammenhang mit dem Versuch, die Verbindung von zwei Affekten aufzuzeigen, die im Erleben und in den Beziehungen von Menschen ganz zentral sind, ist so sicherlich einzigartig.

Die Lektüre des hier vorgelegten Buches ist lohnend und hilfreich. Sie eröffnet neue Perspektiven. Ich wünsche dem Buch eine neu-(be-)gierige Leserschaft!

Prof. Dr. Günter H. Seidler, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Lehranalytiker und Lehrtherapeut, Dossenheim

Einführung

Trauer und Freude scheinen Gegensätze zu sein, hängen aber oft zusammen und gehen auch ineinander über: »Ich weiß gar nicht, wo meine Trauertränen aufhören und meine Freudentränen anfangen«, sagte eine Trauernde, die mehrere Monate an einer Trauergruppe teilgenommen hatte. Manche waren zunächst skeptisch, als ich von dem Vorhaben erzählte: Was sollen denn Freude und Trauer miteinander zu tun haben? Dagegen leuchtete dem Buchhändler in seinem kleinen Laden dieses Thema sofort ein: »Jetzt gerade nach dem Tod meiner Großmutter habe ich selbst erfahren, wie beides zusammengehört. Alles war unendlich traurig, es goss in Strömen, der Himmel war verhangen, die Erde war Matsch und Schlamm. Aber kaum waren am Grabe die letzten Worte gesprochen, da leuchtete ein wunderbarer Regenbogen über uns allen. Der passte genau zu ihr und zu ihrem Leben. Wenn ich jetzt an sie denke, dann fällt mir immer zugleich der Regenbogen ein – und ich freue mich darüber.« Die Geschichte des Buchhändlers ermutigte mich. Sofort kamen mir viele ähnliche Geschichten in Erinnerung; ich dachte auch daran, dass der Raum für unsere Trauergruppen im Bestattungsinstitut eine Schallisolierung erhalten musste. In diesen Gruppen war oft so viel und so laut gelacht worden, dass das andere irritierte.

Trauer und Freude haben Gemeinsamkeiten: Beide Gefühle betreffen meist alle Teile unseres Körpers, oft schütteln sie ihn richtig durch. Beide Gefühle teilen sich auch anderen Menschen mit. Die Trauer anderer können wir mitfühlen, ähnlich steckt die Freude an und springt auf andere über. Bei Trauer wie bei Freude kommt es oft zu Tränen. Sie können vielfach als lösend empfunden werden. Wenn wir in all diesen Gefühlen aufgenommen und verstanden werden, kann uns das erleichtern und befreien. Wir können wieder durchatmen. Auch wenn es gerade eben noch so öde und stressig war, fühlen wir uns jetzt wieder wohler und gelöster.

Allerdings gibt es Situationen, wo uns alle Freude und alles Lachen vergehen, der Schrecken tief in uns sitzt und wir nicht fassen können, was geschehen ist. Bei der unerwarteten Nachricht vom Tode eines sehr nahen Menschen sind wir erschüttert und aus der Bahn geworfen. Der Schmerz, den vertrauten Menschen nie wieder in die Arme nehmen zu können, ihn nie mehr wiederzusehen, ist unvorstellbar groß. Es scheint undenkbar, je wieder Freude empfinden zu können. Doch gibt es unbewusste Reaktionen in unserem Körper, die uns auch im Entsetzen das Leben bewahren: Körpereigene Betäubungsmittel werden ausgeschüttet, auch eine Erstarrung kann zu unserem Schutz eintreten. Oft wird das furchtbare Ereignis noch nicht bewusst wahrgenommen, es ist noch nicht in unser Leben einbezogen, sondern steckt fest in unserem Körper. Das alles schützt uns zunächst. Mit der Zeit kann dann in der Trauer die schwere Verlusterfahrung wieder in das Leben einbezogen werden, der Schrecken löst sich langsam, Tränen fließen. Manchmal können wir in einer vertrauten Atmosphäre auch zeigen, wie uns wirklich zumute ist, langsam vielleicht sogar darüber sprechen, was uns innerlich bewegt. Je mehr Trauer zugelassen und mitgeteilt wird, kann mit der Zeit vielfach auch wieder Freude erfahren werden.

Das Buch will zeigen, wie Trauer und Freude zusammenhängen können. Neue neurobiologische Erkenntnisse werden dabei einbezogen. Konsens besteht darin, dass eine schwere Verlusterfahrung übermäßigen Stress zur Folge hat. Zugleich gibt es körpereigene Gegenreaktionen, solchen Stress zu reduzieren und so Leben zu bewahren. Lebenswichtig ist es, dass eine Balance im Sinne einer Homöostase (A. Damasio 2017) entsteht. Das gilt besonders dann, wenn unser ganzes bisheriges System durch einen schweren Verlust erschüttert und durcheinandergebracht wird. Unsere Gefühle haben besonders auch die Funktion, das Geschehen im Körper und in der Seele spürbar werden zu lassen und so auch eine Regelung der Balance zu fördern. Viele Selbstheilungsprozesse laufen unbewusst, einige Prozesse können wir jedoch durch »Selbstregulation« bewusst beeinflussen. Zu wesentlichen Gefühlen nach Verlust gehören vor allem Trauer und Freude: Beide können zur Entspannung und Erholung beitragen, beide können Mitteilung fördern. Das Modell des Spielraums, das in diesem Buch vorgestellt wird, kann anschaulich machen, wie der Trauerprozess pendelnd zwischen verschiedenen Polen verläuft, nämlich zwischen der Auseinandersetzung mit dem Verlust und der Lebensgestaltung, zwischen Arbeit und Erholung, zwischen mir selbst und anderen Menschen, besonders auch zwischen mir und der verstorbenen Person, schließlich auch zwischen Alltagspraxis und spiritueller Erfahrung. Der Himmel kann sich unversehens öffnen, wie die Geschichte vom Regenbogen zeigt. Da jeder Trauerprozess anders ist, bleiben für jeden Menschen genügend Möglichkeiten, sich selbst und auch andere in einem solchen Spielraum zu sehen und auch in solcher Weite zu verstehen. Günstig ist es, wenn es in diesem Spielraum zum häufigen Schwingen von dem einen Pol zum anderen kommt, also etwa von Arbeit zur Erholung und nach einer Ruhezeit wieder zur erneuten Auseinandersetzung mit dem Verlust. Im Trauerprozess geht es auch um ein Schwingen zwischen Schmerzerfahrung, lösender Trauer und oft unerwarteter Freude. Sie kann zum Beispiel darin bestehen, in der schweren Situation von anderen verstanden und aufgefangen zu sein; nach einiger Zeit kann dann wieder von Neuem schmerzvolle Trauerarbeit notwendig werden. Bei solch einem Pendeln kann es sehr wichtig sein, von anderen einfühlsam begleitet zu werden.

Der Prozess der Trauer wird nicht nur bestimmt von biologischen Vorgängen und unseren eigenen Reaktionen, er ist auch stark von den jeweiligen kulturellen Traditionen und Übereinkünften geprägt, in denen wir leben. Kann ich mich so geben, wie ich wirklich bin? Muss ich mich zusammenreißen und stark erscheinen, auch wenn mir zum Weinen ist und ich mich schwach fühle? Bei uns kann eine Frau sich oft anders geben als ein Mann, der es sich nicht leisten darf, sich gehen zu lassen. Oder hat sich doch schon die Kultur der neuen Männlichkeit mit mehr Einfühlung und Achtsamkeit durchgesetzt? Dabei wird deutlich, dass wir in verschiedenen Kulturen leben.

In Deutschland wirkt einerseits die Zeit der »Unfähigkeit zur Trauer« noch nach, in der eine Trauer, die länger andauert, als Schwäche und Störung galt. Andererseits entsteht inzwischen eine neue Kultur der Trauer, in der mit viel Einfühlung und auch Kreativität der Trauer Zeit und Raum gegeben wird. Ich gehe der Frage nach, wie vom Altertum her in den verschiedenen Religionen und Kulturen Trauer und Freude verstanden wurden und wie der Zusammenhang zwischen diesen beiden Gefühlen gesehen wurde. Wie wirken die unterschiedlichen Traditionen heute weiter? Wie kann sich in unserer Region eine Kultur der Trauer entwickeln, die der Trauer wie der Freude Raum gibt und den Menschen nach schwerem Verlust eine neue Balance ermöglicht?

Das Buch schreibe ich aufgrund von persönlichen Erfahrungen und Begegnungen, die ich in den einzelnen Kapiteln des Buches immer wieder mit einbringe. Ich beziehe biologische Forschungen ein und versuche, ein Modell zu entwickeln, das den Erfahrungen wie den wissenschaftlichen Erkenntnissen entspricht. Ich bin mir bewusst, dass dieses Modell von meiner eigenen Sichtweise bestimmt ist1, auch ist es unvollständig und bedarf der Überprüfung und Weiterentwicklung unter Einbeziehung neuer Forschungsergebnisse. Nur so kann es innovativ sein. Mit dem Buch möchte ich vor allem Trauernden Anregungen geben, das eigene Leben nach schwerem Verlust zu gestalten. Ich werde von meinem eigenen Weg erzählen, wie ich in meiner Lebensgeschichte nach schweren Erfahrungen Trauer und Freude erlebt habe und wie das mein Leben erfüllt und bereichert hat. Dabei haben mich auch viele Begegnungen mit Menschen anderer Kulturen und Religionen weitergeführt. Ich bin dankbar, dass ich aus solchem Erleben heraus dieses Buch schreiben kann und hoffe, dass auch andere in ihrer Trauer Freude erfahren können.

Kapitel 1

Erfahrungen

Beginnen möchte ich mit eigenen Erfahrungen von Trauer und Freude, wie ich sie in meiner eigenen Lebensgeschichte und in meinem nahen Umfeld erlebt habe. Diese Erfahrungen können vielleicht Anregungen geben, dass beim Lesen eigene Erlebnisse erinnert und damit verbundene Gefühle vergegenwärtigt werden. Ich beginne mit drei Geschichten von Kindern. Sie äußern ihre Empfindungen meist noch unbefangener und spontaner als Erwachsene.

Ein fünfjähriges Mädchen setzt sich dafür ein, dass es wirklich schön werden soll, wenn ihr lieber Opa bestattet wird. Die Pastorin geht auf sie ein, sie will ihr ihren Wunsch erfüllen und gibt ihren Ideen Raum. Nach der Predigt kündigt das Mädchen an, dass jetzt alle rausgehen möchten: Sie können dann auf der Wiese nahe der Kirche Blumen pflücken und diese danach auf den Sarg legen, um dem Opa eine Freude zu machen. Die gewohnte Ordnung wird durchbrochen, alle verlassen die Kirche und treffen sich auf der Wiese. Eine gelockerte Atmosphäre entsteht, viele begegnen sich und sprechen miteinander, manche umarmen sich. Nach der Rückkehr in die Kirche werden die Blumen auf den Sarg gelegt. Das Mädchen wirft dort die von ihm gepflückten Gänseblümchen und Himmelschlüsselchen in die Luft: »So hat der Opa noch mehr Freude.« Die Pastorin führt die Feier weiter; sie schließt mit Gebet und Aussegnung. Das Mädchen sagt: »Das war eine wirklich schöne Feier.« Die Erwachsenen stimmen ihr zu. Manche überlegen, ob nicht ohnehin Trauerfeiern offener gestaltet werden sollten, sodass sowohl die Trauer wie auch die Freude mehr Raum haben können.

Eine Frau hat sehr plötzlich ihren Mann verloren und kann noch gar nicht fassen, was geschehen ist. Nach der Trauerfeier trifft sich die Familie am Tisch zu Hause. Es herrscht betretenes Schweigen. Der Platz, an dem sonst ihr Mann gesessen hat, wird mit Bedacht freigehalten. Als die gemeinsame Mahlzeit beginnen soll, setzt sich der sechsjährigen Enkel auf den leeren Platz und sagt laut und deutlich: »Jetzt bin ich der Opa.« Plötzlich ändert sich die Atmosphäre, alle blicken auf, atmen auf, manche beginnen zu lachen. Die Witwe sagt zu ihrem Enkel: »Ja, jetzt bist du der Opa. Auf seinem Platz kannst du ruhig sitzen bleiben.« Die Stimmung in der Familie ist jetzt nicht mehr bedrückend, sondern eher heiter und freudig. Allen wird bewusst, dass mit dem Abschied auch ein Anfang geschieht; eine neue Perspektive des Lebens wird möglich. Natürlich weiß die Witwe, dass der Enkel niemals voll die Rolle ihres Mannes übernehmen kann; dennoch wird spürbar, dass neue Beziehungen entstehen können, die das weitere Leben erträglich, vielleicht sogar kostbar werden lassen können.

Jetzt möchte ich von meiner Enkelin erzählen. Sie war fünf Jahre alt, als meine Frau sehr schwer erkrankte und es deutlich wurde, dass sie nur noch kurze Zeit zu leben hatte. Die Enkelin hatte sich vorgenommen, für ihre Großmutter in dieser Zeit da zu sein und ihr Gutes zu tun, soweit sie das konnte. So erteilte sie ihrer Oma Trainingsstunden, in denen sie das Fliegen lernen sollte. Die Enkelin machte die Bewegungen vor, danach forderte sie ihre Oma auf, diese Bewegungen nachzumachen. Sie begann mit einem Hubschrauber; die Bewegungen waren sehr eckig und kompliziert, auch war es unangenehm laut. Nach einiger Zeit gab ihre Oma es erschöpft auf, diesen Bewegungen zu folgen. Danach zeigte sie ihr, wie ein Flugzeug seinen Flug startet. Das war schon etwas leichter, aber dabei musste man einen großen, langen Anlauf nehmen. Eine dritte Möglichkeit war viel besser. Meine Enkelin zeigte ihrer Großmutter, wie Engel fliegen: ganz leicht und locker, schwebend hin und her, vor und zurück; so entstand langsam ein beschwingter Tanz. Mit großer Freude sah meine Frau diesem Spiel zu: Dann versuchte auch sie einige Schritte, zuerst ganz vorsichtig, dann behutsam etwas weiter; in ihrem ganzen Ausdruck war sie beseelt und beflügelt. »Ja, das möchte ich«, sprach sie. »Ich möchte mit den Engeln tanzen – und ich glaube fest daran, dass es so sein wird.« Am Tage, bevor sie starb, malte die Enkelin noch ein Bild von den tanzenden Engeln. Wir brachten dieses Bild über dem Bett im Hospiz an, gemeinsam schauten wir darauf. Der Grabstein meiner Frau trägt ihren Namen, und darüber stehen im weiten Bogen die Worte: »Mit den Engeln tanzen!« Wenn ich das lese, erinnere ich mich mit großer Freude daran, wie meine Enkelin meiner Frau am Ende ihres Lebens das Fliegen und das Tanzen mit den Engeln beigebracht hat.

Die ersten drei Erfahrungen, von denen ich hier erzählt habe, handeln von Kindern. Auch Erwachsene können sich manchmal wie Kinder verhalten – so leicht und spielerisch. Ein älterer Herr klagte in der Trauergruppe immer wieder darüber, dass er nie von seiner verstorbenen Frau geträumt habe, während doch andere von ihren Träumen berichten konnten. Eines Tages kam er voller Freude in die Gruppe: »Denkt euch, heute Nacht habe ich wirklich von ihr geträumt. Wir hatten die ganze Nacht hindurch zusammen eine Kissenschlacht. Das Schönste ist: Ich kann das auch beweisen. Als ich aufwachte, hatte ich das Kissen in der Hand, das sie mir gerade zugeworfen hatte. Was habe ich mich darüber gefreut!« Wie wunderbar ist es, wenn Erwachsene in ihren Gefühlen manchmal so wie Kinder sein können.

Eine Witwe litt sehr unter Schuldgefühlen. Sie erzählte davon, dass sie ihren Mann in seiner schweren Krankheit bis zuletzt begleitet habe. So war sie auch am letzten Tag seines Lebens bei ihm. Sie war durch vieles Wachsein in den vorangegangenen Nächten sehr erschöpft und wollte sich in der Cafeteria der Klinik bei einem Cappuccino etwas erholen und kräftigen. Gerade in dieser Zeit starb ihr Mann. Sie könne sich das nie verzeihen, dass sie ausgerechnet in seiner Sterbezeit nicht bei ihm war, obwohl sie ihm das doch ausdrücklich versprochen hatte. In der Trauergruppe wurde sie nach längerem Zuhören und Schweigen gefragt: »Können Sie sich vorstellen, was Ihr Mann denn dazu sagen würde? Versuchen Sie das mal in Ruhe nachzufühlen.« Nach einiger Zeit antwortete sie ganz deutlich und voller Freude: »O, ich weiß ja genau, was er sagen und was er tun würde: Er würde mich einfach in den Arm nehmen, und das tut so gut.« Die Schuldgefühle sind nach dieser Erfahrung so nicht wiedergekehrt, damit musste sie sich nicht mehr weiter quälen. Dagegen erfüllt es sie immer wieder mit Freude, ihrem Mann auch nach seinem Tod in Liebe begegnen zu können.

Eine junge Frau, die ihre Mutter verloren hatte, erzählte in der Trauergruppe für junge Erwachsene, dass sie ein großes Unglück erlebt habe. Die Teekanne, die die verstorbene Mutter ihr geschenkt habe, sei durch eine Unachtsamkeit zu Boden gefallen und zerbrochen. Dabei war ihr doch gerade diese Kanne als Erinnerung an die Mutter so wichtig. Sie hatte aber die Scherben der Kanne nicht weggeworfen, sondern sie alle aufbewahrt: In der Gruppe wurde deutlich, dass durch den Tod der Mutter vieles in ihrem eigenen Leben zerbrochen und in Scherben gegangen war. Sie kann die verschiedenen Fragmente wieder aufnehmen, sie neu zusammensetzen und mit Leben füllen. Beim nächsten Gruppentreffen erzählte sie, dass sie die größte Scherbe in eine Blumenschale verwandelt hat: »Ich habe eine blaue Iris hineingepflanzt und mich so darüber gefreut. Jetzt habe ich doch ein passendes Symbol und eine Verbindung zu meiner Mutter auch über den Tod hinaus.«

In allen diesen Erfahrungen zeigt sich, wie Kinder und Erwachsene Trauer und auch Freude erleben. Kinder teilen oft unmittelbar mit, wie ihnen innerlich zumute ist. Erwachsene verhalten sich meist kontrollierter, sie nehmen sich oft zusammen, um sich in Trauer wie in Freude nicht zu sehr gehen zu lassen. Kinder können Erwachsenen jedoch Anregungen geben, Gefühle mehr zuzulassen. Das Leitmotiv von »Trauernde Kinder Schleswig-Holstein« lautet: »Wer der Trauer Raum gibt, schafft Platz für das Lachen.« Vielleicht könnte dieses Wort auch zu einem Leitmotiv für Erwachsene werden. Viele trauernde Eltern sagen z. T. nach mehreren Jahren Trauerbegleitung, dass sich alles in ihrem Leben durch die schweren Erfahrungen hindurch vertieft und erweitert hat. Freude ist wieder möglich, meist allerdings eine andere, tiefere Freude als in der Zeit vor dem Verlust ihres Kindes. In dem Regenbogenlied, das oft in Trauergruppen verwaister Eltern gesungen wird, werden Trauer und Zuversicht miteinander verbunden: Tränen brechen sich im Licht – es entsteht ein leuchtender Regenbogen.

Kapitel 2

Alte Geschichten und neue Entwicklungen

Das Verständnis von Trauer und Freude, das zeigt sich auch in den beschriebenen Erlebnissen, ist stets von der Kultur geprägt, in der die Menschen leben. Es bilden sich Traditionen aus, in denen Gefühle zum Ausdruck kommen und mitgeteilt werden. Die jeweilige Kultur kann sich auch ändern: Die Normen und Rituale können starrer und strenger werden; es können aber auch flexiblere Weisen entstehen, in denen Trauernde in ihrer jeweiligen Situation sich besser aufgehoben und verstanden fühlen. Einige Beispiele solcher kulturellen Entwicklungen möchte ich jetzt nennen und sie in ihrer Wirkung beschreiben.

Verwandlung der Trauer in Tanz

In alten Traditionen Ugandas werden Gefühle von Trauer und Freude im gemeinsamen Tanzen zum Ausdruck gebracht; solche Traditionen werden in manchen Regionen Ugandas heute noch lebendig gestaltet. In Bushenyi im Südosten Ugandas entstand der Wunsch, solchen Ritualen auch in der Kirche Raum zu geben. Kann das möglich sein, wenn manche westliche Missionare doch das Tanzen und Trommeln in der Kirche als heidnische Bräuche bezeichnet und in der Kirche untersagt hatten? Ugandische Pastoren in Bushenyi verwiesen auf sehr alte Geschichten in der Bibel, in denen davon erzählt wird, dass vor Gott getanzt wurde. Sie wollten auf diese alte Tradition zurückgehen, in der Trauer und Freude im Tanzen dargestellt und gestaltet wurden. So heißt es in Psalm 30,12: »Du hast mir meine Klage verwandelt in einen Reigen.« Dieses Wort sollte im Zentrum eines Gottesdienstes im Raum der Kirche stehen; dazu waren besonders auch Trauernde eingeladen. Das Psalmwort sollte nicht nur in der Predigt ausgelegt werden. Es sollte auch in Bewegung und Tanz zum Zuge kommen und mit Leib und Seele erfahrbar werden. So brachten Frauen ihre Klagen vor, zeigten, wie sie erschüttert und durchgeschüttelt waren von ihren Schmerzen. Langsam ändert sich der Rhythmus der begleitenden Trommel. Manche beginnen mit ihren Armen zu schwingen, drehen sich, werfen ab, was sie belastet, wenden sich einander zu und fangen an, miteinander im Reigen zu tanzen. Sie zeigen ihre Erleichterung und Freude, stecken andere damit an, und bald schließen sich die anderen in der Kirche mit Klatschen, Singen, Hüpfen und Springen an. Nach einiger Zeit kommt dann alles wieder zur Ruhe und der Gottesdienst klingt im Danken, im Gebet und Segen aus. Die guten Erfahrungen in diesem Gottesdienst haben die ugandischen Christen dazu ermutigt, in der Kirche weiter zu klagen und zu tanzen, ihre Trauer zu zeigen und auch ihre Freude. So entwickelt sich unter Rückbezug auf sehr alte Überlieferung in der Bibel eine neue Kultur der Trauer, die mehr Möglichkeiten eröffnet, als manche Missionare damals zulassen wollten. Wir Deutschen in der Partnerschaftsarbeit haben mit großem Interesse diesen Prozess miterlebt und fragen uns, ob solch befreiende Erfahrungen, Trauer im Tanzen zum Ausdruck zu bringen, nicht auch mehr als bisher in Deutschland möglich sein könnten. Einzelne Elemente von Bewegung und Tanz konnten in einigen Trauergruppen aufgenommen werden. Ein spezielles Angebot des Tanzes für Trauernde in einer norddeutschen Kirchengemeinde wurde zunächst von einigen wenigen angenommen, hat sich aber in der derzeitigen kulturellen Situation dieser Region langfristig noch nicht durchsetzen können.

Die Frage: Bin ich tot oder lebendig?

Von Nasreddin Hodscha, der im 14. Jahrhundert im Orient als Imam gelebt haben soll, gibt es viele Überlieferungen. In einer Geschichte heißt es: Er hat auf die Frage, ob man vor oder hinter, rechts oder links vom Sarg gehen soll, wie folgt geantwortet: »Egal wo, die Hauptsache, du bist nicht selbst darin.« (Quellen aus dem 14. Jh.). Zunächst wirkt diese Geschichte wie einer der üblichen Witze. Die kurze und klare Antwort des Imams eröffnet ganz unerwartet eine neue Perspektive. Wer hinhört, wird plötzlich mit dem eigenen Tod konfrontiert. Damit wird im Leben anderes wichtiger, als es vorher war. Es geht jetzt um die Frage nach dem Sinn und dem Ziel meines Lebens: Bin ich tot, oder bin ich jetzt und hier wirklich lebendig? Die herkömmlichen Regeln, um die sonst so viel gestritten wird, sind in dieser neuen Sichtweise gar nicht mehr so wichtig. Damit geht die Geschichte weit über die sonst üblichen Witze hinaus. Sie stellt die Frage nach dem eigenen Leben in das Zentrum und relativiert damit die festen Normen (man muss vorne gehen, man muss hinten gehen). Die Geschichte ermöglicht damit für alle, die sie wirklich hören, die eigene Lebenspraxis zu überdenken, sie neu zu gestalten und andere Prioritäten zu setzen. Damit wirkt sich diese alte Geschichte, die durch mehrere Jahrhunderte hindurch in vielen Ländern tradiert wurde, so aus, dass feste Normen flexibler werden können – und das durchaus in humorvoller Weise.

Fülle des Lebens – in den zwölf letzten Tagen

Von den Erfahrungen des sterbenden zehnjährigen Oskar in den letzten zwölf Tagen seines Lebens erzählt der französische Schriftsteller E.-E. Schmitt in seinem 2003 in Deutschland erschienenen Buch »Oskar und die Dame in Rosa« (Schmitt, 15. Aufl. 2018). Oskar ist an Leukämie erkrankt und hat nur noch eine Lebenserwartung von wenigen Tagen. In dieser Situation begegnet er der »Dame in Rosa«, er nennt sie »Oma Rosa«. Sie arbeitet im Krankenhaus, lernt Oskar kennen und begleitet ihn in seinem Sterben. Sie fordert ihn auf: »Von heute an wirst du jeden einzelnen Tag so betrachten, als würde er zehn Jahre zählen.« (a. a. O., S. 38) Weiterhin schlägt sie ihm vor, dass er jeden Tag einen Brief an Gott schreibt. So kann er mitteilen, was er jeden Tag denkt und fühlt. Oskar durchlebt die Jugend, die erste Liebe (mit seiner Mitpatientin Peggy), die Krisen der mittleren Jahre und schließlich auch das hohe Alter. Einige dieser Tage empfindet er als »wunderschön« (a. a. O., S. 70 u. 75). In diesem erfüllten Leben sind folgende Erfahrungen besonders wichtig: In der Kapelle des Krankenhauses begegnet er Gott in dem Jesus am Kreuz. Er lernt so einen Gott kennen, der Schmerzen hat und doch im Frieden ist (a. a. O., S. 63 ff.). Oskar fragt Oma Rosa: »Kennen Sie Leute, die sich bei dem Gedanken an den Tod freuen?« Oma Rosa antwortet: »O ja, solche kenne ich. Meine Mutter zum Beispiel. Auf ihrem Sterbebett hat sie ganz neugierig gelächelt, sie war voller Ungeduld, sie hatte es eilig herauszufinden, was passieren würde.« (S. 64 f.) An dem neunten Tag, als Oskar also in seinem Verständnis neunzig Jahre alt ist, erhält er endlich den lang erwarteten Besuch von Gott. Oskar schreibt dann in dem nächsten Brief: »Ich habe gespürt, dass Du da warst … Ich habe auf das Licht geschaut, die Farben, die Bäume, die Vögel, die Tiere. Ich habe gespürt, wie die Luft durch meine Nase strömt und wie sie mich atmen läßt. Ich habe Stimmen auf dem Korridor gehört, die wie im Gewölbe einer Kathedrale hoch nach oben steigen, Ich habe gespürt, wie ich lebe. Ich bebte vor reiner Freude. Vor Glück, dazusein. Ich war überwältigt.« (S. 99) Am Ende schreibt Oma Rosa selbst einen Brief an Gott: »Vielen Dank, daß Du mich Oskar hast kennenlernen lassen. Dank seiner war ich fröhlich, ich habe Märchen erfunden … Dank seiner habe ich gelacht und Freude empfunden.« (S. 104) Das Buch zeigt sehr anschaulich, wie in der Krise des Sterbeprozesses auf der einen Seite Schmerzen wahrgenommen und angesprochen werden; auf der anderen Seite Freude erfahren, mitgeteilt und aufgezeichnet wird. Durch dieses Mitteilen wird es möglich, dass die Gefühle sich entfalten und die ganze noch verbleibende Lebenszeit bestimmen. Solches Mitteilen findet in doppelter Weise statt: einmal in den einfühlsamen Gesprächen zwischen Oskar und Oma Rosa, zum anderen in der spirituellen Kommunikation, die Vertrauen, Halt und Orientierung gibt.

Die Geschichte von Oskar hat in Gruppen trauernder Eltern oft eine starke Resonanz gehabt, im Hören, im Lesen, im Weitererzählen. Sie regte auch dazu an, dass Eltern ihre eigenen Erfahrungen in neuer Perspektive sahen und sich darüber austauschten. Einige Eltern konnten jetzt die Lebensjahre und Lebenstage ihrer Kinder in einem neuen Lichte wahrnehmen. Ein Ehepaar, dessen kleine Tochter im Alter von vier Jahren durch einen Unfall ums Leben gekommen war, teilte mit: »Wenn wir das so sehen, dann waren doch auch die vier Lebensjahre unserer Tochter erfüllt und sinnvoll. Jeden Tag hat sie uns so viel Freude gemacht. Die Liebe, die sie in unser Leben hineingebracht hat, die wirkt weiter, auch in aller Trauer.« Eine Mutter, die ihren Sohn im Alter von 22 Jahren durch Leukämie verloren hatte, erzählte: »Er hat so intensiv gelebt. So viele Hobbys hat er gehabt und so viele freundschaftliche Beziehungen zu ganz unterschiedlichen Leuten: Er war mit Rockern unterwegs und verkehrte im Yachtclub. Sogar einen Jaguar hat er gefahren – in seinem Alter. Wenn ich die Geschichte von Oskar höre, glaube ich sogar, dass ihm bewusst war, dass sein Leben nur kurz ist; deshalb hat er es so engagiert und vielfältig ausgekostet. Das alles hat sonst ein Mann mit achtzig nicht erlebt. Wenn ich über das alles nachdenke, bin ich richtig stolz auf ihn und freue mich darüber.«

Friedhofsgeschichten – Zeichen des Lebens

Im Jahr 2016 erschien eine Sammlung von Friedhofsgeschichten, vornehmlich aus ländlicher Gegend im Umkreis von Eckernförde/Ostsee. Diese Sammlung hat den Untertitel »Hymnen an das Leben« (Frommer 2016). Das Buch will zeigen, wie Tod und Leben, Weinen und Lachen zusammengehören können. Es beginnt mit der Geschichte von dem großen Sprung (a. a. O., S. 8). Bei einer Beerdigung stand ein Pastor am Grab. Plötzlich bröckelt die Erde auf der Seite, an der er steht. Er droht in das Grab zu rutschen. Mit einem großen Sprung gelingt es ihm, gerade noch rechtzeitig auf die andere Seite des Grabes zu gelangen. Er dreht sich um und führt von der anderen Seite aus die Beerdigung fort; von dort aus spricht er den Trauernden den Segen zu. Diese besondere Trauerfeier hatte Folgen: Der Pastor wurde auffallend häufig darum gebeten, Beerdigungen zu übernehmen. Dabei wurde meist der Wunsch geäußert: »Diesen wunderbaren Sprung über das Grab – den machen Sie doch bitte wieder.« In dieser Geschichte liegt – sie mag sich so zugetragen haben oder auch nicht – eine tiefe und ermutigende Wahrheit. Im Schmerz des Abschieds scheint ja tatsächlich die Erde zu bröckeln und wegzubrechen. Viele Trauernde haben das Gefühl, dass ihnen der feste Boden unter den Füßen weggezogen wird. Trotzdem gibt es eine andere Seite der Trauer. Von dort her wird den Trauernden zugesprochen: »Gott segne dich und behüte dich, er gebe dir Frieden.« Trauer ist nicht nur Schmerz und harte Auseinandersetzung. Auf der anderen Seite der Trauer ist auch die Erfahrung von Geborgenheit, Ermutigung und mit der Zeit auch Neuorientierung.