Trauern braucht seine Zeit - Ludwig Burgdörfer - E-Book

Trauern braucht seine Zeit E-Book

Ludwig Burgdörfer

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Beschreibung

Trauer ist ein Prozess, der durchlebt werden will. Die Trauer um den Verlust eines lieben Menschen oder eines nahen Angehörigen verändert das eigene Leben grundlegend. Oft macht Trauer hilflos und einsam. Dieses Buch bietet 366 sehr kurze, persönliche Texte, die aus seelsorgerlicher und psychologischer Sicht Trauernden durch das erste Trauerjahr helfen sollen. Behutsam nehmen sie Gefühle der Verzweiflung, des Zorns und der Ratlosigkeit auf und begleiten Trauernde bei der allmählichen Rückkehr ins Leben, wenn die Zeit dafür reif ist. Entstanden sind die Texte aus der praktischen Erfahrung der beiden Autoren, die seit vielen Jahren in der Begleitung von Sterbenden und Trauernden engagiert sind. Der erfolgreiche Bestseller in einer neuen überarbeiteten Auflage als gebundener Geschenkband.

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Seitenzahl: 202

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ludwig Burgdörfer/Marthe Kuhm

Trauern braucht seine Zeit

Täglicher Begleiter für das erste Trauerjahr

Die Bibelzitate sind, soweit nicht anders angegeben, entnommen aus: Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

S. 307 „Neujahrslied“ aus: Jochen Klepper, Ziel der Zeit – Die gesammelten Gedichte, © Luther-Verlag Bielefeld, 7. Auflage 2003

Die erste Ausgabe erschien 2005 im Verlag Hartmut Spenner, Waltrup. Sie wurde für die Neuausgabe geringfügig überarbeitet.

8. Auflage 2025

(Die vorige Ausgabe erschien unter der ISBN 978-3-7655-1497-5)

© 2007 Brunnen Verlag GmbH

Gottlieb-Daimler-Str. 22, 35398 Gießen

www.brunnen-verlag.de; [email protected]

Umschlagfoto: Adobe Stock

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Satz: Die Feder GmbH, Wetzlar

ISBN Buch: 978-3-7655-3349-5

ISBN E-Book: 978-3-7655-7739-0

Inhalt

Hinweise zum Lesen

Einleitung

1. Teil: Zu Tode erschrocken – Den Trauerfall haben

2. Teil: Tödlich getroffen – Erste Schritte gehen

3. Teil: Tod und Leben – Schwere Zeiten aushalten

4. Teil: Leben und Tod – Lichtblicke sehen

5. Teil: Tod-sicher werden – Den Lebenswillen wieder finden

Stichwortverzeichnis

Literaturhinweise

Kontaktadressen

Vorwort und Dank

Wir freuen uns, dass der Brunnen Verlag Gießen sich entschieden hat, dieses Trauerbuch mit einer neuen Auflage auf dem Markt zu halten. Wir sind dankbar für die vielen positiven Rückmeldungen betroffener Trauernder, denen meist Freunde und Verwandte diesen täglichen Begleiter durch das erste Trauerjahr geschenkt haben. Vor allem Format und Ausmaß der einzelnen Texte werden offenbar dankbar angenommen. Denn es sind immer nur kleine Häppchen, ein Gedanke, ein Aspekt im Angebot. Und das ist wichtig, weil niemand mit der frischen Verletzung durch einen Trauerfall viel und lange konzentriert lesen und verweilen kann. Es sind immer nur ganz kurze Sequenzen der Aufmerksamkeit möglich und nötig. Dabei bleibt völlig offen, an welcher Stelle weitergelesen wird. Damit gibt diese kleinteilige und differenzierte Anteilnahme viel Freiraum zur Selbstdosierung. So kann das Buch ein ehrlicher seelsorglicher Wegbegleiter auch in den kommenden Jahren sein.

Wir danken allen Frauen und Männern, mit denen wir auf ihrem Trauerweg ein Stück Gefährtenschaft teilen durften und die uns das Hoheitsgebiet ihres Trauerlandes für einen Moment haben betreten lassen. Alle wertvollen Gedanken und Fragen, alle Aussagen und Erkenntnisse, die diesem Buch Richtung und Gewicht geben, sind nur möglich und denkbar aufgrund dieser intensiven Begegnungen.

Dr. Ludwig Burgdörfer

Marthe Kuhm

Hinweise zum Lesen

Dieses Buch gibt Raum für eigenes Nachdenken. Ein meditierendes Lesen führt zur Entdeckung der eigenen Trauerspur. Beim Lesen empfiehlt es sich, immer zuerst von dem

Leid-Satz

auszugehen. Er ist jeweils der Ausgangspunkt und das Zentrum der einzelnen Tagestexte. An ihm kann man sich am besten orientieren. Neben den eigenen Gedanken, die den Lesern dazu in den Sinn kommen, finden sich dann zwei weitere Anregungen und Impulse:

Über dem Leid-Satz hat Marthe Kuhm aus der Sicht der Psychologin den Satz beschrieben. Sie bezieht sich dabei ganz stark auf ihre Erfahrungen, wie Gespräche mit trauernden Menschen ganz praktisch verlaufen. Sie schreibt so, wie Trauernde angesichts ihrer Betroffenheit sprechen. Ihre exemplarischen Redebeiträge können Anstoß und Impuls für das eigene weitere Nachdenken sein. Sie können aber auch zur Grundlage für Gruppengespräche genutzt werden.

Unter dem Leid-Satz finden sich eher meditative Texte mit biblischen Anklängen oder auch Bibelzitate, die Ludwig Burgdörfer als Theologe und Seelsorger an das Bisherige anschließt.

So soll Seite für Seite ein Gespräch auf verschiedenen Ebenen stattfinden: auf der Grundlage des Leid-Satzes das Zwiegespräch der beiden Autoren und vor allem das Zwiegespräch mit und unter denen, die diese Gedanken lesen, aufnehmen und sich davon anregen lassen.

Darum können Sie in diesem Buch in Auswahl und mit Unterbrechungen blättern. Wir wissen, dass es trauernden Menschen sehr schwer fällt, am Stück zu lesen. „Ich kann wieder lesen“ ist der Leid-Satz Nr. 353, also vielleicht nach einem längeren Weg in der Trauer. „Was für ein Geschenk: Lesen – und für eine Zeit lang leben, ohne es zu merken“ (Seite 374). Als Trauernde brauchen Sie kleine Portionen und vertragen Trost und Nähe nur langsam und wohldosiert. Darum ist dieser Begleiter auch ganz punktuell und in Auswahl zu gebrauchen.

Die Zahlen, mit denen die 366 einzelnen Tagestexte markiert sind, können Ihnen für das regelmäßige Lesen ein Anhaltspunkt sein. Sie dürfen aber nicht als notwendige Reihenfolge eines irgendwie typischen Trauerweges überschätzt werden. Nicht alles wird bei jedem Menschen in seiner ganz eigenen Trauer so vorkommen – und manches, was Sie quält oder beschäftigt, wird womöglich sogar in diesem Buch fehlen. Die Zahlen sollen helfen, sich zu orientieren im Gebrauch des Buches als einem täglichen Begleiter im ersten Trauerjahr.

Wir verzichten darauf, jeweils bei den Personen die männliche und die weibliche Form zu verwenden, damit die Texte besser lesbar sind. Immer, wenn die eine Seite ausgesprochen wird, ist der andere Teil selbstverständlich auch mit gemeint.

Einleitung

Trauer ist Arbeit. Sie kostet viel Kraft. Der Tod eines nahen Menschen verändert das Leben der Hinterbliebenen total. Nichts ist mehr, wie es war. Ein langer Weg beginnt. Ein Trauerweg mit vielen Wendungen und Abstürzen. Dafür gibt es keinen festen Plan, kein Leid-System, das für alle nachvollziehbar und hilfreich sein kann. Trauer ist immer ganz eigenartig, wie wir selber. Und doch gibt es eine Richtung, gibt es Etappen, vergleichbare Erfahrungen und Ziele: Das Erschrecken ertragen, die ersten Schritte gehen, diese schweren Zeiten aushalten, Rückfälle erleiden, Verzweiflung überwinden, Trost suchen, erste Lichtblicke sehen können. Am Ende soll wieder ein Anfang stehen, der dann im besten Trauerfall bedeutet, dieses liebe Leben wieder neu zu gewinnen und zu bejahen. Es ist ein weiter Weg, bis jemand seine Trauer leiden mag. Dieser Trauerlauf macht müde und bringt alles Bisherige ins Wanken. Wenn nichts mehr ist, wie es war, dann muss es werden, wie es wird – und zwar ganz persönlich und langsam. Dabei kommen alle möglichen Gefühle hoch: Angst und Zorn, Schuld und Sehnsucht, Einsamkeit und Schmerz, Glaube und Zweifel. Das verändert und verunsichert. Zuerst die Betroffenen und dann auch deren ganze Umgebung. Niemand macht es sich leicht. Alle tun sich schwer mit der Trauer.

Das Erforschen der Trauer als unvergleichliches Phänomen und Lebensthema hat schon einen weiten Weg hinter sich. Und so manches wurde überholt und ergänzt von neuen wegweisenden Erkenntnissen. Seit dem ersten Erscheinen dieses Trauerbuches vor jetzt 20 Jahren, ist dieser Prozess immer weitergegangen. Gott sei Dank!

Der wertschätzende Begriff der „Trauerarbeit“ hat sich mittlerweile etabliert. Man hat sie als unerlässliche Voraussetzung für das Bewältigen der Trauer erkannt. Es wurden Trauerphasen und Stufen des Durcharbeitens markiert. Unterschiedliche Phasenmodelle haben versucht, die Trauer wie einen Parcours zu beschreiben, der bewältigt werden muss.

Schließlich begann man, die Trauer wie ein Kaleidoskop zu betrachten mit all den bunten Facetten und Erlebnisbereichen. Und es wird immer weitergeforscht und erklärt, gedeutet und angeleitet.

Über viele Jahre wurde trauernden Hinterbliebenen dringend nahegelegt, ihre Verstorbenen loszulassen, also endgültig zu verabschieden. Am Ziel der Trauer angekommen, gelte es dann die komplette Abwesenheit der Verstorbenen zu akzeptieren. Dort wäre dann die Trauer bewältigt und das Leben wieder gewonnen. Ein großer Irrtum, der allerhand Seelenqualen verursacht hat. Denn so kamen zu dem Leid und der Sehnsucht auch noch der Leistungsdruck dazu, nämlich nachweislich anzukommen an dem Lernziel des Loslassens.

Dabei hat diese Theorie vollends den Charakter der Trauer verkannt. Weil Trauer nämlich nichts anderes als Liebe ist, kann sie nicht loslassen. Liebesbeziehungen enden nämlich nicht mit dem Tod. Die Liebe hört gut biblisch begründet niemals auf. Auch nicht mit dem Tod. Herzensmenschen bleiben im Herzen wohnen für immer und ewig.

Somit haben wir inzwischen gelernt, dass auf dem Trauerweg nicht ein vermeintlich erlösendes Loslassen angegangen werden muss, sondern bestenfalls ein getrostes Überlassen und Anvertrauen. Trauern und Lieben lassen nicht los, sondern bleiben in Kontakt und pflegen ihre Beziehung neu in das Leben ein.

So bleibt die Trauer immer unterwegs mit denen, die uns schon ein Stück des Weges vorausgegangen sind. Und die Verbundenheit bleibt uns ein Begleiter in der Vorfreude auf ein Wiedersehen.

Nach wie vor gilt: Es ist wichtig, dass Trauernde nicht allein bei sich bleiben, sondern sich begegnen und austauschen. Im Gespräch mit betroffenen Gleichgesinnten lässt sich vieles sortieren und eher begreifen. Trauergruppen sind wichtig, sie zu begleiten eine wertvolle Aufgabe.

Nach vielen Jahren gemeinsamer Trauerbegleitung haben wir eine reiche Sammlung von Eindrücken, Aussagen, wiederkehrenden Positionen und Entdeckungen mit verschiedensten Trauergruppen gesammelt.

Als Psychologin und als Seelsorger haben wir diese unterschiedlichen Aspekte der Trauerwege immer wieder neu miteinander gedeutet und besprochen. So ist schließlich der Impuls für dieses Buch entstanden, das sich als Handreichung für alle versteht, die von Tod und Trauer betroffen sind.

Die gesammelten Leid-Sätze sind in Gruppengesprächen so gefallen, bei Auswertungen so entstanden, als Quintessenzen und als Einstiegsimpulse immer wieder so oder so ähnlich formuliert worden. Darum können sie als authentische Markierungen für einen Trauerweg gelten. Und gerade weil sie so echt sind, sollten sie sich für die persönliche Lektüre genauso eignen wie als Anregungen für Gruppengespräche oder die Einzelseelsorge.

Insofern ist dieses Buch sowohl für unmittelbar Betroffene gedacht als auch für Menschen, die sich für deren Begleitung einige Anregungen und Hilfen erhoffen.

Obwohl das „Trauerjahr“ in fünf Wegabschnitten einer möglichen Trauerbewegung aufgebaut ist, kann man es vorwärts und rückwärts lesen, genauso, wie sich auch der Trauerprozess nie linear oder gar systematisch fortbewegt, sondern sich immer kreisend erinnert und das wiederholend durcharbeitet, was jeweils notwendig ist. Stichworte, Empfindungen, punktuelle Wahrnehmungen, Emotionen, jedwede Befindlichkeiten können aufgesucht und meditiert werden. Dazu soll auch das Stichwortverzeichnis eine Hilfe sein. Hier können ganz gezielt bestimmte Zusammenhänge nachgeschlagen werden. Wir bieten bewusst 366 Sätze an, um deutlich zu zeigen, dass mit dem sogenannten Trauerjahr keineswegs alles geschafft ist. Diese Festlegung wäre unmenschlich und dem Trauerweg nicht angemessen. Deshalb soll die Zahl 366 dazu ermutigen, dass es weitergehen kann und muss und wird.

Dieser Begleiter ist nicht zu Ende gedacht, nicht fertig, nie ganz stimmig für jeden und jede, nicht vollkommen wahr oder richtig, sondern immer nur anstoßend und anregend, im besten Fall aufrichtend und motivierend. Er ist als Wegzehrung für den leidvollen Weg der Trauer gedacht, der nicht bei sich stecken bleibt, sondern weiterführt aus dem finsteren Tal an das göttliche Licht der Hoffnung – um irgendwann wieder dem Leben zugewandt zu sein. Das alles braucht Zeit und hat seinen ganz individuellen Takt. Niemand kann für einen anderen sagen, wie lange es dauert, wann es besser wird, wo es anfängt, aufzuhören, nur noch wehzutun.

In diesem Sinne schicken wir unser Trauerbuch erneut auf die Reise und hoffen, es kann auch weiterhin eine wertvolle, unaufdringliche, anredende und aufrichtende Begleitung für Viele sein.

Marthe Kuhm und Dr. Ludwig Burgdörfer, im Sommer 2024

1.TeilZu Tode erschrockenDen Trauerfall haben

1

Von einem Moment auf den andern ist unser Leben auf den Kopf gestellt. Das Normale ist aufgehoben. Es ist alles anders geworden. Ich bin anders geworden, die Kinder, die Familie, die Freunde … Bedeutungen haben sich verschoben, Schwerpunkte sind anders gesetzt.

Die Gesetze unseres Lebens werden anders geschrieben.

Mir hat man den Boden unter den Füßen weggezogen.

Mein Lebensrhythmus ist gestört.

Es ist nichts mehr, wie es war!

Ein Mensch geht – und alles ist anders.

Es ist, als ob die Welt unterginge – und sie tut es auch.

Ein Mensch geht und nimmt eine ganze Welt mit sich fort.

Der Tod ist ein Weltuntergang der besonderen Art.

Und diese Art ist grausam und hart. Für alle!

Auch für Menschen, die an Gott glauben.

Der Tod durchkreuzt das Leben total.

Das Leben derer, die gehen,

und das Leben derer, die bleiben.

2

Es ist wie ein Riss durch unser Leben.

Es kam alles so plötzlich und unerwartet, ohne Vorbereitung.

Wir konnten uns nicht wappnen, es hat uns kalt erwischt:

ungeübt und ungeprobt mussten wir uns dem stellen.

So plötzlich und so unerwartet, verglichen mit dem,

was wir noch geplant hatten, was wir noch vorhatten.

Wir sind in einem Schockzustand, der uns lähmt.

Wir sind vom Tod überfallen worden.

Der Tod ist ein Feind, ein Dieb, eine Gewalt.

Wenn er kommt, ist er stets ein Einbrecher.

Ob plötzlich oder langsam, ändert daran nicht wirklich viel.

Er kommt immer ungelegen.

Er durchwühlt und verwüstet alle Lebensräume.

In und um uns sieht es aus wie nach einem Überfall.

Und wir wissen noch gar nicht genau, was uns alles fehlt.

So mitgenommen sieht unser ausgeraubtes Lebenshaus aus.

3

Ich weiß jetzt, dass Leid und Trauer in das Leben eintreten.

Ich bin nicht und kann nicht mehr so unbeschwert sein.

Ich weiß, dass „Schwere“ in das Leben eintreten kann.

Ich bin verletzt und man sieht mir meine Verletzungen an.

Ich trage sie vor mir her. Sie sind um mich herum.

Die Unbeschwertheit hat mich verlassen.

Und plötzlich gehöre ich nicht mehr in die Welt der Unversehrten.

Die Welt der Unversehrten:

Eine Zeit lang wohnen wir alle dort. Zum Glück!

Dort ist nicht weit weg. Eine Handbreit vielleicht nur.

Ein Augenblick bloß.

Dort lebt es sich gut, so an und für sich:

Aufstehen, Arbeiten, Essen.

Werktag, Alltag, Sonntag.

Mal ein Schnupfen, mal ein Strafzettel.

Nichts Spektakuläres.

Solange wir dort sind, wissen wir es gar nicht.

Erst wenn wir fort sind, wird es uns klar.

Der Tod evakuiert uns aus der Unversehrtheit in das Hier und verletzte Jetzt.

Und es gibt kein Zurück.

4

Ich sehe mich handeln, arbeiten, entscheiden …

aber es ist nicht real. Bin ich das wirklich?

Ich erlebe das nicht wirklich,

bin wie unter einer Glocke, die dämpft.

Es ist, als lebte ich außerhalb meines Körpers,

als wäre ich betäubt, aber dennoch bin ich mir ständig

des Schmerzes in meinem Herzen bewusst.

Ich stehe neben mir.

Ich bin außer mir.

Neben dran.

Außer Rand und Band.

Außerhalb meines Inneren.

Ich bin mir selbst ein Rätsel.

Ich bin von der Rolle.

Ich bin in Trauer.

Ich bin gottverlassen einsam.

Es wird dauern,

bis ich wieder zu mir komme.

Ich fühle mich verloren

und finde mich nicht

gut.

Wer steht zu mir

in meinem Zustand?

5

Es tut alles noch so weh, es schmerzt alles noch so.

Ich bin eine offene Wunde. Bei der kleinsten Kleinigkeit

breche ich in Tränen aus, kann mich nicht mehr halten,

habe mich nicht mehr im Griff. Es ist, als wäre es gerade

geschehen, als würde ich es immer wieder erleben.

Alles ist noch so frisch.

Frisch verwundet.

Grad geschehen.

Noch nicht wahr.

Noch nicht wirklich.

Schon noch nicht.

Durcheinander.

Ungeordnet.

Unverstanden.

Ungereimt.

Drunter und drüber.

Kreuz und quer.

Nichts begriffen.

Unheimlich.

Unerklärlich.

6

Plötzlich der Schreck!

Nicht gefragt.

Keine Vorwarnung.

Es gilt,

das Unerklärliche auszuhalten …

Der Tod hat nicht mal angeklopft.

Plötzlich und unerwartet …

So fangen die meisten Todesanzeigen an.

Jetzt weiß ich warum.

Plötzlich und unerwartet …

Mitten im Leben

das Sterben.

7

Ich kann ihm einfach nichts mehr sagen, nichts mehr anvertrauen.

Ich kann ihm nicht mehr verzeihen und ihn nicht mehr um

Verzeihung bitten. Hätte ich, hätte ich …

Das können wir nicht mehr nachholen.

Ich rede, führe lange Selbstgespräche. Alles, was ich versäumte, was aus Gewohnheit, Nachlässigkeit, Selbstverständlichkeit unterblieb, jetzt redet es aus mir heraus.

Ich leide sehr darunter, dass er mir noch gerne etwas sagen wollte.

Das geht mir sehr nach.

Ich habe mich nicht verabschieden können!

Das ist so schmerzlich,

so unverzeihlich, so furchtbar,

so bitter, so schade, so schwer.

Zu spät gekommen,

zu früh gegangen,

zu lange gewartet,

zu kurz gedacht.

Kein Blick mehr,

keine Hand noch,

keine Bitte vielleicht

und kein Danke,

kein verstehend Versöhnen,

kein Wort, keine Geste,

kein Auf Wiedersehen.

Sehnsüchtig suchend

wink ich dir nach …

8

Was habe ich getan?

Ging es mir zu gut?

Ist das die Sünde?

Habe ich mich an jemandem versündigt?

Habe ich etwas unterlassen?

Warum trifft es mich so hart?

Wofür werde ich bestraft?

Kann es sein, dass Gott mich so straft?

Stimmt es etwa, dass er so etwas tut?

Sollte ich das verdient haben,

was ich jetzt leiden muss?

Schwer genug schon, diese Trauer zu tragen.

Nicht auch noch diese zerstörerische Frage fragen!

Sie bohrt sich tief in mein geschlagenes Gemüt.

Ich möchte nicht nur keine Antwort auf diese Fragen,

ich möchte auch die Fragen nicht.

9

Ich kann nicht glauben, dass Gott so etwas gewollt hat.

Kann Gott so was wollen? Was ist das für ein Gott,

der so was zulässt? Der so was geschehen lässt?

Wo war er, als die Krankheit ausgebrochen ist?

Wo war er, als der Unfall passierte?

Wo ist seine Gerechtigkeit?

Wann gibt er mir Antwort auf meine Fragen und Zweifel?

Ich zweifle an Gott!

Wenn es ihn gibt, dann nimmt er zu viel!

Wenn er mich liebt, dann liebt er zu wenig!

Wenn er mich kennt, dann kennt er mich schlecht.

Ich glaube, dass ich nur noch zweifeln kann an ihm.

Er ist mir ein Rätsel.

Ich verstehe ihn nicht.

Wie kann er nur solche Fehler machen.

Ich reibe mich wund an seiner Eigenart,

zu weit weg zu sein.

Ich zweifle mich müde an ihm.

Mein Trauerfall ist mein Zweifelsfall.

10

Ich spürte nichts, konnte nicht einmal weinen.

Ich war da und doch nicht da.

Es ging alles an mir vorbei, es erreichte mich nicht.

Ich stand da und habe zugeschaut.

Ich war in mir vermauert, versteinert.

Bei der Beerdigung war ich völlig leblos!

Durchgestanden.

Hinter mich gebracht.

Ausgehalten.

Einen Film:

Gesichter, Hände, viele Hände,

Worte, viel zu viele,

Umarmungen,

Tränen,

Musik, Orgel, Glocken,

Vogelstimmen?

Beten?

Von allem etwas,

nichts Ganzes,

eher fremd, eigenartig, unwirklich.

Der Sarg, das Grab, die Erde …

Wo bist DU?

11

Dieses Absenken des Sarges, dieses endgültige Abgeben in die erdige Versiegelung –

das Wissen, dass ich dich nie mehr anschauen, berühren oder streicheln kann!

So lange du im offenen Sarg lagst, warst du noch fassbar, warst du noch anwesend; ich konnte dich noch anfassen, konnte mich dir noch zuwenden, konnte noch mit dir

reden – es war ein Aufschub vor dem Endgültigen.

Den geliebten Körper in die kalte Erde zu legen, das ist fast nicht zu ertragen!

Gestreichelt, gepflegt,

gekannt, geachtet,

hautnah

und zart.

Jetzt tot

und kalt,

leblos, leer,

haltlose Hülle.

Geht, weicht, fällt

tief

und schweigt

wie ein Grab.

12

Habe ich richtig gehandelt mit der Urne?

War der Weg der Verbrennung der richtige?

Durfte ich das?

Habe ich damit die Seele mit verbrannt?

Es war ihr ein Wunsch.

Ich muss damit leben.

Die Urne war für mich ein Schock!

Ist das alles,

was von dir übrig ist?

Mehr nicht?

Nur noch so viel?

So wenig?

Das sollst DU sein?

Einmalig und unverwechselbar?

Stolz und groß?

Und stark?

Und mein?

In diese kleine Schachtel

sollst du passen,

wo du doch alles bist

für mich.

Was ist der Mensch?

Ist das der Mensch?

13

Jetzt bin ich alleine und kann mich meinen Gefühlen hingeben,

kann mich verhalten, wie es mir ist, muss mich nicht mehr verstellen.

Vorher war ich mit dem Ablauf der Beerdigung,

den Formalitäten beschäftigt.

Sie gaben mir ein Raster für den Alltag. Das fällt jetzt weg

und ich suche meinen Weg ohne Geländer.

Jetzt ist der Trubel vorbei. Jetzt wird es schlimm!

Was war das für ein Trubel.

So viele Leute.

So viele Fragen.

So viele Wege.

Und dann das Telefon!

Und die Besuche.

Und dann die Beerdigung.

Und alles auf einmal.

Auf einmal ist alles vorbei.

Für die andern.

Für mich nicht.

Für mich fängt

alles erst an.

Ich bin übrig.

Mit meiner Leere,

mit meiner Last,

mit meiner Trauer.

14

Ich habe den Eindruck, dass ich keine Tränen mehr habe.

Ich habe so viel geweint, dass ich jetzt anscheinend „ausgetrocknet“ bin.

Meine Tränen haben sich woanders festgesetzt.

Ich habe das Weh im Herzen.

Ich kann nicht mehr weinen.

Plötzlich ist die Quelle versiegt.

Meine Tränenbäche von gestern

sind heute fort.

Wie ausgetrocknet,

ins Stocken geraten.

Nichts mehr im Fluss.

Ich bin leer,

erschöpft, ausgeschöpft.

Die Brunnen meiner Trauertränen

fließen nicht mehr.

Wüstenwanderung,

ohne Oase.

15

Ich bin eine offene Wunde und habe keine Grenzen mehr.

Der Schmerz trifft direkt, ohne Umwege, und schreit, schreit, schreit …

Es gibt nichts, was mich nicht trifft oder schmerzt.

Ich kann mich überhaupt nicht mehr wehren.

Der Schmerz schreit stumm in mich hinein.

Nach außen wirke ich ganz ruhig –

sagen die Leute und bewundern mich.

„Du machst das gut!

Du hältst dich tapfer!

Bewundernswert, wie du das trägst!“

Dabei ertrag ich es gar nicht!

Keine Spur Tapferkeit!

Nur Schmerzen im Herzen!

Nur Ach und Weh!

Aber ohne Ton und Stimme.

Stumm schreit es,

nicht leise,

laut, furchtbar laut

nach innen,

nur in mir,

dass es weh tut –

unerhört.

16

Für mich hat das Alte aufgehört. Alles ist zerbrochen.

Warum soll ich weiter aufstehen, weiter arbeiten?

Ich gehöre nicht mehr dazu.

Ich passe nicht mehr dazu.

Lasst doch die Welt aufhören, sich zu drehen.

Für mich dreht sie sich nicht mehr.

Warum können die anderen weitermachen?

Hört für sie die Welt nicht auch auf?

Haltet die Welt an! Ich möchte aussteigen!

Unerträglich finde ich,

dass trotzdem alles weiterläuft.

Die Normalität ist nicht normal.

Macht alle so weiter,

aber lasst mich bitte raus!

Lasst mich zuerst aussteigen

aus dem Drehbuch eures rollenden Spiels.

Ohne mich, bitte!

Dreht euch um euch selber,

meinetwegen,

aber lasst mich in Ruhe!

17

Ja, das war unser gegenseitiges Versprechen.

Wir wollten füreinander einstehen,

füreinander sorgen,

aufeinander aufpassen.

So war unsere „Scheidung“ nicht gedacht.

Ich fühle, dass mein Leben jetzt auch zu Ende geht,

dass ein Teil von mir mit stirbt,

ich sehe keine Zukunft mehr für mich.

… bis der Tod euch scheidet.

So hieß das damals

vorm Altar in der Kirche.

Und gemeint war doch:

Für immer und ewig,

endlos und niemals vorbei.

Jetzt ist es wahr geworden.

Beides:

Wirklich für immer und ewig –

und doch:

Zu Ende und vorbei.

Was stimmt,

ist nicht stimmig,

was wirklich,

ist nicht wahr.

Denn die Liebe

ist stärker

als der Tod.

18

Das war ein lang gehegter Wunsch.

Es sollte eine besondere Reise werden.

Wir hatten es von Jahr zu Jahr verschoben:

wenn dies oder jenes erledigt ist, dann …

Nun ist es zu spät.

Nächsten Monat wollten wir in Urlaub fahren …

Nein, wir waren längst nicht fertig!

Hatten noch was übrig

für morgen und übermorgen.

Nun ist mit einem Mal

alles vorbei und zu spät.

Urlaub machen jetzt andere …

19

Ich weiß, dass der Tod zum Leben gehört,

aber jetzt versagt jegliche Einsicht.

Ich protestiere und klage an.

Beten kann ich noch nicht.

Was hatte ich in den letzten Zeiten gebetet,

voller Hoffnung, erhört zu werden.

Meine Enttäuschung ist so immens,

dass ich nicht mehr beten kann.

An wen soll ich mich wenden,

wenn ich vorher nicht erhört worden bin?

Und wofür soll ich beten, wenn mir das Allerwünschenswerteste

nicht erfüllt wurde?

Vorerst kann ich nicht mehr beten.

So lange gehofft, gebangt, gebetet.

Was sag ich: gebettelt, gefleht, gewimmert,

gerungen, geweint.

So viel erwartet, ersehnt, erklärt,

umsonst, vergeblich,

scheinbar ins Leere die Schwere,

gefallen ins Nichts,

ohne Echo,

keine Antwort,

keine Hilfe,

kein Halt.

Verstummt ist mein Beten, erschöpft und müde.

Sollen andere es tun,

wenn sie können …

20

Das tut mir gut.

Es zieht mich hin.

Es ist wie ein Magnet.

Ich kann mich dem nicht entziehen.

Im Gegenteil, ich werde hastig, unstet,

unruhig, wenn ich nicht zum Friedhof gehe.

Es zieht mich hin, egal, wie spät es ist.

Nur dann finde ich Ruhe.

Es ist mir egal, was die anderen sagen.

Nur so findet diese innere Rastlosigkeit etwas Ruhe.

An manchen Tagen muss ich dreimal zum Friedhof gehen.

Jetzt weiß ich, was „begehen“ heißt.

Ich muss meine Trauer begehen,

jeden Tag,

laufend.

Ich brauche den Weg,

hin und zurück,

muss weg und zu diesem Ort,

deinem Grab,

suche dich,

finde mich

allein

wieder und wieder

ein und nicht ab –

und das mehrmals.

Vergehen,

begehen,

verstehen?

21

Ich will nicht aufgehalten werden.

Ich möchte mit niemandem reden. Oder Auskunft geben müssen. Dies hält mich von meinem Ziel ab, nämlich dem Grab. Dorthin will ich meine Gefühle und meine Worte tragen. Mich aufhalten würde heißen, dass mir meine Gefühle weggenommen werden, dass ich abgelenkt werde.

Auf dem Weg zum Friedhof lasse ich mich von keinem Menschen aufhalten.

Zielstrebig bin ich unterwegs.

Ich habe keine Zeit zu verlieren,

auch keine Worte.

An allem Lebendigen vorbei

will ich nur eines:

bei dir ankommen,

nicht zu spät kommen.

Der Friedhof ist mein Zufluchtsort,

anziehend wirkt er

auf mich, wie nie,

seit du dort begraben liegst.

22

Das Normale ist aufgehoben.

Die Arbeit muss warten, sie kann nicht mehr getan werden wie sonst. Alle Aufmerksamkeit ist jetzt auf den Toten gerichtet, auf das Bild des Toten in mir. Meine inneren Abläufe bestimmen meinen