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Das neue Buch des Autors und Pfarrers im Ruhestand, Dr. Ludwig Burgdörfer, macht Mut auch im täglichen Abschiednehmen Positives zu entdecken und neue Aufbrüche zu wagen. Loslassen und Abschiednehmen sind Lebensthemen. Schon in jungen Jahren muss man lernen, Vertrautes loszulassen und sich von Gewohntem zu verabschieden. Ob es die eigene Herkunftsfamilie ist, der Traum von einer Sportkarriere oder der Abschied von vertrauten Menschen. Solche Verluste können das Leben nachhaltig belasten, wenn man nicht lernt, aktiv und konstruktiv damit umzugehen. Wer nicht loslassen kann, dem wird es schwerfallen, sich auf Neues einzulassen. Dieses Buch will helfen, das Abschiednehmen und Loslassen aktiv zu gestalten und somit Raum für Neues zu schaffen. Ludwig Burgdörfer hat sich als Pfarrer und Seelsorger viele Jahre lang intensiv mit dem Thema Abschiednehmen beschäftigt. Mit seinem Buch will er Mut machen, Abschiede als vitale Aufbrüche in lebenswerte Veränderungen schätzen zu lernen und sich mit dem eigenen begrenzten Leben zu versöhnen. Es geht um Abschiede wie: - Abschied von der Gesundheit - Abschied vom Chaos - Abschied von der Selbstüberschätzung - Abschied vom Aberglauben - Abschied von der Herzlosigkeit - Abschied vom Kinderzimmer
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Seitenzahl: 174
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Ludwig Burgdörfer
Ermutigungenzum alltäglichenAbschiednehmen
Dr. Ludwig Burgdörfer, geboren 1956, ist Pfarrer i.R. Er war Dekan und viele Jahre Leiter des Missionarisch Ökumenischen Dienstes der Evangelischen Kirche der Pfalz. Seit ca. 20 Jahren ist er Rundfunkpfarrer beim SWR und Autor verschiedener Bücher. Seine Themen: Grundlagen des Glaubens, Humor und Trauer („Trauern braucht seine Zeit“, erschienen im Brunnen Verlag).
Die verwendeten Bibelstellen sind folgender Übersetzung entnommen: Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
©2024 Brunnen Verlag GmbH, Gießen
Lektorat: Stefan Loß
Umschlagmotiv: skorikova/Adobe Stock
Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger
Satz: Brunnen Verlag GmbH
ISBN Buch 978-3-7655-2186-7
ISBN E-Book 978-3-7655-7861-8
www.brunnen-verlag.de
Dieses Buch istunseren beiden KindernSTEFAN und KATJAvon Herzengewidmet.Ihnen verdanke ichmeine feine Grundausbildungim gelassenen Loslassen.
Dieses Buch hat eine besondere Entstehungsgeschichte. In den letzten Jahren habe ich immer wieder erlebt, wie schwer es manchen Menschen fällt, Abschied zu nehmen, von Dingen, Menschen oder schlicht von eigenen Fähigkeiten. Ich selbst musste die Erfahrung machen, wie es ist, wenn man sich aufgrund einer schweren Krankheit von jetzt auf gleich von einem gesunden „normalen“ Leben ohne Einschränkungen verabschieden muss.
Abschiede tun weh, aber sie gehören zum Leben – ob ich will oder nicht. Das habe ich im Laufe meines Lebens gelernt – und musste es selbst immer wieder durchbuchstabieren. Entscheidend ist, wie ich mit diesen Abschieden umgehe. Kann ich tatsächlich loslassen, bewusst Abschied nehmen, auch wenn es wehtut, auch wenn es dauert? Oder halte ich fest an dem, was mal war. Schaue ich nach hinten, unversöhnt mit der Vergangenheit, oder bin ich bereit, loszulassen und meinen Blick nach vorne zu richten?
Eigentlich liegt es auf der Hand, dass das Abschiednehmen und Loslassen die einzig sinnvolle Option ist. Und doch klammern sich Menschen an Vergangenes, weil sie sich schwertun mit dem Abschiednehmen und Loslassen. Zu beobachten, wie sehr „Altes“ blockieren kann und so Leben verhindert, habe ich zunehmend als eine Belastung empfunden.
In mir reifte der Gedanke, zu diesem Thema ein Buch zu machen – einen praktischen Ratgeber, der hilft, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und den Blick nach vorne zu richten. Aber wer sollte es schreiben?
Im Januar 2024 bekam ich eine Mail von Ludwig Burgdörfer. Er hat schon mehrere Bücher für BRUNNEN geschrieben, ist jetzt im Ruhestand und plante ein neues Buchprojekt. Inhaltlich sollte es dabei um das Thema „abschiedlich leben“ gehen. Spontan habe ich Kontakt zu ihm aufgenommen. Wir waren beide überrascht zu sehen, wie gut unsere Ideen zueinander passten. Gemeinsam haben wir ein Konzept erarbeitet und aus diesem Konzept ist dann innerhalb von nur wenigen Monaten dieses Buch entstanden.
In der gemeinsamen Arbeit hatten wir beide immer mehr den Eindruck, dass Gott bei der Idee für dieses Buch und auch bei der Umsetzung seine Finger im Spiel hatte. Da ging plötzlich vieles zusammen, und Stück für Stück setzte sich aus einem großen Puzzle ein ganzes Buch zusammen.
Ich bin sehr dankbar für dieses Buch, für den reichen Schatz an Erfahrungen aus seinem beruflichen Alltag und für die sehr persönlichen Erlebnisse, die Ludwig Burgdörfer in seine Texte hat mit einfließen lassen. Es ist ein echtes Herzensprojekt geworden für uns beide, und wir wünschen uns, dass es vielen Menschen Wege zeigt, selbst loszulassen und neue, hoffnungsvolle Perspektiven für das eigene Leben zu entdecken.
Stefan Loß, Lektor – Gießen im April 2024
Vorwort
Das fängt ja gut an …
1.Abschied vom Chaos
2.Abschied vom Ballast
3.Abschied am Morgen
4.Abschied am Abend
5.Abschied im Vorübergehen
6.Abschied von der Allmacht
7.Abschied vom Solotrip
8.Abschied von zu viel Nähe
9.Abschied vom Aber-Glauben
10.Abschied von der Bitterkeit
11.Abschied von der Vergangenheit
12.Abschied vor der Ankunft
13.Abschied von der Herzlosigkeit
14.Abschied vom harmlosen Gott
15.Abschied vom Kinderzimmer
16.Abschied von der Klasse
17.Abschied von der Schule
18.Abschied vom Kinderglauben
19.Abschied von der Unsterblichkeit
20.Abschied vom Klassenkameraden
21.Abschied von aller Selbstüberschätzung
22.Abschied von der Mangel-Haft
23.Abschied von der Maxi-Version
24.Abschied von der Quote
25.Abschied von Kult und Kommerz
26.Abschied vom Dienst nach Vorschrift
27.Abschied von falscher Bescheidenheit
28.Abschied vom vertrauten Dilemma
29.Abschied vom festen Standpunkt
30.Abschied von der Logik
31.Abschied vom „letzten Wort“
32.Abschied feiern – von der Hierarchie
33.Abschied vom „Immer stark sein“
34.Abschied von den „Schön-Wetter-Freunden“
35.Abschied von der Gewalt
36.Abschied vom „lieben Gott“
37.Abschied von purer Selbstbestimmung
38.Abschied vom Grab
39.Abschied von der Steinzeit
40.Abschied vom Schwarzsehen
41.Abschied von der Ausweglosigkeit
42.Abschied von den Eltern
43.Abschied von den Stichtagen
44.Abschied vom Loslassen
45.Abschied von der ewigen Jugend
46.Abschied von (zu) großen Zielen
47.Abschied von der jubiläumsfreien Zeit
48.Abschied von Vorurteilen
49.Abschied von der absoluten Sicherheit
50.Abschied vom Selbstzweifel
51.Abschied von der Vermessenheit
52.Abschied von der Gleichgültigkeit
53.Abschied von der Sonnenseite
54.Abschied vom falschen Selbstbild
55.Abschied von Fritz Walter
56.Abschied vom Gottesbeweis
57.Abschied von der Löffelliste
58.Abschied vom Angesicht?
59.Abschied vom alten Jahr
60.Abschied von den guten Vorsätzen
61.Abschied ohne Ende
62.Abschied von den Tränen
63.Abschied vom Abschied
Biblische Bezüge und verwendete Bibelstellen
PS: – ein Epilog
Mit Abschied fängt das Leben an. Tatsächlich geht es so los, dass wir loslassen und aus dem gewohnten Rahmen aussteigen müssen. Wir können uns zwar nicht mehr so gut daran erinnern, aber es ist passiert: Wir sind geboren worden. Dazu haben wir erst einmal selber ziemlich wenig beigetragen. Und das ist auch gut so. Denn hätten sie uns vor der Geburt tatsächlich gefragt, ob wir Lust haben, aus der Komfortzone des Mutterschoßes auszusteigen, wir hätten wohl dankend abgelehnt.
Nun gut, es wäre mit der Zeit womöglich etwas eng geworden und uns wäre vielleicht der linke Fuß eingeschlafen und unsere Körperhaltung wäre extrem auf die Bandscheiben gegangen. Aber freiwillig wären wir wohl kaum aus diesem Universum ausgestiegen.
Darum ist uns die Geburt auch passiert. Wir waren nur dabei. Geleistet haben das andere. Und so sind wir ganz ohne gefragt zu werden auf die Welt gekommen und haben erst einmal alles zum Schreien gefunden.
Schon unsere Geburt ist der Beginn einer unaufhörlichen Abschiedstour, die man Lebenslauf nennt, weil es laufend etwas Neues zu begreifen gibt.
Und so durchschreiten wir alle Jahreszeiten unseres Lebens, entwickeln uns und wachsen, werden groß und stark und klein und schwach. Mal so, mal so. Wir gehen aus und ein, erreichen Ziele und verabschieden Erreichtes, säen und ernten Lebensfrüchte. Wir sind immer zeitweise unterwegs, zwischenzeitlich hier und dort, im Unterwegs zu Hause zwischen Aufbrechen und Abbrechen. Unser Leben ist keine Statue für die Denkmalpflege, sondern eine dynamische Erfindung, ein Werdegang, mitreißend und atemberaubend und unheimlich schön.
Darum haben Abschied und Loslassen einen viel zu schlechten Ruf. Denn sie markieren nicht todsicher unseren letzten Atemzug, sondern sie sind der Lebenshauch unserer ganzen Existenz, die uns Gott schenkt als Expedition in die unendlichen Weiten seiner Liebe. Anfang und Ende sind seine Sache. Und dazwischen liegen wie ein Gedankenstrich die erschreckenden, überraschenden, verblüffenden, faszinierenden Augenblicke unserer Reise.
Wir sind gut beraten, wenn wir nicht immer nur mit dem Jetzt und Hier alle Hände voll zu tun haben, sondern immer wieder loslassen und abgeben, was uns bindet, um offen und frei zu sein, Neues anzupacken und das Leben von einer überraschend neuen Seite zu begreifen. Das ist ein lebenslängliches Trainingslager im Kraftraum der Schöpfung. Wir dürfen jeden Abschied und jedes Loslassen freundlich begrüßen und gespannt sein, was passiert, wenn wir niemals aufhören anzufangen. Je älter wir werden.
Als ich zu Beginn meines Ruhestandes bei meinem Hausarzt war, da hat der schmunzelnd zu mir gesagt. „Jetzt werden Sie wohl wieder mal in die Pubertät kommen!“
Als er dann in mein sprachloses Gesicht sah, wie ich da wie angewurzelt vor ihm stand, da hat er erklärend nachgeschoben: „Na ja, es ist mal wieder an der Zeit zu fragen: ‚Wer bin ich? Was soll nur jetzt aus mir werden?‘“
Und tatsächlich, ich mache das ja zum allerersten Mal. Ich weiß nicht, wie das geht: Ruhestand. Da bin ich (wieder einmal) ANFÄNGER. Die Psychologie hat schon lange herausgefunden, dass wir unser ganzes Leben lang an Kreuzungen stehen und uns immer wieder wie Anfänger fühlen. Alle paar Jahre ist es so weit. Und wir fragen uns, wohin die Reise jetzt gehen soll. Immer wieder stehen wir vor Veränderungen und bekommen es mit der Angst zu tun, weil wir nicht wissen, wie es hinter der nächsten Kurve weitergeht.
Lange Zeit bin ich fest davon überzeugt gewesen, dass es unbedingt darauf ankommt, das Leben zunehmend in den Griff zu bekommen. Nach und nach zu begreifen, wie eine Aufgabe nach der anderen anzupacken und zu bewerkstelligen ist.
Das Ziel dabei immer im Blick zu haben, mit Geschick und Know-how immer besser und professioneller den Problemstellungen der freien Wildbahn des Alltages gewachsen zu sein.
Inzwischen ahne ich, dass die womöglich noch größere Herausforderung darin besteht, das handhabbare und irgendwie bewältigte Stück Leben wieder loszulassen.
Und ich bin mir inzwischen nicht mehr sicher, welche der beiden Aufgaben schwerer ist.
Fest steht aber, dass ich so gesehen mein ganzes Leben lang alle Hände voll zu tun habe. Unentwegt bin ich beschäftigt mit dem Sortieren von neuen Gegebenheiten.
In jedem Alter, jeder Lebensstufe sind neue Fertigkeiten und Fähigkeiten nötig.
Und das kann nur gelingen, wenn ich immer wieder etwas abgebe von dem, was bis eben noch meine Hände und meine Aufmerksamkeit gebunden hat, um offen und bereit zu sein für das Neue. Denn: Nur wer loslässt, hat die Hände frei.
Es stimmt einfach nicht, dass alles Reden vom Ende und vom Abschied nur negativ ist.
Es gibt durchaus Beendigungen, die geradezu herbeigesehnt und erwartet werden.
Und das nicht etwa, weil wir lebensmüde und resigniert wären, sondern ganz im Gegenteil, weil es uns drängt, endlich frei und unbeschwert zu sein.
Denken wir nur an das Ende des Unterrichts, ja sogar der ganzen Schulausbildung.
Denken wir an das Ende einer schlaflosen Nacht oder eines langen Wartens.
Dass endlich Geduldsproben enden. Wie gut!
Denken wir an das Ende von Zahnschmerzen, Liebeskummer, Stau und Umleitungen.
Was für ein Durchbruch ins Leben, wenn wir endlich volljährig mit Führerschein und eigener Adresse unterwegs sind.
Ganz lapidar ist auch ein Ende einer endlosen Rede, einer ewig langen Predigt, eines ungemütlichen Besuches allemal erlösend gut. Wenn jemand nach 45 Minuten Monolog tatsächlich den verheißungsvollen Satz sagt, er oder sie wolle nun doch zum Ende kommen.
Ein ganz einfaches Beispiel ist auch das wunderbar in Aussicht stehende Wochenende.
Kein Mensch käme auf die Idee, diesen Begriff als Hinweis auf das tragische Aus der Lebensfreude zu beklagen. Im Gegenteil. „Wochenend und Sonnenschein …“ sind absolut positive Aussichten auf Lebenslust und Laune.
Jeder Film, jedes Buch, jedes Konzert, jedes Spiel strebt seinem fulminanten Ende entgegen. Und wenn es gar ein Happy End ist, dann sagen alle: „Ende gut, alles gut!“
Etwas muss einfach irgendwann enden, damit etwas anderes gut anfangen kann.
Demnach ist unsere Rede von Abschied und Ende keineswegs nur fokussiert auf Lebensende, Tod und Sterben, sondern das faszinierende Phänomen des immerfort nach vorne ausgerichteten Lebensweges mitsamt seinen unaufhörlichen Veränderungen und Neuigkeiten. Wir dürfen unser Endlichsein mit aufmerksamer Wertschätzung begrüßen und erlernen und üben, damit wir es am „Ende des Tages“ ganz gut können.
Mein vorläufiges Fazit:
Leben ist endlich. Darum sollten wir endlich damit beginnen!
Leben ist abschiedlich. Darum sollten wir es jeden Tag neu begrüßen.
Leben heißt loslassen. Darum sollten wir unaufhörlich anfangen es zu begreifen.
Nur wer loslässt, hat die Hände frei für das Neue.
Dazu braucht es jede Menge Ermutigung.
Genau das will Ihnen dieses Buch mit auf den Weg geben.
Von unterwegs grüßt
Ihr Ludwig Burgdörfer
Räumen Sie gerne auf? Machen Sie gerne Ordnung?
Nicht nur die Kinderzimmer sind da eine Herausforderung. Wir haben immer wieder allerhand „Baustellen“ im Alltag unseres Lebens, an denen es drunter und drüber geht. Unaufgeräumte Zustände sind überall. Und sie machen es schwer, konzentriert und ruhig zu sein.
Ob auf dem Schreibtisch oder in der Werkstatt, im Keller oder auf dem Dachboden, das Chaos ist ein Problem. Überall, wo die Verhältnisse einigermaßen verworren und undurchsichtig sind, wo man sich verausgabt und verrannt hat, es jede Menge Schutt und Scherben gibt, vergebliche Mühe und gescheiterte Versuche, da kann nichts und niemand mehr einen guten Anfang kriegen und die Sache in den Griff bekommen.
Lebensentwürfe, Lebensträume und angestrebte Verbesserungen gelingen erst dann, wenn man „reinen Tisch“ macht, die Unordnung sortiert und Platz schafft, Manövrierraum entstehen lässt, Abstand bekommt und genügend Übersicht. Dann erst wird aus Chaos wieder Kosmos, aus Leere wieder Fülle, aus Katastrophe wieder ein Konzept.
Der Abschied vom Chaos ist der Anfang der Schöpfung. Gott sei Dank!
Wenn die Bibel ganz am Anfang davon erzählt, wie alles angefangen hat, als es losgegangen ist mit der ganzen Schöpfungsgeschichte, dann sagt sie uns gleich im allerersten Satz ganz ungeschminkt, dass es erst einmal chaotisch war im All. Es heißt da:
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde und die Erde war wüst und leer.“
Das hebräische Wort, das für diese Zustandsbeschreibung verwendet wird, heißt: „Tohuwabohu“!
Das ist die Ausgangslage, ehe Gott seine schöpferische Kraft walten lässt. Da weiß man nicht, wo oben und wo unten ist. Es ist ziemlich finster und kein Land in Sicht. So gehts los. Mit Himmel und Erde. Wüst und leer, kreuz und quer.
Es kann nur etwas Konstruktives erschaffen werden, wenn das Chaos verabschiedet wird. Und das macht Gott, indem er erst einmal das Licht anknipst – „Es werde Licht!“ –, und dann gibt es ein Morgen und ein Erwachen und es gibt einen Abend, ein Ende der Anstrengungen. Erst, wenn das TOHUWABOHU überwunden und verabschiedet ist, kann das Leben in Hülle und Fülle begrüßt werden und alles findet seinen Platz.
Das Chaos ist also nicht zwangsläufig der Weltuntergang, sondern hat das Potenzial zur grandiosen Kreativität und Buntheit gelingenden Lebens. Es muss einem nur irgendwo ein Licht aufgehen und schon bekommt die Sache eine Wendung zum schöpferischen Neuanfang.
Frage ich mich also:
In welchen Räumen meines Lebenshauses herrscht ein vielversprechendes TOHUWABOHU?
Wo könnte es sich lohnen, mit dem Aufräumen anzufangen?
Wie könnte ich diese göttliche Idee, das Chaos zu verabschieden, ausprobieren?
Bei jedem Umzug kann man Ballast abwerfen. Es fühlt sich zwar an, wie die Vorstufe zum Jüngsten Gericht, aber es lohnt sich tatsächlich, diesen Beinahe-Weltuntergang zu nutzen und bei allem, was uns in die Hände fällt, die Frage zu stellen, ob wir weiterhin zusammenbleiben wollen oder uns endlich verabschieden. Das „Reisegepäck“ unseres Lebens wächst uns sonst über den Kopf.
Und wenn wir nicht gerade umziehen, dann kann auch eine Aufräumaktion nicht schaden.
Ich habe im letzten Jahr kurz vor Weihnachten die Kinder gefragt, was sie sich von uns wünschen. Das war leichtsinnig und sehr gewagt.
„Papa!“, sagten sie, „dann wünschen wir uns, dass du unseren Keller aufräumst!“
Nein, ich hatte einfach nicht mit einem solchen Wunsch gerechnet. Wer denkt denn an so was? Guten Pfälzer Wein hätte ich gedacht, oder was zum Lesen. Vielleicht Unterstützung für das neue Auto, meinetwegen. Aber doch nicht damit. Wie so ein Keller aussehen kann, das ist nicht zu beschreiben, das muss man gesehen haben.
„Chaos“ ist als Begriff viel zu abstrakt, um diese komplette Ausweglosigkeit zu erfassen.
Also sind wir hinabgestiegen, haben sortiert, rausgetragen, in den Anhänger gepackt und weggebracht. Als wir mit der ersten Fuhre zum städtischen Wertstoffhof kamen, stand da eine Autoschlange, so weit man schauen konnte.
Jetzt erst wurde mir klar, wie viele Opas und Omas und Schwiegereltern aus Versehen vor Weihnachten die Wünsche der Kinder abgefragt haben mussten.
Die Keller der ganzen Stadt wurden demnach gerade systematisch archäologisch erforscht.
Es hat lange gedauert, bis wir an der Reihe waren. Und dann ging es erst richtig los, denn alles musste ja getrennt in verschiedene Container gebracht werden.
Noch dreimal sind wir an dem Tag gefahren. Und dann ab nach Hause. Die Arme so lang wie die Beine, aber glücklich und zufrieden. So eine Räumaktion ist so ziemlich das Beste, was man nach Weihnachten mit der Familie machen kann. Das ist mit Abstand die beste Bescherung gewesen, die wir je zusammen erlebt haben.
Ich frage mich:
Ist die Entsorgung der Altlasten im „Keller meines Lebenshauses“ nicht längst überfällig?
Wenn der Morgen alle Leute auf ihre Wege schickt, geht es in den Häusern mitunter so drunter und drüber wie auf einem Bahnhof. Die Aufbruchstimmung lässt keine großen Sentimentalitäten zu. Routiniert sorgen alle dafür, dass sie sich rechtzeitig auf den Weg machen. Und die, die zu Hause bleiben, sind auch gut beschäftigt mit dem Aushändigen von Pausenbrot und Zipfelmütze.
Das Auseinandergehen zu Beginn des Tages ist so selbstverständlich, dass gar keine Zeit bleibt für Wehmut und Reisefieber. Das Programm läuft ab wie an jedem Morgen und alle gehen davon aus, dass man sich ja auch wiedersieht und alles halb so schlimm ist. Der Abschied im Frühtau ist unspektakulär und selbstverständlicher Teil des Alltags.
Berührt hat mich eine Bildergeschichte, die genau diesen Abschied am Morgen thematisiert.
Sie ist zwar, was die Rollenverteilung anbelangt, einigermaßen altmodisch und aus der Vergangenheit aber ansonsten wunderbar.
Auf dem ersten Bild sieht man einen Mann mit Aktentasche und Hut aus der Haustür gehen.
Oben am Fenster winkt eine Frau. Das zweite Bild zeigt die Bushaltestelle. Schnellen Schrittes eilt der Mann darauf zu. Im nächsten Bild sieht man, was ihm durch den Kopf geht. Ihm fällt nämlich ein, dass er den Abschiedskuss vergessen hat. Das macht ihn so traurig und nachdenklich, dass man ihn auf dem nächsten Bild wieder nach Hause zurücklaufen sieht. Vor der Haustür angekommen, klingelt er seine Frau herunter und gibt ihr den zuvor versäumten Kuss. Danach sieht man ihn im Dauerlauf zurück zur Bushaltestelle rennen, wo er dem gerade wegfahrenden Bus nur noch hinterherwinken kann. Und obwohl er nun definitiv zu spät kommt, wo auch immer sein Arbeitsplatz ihn vermissen wird, es ist egal. Er ist glücklich und pfeift auf den Bus und sich selbst ein Lied in den Morgen.
Abschied am Morgen sollte für uns immer bewusst und herzlich sein. Und da ist jeder nicht gegebene Kuss einer zu viel bzw. einer zu wenig.
Ich denke mir:
Jeder Aufbruch am Morgen ist verheißungsvoll und eilig. Niemand denkt daran, dass es der letzte sein könnte. Es ist gut, wenn wir uns deshalb bewusst und liebevoll voneinander verabschieden.
Wer schon einmal das Glück hatte, Kinder am Abend ins Bett zu bringen, weiß, was da alles beachtet werden muss. Da habe ich als Vater lange geübt, bis mir das einigermaßen gelungen ist. Und bei den Enkeln heute ist es nicht weniger gewagt. Denn es muss alles immer gleich ablaufen. Eine falsche Bewegung, Betonung, Verwechslung und du kannst wieder von vorne anfangen.
Hastig geht da gar nichts. Wenn die Kinder erst merken, dass man in Eile und eigentlich schon mit den Gedanken woanders ist, dann verstehen sie es, das Zeremoniell so hinauszuzögern, dass sich alle nachfolgenden Sendungen um mindestens 30 Minuten verschieben.
Wichtig ist, dass genug Zeit bleibt über das Erlebte am Tag zu sprechen. Zu sammeln, was gut war, zu bedenken, was schwergefallen ist.
Im Grunde ist die Art und Weise, wie Kinder den Tag verabschieden und sich in die Nacht hineintasten, mustergültig auch für die Erwachsenen. Der Abschied am Abend ist wichtig, braucht Zeit, beansprucht stille Aufmerksamkeit und Platz für den Dank, die Bitte um Verzeihung und das Loslassen aller Gedanken und Sorgen.
Ein Freund hat mir vor Kurzem ein Glückstagebuch geschenkt. Das ist ein ganz einfaches Schulheft mit Linien, leer natürlich, gar nicht so dick, nur 16 Blatt. Er hat gemeint, ich soll da in Zukunft jeden Abend aufschreiben, was mir geglückt ist.
Der Kerl ist Psychologe, da muss man vorsichtig sein. Aber beeindruckt hat er mich doch mit seinem Geschenk. Zwei Sachen habe ich jetzt schon eingetragen. Einmal habe ich mich spontan mit Eberhard auf eine Tasse Kaffee getroffen, obwohl ich eigentlich gar keine Zeit hatte.
Und das Zweite war ein Mitarbeitergespräch, in dem ich meine eigene gute Idee verworfen habe und seine noch bessere übernommen – zum Glück!
Bisher habe ich am Abend eher an das gedacht, was nicht gut gelaufen ist. Aber die guten Sachen, die habe ich recht selbstverständlich abgehakt und weniger gewichtet. Und damit bin ich bestimmt nicht allein. Wir Menschen waren wohl schon immer chronisch vergesslich, wenn es um das Gute ging. Die Bibel sagt deshalb warnend, wir sollten doch bitte nicht immerzu vergessen, was Gott uns schon wieder und wieder Gutes getan hat. Dann fällt am Abend auch die Bilanz viel günstiger aus.
Seit ich jetzt ein Glückstagebuch habe, fällt mir auch tatsächlich abends immer wieder etwas ein, was beglückend gut gelaufen ist am Tag.
Ein gutes Geschenk von meinem Freund – das Glückstagebuch. Wenn die 16 Seiten voll sind, lade ich ihn auf ein Glas Wein ein.
Dann stoßen wir an auf das Leben.
Ich frage mich: