Trauern - Verena Kast - E-Book

Trauern E-Book

Verena Kast

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Beschreibung

Trauer ist ein natürlicher Weg der Psyche, den tödlichen Verlust einer Beziehung zu verarbeiten und zu überwinden. Verena Kast hilft Trauernden, sich im Chaos der Gefühle zurechtzufinden und zeigt ihnen eine Perspektive, wie sie den Verlust des geliebten Menschen schließlich überwinden können.

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Verena Kast

Trauern

Phasen und Chancen des psychischen Prozesses

Impressum

erweiterte Neuausgabe 2013

(35. Gesamtauflage)

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Covergestaltung: Verlag Herder

Covermotiv: © Simone Becchetti – iStockphoto.com

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80046-7

ISBN (Buch) 978-3-451-61236-7

Inhalt

Einleitung zur Neuausgabe

Vorwort

Todeserfahrung beim Tod eines geliebten Menschen

Todeserfahrung und Trauer im Spiegel einer Traumserie

Träume als Wegweiser bei der Trauerarbeit

Die Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens

Die Phase der aufbrechenden Emotionen

Die Phase des Suchens und Sich-Trennens

Die Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs

Probleme unterdrückter und verschleppter Trauerprozesse

Probleme in der Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens

Probleme in der Phase der aufbrechenden Emotionen

Der unausgedrückte Zorn

Die »ewigen« Schuldgefühle

Probleme in der Phase des Suchens und Sich-Trennens

Symbiose und Individuation

Sterben ins Leben hinein – Die »abschiedliche« Existenz

Anhang

Die komplizierte Trauer

Die Ablösung vom Beziehungsselbst auf das individuelle Selbst

Depression statt Trauer

Abschließende therapeutische Überlegungen

Anmerkungen

Literatur

Mit all den Herzen, den bereits begrab’nen, die mich liebten – Kälte, zwischen dunklen Qualen – fühl’ ich mich ein wenig begraben.

Mit all den Herzen, den bereits glückseligen, die mich liebten, in Gold glühend, fühl’ ich mich schon ein wenig verklärt.

Juan Ramón Jiménez

Einleitung

Ich freue mich, dass der Kreuz Verlag dieses Buch noch einmal neu auflegt. Das Buch ist für mich ein Dokument für eine bestimmte Zeit meines Schaffens, in sich schlüssig. Ich freue mich sehr darüber, und ich bin auch gerührt, dass das Buch immer noch so viele Menschen anzusprechen vermag. Ich betrachte das als ein großes Geschenk.

Ich habe mich, zusammen mit Frau Dr. Karin Walter vom Verlag Herder/Kreuz entschlossen, diesem Buch einen eigenen Abschnitt über die komplizierte Trauer anzufügen. Die komplizierte Trauer wurde früher als pathologische Trauer beschrieben, heute gelegentlich auch als prolongierte Trauer. In diesem Abschnitt habe ich mein Verständnis von diesen komplizieren Trauerprozessen sowie meine langjährigen sich darauf beziehenden therapeutischen Erfahrungen beschrieben.

Trauernde Menschen sind heute sichtbarer geworden, man kümmert sich um sie. Das ist gut so. »Trauerbegleitung« ist zu einem großen Angebot geworden. Gerade das hat mich dazu bewogen, meinem Buch noch einen gesonderten Abschnitt über die komplizierte Trauer anzufügen. Es ist wichtig zu wissen, wann eine Begleitung hilfreich ist, wann aber eine Trauertherapie notwendig ist. Wenn aufgrund der besonderen Situation eine therapeutische Begleitung angesagt ist, kann die bestgemeinte Begleitung nicht helfen, unter Umständen sogar schaden. Sie kostet viel Energie und Lebenszeit und mündet in eine Enttäuschung.

Im Zusammenhang mit Therapie argumentiere ich aus der tiefenpsychologischen Sicht einer Psychoanalytikerin der Jungschen Schule, natürlich gibt es unterdessen schon viele verschiedenen therapeutische Angebote, die man in Anspruch nehmen kann.

St. Gallen, im März 2013

Verena Kast

Vorwort

Diese Untersuchung über die Bedeutung der Trauer im therapeutischen Prozess hat sich mir aus meiner praktischen Arbeit als Psychotherapeutin aufgedrängt. Mir ist im Zusammenhang mit der Behandlung vieler depressiver Erkrankungen im Verlauf der letzten zehn Jahre immer wieder aufgefallen, dass Verlusterlebnisse zu wenig betrauert wurden und dass sie dadurch zu Mitauslösern von depressiven Erkrankungen werden konnten.

Das Tabu um das Sterben ist in den letzten Jahren aufgehoben worden, man darf vom Sterben sprechen. Es scheint mir an der Zeit, dass man jetzt auch das Tabu um das Trauern aufhebt, dass man trauern darf und soll. Zwar hat schon Freud (1915) über den großen Nutzen der »Trauerarbeit« – der Terminus stammt von ihm – geschrieben. Dennoch ist die Trauer ein Thema, das in der psychologischen Literatur bisher eher wenig beachtet wird, gemessen an der großen Bedeutung, die sie für unsere psychische Gesundheit hat.

Ich habe zu diesem Thema zehn Jahre lang Material, insbesondere Traummaterial, gesammelt und versuche jetzt anhand dieses Materials, systematisch herauszustellen, wie das Unbewusste uns anregt, mit dem Trauern umzugehen. Meine Ergebnisse habe ich mit den Ergebnissen der neueren Literatur in Beziehung gesetzt.

Bei meinen Untersuchungen wurden mir vor allem die folgenden Gesichtspunkte wichtig:

– Da wir uns wesentlich aus den Beziehungen zu Mitmenschen verstehen, Bindungen ein wesentlicher Aspekt unseres Selbst- und Welterlebens sind, werden wir durch den Tod eines geliebten Menschen in unserem bisherigen Selbst- und Weltverständnis erschüttert. Die Trauer ist die Emotion, durch die wir Abschied nehmen, Probleme der zerbrochenen Beziehung aufarbeiten und so viel als möglich von der Beziehung und von den Eigenheiten des Partners integrieren können, sodass wir mit neuem Selbst- und Weltverständnis weiter zu leben vermögen.

– Unseren Träumen können wir wertvolle Hinweise für die Trauerarbeit entnehmen. An einer Traumserie versuche ich dies aufzuzeigen. Bei einem Vergleich mit den in der Literatur üblichen Trauerphasen modifiziere ich diese an einigen Stellen gemäß meinem Ansatz.

– Jede der Trauerphasen bietet spezielle Schwierigkeiten der Bewältigung. Aufgrund praktischer Beispiele aus meiner therapeutischen Arbeit beleuchte ich diese Schwierigkeiten.

– Es fällt immer wieder auf, dass das Bedürfnis nach symbiotischem Verweilen der Forderung nach Trennung entgegensteht. In extremen Fällen bewirkt diese Sehnsucht ein länger andauerndes Verschmelzen mit dem Verstorbenen. Ich stelle die These auf, dass der Rhythmus von Symbiose und Individuation nicht nur für das Kleinkind, sondern auch für den erwachsenen Menschen wesentlich ist. Wichtig scheint mir dabei zu sein, dass es gelingt, die Symbiose über das Zwischenmenschliche hinaus auf etwas Transzendentes zu beziehen.

– Der Tod eines geliebten Menschen ist ein Extremerlebnis von Tod und fordert die Trauer radikal. Zugleich ist dieses Erlebnis aber auch eine große Herausforderung zur Selbstverwirklichung angesichts der Veränderung. Gerade die Trauer kann ein Stück Selbstverwirklichung auslösen. Was für diese Grenzsituation gilt, mag auch für viele andere Situationen des Menschseins, wenn auch in abgeschwächter Form, gelten, in denen sichtbar wird, dass der Tod immer in unser Leben hereinragt, immer wieder größere oder kleinere Veränderungen erzwingt, die mit dem Gefühl von Verlust gekoppelt sind und die daher auch betrauert werden müssen. Weil wir sterblich sind, müssen wir »abschiedlich« existieren, verbunden mit der Trauer, mit dem Schmerz und der Möglichkeit, unsere Situation immer wieder neu zu gestalten, auch angesichts unserer Abschiede immer neu uns aufzufalten. Dazu ist aber die Trauer unabdingbar.

Das vorliegende Buch wurde als Habilitationsschrift unter dem Titel »Die Bedeutung der Trauer im therapeutischen Prozess« an der Universität Zürich eingereicht. In diesem Zusammenhang möchte ich Herrn Professor Dr. Detlev von Uslar sehr herzlich danken für seine Anregungen und Ermutigungen.

Auch möchte ich an dieser Stelle all meinen Analysanden danken, die mir erlaubt haben, ihr Material zu benützen und zu publizieren.

St. Gallen, 1982

Verena Kast

Todeserfahrung beim Tod eines geliebten Menschen

Beim Tod eines geliebten Menschen erfahren wir, was Tod ist. Dieses Todeserlebnis widerfährt uns, trifft uns, lässt uns irre werden an uns und an allem, was wir bisher für selbstverständlich gehalten haben. Es erschüttert nicht nur unser Welt- und unser Selbstverständnis, es zwingt uns zur Wandlung – ob wir wollen oder nicht.

Stirbt ein geliebter Mensch, so nehmen wir in seinem Sterben nicht nur antizipatorisch unser eigenes Sterben vorweg; wir sterben in gewisser Weise auch mit ihm. Es wird uns kaum je so radikal bewusst wie beim Tod eines geliebten Menschen, in welchem Maß wir uns aus unseren Beziehungen zu anderen Menschen und Dingen verstehen und erfahren, in welchem Maß der Tod einer solchen Beziehung uns aufbricht und eine Neuorientierung verlangt.

Es ist dies eine Erfahrung, die gewiss schon so alt ist wie die Menschheit selbst. Aus den vielen Zeugnissen dafür möge angeführt werden, wie der junge Augustinus den Tod eines Freundes erlebt hat (Confessiones IV1):

»Durch diesen Schmerz kam eine tiefe Finsternis über mein Herz, und wo ich hinsah, war der Tod. Die heimatliche Stadt ward mir zur Qual, das väterliche Haus zu einer sonderbaren Unglücksstätte, und jedwedes Ding, das ich mit ihm gemeinsam besessen hatte, wurde mir nun ohne ihn zu unendlicher Pein. Überall suchten meine Augen ihn und er wurde mir nicht gegeben; ich hasste alles, weil es ihn nicht hatte und mir nicht mehr sagen konnte: Siehe, er kommt, so wie es, als er noch lebte, war, wenn er einmal abwesend war. Ich war mir selbst zu einer einzigen großen Frage, und forschte ich in meiner Seele, warum sie traurig sei, warum sie mich so sehr verwirre, so wusste sie mir nichts zu antworten. Und wenn ich zu ihr sagte: Hoffe auf Gott, so gehorchte sie nicht und hatte Recht, weil dieser Mensch, den sie als Teuerstes verloren hatte, besser war und wahrer als das Trugbild, das ich ihr als Hoffnung gab. Nur noch das Weinen war mir süß und nahm in meinen Herzensfreuden die Stelle meines Freundes ein …

In mir war … eine Regung ganz entgegengesetzter Art lebendig geworden, ich weiß nicht, was es war: einem ganz schweren Lebensüberdruss stand Todesangst zur Seite. Ich glaube, je mehr ich jenen geliebt hatte, umso mehr hasste und fürchtete ich den Tod, der mir ihn geraubt, wie den grimmigsten Feind, und ich stellte mir vor, er würde nun plötzlich alle Menschen verschlingen, weil er es bei jenem gekonnt … Ich wunderte mich nämlich, dass die übrigen Sterblichen lebten, wo er gestorben war, den ich so liebte, dass er gleichsam nie hätte sterben dürfen, und noch mehr wunderte ich mich, dass ich als sein andres Ich seinen Tod

überlebte. Wie richtig hat einmal einer seinen Freund die Hälfte seiner Seele genannt (Horaz, Od. 1,3)! Denn ich habe meine und seine Seele als eine einzige in zwei Körpern empfunden (nach Ovid, Trist. IV, 4, 72) und deshalb schauderte mich vor dem Leben, weil ich nicht als Halber leben wollte, und deshalb fürchtete ich vielleicht zu sterben, weil er, den ich so sehr geliebt, dann ganz gestorben wäre.«

In diesem kurzen Text von Augustinus sind viele Aspekte des Verhaltens eines Menschen, der einen großen Verlust erlitten hat, ausgedrückt: Die Erschütterung in seinem Weltverständnis, das, was ihm vorher vertraut war, wird ihm zur Qual. Es ist, als hätte der Tod seine Schatten über alles gelegt, was zuvor war, durchaus auch über die äußeren Dinge, etwa das Haus des Vaters. Hier wird sichtbar, wie sehr die Beziehung zwischen zwei Menschen eine gemeinsame Welt schafft, sodass das Erlebnis des Todes es mit sich bringt, dass auch dieses gemeinsame Erleben der Welt nicht mehr vorhanden ist. Ein Aspekt der Trauerarbeit wird also sein müssen, dass ein neues Verhältnis zur Welt geschaffen wird. Noch aber, und das ist typisch für die erste Phase nach einem großen Verlust, geht es Augustinus nicht darum, etwas Neues zu bauen, etwas Neues zu suchen; er sucht im Gegenteil noch den Freund. Lindemann2 beschreibt die Ruhelosigkeit von Personen, die einen schweren Verlust erlitten haben, sehr eindrücklich: Dem Drang, etwas zu tun, auf der Suche nach etwas zu sein, steht ein Mangel an Zielgerichtetheit gegenüber. Parkes3 nennt dieses Suchverhalten nicht ziellos, sondern weist darauf hin, dass das Suchverhalten das Ziel habe, den eben verlorenen Partner wiederzufinden. Dies scheint Augustinus sehr bewusst zu erleben.

Zur Trauerarbeit wird also auch gehören, diese Ruhelosigkeit zu begreifen, zu begreifen auch in ihrem Sinn, die ursprüngliche Welt und das ursprüngliche Beziehungsgefüge, das eben durch das Erlebnis des Todes auseinander gebrochen ist, wieder herzustellen, als Widerstand gegen die Veränderung, die vom Leben einfach gefordert ist.

Augustinus beschreibt seinen Zustand als traurig, verwirrt, »schwerem Lebensüberdruss stand Todesangst zur Seite« – einzige Erleichterung war das Weinen. Zugleich hasste und fürchtete er den Tod.

Wie sehr dieser Todesfall sein Welt- und Selbstverständnis erschüttert hat, zeigt sich in seinem Lebensüberdruss: Wenn der Freund nicht mehr lebt, weshalb soll er denn leben?

Die Todesangst hält allerdings diesen suizidalen Ideen die Waage, und letztlich auch der Gedanke, dass der Freund, stürbe er auch noch, ganz gestorben wäre, weil er dann ja in niemandes Erinnerung weiterleben könnte.

Wesentlich scheint mir auch der Hass zum Trauererlebnis zu gehören, hier bei Augustinus Hass auf den Tod. In meiner therapeutischen Praxis erfahre ich, dass dieser Hass oft auch auf eine göttliche Instanz gerichtet wird oder auf den Partner, auf das Kind, das einen verlassen hat. Suizidale Ideen sind sehr häufig bei einem großen Verlust; der Suizid wäre eine Möglichkeit, die vielen Probleme, die sich einem bei einem Verlust stellen, zu »lösen«. Die Anzahl der Menschen, die nach einem Todesfall aber wirklich Suizid begehen, ist nach den Studien von Bowlby4 gering; hingegen besteht die Tendenz, sich den Kummer durch Einnahme von Drogen jeglicher Art zu erleichtern.

»Finsternis über dem Herzen haben«, traurig sein, verwirrt sein, an Lebensüberdruss und gleichzeitig an Todesfurcht zu leiden, sich selber zu einer einzigen Frage zu werden, all dies zeigt, wie sehr nicht nur das Weltverständnis des Augustinus erschüttert ist, sondern auch sein Selbstverständnis. Wenn Augustinus sagt: »denn ich habe meine und seine Seele als eine einzige in zwei Körpern empfunden und deshalb schauderte mich vor dem Leben, weil ich nicht als Halber leben wollte …«, dann können wir bei ihm von einem Selbstverlust sprechen. Es gehört zum menschlichen Leben, dass das Selbsterleben sich wesentlich aus den Beziehungen zu anderen Menschen ergibt, dass wir oft als unser Selbst erleben, was andere Menschen in uns hervorgerufen haben und immer wieder hervorrufen, und dass unsere Beziehung zu unserer Tiefe, zu unserem innersten Selbst durch die Beziehungen geprägt ist, die wir zu Menschen haben, insbesondere durch die Liebesbeziehungen. So werden geliebte Menschen zu einer »Hälfte unserer Seele«, gehören wesenhaft zu uns, bestimmen unser Lebensgefühl und unsere Sicht des Lebens mit, ohne dass wir das Gefühl hätten, von ihnen manipuliert zu werden, weil wir sie so nahe an uns herangelassen haben, dass sie Teil von uns sind. Trifft uns der Verlust eines so mit uns verbundenen Menschen, dann sterben wir in der Tat ein Stück mit5. Gabriel Marcel6 sagt dazu: »Das einzig wesentliche Problem wird durch den Konflikt Liebe und Tod gestellt.«

Und so ist wohl der Tod dessen, den wir lieben, ebenso ein Todesproblem und eine Todeserfahrung, mit der wir umzugehen haben, die wir zu bestehen haben, wie das Leben auf unseren eigenen Tod hin. Es ist eine Grenzsituation des Lebens, die uns verändern, die uns den Blick für das wirklich Wesentliche frei machen kann, und es ist eine Situation, die uns auch zerbrechen kann.

Ob es uns gelingt, neue Perspektiven in unser Welt- und Selbsterleben zu bringen, Todesbewusstsein auch als einen Aspekt unseres Selbstbewusstseins zu sehen, oder ob wir zerbrechen, pathologisch trauern und nie mehr aus der Trauer herauskommen, hängt wesentlich davon ab, ob wir richtig zu trauern verstehen. Trauern darf nicht länger als »Schwäche« betrachtet werden, sondern es ist ein psychologischer Prozess von höchster Wichtigkeit für die Gesundheit eines Menschen. Denn wem bleiben schon Verluste erspart? Und wenn wir es auch mit dem Tod dessen, den wir lieben, nicht immer zu tun haben, der Abschiede sind noch genug im Leben, und sie können ähnliche Verlustreaktionen hervorrufen, wie wenn wir einen geliebten Menschen verlieren.

Wichtig scheint mir zu bedenken, wie schlagartig sich das Leben eines Menschen durch den Tod eines Lebenspartners etwa ändern kann, wie vielen Schwierigkeiten deshalb auch der Zurückgebliebene sich gegenübersieht, zudem in einer psychischen Verfassung, die Problemlösungen fast unmöglich macht.

Versuchen wir nochmals, uns die Probleme zu vergegenwärtigen:

Äußerlich verändert sich das Leben etwa dadurch, dass eine Ehefrau zur Witwe wird, unter Umständen mit finanziellen Problemen zu kämpfen hat, mit der Notwendigkeit, die Kinder allein zu erziehen, einen neuen Partner suchen zu müssen; oder ist die Witwe älter, muss sie nun plötzlich den Lebensabend allein verbringen, vielleicht ohne die dazugehörige praktische Begabung zu haben, weil der Mann ihr zuvor alles abgenommen hat. Äußerlich ändert sich das Leben auch dadurch, dass ein trauernder Mensch eben ein Trauernder ist, der von der Umwelt plötzlich anders behandelt, im schlimmsten Fall tabuisiert wird, fast wie der Tod selber, im besten Fall zwar nicht gemieden, aber »vorsichtig«, unspontan behandelt wird. Man weiß nicht so recht, wie man denn mit dem Trauernden umgehen soll, und man löst das Problem meistens, indem man sich von ihm fern hält. Und so kommt zur Trauer, zum Erleben des Verlusts, auch noch die Einsamkeit, das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören usw. Parkes7 hat in seinem Buch »Vereinsamung, die Lebenskrise bei Partnerverlust« in einer Studie über junge Witwen viele dieser sozialen Faktoren beschrieben.

Die Welt tritt dem Trauernden anders gegenüber als dem Menschen, der nicht trauert. Und je stärker die Trauer und der Tod in einer Gesellschaft verdrängt werden, umso weniger spontan wird diese Gesellschaft mit den Trauernden umgehen, desto schneller wird sie fordern, dass man nun endlich wieder einmal mit der Trauer aufhören sollte.

Aber nicht nur die Welt tritt dem Trauernden anders gegenüber. Der Trauernde selbst erlebt die Welt anders. Er hat einen Verlust erlitten, er ist mit einem Problem, das allerdings viele Probleme nach sich zieht, ganz beschäftigt. Alles andere interessiert ihn wenig, er hat keine Kraft für etwas anderes. Er kann nicht auf die Menschen zugehen, auch wenn er sie sehr nötig hätte, weil gerade die Wärme der andern Menschen ihn daran hindern könnte, am Leben ganz irre zu werden. Gehen die andern Menschen aber nicht auf ihn zu – und das kann sich in unserer Gesellschaft ereignen, da uns eine rituelle Trauer fehlt, wie sie etwa bei den gläubigen Juden noch stattfindet8 –, dann kann er auch nicht auf die andern Menschen zugehen, die zudem noch erwarten, dass der Trauernde »normal« weiterlebt. Er entfremdet sich ihnen in seinem Kummer noch mehr und erlebt die Welt, der er nicht mehr gewachsen ist, bald als feindlich. Und so kann sich ein Zirkel der Isolierung, der Angst, der Weltentfremdung einstellen, in dem ein neues Weltverständnis nur schlecht oder überhaupt nicht aufzubauen ist. Eher noch stellen sich paranoide Reaktionen ein.

Der Trauernde versteht aber nicht nur die Welt, er versteht oft auch das Schicksal nicht mehr. Gerade bei Menschen, die »vor ihrer Zeit« gestorben sind, stellt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens, die sich angesichts des Todes ja immer unabweisbar, ja geradezu brutal erhebt: eine Frage, auf die in einer solchen Situation kaum eine Antwort gegeben werden kann. Die gängigen Antworten, die etwa angeboten werden, klingen wie Hohn in den Ohren der Trauernden und vermögen zumindest nicht weiterzuhelfen. Es gehört wohl auch zur Trauer, diese Abwesenheit von Sinn auszuhalten und trotzdem weiterzuleben, sei es in der Hoffnung, dass der Sinn sich schon wieder zeigen werde, sei es in der Erinnerung daran, dass Sinn schon einmal das Leben erfüllte; oder aber einfach mutig weiterzuleben im totalen Zweifel an Sinn, an Existenz, an Gott, an den Menschen, zumindest verunsichert durch den Preis, den man bei Verlust für eine menschliche Bindung bezahlt, und tief unsicher, ob man diesen Preis noch einmal zu zahlen bereit wäre.

Aber nicht nur diese Verunsicherungen am Sinn des Daseins erschüttern den Trauernden, er fühlt sich ja wirklich erschüttert, verändert. Sein Lebensgefühl hat sich verändert, sein Erleben von sich ist nicht mehr dasselbe.

Ein fünfzigjähriger Mann, der seine Frau nach langer, harter Krankheit verloren hatte, beschrieb seinen Zustand: »Ich meine, ich hätte mich auf den Verlust vorbereitet, lange genug Zeit hatte ich ja dazu. Jetzt, wo sie gestorben ist, spüre ich, dass alles noch einmal anders ist, als ich es mir vorgestellt habe. Es ist so unwiederbringlich. Ich fühle die Größe des Todes, ich habe gelernt, was wichtig ist und was unwichtig ist. Aber mit diesem Gelernten kann ich nicht mehr leben unter den Menschen, ich werde ein Sonderling. Und dann fühle ich mich auch ganz unsicher, sie hat so viel von mir weggenommen ins Grab, manchmal frage ich mich, ob noch genug bleibt zum Leben.«

Und eine fünfundvierzigjährige Frau, die ihren Mann durch einen Verkehrsunfall verloren hatte, sagte: »Es ist, wie wenn man ihn von mir weggerissen hätte, ohne jede Vorwarnung – und ich fühle mich ganz verwundet, ich bin eine offene Wunde, ich blute, ich fürchte, ich blute aus. Aber was soll’s, dann bin ich auch tot …« Man könnte natürlich denken, dass dieses Ehepaar eine besonders symbiotische Ehe geführt hätte, in der die Frau ihre eigene Persönlichkeit aufgegeben hätte. Solche Aussprüche trifft man aber so häufig an, dass dementsprechend entweder alle Menschen symbiotische Partnerschaften führen oder dass wir in unserem Selbsterleben so sehr von den Menschen, die wir lieben, abhängig sind, dass der Tod dann als »das große Loch in mir«, als »Zersplitterung meiner ganzen Persönlichkeit« erlebt werden muss.

Welches auch immer die Gründe dafür sind, dass der Tod eines andern Menschen unser Selbsterleben so sehr beeinflusst, der Trauernde muss mit der Zeit wieder zu einem einheitlichen Erlebnis seiner selbst kommen. Denn das scheint – in allen Lebenssituationen – die Voraussetzung dafür zu sein, dass wir uns als mit uns identische Menschen erleben können. Gerade diese Brüchigkeit in unserem Selbsterleben angesichts des Verlusts eines Menschen, den wir lieben, zeigt, wie sehr an unserem Selbsterleben – das zwar durchaus auch von einem Persönlichkeitskern aus gesteuert wird, also in einer Verbindung zur eigenen Tiefe oder zu einem tieferen Selbst wurzelt – die Beziehungen zu unseren Mitmenschen Anteil haben.

Unser Selbsterleben resultiert nicht nur aus der Beziehung zu unseren ersten Beziehungspersonen, so wichtig diese auch sind, sondern aus unseren Beziehungen überhaupt. Die Erschütterung im Selbstgefühl ist sehr schwer zu ertragen; es scheint, dass aber gerade das Trauern über den Verlust einer Beziehung, das Zulassen der verschiedenen Emotionen, die damit verbunden sind, das Sich-überwältigen-Lassen von Sinnlosigkeit, Angst und Wut es möglich machen, dass ein neues Selbsterleben sich wieder einstellen kann. Vielleicht ist Trauer die Emotion, die im Leben des erschütterten Menschen eine neue Ordnung, ein neues Selbst- und Welterleben schaffen kann.

Damit aber Trauer zugelassen werden kann, damit wirklich die Trauer erlebt werden kann, die psychologisch notwendig ist, um den Verlust zu überwinden und zu einem neuen Welt- und Selbstverständnis zu kommen, müssen die Menschen einander helfen. Kuhn9 beschreibt das Gefühl des trauernden Menschen als das eines Menschen, der aus der Welt ausgestoßen worden ist – nicht der Tote ist ausgestoßen, der Trauernde ist es, oder anders gesagt, ist es mit. Dieses Ausgestoßensein bringt es mit sich, dass der Trauernde sich dann überwiegend mit dem Vergangenen beschäftigt und damit natürlich immer mehr aus der realen Welt ausgestoßen wird.

Wir müssen Wege finden, Trauern als etwas Wesentliches zu sehen, nicht einfach als etwas Pathologisches, und wir müssen Wege finden, miteinander wieder mittrauern zu lernen. Dazu gehört zunächst einmal, dass wir unsere große Angst vor der Trauer überwinden, sie also weniger abwehren, wohl damit auch der Realität wieder ins Auge sehen, um zu erfahren, dass wir sterblich sind, dass unser Leben von vielen Abschieden geprägt ist, dass die Abschiede wesensmäßig zu uns gehören – und dass sie wehtun. Dazu gehört aber auch die Erkenntnis, dass wir überhaupt enorm zerbrechlich sind, von unendlich vielen Faktoren in unserem Wohlbefinden abhängig, die wir nicht beeinflussen können; andrerseits aber auch, dass wir Trauer durchzustehen vermögen, dass wir Grenzsituationen erleben können und daran erstarken. Wir müssen auch neue Wege finden, miteinander zu trauern. Wir werden kaum die Rituale, die für uns nicht mehr gelten, einfach zu neuem Leben erwecken können. Wir werden neue Rituale finden müssen. Solche Rituale sind da und dort im Entstehen begriffen; man begreift offenbar, dass man sie braucht. So schreibt Schultz10 in dem Sammelband »Einsamkeit«, dass nach dem Tode seiner Frau viele Menschen tagelang um ihn gewesen wären und dass sie miteinander über die Verstorbene gesprochen hätten. Dies scheint mir ein »Ritual« zu sein, das dem Bedürfnis des Trauernden oder der Trauernden entgegenkommt.

Einen ganz anderen Ansatz zu einem neuen »Ritual« erlebte ich auf einer Tagung, in der über Psyche und Tod gesprochen wurde. In einer großen Gruppe von etwa 120 Menschen entwickelte sich ein sehr ernsthaftes Gespräch über Tod, Verlust, Angst vor dem Tod, Angst vor dem Verlust, Mut angesichts des Todes. Eine allgemeine Betroffenheit breitete sich aus, ohne peinlich zu werden; jeder konnte sich identifizieren, wann er wollte, wo er wollte, wo es ihn in seinen Begegnungen mit dem Tod betraf. Am Schluss der Tagung hatte ich den Eindruck, dass wir alle miteinander getrauert hatten, vielleicht, gerade weil wir uns eigentlich »fremd« waren; sogar auf eine besonders gute Art getrauert hatten, weil jedem klar geworden war, dass der Tod etwas ist, das wirklich in jedem Leben eine Rolle spielt, dass jeder nach seinen Möglichkeiten damit umgehen muss und dass wir vielleicht gerade da, wo wir uns oft am einsamsten fühlen, nicht so einsam sind. Es gibt viele Mittrauernde, wenn wir sie an uns heranlassen.

Todeserfahrung und Trauer im Spiegel einer Traumserie

Es ist bekannt11, dass im Umfeld von Todeserleben sehr intensiv geträumt wird, dass das Unbewusste hilft, das Todeserlebnis mit zu verarbeiten. Ich habe seit zehn Jahren Träume von Trauernden gesammelt und dabei herausgefunden, dass das Unbewusste Anleitung zum Trauern gibt und sich dadurch eine neue Identität des trauernden Menschen aufbaut. Ich möchte stellvertretend für viele Beispiele nun an einer Traumserie einer jungen Frau zeigen, wie das Unbewusste eine solche Erschütterung, ausgelöst durch den Tod eines sehr geliebten Mannes, darstellt und wie von den Träumen die wesentlichen Impulse zur Verarbeitung dieses Verlustes ausgehen. Diese Traumserie ist beispielhaft. Ich werde sie gelegentlich durch Traumbeispiele anderer Trauernder ergänzen, wo es mir geboten scheint.

Die Traumserie stammt von einer fünfundzwanzigjährigen Träumerin, die ich hier Elena nennen will. Elena war zu diesem Zeitpunkt Studentin, sehr interessiert am Umgang mit dem Unbewussten, befand sich indessen nicht in einer psychotherapeutischen Behandlung. Die Traumserie begann vor dem Tod des Freundes, den ich hier Georg nenne. Georg erlitt einen Herzinfarkt und starb drei Wochen nach diesem ersten Infarkt, vermutlich an einem zweiten Infarkt. Sowohl der erste Infarkt als auch der Tod erfolgten überraschend. Elena träumte in der Nacht, bevor Georg seinen ersten Infarkt erlitt:

»In einer Alpenlandschaft. Ich soll an einen bestimmten Ort gehen. In meiner Begleitung befindet sich ein scheues, etwa sechzehnjähriges Mädchen. Wir laufen an einer Kette von hohen Schneebergen entlang, befinden uns aber auf einer grünen Wiese. Die Sonne scheint warm.

Plötzlich löst sich mit Getöse eine Lawine oben an einem Gipfel und stürzt zu Tal. Die Lawine reißt Steine mit sich, ein paar Bäume, unten verschiebt sie Sennhütten. Wir befinden uns einige Meter von den Ausläufern der Lawine entfernt, es besteht keine Gefahr, trotzdem fühle ich mich wie gelähmt. Die Sonne ist weg, die Alp wirkt plötzlich so seltsam grau. Wir gehen in eine der Hütten, die noch steht und die uns bewohnt scheint. Wir müssen den Rettungsdienst alarmieren.«

Dieser Traum spricht von einer Naturkatastrophe, gegen die nichts unternommen werden kann, die plötzlich in diese schöne Alpenlandschaft einbricht. Die Träumerin selbst ist nicht in unmittelbarer Gefahr, dennoch aber betroffen von dieser Lawine. Dies drückt sich aus im Wechsel der Wetterstimmung: Ist die Stimmung zunächst warm, schön, grün, was auf eine psychische Stimmung der Wärme, der Freude, des Wachstums hindeuten dürfte, so verschwindet nach dem Niedergang der Lawine die Sonne; es dürfte also kalt werden, das Freudvolle verschwindet und macht dem Grau Platz, einer eher düsteren, freudlosen Stimmung. Eine Rettungsmannschaft wird benötigt. Dieser Traum kündigt nicht unbedingt einen Tod an, obwohl er vom so genannten »weißen Tod«, der Lawine, handelt. Elena war als junges Mädchen einmal fast von einer Lawine erfasst worden. Seither hat sie große Angst vor Lawinen. Der Traum kündigt eine Naturkatastrophe an, die einen starken Stimmungswechsel mit sich bringt.

Zur Alpenlandschaft assoziiert Elena, dass sie sich in den Alpen sehr wohl fühle, dass sie immer wieder in die Alpen gehe, wenn sie zu sich kommen möchte, dass sie nirgends die Einheit ihrer Person so sehr fühle wie in den Alpen und am Meer. Dann spricht sie auch von den letzten Ferien, die sie mit Georg in den Alpen verbracht hat, sagt aber, die Landschaft im Traum sei für sie eine ganz unbekannte Landschaft gewesen, und auch der Bestimmungsort sei ihr im Wachen nicht mehr bekannt vorgekommen, obwohl im Traum sowohl der Weg als auch der Bestimmungsort vertraut gewesen seien.

Wenn diese Assoziationen mit einbezogen werden, dann könnte der Traum eine »Naturkatastrophe« ankündigen, also eine Katastrophe, bei der Menschen kaum die Schuld tragen, eine Katastrophe, die von viel weiter her kommt. Diese Katastrophe wird die Träumerin ganz zentral treffen, in der »Einheit« der Person, in ihrem Eigensten. Diese Naturkatastrophe kann mit Georg zu tun haben, muss aber nicht. Obwohl vom Traum her nicht klar wird, was denn eigentlich unter dieser Lawine begraben worden ist, und er eher den Einbruch des Elementaren schildert, des Todbringenden natürlich schon, vor allem aber des Kältebringenden, wird eine Rettungsmannschaft benötigt. Hilfe wird gebraucht, und die Träumerin ist auch fähig, sich diese Hilfe zu beschaffen.

Elena sagte, sie hätte sich nach diesem Traum gefühlt, als müsse sie sofort sterben, als sei sie in unmittelbarer Lebensgefahr. Sie hätte den Traum zunächst nicht verstanden. Sie hätte nur verstanden, dass ihr Leben und ihr Lebensgefühl bedroht seien. Sie sei zudem mit einem Gefühl von Mitleid erfüllt gewesen, sich selbst, aber auch diesem sechzehnjährigen Mädchen gegenüber, das sie zwar nicht gekannt, von dem sie aber den Eindruck gehabt habe, es beginne eben erst zu leben.

Sie erzählte diesen Traum Georg, der meinte, sie würde in ihrer Gefühlsreaktion übertreiben; zwar werde schon etwas Katastrophales eintreten, aber ihr Leben sei keineswegs in Gefahr, und das Leben ihrer Begleiterin auch nicht. Georg träumte in dieser selben Nacht vor seinem Infarkt:

»Schweizer Armee. Ich soll meine gesamten Ausrüstungsgegenstände abgeben, weil ich eine größere Reise ins Ausland antreten werde. Ich muss aber auch die Zigaretten, das Feuerzeug und ein angefangenes Manuskript abgeben. Ich wende ein, das wären doch persönliche Effekten. Der Offizier, dem ich diese Dinge abgeben muss, zuckt die Schultern und sagt: Sie kennen doch den Laden hier, Befehl ist Befehl. Ich freue mich auf die Reise, endlich passiert wieder einmal etwas Unvorhergesehenes.

Pferde ziehen einen schwer beladenen Wagen. Plötzlich – ich habe keine Ahnung, wer oder was das bewirkt hat – haben sich die Pferde befreit, der Wagen bleibt stehen, rollt rückwärts an einen Baum, die Pferde rasen davon. Es macht mir Freude, dass sich die Pferde befreit haben, sie rennen querfeldein, es kann kaum jemand zu Schaden kommen dabei.«

Der erste Traum spricht von der Vorbereitung auf eine sehr große Reise. Die Militäreffekten muss man als Schweizer Soldat nur dann abgeben, wenn man in einem anderen Land Wohnsitz nehmen will. Eigentümlich ist, dass auch die persönlichen Gegenstände abgegeben werden müssen, vermutlich die Dinge, die Georg in diesem Zeitpunkt sehr wichtig waren. Er muss also alles zurücklassen und auf eine große Reise gehen; er freut sich darauf, endlich einmal etwas anderes zu erleben.

Zum zweiten Traum erinnert Georg zunächst einen Spruch aus dem chinesischen Weisheitsbuch »I Ging«: »Pferd und Wagen trennen sich, blutige Tränen ergießen sich.« Im Kommentar dazu heißt es, gemeint sei damit, dass man in Schwierigkeiten die Hände sinken lasse und den Kampf aufgebe. Er lehnte diese seine Interpretation dann aber sofort ab mit der Begründung, seine Emotion sei ja eine ganz andere gewesen; er habe sich gefreut über die Pferde, die endlich wieder ihre Freiheit gehabt hätten. Er sähe den Traum so, dass er sich von seinen Lasten und Pflichten einmal befreien müsse und wirklich eine Reise machen solle. An den Wagen, der an den Baum rollt, denkt er nicht. Er versteht den Traum als Aufforderung zu einer wesentlichen Wandlung seiner Lebenssituation.

So kann man diese Träume durchaus verstehen – und solange jemand noch lebt, käme man kaum in die Versuchung, in ihnen eine Todesankündigung zu sehen, obwohl die weite Reise mit unbekanntem Ziel, zu der man keine persönlichen Effekten mehr braucht, auch ein mögliches Symbol für die Todesreise ist; ebenso gut kann es aber ein Aufruf sein, etwas ganz Neues in sich zu entdecken. An diesen Träumen Georgs ist sichtbar, was ich schon verschiedentlich an Träumen von Menschen gesehen habe, die kurz vor ihrem Tod standen: Die Träume sprechen von etwas Neuem, das oft sogar herbeigesehnt, manchmal auch ängstlich erwartet wird – ohne dass man auch nur annähernd ausmachen könnte, ob dieses Neue den Tod meint oder einfach noch einmal etwas Neues in dieser Welt.