Traumafachberatung, Traumatherapie & Traumapädagogik - Ulrike Beckrath-Wilking - E-Book

Traumafachberatung, Traumatherapie & Traumapädagogik E-Book

Ulrike Beckrath-Wilking

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Beschreibung

Dieses anwendungs- und nutzerorientierte Handbuch vermittelt Grundlagenwissen über psychische Traumatisierungen. Detaillierte Kenntnisse der Neurobiologie der Traumaverarbeitung, komplexer posttraumatischer und dissoziativer Störungen und des Ego-State-Konzepts helfen in der Praxis, da sich durch ein Verständnis der psychischen und körperlichen Abläufe unmittelbare Anwendungsmöglichkeiten in Traumaberatung und -pädagogik ergeben. Ein Schwerpunkt des Bandes liegt auf ressourcenorientierten Ansätzen, der traumazentrierten Gesprächsführung, der Bedeutung der Psychoedukation sowie einem Verständnis der Auswirkungen von Ego States (Ich-Anteilen) und deren Einbezug in Beratung/Therapie. Neben Anwendungsbeispielen und Fallgeschichten werden institutionelle Voraussetzungen in der Arbeit mit traumatisierten Klienten diskutiert und die Unterschiede von Traumatherapie, Traumaberatung und Traumapädagogik herausgearbeitet. Die Autoren entwickelten ein Curriculum in traumazentrierter Fachberatung/Traumapädagogik, Weiterbildungsangebot seit 2005, zertifiziert von der DeGPT/BAG-TP 2011.

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Seitenzahl: 563

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Ulrike Beckrath-Wilking, Marlene Biberacher,

Volker Dittmar, Regina Wolf-Schmid

Traumafachberatung, Traumatherapie & Traumapädagogik

Ein Handbuch für Psychotraumatologie im beratenden,

therapeutischen & pädagogischen Kontext

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2013

Coverbild: © Marlene Biberacher (Mai)

Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2012

Satz: Peter Marwitz, Kiel (etherial.de)

Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe 978-3-87387-899-0 ISBN dieses eBooks: 978-3-87387-900-3

Für Greta und Marlene, Viola, Lucia, Max, Joshua und Jolanda und alle großen und kleinen – und alle Inneren – Kinder dieser Welt.

Möge euer Weg in die Zukunft von leuchtenden Glückspunkten und lächelnden Sternen begleitet sein …

Dank

Dieses Buch wäre nicht entstanden ohne die mentale Unterstützung und mancherlei Verzicht von unseren Familien und Partnern, denen wir dafür besonders danken.

Wir danken auch unseren zahlreichen Klientinnen und Patienten, die uns mit ihrer Bereitschaft, sich auch auf Neues einzulassen, über viele Jahre ermöglichten, mit ihnen und von ihnen zu lernen – und uns dabei mit ihrem Mut, ihrer Kreativität und Tapferkeit oft tief berührten.

Besonderer Dank an die vielen Teilnehmer unserer Traumafachberater-Curricula, die uns viele Fragen stellten und mit kreativen Ideen bereicherten.

Wir können leider nicht alle namentlich nennen, denen wir uns zu Dank verpflichtet fühlen.

Ulrike Beckrath-Wilking dankt ihrem Exteam, das mit ihr den Aufbruch in die Traumatherapie wagte, viel umzulernen bereit war und zu engagierten empathischen Helfern und Helferinnen für so viele traumatisierte Menschen wurde. Ein besonderer Dank gilt Sepp Baumgartner, Judith Mauser und Petra Sadowski.

Und ein ebenso herzlicher Dank an Freunde und Kolleginnen, die Teile der Entwürfe kritisch gelesen haben, besonders an Angela Thalmaier, Rudolf Müller-Schwefe, Elke Schallehn-Melchert, Ursula Stahlbusch, Constanze Wilking, Christa Geppert.

Marlene Biberacher dankt dem Kollegium des Evangelischen Beratungsdienstes für Frauen, besonders Renate Frey, die vielfach Traumaberatung und Pädagogik in der Einrichtung fördert und unterstützt. Astrid Wagner, Eva von Kummant und Sarah Göhr, die im betreuten Wohnen für junge Frauen Traumaberatung und -pädagogik im bewegten Alltag mit den Klientinnen umsetzen und ihnen so Raum zum Wachsen eröffnen. Für ihr geduldiges Lesen und Diskutieren Dank an Beate Krauß, Christa Zinnecker, Sabine Kistler und Barbara Klonowski.

Volker Dittmars Dank geht an Pia Reiser und Gitte Fischbach, ohne deren Mut, Neugier, Tatkraft und auch Leidensbereitschaft der Aufbau der tagesklinischen Traumatherapiegruppe nie gelungen wäre. Großer Dank ebenso an Sebastian Grimm für sorgfältiges Lesen und geduldiges Kommentieren der Manuskripte.

Regina Wolf-Schmid dankt dem Team der ARCHE e.V. in München, speziell Michael Werner, das sich vor vielen Jahren des Themas Trauma angenommen und als eine der ersten Einrichtungen Beratungsangebote für traumatisierte Menschen geschaffen hat, und der Leitung und dem Team der Clinica Holistica Engiadina für die Unterstützung und Integration der traumatherapeutischen Arbeit. Herzlicher Dank an Angela Thalmaier für die anregende Unterstützung.

Besonders dankbar sind wir unseren Lehrerinnen und Lehrern, mit denen wir zusammenarbeiten und von denen wir lernen durften. Wir alle wurden sowohl von Luise Reddemann wie auch von Michaela Huber entscheidend beeinflusst, die Arbeit mit traumatisierten Klienten zu beginnen und in unsere Arbeitsbereiche zu integrieren. Michaela Huber ist für uns eine wichtige Schatztruhe voller Wissen, Herzenswärme und Wertschätzung, sie hat uns zu diesem Buch ermutigt, und wir danken ihr sehr für ihr anrührend warmherziges Vorwort.

Der entscheidende Anstoß kam für Ulrike Beckrath-Wilking von Luise Reddemann, nach deren PITT-Kursen sie eine Hospitation in ihrer damaligen Klinik endgültig überzeugte, das Konzept der von ihr oberärztlich geleiteten Psychotherapiestation in ein traumatherapeutisches umzuwandeln. In jahrelanger Zusammenarbeit und Assistenz in ihren Kursen hat sie aus ihrem reichen Fundus viel gelernt.

Volker Dittmar wurde durch die PITT-Ausbildung bei Luise Reddemann bestärkt, ein traumatherapeutisches Spezialangebot an der psychiatrischen Tagesklinik in Regensburg aufzubauen. Auch er konnte in langjähriger Assistenz in ihren Kursen von ihrem Wissen und ihrem Können profitieren.

Ein weiterer wissensreicher und unterstützender Mentor, dem wir dankbar sind, war und ist uns Arne Hofmann (Ulrike Beckrath-Wilking und Regina Wolf-Schmid).

Viele Fortbildungen und Kontakte haben uns zudem bereichert: Wir danken u.a. Suzette Boon, Woltemade Hartman, Helga Mattheß, Ellert Nijenhuis und Wolfgang Wöller.

Herzlichen Dank auch an den Junfermann Verlag, besonders an Heike Carstensen und den Verlagsleiter Stephan Dietrich, für deren freundliche Sorgfalt und die gute Zusammenarbeit! Und ebenso herzlich danken wir Dunja Reulein, die als Lektorin unser Rohmanuskript aufpoliert hat.

Vorwort

„Traumata können jeden treffen. Auswirkungen und Langzeitfolgen hängen von vielfältigen Faktoren ab, u.a. von der überwältigenden Wucht und von der individuellen Widerstandskraft (Resilienz) – aber auch davon, ob mitfühlende Menschen helfend und tröstend lange genug und taktvoll zur Seite stehen.“ So beginnt die Einleitung der Autorinnen und Autoren dieses Buches. Und der letzte Halbsatz davon enthält vielleicht den entscheidenden Hinweis darauf, warum Sie dieses Buch unbedingt lesen sollten: Viel, sehr viel, hängt beim Heilungsprozess nach überwältigenden Ereignissen davon ab, ob da jemand ist, der oder die auf freundliche, solide Weise – also respektvoll und wertschätzend und in angemessener Nähe bzw. Distanz – diesen Prozess begleitet. Dieser begleitende Hilfeprozess soll kompetent geschehen, denn es geht nicht ums Händchenhalten, auch wenn es wichtig sein kann, einem traumatisierten Kind, Jugendlichen oder Erwachsenen auch einmal die Hand zu halten. Aber worauf kommt es dann an?

Bei aller Fachkompetenz vor allem mitfühlend da zu sein, schreiben die Autorinnen und Autoren. Mitfühlend und helfend, tröstend und taktvoll, und das lange genug. Ein solcher Satz kann mich begeistern, wo liest man so etwas schon? Dass es dauert, von Verlusten und bodenlosem Entsetzen, von vielleicht jahrelangen Misshandlungen und Vergewaltigungen, von Vertreibung und Folter zu heilen, ist eine Botschaft, die Entscheider in politischen Gremien und Krankenkassen z.B. leider oft überhaupt nicht gerne hören. Kurzkontakte, Kriseninterventionen, ein paar Sitzungen Traumatherapie – dann soll es das aber auch gewesen sein. In Wirklichkeit dauert es sogar oft sehr lange, bis ein traumatisierter Mensch das Gefühl hat, „es“ hinter sich zu haben. Auch wenn die Betroffenen vielleicht ganz unterschiedliche Arten haben zu genesen. Manche schütteln sich ein paar Mal und können sich dann erfreulicheren Dingen zuwenden, ohne immer wieder Nackenschläge zu erleiden, zusammenzubrechen, sich in Süchten zu verlieren oder von schrecklichem Wiedererleben gequält zu werden. Andere jedoch haben das Gefühl, als gebe es keinen Ausweg aus dem Tal der Tränen und der Verzweiflung. Das kann man ihnen dann aber nicht als individuelle Schuld anlasten, sondern es liegt daran, wie gut ihr gesamter, auch sozialer Organismus – also ihr Gehirn, ihr Körper und ihr soziales Umfeld, zu dem auch professionelle Menschen gehören – mit der seelisch erschütternden Erfahrung umgehen kann. Die wenigsten traumatisierten Menschen, die ich kenne, lassen sich hängen oder versuchen, aus der erlittenen Unbill Kapital zu schlagen. Die meisten sind ungeheuer tapfer. Und viele finden Wege aus dem Überwältigtsein, die kreativ, aufbauend, stärkend, ablenkend, tröstend, versorgend und heilsam sind.

Letztlich lernen wir alle von uns selbst und gegenseitig unter uns Kollegen enorm viel, aber noch mehr von unseren Schutzbefohlenen, den Schülern, Klientinnen bzw. Patienten. In diesem Band finden Sie so viel Wissen über traumatisierte Menschen und was ihnen helfen könnte, versammelt aus den Bereichen Pädagogik, Beratung und Psychotherapie, dass Sie immer wieder darin schmökern, nachlesen, sich darin vertiefen können. Die drei Autorinnen und derAutor sind Praktiker, das merkt man dem Buch an, glücklicherweise! Sie verstehen etwas von den Urgründen von Verzweiflung und Not, in denen sich Menschen befinden können – und ebenso haben sie ein Herz und viel Bedenkenswertes für die Kolleginnen, die wissen wollen, wie kompetente Hilfe wirklich aussehen kann, und die selbst auf sich achten wollen, damit sie nicht ausbrennen. Alle vier Autoren sind auch Lehrende. Sie bieten ein erprobtes Curriculum an im Bereich Traumaberatung und -pädagogik, in dem sie das Beste aus den Wissensgebieten der Traumapsychotherapie und Traumaforschung vermitteln – auf dass es nicht nur hier und da einzelne Psychotherapeutinnen gibt, die ihre Unterstützung anbieten können wie einen Tropfen auf dem heißen Stein. Sondern es sollen viele Profis, die hauptberuflich mit Menschen arbeiten, möglichst viel Kompetenz erwerben. Diese kann reichen vom einfachen „Ach ja, das habe ich auch schon mal gehört, ich helfe Ihnen gern, Unterstützung zu finden“ bis zu den zahlreichen Möglichkeiten an den unterschiedlichen Arbeitsplätzen, den seelisch erschütterten Menschen selbst weiterzuhelfen.

Denn genau daran mangelt es bis heute: An dem Zutrauen, dem Wissen, der Geduld und der Handlungsfähigkeit vieler Lehrerinnen, Sozialpädagogen, Mitarbeiterinnen von Jugend- und anderen Ämtern – um nur einige Berufsfelder zu nennen –, sich mit von Gewalt oder Schicksalsschlägen schwer getroffenen Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen so einzulassen, dass sich die Betroffenen sicher, gut aufgehoben und verlässlich in ihrer Not begleitet und unterstützt fühlen könnten. Die Abwehr ist groß: „Das kann ich nicht“, „Das soll ich auch noch leisten – nein!“, „Was mache ich, wenn der/die immer mehr von mir will?“ sind nur einige der Bedenken, die viele Profis haben, sich mit traumatisierten Menschen zu beschäftigen. Andere Vorbehalte betreffen die eigene Psychohygiene: „Das verkrafte ich nicht“, „Ich habe selbst kleine Kinder“, „Ich kann dann bestimmt nicht mehr schlafen“ etc. Je mehr Furcht und Abwehr bei Professionellen im Sozial- und Gesundheitswesen vorhanden sind, desto eher werden traumatisierte Menschen abgewimmelt, entmutigt, sich Hilfe zu holen, abgewiesen, entwertet, beschuldigt und anderweitig schlecht behandelt.

Dieses Buch ist eine einzige Ermutigung: Doch, trauen Sie sich ruhig mehr zu, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie sind doch in Ihren helfenden Beruf gegangen, weil Sie Menschen unterstützen und fördern möchten und weil Sie über die Fähigkeit zu Empathie, also zu Mitgefühl, verfügen. Nun kommen immer mehr Menschen mit Ihnen in Kontakt, die schon einmal etwas von dem Wort „Trauma“ gehört haben. Menschen, die gezielt nach Hilfe suchen, weil sie selbst sich nicht allein helfen können. Sie brauchen jemanden an ihrer Seite, um sich letztlich dann größtenteils selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen zu können. Sie brauchen – Sie. Ja, traumatisierte Menschen können anstrengend sein. Es geht ihnen oft, und manchen immer wieder und über lange Zeit, überhaupt nicht gut. Sie sind auch nicht immer gleich dankbar, sondern es dauert, bis sie bemerken, dass Ihr Verhalten – sicher, verlässlich, ruhig und (meist) wissend, was Sie tun, an ihrer Seite stehend – ihnen wirklich und merklich weiterhilft. Die meisten traumatisierten Menschen, denen ich im Laufe meines Lebens begegnet bin, waren allerdings außerordentlich dankbar, und zwar auf eine berührende Weise. Immer dann nämlich, wenn sie erst auf der Beziehung zu mir „herumgehüpft“ waren („Die wird mich doch auch verlassen, das kommt bestimmt noch!“ – „Wenn ich ihr jetzt aber meine wirklich böse Seite zeige, dann jagt sie mich bestimmt davon!“ – „Wenn ich ihr sage, was mein tiefstes Geheimnis ist, kann sie mich gewiss nicht mehr leiden“ etc.) und erlebten, dass ich einfach nicht zu „vertreiben“ war, sondern ausgehalten habe und geblieben bin –, dann wurde so gut wie immer ein Punkt erreicht, an dem sie begannen, sich ganz allmählich so weit zu entspannen, dass sie Vertrauen – ein sehr zartes Pflänzchen, besonders bei Gewaltüberlebenden! – entwickeln konnten. Und aus der Erfahrung, verlässlich begleitet und unterstützt zu werden, sozusagen „in guten und in schlechten Tagen“, wuchs in ihnen mehr und mehr die Fähigkeit, sich selbst mehr zuzutrauen, ihre kleinen, verzagten, „hässlichen“, „bösen“, „gemeinen“ Seiten anzuschauen, ihre Abgründe auszuloten und dafür zu sorgen, dass sie nicht weiter verletzt wurden. Dann kamen auch ihre kreativen Seiten immer stärker zum Zug: ihr Humor, ihre Klugheit (so viele Klientinnen sind ja in vielen Bereichen viel klüger als ihre professionellen Begleiter, und es wird ihnen guttun, das auch – nicht nur heimlich! – bemerken zu dürfen!), ihre Wertschätzung für die vielen Überlebensstrategien, die sie schon entwickelt haben, und das Verändern von destruktiven in konstruktive Bewältigungsmuster. Es freut mich immer ganz besonders, wenn gegen Ende einer solchen abenteuerlichen und intensiven professionellen Beziehungsarbeit die Erkenntnis der Klienten und Klientinnen steht: „Eigentlich habe ich das selbst gemacht, das hat sich alles von allein so gut entwickelt“, wenn neben dem Gefühl, dass da etwas organisch gewachsen ist, eine tiefe Freude über und Dankbarkeit für diese gemeinsame Arbeit entsteht und damit auch für alles das, was sie da unterwegs „bekommen“ haben. Apropos bekommen: Kann es überhaupt etwas Schöneres auf der Welt geben für eine „Menschenarbeiterin“, als zu spüren: „Das, was ich da mache, ist zutiefst sinnvoll – und es wirkt!“? Also: Lesen Sie dieses Buch. Schmökern Sie darin, bleiben Sie irgendwo hängen, denken Sie darüber nach, probieren Sie etwas aus, nehmen Sie es wieder zur Hand, gehen Sie in Fortbildungen, holen Sie sich Supervision, lesen Sie wieder mal hier und da nach – und leben Sie einfach mit diesem Buch. Es wird Ihnen guttun. Ach ja – und empfehlen Sie es weiter, damit es viele Leser und Leserinnen findet, denn genau das ist diesem Buch zutiefst zu wünschen.

Gordola/Tessin, im Mai 2012 Michaela Huber

Einleitung

Keine Katze mit sieben Leben, keine Eidechse und kein Seestern, denen das verlorene Glied nachwächst, kein zerschnittener Wurm ist so zäh wie der Mensch, den man in die Sonne von Liebe und Hoffnung legt. Mit den Brandmalen auf seinem Körper und den Narben der Wunden verblasst ihm die Angst. Sein entlaubter Freudenbaumtreibt neue Knospen, selbst die Rinde des Vertrauens wächst langsam nach.

(aus dem Gedicht „Wen es trifft“ von Hilde Domin)

Traumata können jeden treffen. Auswirkungen und Langzeitfolgen hängen von vielfältigen Faktoren ab, u.a. von der überwältigenden Wucht und von der individuellen Widerstandskraft (Resilienz) – aber auch davon, ob mitfühlende Menschen helfend und tröstend lange genug und taktvoll zur Seite stehen.

Menschen, die schon in ihrer Kindheit anhaltende Traumatisierung erlebten, brauchen oft mehr, als wir in herkömmlichen Ausbildungen als Psychotherapeuten, Pflegepersonal, Sozialpädagoginnen und in anderen helfenden Berufen gelernt haben. Ihr Leid – und oft die Hilflosigkeit der Helfer – machten klar, dass keine Therapiemethode für sich allein ausreichend war, und ließen nach neuen Wegen suchen. So, wie zur Heilung von Traumafolgen die dissoziiert gespeicherten Fragmente von Traumata wieder zusammengefügt werden müssen, so ist dazu auch eine Integration verschiedener Therapie- und Hilfsansätze erforderlich. Inzwischen gibt es dank vieler kreativer Therapeuten, Helfer und Forscherinnen eine Fülle hilfreicher traumaspezifischer Literatur und Therapieansätze und viele traumaspezifische Fortbildungen – meist jedoch nur für approbierte Therapeutinnen. Letztlich sind all die kreativen neuen Ansätze auch auf dem Boden der enormen Ressourcen und kreativen Bewältigungskräfte der Betroffenen entstanden, deren Selbstheilungspotenzial damit in den Fokus rückt und gewürdigt wird.

Wir erlebten als langjährig mit traumatisierten Klientinnen arbeitende Therapeuten und Sozialpädagoginnen, wie hilfreich traumaspezifisches Wissen, Haltung und Vorgehen sind – und wie gut dies für alle helfenden Berufsgruppen und Einrichtungen wäre, die mit komplex traumatisierten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu tun haben. Dies betrifft alle psychiatrischen Stationen – nicht ausschließlich Spezialstationen. Ebenso organmedizinische Stationen und Praxen und sozialpsychiatrische Einrichtungen, Einrichtungen der Jugendhilfe, der Wohnungslosenhilfe, der Behindertenhilfe, Beratungsstellen, die Justiz, JVAs usw. Und auch viele Berufsgruppen wie Gesundheits- und Krankenpflegerinnen, Sozialarbeiterinnen/-pädagogen, Lehrerinnen, Seelsorger, Hebammen usw. Diese Liste ließe sich in Bereiche ausweiten, an die wir momentan noch gar nicht denken. Durch Teilnehmerinnen unserer Fortbildungen werden wir immer wieder auf neue Berufsfelder aufmerksam, für die traumazentriertes Wissen hilfreich ist.

Wir begannen deshalb vor Jahren, unser Wissen und unsere langjährige Erfahrung in Kursen weiterzugeben, und bieten – neben weiteren traumaspezifischen Fortbildungen und Supervision – ein von der DeGPT und BAG/TP zertifiziertes Curriculum „Traumafachberatung und Traumapädagogik“ für therapeutische wie nichttherapeutische helfende Berufsgruppen an (www.trauma-institut.net).

Dieses Buch soll ein umfassendes Handbuch zu Theorie und Praxis sein. Es soll für Therapeuten, Beraterinnen und Pädagogen für ihre professionelle Haltung und ihre Interventionsangebote und damit für ihre Klientinnen, die unter den Folgen von Traumata leiden, hilfreich sein. Da man nur verstehen und verändern kann, worüber man etwas weiß – „die Brille bestimmt, was wir sehen können“ –, erschien uns auch ein umfassender aktueller Überblick zu theoretischen Hintergründen wichtig. Dieser kann natürlich nie vollständig sein. Vielleicht sieht manches in zehn Jahren durch eine neue Brille wieder ganz anders aus. Wir haben an Theorie ausgewählt, was uns als Verständnisgrundlage für die praktische Arbeit wichtig erschien, zumal es für Beraterinnen dazu noch keine umfassende Literatur gibt.

Das Buch soll sowohl eine Zusammenfassung der wichtigsten traumaspezifischen Themen wie Traumafolgen und -diagnostik, Neurobiologie, dissoziative Störungen, Phasen der Traumatherapie und Behandlungsmethoden bieten als auch eine praxisnahe Hilfe sein für stabilisierende traumaspezifische Arbeit in den verschiedenen beratenden und therapeutischen Kontexten.

Viele Menschen – und damit auch wir Helferinnen und Helfer – haben seelische Verletzungen erlebt. Ideale Eltern gibt es nicht. Denn auch sie hatten ihre Geschichte und waren einst Kinder, deren Seele – auch unbeabsichtigt und schicksalhaft – verletzt wurde, sodass sie sich vor diesem Schmerz schützen mussten und vielleicht für den ihrer Kinder nicht mehr offen genug sein konnten. Auch wir machen aus Überforderung, Erschöpfung und manchmal aus Unwissenheit und Unachtsamkeit Fehler. Aber es ist ein großer Unterschied, ob Bezugspersonen sich zugleich liebevoll fürsorglich bemühen, unbeabsichtigte Verletzungen bedauern und die Verantwortung klar übernehmen. Ob also ein Kind zugleich auch liebevoll betreut und getröstet wird – oder aber ob es gravierend vernachlässigt, geschlagen oder sexuell übergriffig behandelt wurde, ihm selbst auch noch die Schuld daran eingeredet wurde und es damit „mutterseelenallein“ war – wie viele unserer Klientinnen und Klienten. Auch dies hat oft eine generationenübergreifende Dynamik. Viele Helfer haben mit dysfunktionalen Familien zu tun, in denen sich eine solche transgenerationale Traumaweitergabe folgenschwer auswirkt.

Zunehmend kommen Klientinnen aus Krisengebieten, haben Hunger, Mangel, Krieg und Flucht erlebt. Sie kommen aus Kulturen, deren Regeln und Gesetze bei uns nicht gelten und die wir oft nicht leicht verstehen können. Auch hier sind spezifisches und traumasensibles Wissen und Vorgehen notwendig.

In der Kindheit komplex traumatisierte Menschen haben oft sehr destruktive Botschaften aufgenommen, unter deren Bann sie noch als Erwachsene stehen. Statt als kostbares Geschenk erleben sie sich als ungewollte Last und schuldig, als müssten sie ihre Existenzberechtigung erst verdienen. Als heilsames „Gegengift“ ist eine beharrlich lösungs- und ressourcenorientierte Sicht wichtig, ein Zutrauen und eine Haltung, dass die Klienten selbst alle notwendigen Selbstheilungskräfte in sich tragen, diese „nur“ geduldig gesucht, gewürdigt und reaktiviert werden müssen. Durch Üben kann auch neurobiologisch ein Gegengewicht aufgebaut werden zu den „Traumanetzwerken“, die viel leichter – nämlich durch Triggerreize reflexhaft – aktiviert werden. Entlastendes Wissen und Üben hilft den Betroffenen sehr. Vor allem aber muss es eingebettet sein in ein heilsames beratendes oder therapeutisches Beziehungsangebot. Und das stellt hohe Anforderungen an die Helfer. Ohne entsprechende Ausbildung und Supervision trägt die Wucht der traumaassoziierten Gefühle und Probleme sonst leicht zum Entgleisen oder gar Scheitern der Hilfsmaßnahme und oft – wenn auch unbeabsichtigt – zu einer Retraumatisierung bei.

Hier war Luise Reddemann eine unermüdliche Vorkämpferin, die mit der Psychodynamisch-Imaginativen Traumatherapie (PITT) den Boden bereitete für die psychodynamische Traumatherapie im deutschsprachigen Raum, später bestärkt von den Ergebnissen der „Positiven Psychologie“ und durch neurobiologische Forschungsergebnisse.

Als eine der erfahrensten und profiliertesten Pionierinnen der Traumatherapie ist Michaela Huber bekannt, die sich sehr engagiert, humorvoll und unerschrocken für Menschen mit komplexen posttraumatischen und schweren dissoziativen Störungen therapeutisch wie auch politisch einsetzt. Ihre Bücher zu Traumafolgen und -behandlung (Huber 2003a, 2003b) sind für Traumatherapeuten heute Standardliteratur. Sie brachte bereits 1995 mit dem Buch Multiple Persönlichkeiten ihr umfassendes Wissen zu Hintergründen, Umgang und Behandlung von Menschen mit schweren dissoziativen Störungen nach extremen Gewalterfahrungen in der Kindheit ins öffentliche und therapeutische Bewusstsein.

Luise Reddemann und Michaela Huber haben uns „angesteckt“ und für die Traumatherapie begeistert. Wir verdanken ihnen zudem viel wertschätzende Unterstützung.

Viele weitere erfahrene und bekannte Traumatherapeutinnen entwickelten kreativ eigene Strategien auf der Basis der jeweils neuen wissenschaftlichen und klinischen Erkenntnisse und der bereits andernorts entwickelten und bewährten Ansätze. Die Entwicklung schreitet rasant voran, gute Ideen sprießen wie Frühlingsblumen oft vielerorts gleichzeitig, wenn die Zeit reif dafür ist. So ist es gar nicht mehr möglich, die heute anerkannten traumatherapeutischen Grundsätze jeweils nur einem bestimmten Autor zuzuordnen.

Einen Paradigmenwechsel in der Psychotherapie scheint aktuell das Prinzip „Achtsamkeit“ – ursprünglich aus der buddhistischen Tradition – zu bewirken. In der Traumatherapie ist es unentbehrlich und wurde von Anfang an integriert. Erst der beobachtende Abstand ermöglicht Distanzierung von überflutenden Traumainhalten und eine schonende Traumakonfrontation. Es geht aber um viel mehr als Abstand. Achtsamkeit kann ermöglichen, ein Fundament an Selbstfürsorge und Halt in sich selbst aufzubauen oder wiederzuentdecken und „trotz allem“ wieder eine Wahl zu haben – und vielleicht sogar inneren Frieden zu finden.

Heute weiß man – wir glauben in unserer wissenschaftsgläubigen Welt etwas ja oft erst, wenn es durch wissenschaftliche Studien belegt wurde –, dass sich z.B. durch langjährige Meditationspraxis präfrontale Hirnareale strukturell verändern, die mehr Gelassenheit, Abstand und Mitgefühl ermöglichen. Achtsamkeitsbasierte Techniken sind sowohl die Basis vieler hilfreicher traumatherapeutischer Übungen und der Reorientierung in der Gegenwart bei dissoziativen Störungen als auch zentrale Elemente z.B. in der DBT (Dialektisch-Behaviorale Therapie nach M. Linehan) oder der MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction nach Jon Kabat-Zinn).

Doch berichten auch in ihrer Kindheit schwer traumatisierte Klientinnen, die keine oder kaum Beziehungserfahrungen von Fürsorge und Trost erlebten und erinnerten, nie meditierten und nicht religiös waren oder erzogen wurden, bisweilen von einer spontan in sich selbst entwickelten imaginativen Welt, in der sie diese tiefere Ebene von Halt und Eingebundensein in etwas Höherem erlebten, „aus dem man nicht herausfallen kann“. Vielleicht entsprechen diese Kräfte dem kollektiven Unbewussten und archetypischen Weisheiten. Vielleicht haben wir sie deshalb in uns, wenn auch mitunter tief verborgen, weil wir alle irgendwann die Erfahrung von Eingebettetsein und Geborgenheit gemacht haben, zumindest im Sinne des Einnistens in der Gebärmutter und des Genährtwerdens durch die Plazenta (Hüther & Krens, 2005; Reddemann, 2004a, 6. Auflage 2011). Vielleicht wird das alles auch irgendwann messbare wissenschaftliche Erkenntnis sein. Auf jeden Fall ist es wunderbar, dass Menschenkinder in sich Selbstheilungskräfte haben, die dem bewussten Ich oft nicht verfügbar waren und dennoch in der Not rettend auftauchten.

Heilung geschieht nicht durch uns Therapeutinnen und Berater, wir helfen allenfalls, einen inneren Prozess wieder anzustoßen, damit etwas in der Kindheit Vernachlässigtes nachreifen kann und das, was unter der Wucht des Traumas als Selbstschutz auseinandergerissen wurde, wieder „heile wachsen“ kann (Huber, 2011). Das achtsame Pendeln zwischen Ressourcen und Traumanetzwerken fördert dieses heilsame Verknüpfen und wird heute als die Basis der Traumaintegration verstanden.

Zurück zu diesem Buch:

Die Verbreitung traumaspezifischen Wissens und Fertigkeiten in den helfenden Berufsgruppen ist uns schon seit Jahren ein zentrales Anliegen. In unseren Kursen waren die Teilnehmerinnen immer wieder dankbar für ausreichende theoretische „Unterfütterung“, aber auch für viele praxisnahe Tipps, Übungsmöglichkeiten – und für Wiederholungen. Das Buch gibt daher zum einen eine Zusammenfassung der aktuellen Theorien der Psychotraumatologie, zum anderen war uns aber besonders wichtig, dass es als Handbuch viel praxisnahes Wissen zu traumaspezifischen Behandlungs- und Beratungsthemen vermittelt.

Dieses Buch wäre aber nie entstanden ohne die fruchtbaren Diskussionen und den Erfahrungsaustausch mit den vielen Kursteilnehmern, ihre Fragen und Anregungen, ihre vielfältigen beruflichen und persönlichen Hintergründe sowie unser aller Bereitschaft, unser Wissen und Handeln immer wieder neu infrage zu stellen.

Die einzelnen Kapitel sollen auch jedes für sich lesbar sein, deshalb wiederholt und überlappt sich manches: Die Wiederholung kann zugleich dem besseren Verständnis komplexer Inhalte wie dem „Einmassieren“ bzw. Aufbau neuer Lernnetzwerke dienen.

Das Kapitel über PITT findet sich – abgeschlossen lesbar – im Buchteil D: Traumaspezifische Behandlungsverfahren. Die Inhalte besonders der Stabilisierungsphase und der Ego-State-Arbeit können Sie aber ausführlicher auch in den jeweiligen Kapiteln finden. Ebenso überlappen sich naturgemäß die Kapitel über Ego-State-Arbeit mit der Beschreibung der Behandlung dissoziativer Störungen und der Theorie der Strukturellen Dissoziation inhaltlich weitgehend.

Das Buch wurde von klinischen Praktikerinnen für Praktiker geschrieben, aber wir wünschen uns, dass auch Klientinnen und Laien es lesen und davon profitieren.

Wir haben uns entschieden, den Genderaspekt zu berücksichtigen, indem wir gelegentlich beide Formen, im Wesentlichen jedoch im Wechsel die männliche und weibliche Form benutzen.

Wir haben uns bemüht, Literaturquellen so sorgfältig wie möglich zu zitieren, aber da wir vieles schon seit Jahren in unseren Fortbildungen vorgetragen und inzwischen von so vielen Seiten aus bedacht haben, ist die genaue Quelle allen Wissens, das in dieses Buch einfloss, nicht mehr immer nachzuvollziehen. Wir bitten dafür um Nachsicht.

„Jetzt weiß ich, dass es einen guten Sinn hatte, dass sich mein Licht in so viele Splitter aufteilte, und ich bin allem in mir dankbar, weil es mir damit zu überleben half und dabei, dass mein Kern trotz allem immer heil geblieben ist.“

(Zitat einer Überlebenden gegen Ende einer langen Traumatherapie)

A. THEORETISCHE GRUNDLAGEN DER PSYCHOTRAUMATOLOGIE

1. Geschichte der Psychotraumatologie

Die Betrachtung psychischer Traumata hat in ihrer Bedeutung im Laufe der Geschichte immer wieder zu- und abgenommen. Schon vor vielen Tausend Jahren haben Menschen gewusst, dass die Konfrontation mit überwältigendem Schrecken zu störenden Erinnerungen, Erregungszuständen oder Vermeidung führen kann. Psychiatrie und Psychologie hatten dagegen lange Zeit sehr unterschiedliche Ansichten darüber, welchen Einfluss dramatische Lebensereignisse auf die Physis und Psyche des Menschen haben können. Frühe Aufzeichnungen von Großbränden oder Kutschenunfällen berichteten von Reaktionen, die man heute der posttraumatischen Belastungsstörung zuordnen würde. Zu Anfang der Diskussionen über Traumata standen die Fragen: „Ist das Trauma organischen oder psychischen Ursprungs?“ und „Sind die Folgen eine Simulation oder echt?“

Mit fortschreitender Industrialisierung wurde die Eisenbahn zu einem immer bedeutsameren Transportmittel. In der Folge kam es zu mehreren schweren Unfällen mit zahlreichen Toten und Verletzten. 1867 wurde Eric Erichsen, ein berühmter englischer Chirurg, zum Erstbeschreiber der posttraumatischen Belastungsstörung. Die mit dem „Railway Spine Syndrome“ verbundenen Symptome wie Angst, Schlafstörungen, Albträume, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie eine Vielzahl somatischer Erscheinungen erklärte er als Folge einer Rückenmarksschädigung durch die unfallbedingte Erschütterung. In Deutschland war 1884 die gesetzliche Unfallversicherung eingeführt worden, und erste Patienten wurden als Unfallopfer begutachtet. Zwei Jahre später schrieb der deutsche Neurologe Hermann Oppenheim in seiner Habilitationsschrift über die Bedeutung des Schrecks für die Nervenkrankheiten, in der das seelische Erleben als auslösendes Moment von Traumafolgestörungen anerkannt wurde. Oppenheim benutzte als Erster den Begriff „traumatische Neurose“ (Oppenheim, 1889). Sein Konzept stieß jedoch auf große Ablehnung, da er die Entschädigungspflicht bei Unfällen anerkannte.

Die Beschäftigung mit Kindesmisshandlung und sexualisierter Gewalt gegen Kinder begann in Frankreich. Ambroise Tardieu, Professor für Rechtsmedizin an der Pariser Universität, belegte in seinem Werk, dass in Frankreich zwischen den Jahren 1858 und 1869 11.576 Menschen wegen Vergewaltigung oder versuchter Vergewaltigung angeklagt worden waren, davon nicht weniger als 9125 wegen solcher Delikte an Kindern, fast immer Mädchen (Tardieu, 1878). Zugleich entstand eine intensive Diskussion, inwieweit die Aussagen junger Mädchen glaubhaft oder erlogen seien. Man nahm an, diese Kinder hätten ihre Eltern fälschlicherweise des Inzests beschuldigt. Ähnliche Reaktionen traten auf, als die ersten systematischen Untersuchungen der Beziehung zwischen Trauma und psychiatrischer Erkrankung an der „Salpetrière“ in Paris durchgeführt wurden. Der Neurologe Jean-Martin Charcot beschrieb als Erster, dass hysterische Anfälle dissoziative Zustände, also das Ergebnis erlebter unerträglicher Erlebnisse, darstellten. Dadurch wurde Pierre Janet inspiriert, das Phänomen der Dissoziation für die Bewältigung traumatischer Erfahrungen zu untersuchen (Janet, 1889). Sein wichtigster Verdienst war zu erklären, wie traumatische Erfahrungen als abgespaltene Anteile der Persönlichkeit im Unterbewusstsein überdauern, sich dem Bewusstsein über lange Jahre entziehen und zu Auslösern für spätere Erkrankungen werden können. Seine heute wieder sehr aktuellen Theorien gerieten jedoch jahrzehntelang in Vergessenheit. Andere Forscher richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Rolle der Suggestibilität bei der Hysterie, sodass bald ein größeres Interesse an der Behandlung der Simulation bestand als an der Linderung der traumatischen Erinnerungen der Patienten. Stattdessen kam es zu einer Umwertung der Aussagen von Frauen, die über früheren sexuellen Missbrauch berichtet hatten, und es wurde behauptet, es handele sich um eine „Pseudologia phantastica auf hysterisch-degenerativer Grundlage“, um eine kindliche Lügensucht oder um „genitale Halluzinationen“.

Auch Sigmund Freud hatte Charcot zu einem Studienaufenthalt in Paris besucht und war mit dessen Sichtweisen und Behandlungsformen der Hysterie konfrontiert worden. Zurück in Wien begann Freud zusammen mit Josef Breuer seine Studien zur Entstehungsgeschichte hysterischer Störungen. 1896 hielt er einen Vortrag „Zur Ätiologie der Hysterie“, in dem er die Hysterie als Folge sexueller Traumatisierungen verstand: „Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich – durch die analytische Arbeit reproduzierbar trotz des Dezennien umfassenden Zeitintervalls – ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören“ (Freud, 1952). Die Reaktion der Kollegenschaft war jedoch vernichtend und führte rasch zu Freuds fachlicher und gesellschaftlicher Ächtung, sodass er bereits ein Jahr später seine Aussage widerrief und die Ausarbeitung seiner Theorien zur infantilen Sexualentwicklung und zum Ödipuskomplex begann. Die Folge war, dass den Aussagen missbrauchter Mädchen und Frauen nicht mehr geglaubt wurde und schließlich Karl Abraham 1907 schreiben konnte: „… dass in einer großen Anzahl von Fällen das Erleiden des sexuellen Traumas vom Unbewussten des Kindes gewollt wird, dass wir darin eine Form infantiler Sexualbetätigung zu erblicken haben“ (Abraham, 1907, S. 166). Damit war schließlich das Opfer zur Täterin geworden, und es dauerte noch viele Jahrzehnte, bis das Trauma des sexuellen Kindesmissbrauchs sowohl in der psychoanalytischen Vereinigung wie auch gesamtgesellschaftlich anders betrachtet werden konnte.

Der Erste Weltkrieg brachte eine neue Form der traumatischen Neurose hervor, die als Granatenschock („shell shock“) oder Schützengrabenneurose bezeichnet wurde. Der Stellungskrieg im Schützengraben, bei dem die Soldaten kaum Möglichkeiten zu Kampf oder Flucht hatten, war schließlich prädestinierend für die Entwicklung von Traumata. Nachdem jedoch bereits bei der Behandlung der Hysterie mehr die Behandlung der Simulation im Vordergrund stand, geriet auch die Behandlung von Kriegs-Syndromen eher zu einem Kampf gegen die Simulation. Aus dem Krieg heimgekehrte traumatisierte Patienten wurden als Rentenneurotiker abqualifiziert. Man behauptete, bei Kriegsneurosen handele es sich um „abnorme Reaktionen minderwertiger oder vorbelasteter Personen“. Man bezeichnete Unfallneurosen als „Wunschreaktionen ohne Krankheitswert“, und die erkrankten Soldaten galten als moralische Invaliden, als konstitutionell minderwertig oder als Feiglinge. Die gesellschaftliche und medizinische Reaktion auf die Schrecken des Krieges war also eindeutig verleugnend.

Neue Impulse zur Beschäftigung mit Traumafolgen kamen bereits während des Zweiten Weltkriegs aus Amerika. Abram Kardiner fasste die Ergebnisse der Arbeit mit Kriegsveteranen schon 1941 im Buch The Traumatic Neuroses of War zusammen. Er interpretierte die Folgen der Kriegsneurosen als eine Überforderung der individuellen Anpassungsfähigkeit an die Kriegserfahrungen. So kam es zu einer Wiederauferstehung des Konzepts der traumatischen Neurose. In den USA wurden mehrere Konferenzen und Symposien zur Erforschung der Folgen des Holocaust sowie des Atombombenabwurfs über Japan ausgerichtet, und es zeigte sich, welche erstaunlichen Ähnlichkeiten in der Psychopathologie zwischen den Holocaust-Opfern und den Opfern des Atombombenabwurfs von Hiroshima bestanden. Dadurch festigte sich immer mehr die Überzeugung, dass massive seelische Traumatisierungen zu deutlichen und oft anhaltenden Symptombildungen sowie Persönlichkeitsveränderungen führen. In Deutschland wurde, auch aus finanziellen Gründen wegen des Wiedergutmachungsgesetzes, über viele Jahre hinweg die Haltung vertreten, dass konstitutionell gesunde und normale Menschen jede psychische Belastung verkraften können, ohne dadurch dauerhaft geschädigt zu werden. So konnte Kurt Schneider, auf den über mehrere Jahrzehnte wesentliche Sichtweisen psychischer Erkrankungen zurückgingen, formulieren, dass schwere seelische Erschütterungen und Belastungen zwar vorübergehend abnorme Erlebnisreaktionen hervorrufen, die aber einige Zeit nach dem Vorfall der Belastung abklängen. Hielten diese Symptombildungen an, so müsste man von einer psychopathischen Konstitution ausgehen. 1964 schließlich stellte der Psychoanalytiker Kurt Eissler die Frage: „Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muss ein Mensch symptomfrei ertragen, um eine normale Konstitution zu haben?“

Der Vietnamkrieg mit seinen Folgen verhalf dann der Psychotraumatologie zu einem Durchbruch. Nach dessen Ende kehrten circa eine Million Veteranen mit Tapferkeitsmedaillen ausgezeichnet aus dem Krieg zurück, die zumindest zeitweise unter massiven posttraumatischen Belastungsstörungen litten. Parallel dazu gelang es der Frauenbewegung, die immer mehr gesellschaftlichen Einfluss bekam, das Thema der körperlichen und sexuellen Gewalt gegen Frauen endlich aus der gesellschaftlichen Tabuisierung zu befreien. Judith Herman beschrieb mit ihrem Buch Die Narben der Gewalt (1993) sehr detailliert die Folgen früher Vernachlässigung und sexueller Gewalterfahrung. Nachdem es jedoch in der bisherigen Geschichte der Traumatologie immer zu einer Dialektik zwischen Beschäftigung mit dem Trauma und Abkehr davon gekommen war, wurde bereits im gleichen Jahr die „False Memory Syndrom Foundation“ gegründet. Gleichwohl rückte das Problemfeld der innerfamiliären Gewalt immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Judith Herman resümierte: „Die Hysterie ist die Kriegs-Neurose des Geschlechterkampfes“ (1993/2003, S. 50). Auch der Psychoanalytiker Leonard Shengold (1979) zog die Parallele zwischen Holocaust und Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit, indem er, wie schon andere Autoren vor ihm, deren Auswirkungen als „Seelenmord“ bezeichnete. Parallel entwickelte sich vor allem in den USA die Beschäftigung mit der „Multiplen Persönlichkeitsstörung“, die schließlich in der Diagnose der Dissoziativen Identitätsstörung ihren Niederschlag im DSM fand. 1980 wurde mit der Posttraumatic Stress Disorder die Aufnahme einer neuen traumaspezifischen Diagnose in das Diagnosemanual DSM-III-R eingeführt. Bereits in dieser Namensgebung findet sich anders als in der deutschen Bezeichnung „posttraumatische Belastungsstörung“ die Erkenntnis, dass traumatisierte Menschen unter erheblichem innerem Stress leiden.

Zwölf Jahre später erfolgte schließlich auch im ICD-10 die Möglichkeit der Diagnosestellung einer Traumastörung unter der Diagnose posttraumatische Belastungsstörung. In der BRD benötigte man über 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, um sich mit dem Traumathema und der Erforschung von Traumafolgestörungen wissenschaftlich zu beschäftigen. Dies zeigt, wie schwer es ist, besonders kollektive traumatische Erlebnisse bewusst wahrzunehmen, anzunehmen und aufzuarbeiten. Traumata, und das wird in diesem Buch noch häufiger erwähnt werden, unterliegen häufig einer Sprachlosigkeit, der Tendenz des Vergessens sowie einem Zwang der Wiederholung anstelle eines heilsamen Erinnerns.

Das Konzept der dissoziativen Störung geriet, wie beschrieben, lange Zeit in Vergessenheit und gewann erst durch veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen sowie neue Erkenntnisse wieder an Bedeutung. Janet erkannte vor nun schon über 120 Jahren, dass die unter traumatischen Bedingungen gemachten Erfahrungen nicht in den vorhandenen Erfahrungsschatz des Individuums integriert werden können, sondern anders im Gedächtnis abgespeichert werden. Diese Erfahrungen werden in dissoziierter und fragmentierter Form abgespeichert und sind dadurch der willentlichen Kontrolle und Beeinflussbarkeit entzogen. Sie wirken jedoch eigendynamisch weiter und zeigten sich zu Janets Zeit als sogenannte hysterische Symptome. Das Konzept der Dissoziation verlor ab circa 1910 seine Erklärungskraft, so u.a. durch die Einführung des Schizophreniebegriffs sowie durch die Dominanz psychoanalytischer Erklärungsbemühungen mit dem Fokus auf triebbedingten, konflikthaften intrapsychischen Prozessen anstelle real traumatischen Erfahrungen. Erst in den 1970er-Jahren wurde das Konzept der dissoziativen Störung wiederentdeckt, sowohl unter der Anerkennung der epidemiologischen und klinischen Bedeutung kindlicher Traumatisierungen wie der klinischen Relevanz von traumatischem Stress bei Kriegsveteranen des Vietnamkriegs. Obwohl beide Opfergruppen sehr unterschiedlich sind, zeigen sie übereinstimmend, dass spezifische psychische und körperliche Beschwerden wie Gedächtnislücken oder Entfremdungserleben als Folgen traumatischer Erlebnisse verstanden werden können. Ebenfalls bedeutsam für die Wiederentdeckung des Konzepts der dissoziativen Störung war die Veröffentlichung des Buches von Henri F. Ellenberger Die Entdeckung des Unbewussten im Jahr 1970, in dem die zentrale Bedeutung von Pierre Janet bei der Entwicklung der dynamischen Psychiatrie genau herausgearbeitet und sein Dissoziationskonzept gewürdigt wird. Auch die Popularisierung der multiplen Persönlichkeit über die Medien sowie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit experimentellen wie auch therapeutischen Ansätzen zur multiplen Persönlichkeitsstörung ließen das Konzept der dissoziativen Störungen weiter in den Fokus der Aufmerksamkeit kommen. Auch heute noch ist das Konstrukt der Dissoziation nicht immer klar begrifflich erfassbar, und es gibt mindestens drei verschiedene Bedeutungsfelder der Dissoziation (Cardena, 1994):

Dissoziation als nicht bewusste oder nicht integrierte mentale Module oder Systeme.

Dissoziation als verändertes Bewusstsein mit einer Entfremdung von Selbst und Umwelt.

Dissoziation als Abwehrmechanismus.

Vor einigen Jahren hat nun die Arbeitsgruppe um van der Hart und Nijenhuis mit der Theorie der Strukturellen Dissoziation eine für die Psychotraumatologie wichtige aktuelle Konzeption des Dissoziationsbegriffs vorgelegt (van der Hart et al., 2008; siehe auch Kap. A.8).

In Deutschland wurde die Erforschung traumatischer Erfahrungen ebenfalls durch ein Eisenbahnunglück stark beeinflusst, der Eschede-Katastrophe im Jahr 1998, als ein voll besetzter ICE-Zug entgleiste und 101 Menschen ihr Leben verloren. Durch dieses Großereignis kam es in der Folge zu einer deutlichen Zunahme der Betrachtung von traumatischen Ereignissen, sowohl in der Forschung wie auch der Ausbildung von Fachkräften und Traumatherapeuten. So fand 1998 in Köln der erste internationale Traumakongress auf bundesdeutschem Boden statt, und von einigen Vortragenden wurde erwähnt, dass die BRD nun als eines der letzten Länder der modernen Industrienationen sich endlich offiziell dem Traumathema zuwende.

In den letzten Jahren hat es eine Vielfalt von Veröffentlichungen zum Thema Neurobiologie, Stressforschung, Psychotraumatologie und Traumatherapie gegeben. Aufgrund der rasend schnellen Entwicklung und der Erforschung der neurophysiologischen Hintergründe der Traumaentstehung und -verarbeitung entstehen auch immer wieder neue therapeutische und beraterische Ansätze. In diesem Buch soll der aktuelle Wissensstand zu zentralen Themen der Psychotraumatologie dargestellt werden.

2. Traumadefinitionen und Typologie von Traumatisierungen

Traumadefinitionen

1980 wurde im DSM-III auf der Grundlage empirischer Ergebnisse sowohl aus der Forschung an Kriegsveteranen als auch an KZ-Überlebenden die posttraumatische Belastungsstörung (deutsch: PTBS, englisch: PTSD) erstmalig in ein Klassifikationssystem für Erkrankungen aufgenommen. Diese verschiedenen klinischen Beobachtungen, später auch an Opfern sexueller Gewalt vorgenommen, führten zu der Annahme, dass nach dem Erleben von Extremsituationen ein übereinstimmendes Bild von posttraumatischen Belastungsstörungen auftritt. Heute wird die posttraumatische Belastungsstörung in den gebräuchlichen Krankheitsklassifikationssystemen DSM-IV und ICD-10 in einer weitgehend übereinstimmenden Form definiert. Die fünf Hauptkriterien der posttraumatischen Belastungsstörung sind:

A:

Erlebnis eines Traumas (Trauma-, Stressor- oder Ereigniskriterium)

B:

Intrusives Wiedererleben (unwillkürliche und belastende Erinnerungen an das Trauma)

C:

Vermeidungsverhalten und emotionaler Taubheitszustand

D:

Anhaltende physiologische Übererregung (Hyperarousal)

E:

Die Symptome dauern länger als einen Monat

Das letzte Kriterium weist darauf hin, dass die zeitlich unmittelbaren psychischen Folgen nach einem traumatischen Ereignis, die nur kurzfristig andauern, nicht als posttraumatische Belastungsstörung aufgefasst werden. Sie werden stattdessen als akute Belastungsreaktion (ICD-10) oder akute Belastungsstörung (DSM-IV) diagnostiziert.

Gemeinsames Merkmal von ICD und DSM ist die Bezogenheit auf ein auslösendes Ereignis. Gleichzeitig zeigt sich bei den Definitionen durch ICD und DSM die Schwierigkeit, allgemeingültig zu definieren, was genau ein Trauma ausmacht, da Belastungen und Bewältigungsmöglichkeiten sehr unterschiedlich sind. Was für den einen Menschen eine traumatische Extremerfahrung darstellt, kann für den anderen eine Situation sein, für die er ausreichend Bewältigungsstrategien besitzt und sie auch entsprechend anwenden kann. Daher muss zwischen objektiven und subjektiven Bedingungen eines Traumas unterschieden werden. Als objektive Bedingung einer traumatischen Situation wird ein Ereignis bezeichnet, das auch für andere Menschen eine extreme Belastung hervorrufen würde, wie z.B. die Bedrohung mit Waffengewalt. Subjektive Bedingungen einer Traumatisierung beschreiben das Erleben der Person, die auf die Bedrohung mit Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen reagiert.

Entsprechend ist die traumatische Situation im DSM-IV so definiert, dass sowohl das objektive (A1) wie das subjektive Kriterium (A2) erfüllt sein müssen:

„Die Person hat ein traumatisches Ereignis erlebt, das beiden folgenden Bedingungen genügt:

A1) Die Person erlebte oder beobachtete ein oder mehrere Ereignisse, in der eine potenzielle oder reale Todesbedrohung, ernsthafte Verletzung oder eine Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit bei sich oder anderen geschah.

A2) Die Person reagierte mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Schrecken“ (American Psychiatric Association, 2000).

Hier wird also explizit auch das Miterleben einer Bedrohungssituation eines anderen Menschen als objektives Traumakriterium berücksichtigt. Wie stark jedoch ein traumatisches Ereignis auf Zeugen wie Opfer wirkt, hängt stark von deren Vulnerabilität, Persönlichkeit und Vorerfahrungen ab.

Die Definition einer traumatischen Situation nach ICD-10 bezieht die Zeugenschaft jedoch nicht explizit mit ein:

„Die Betroffenen sind einem kurz oder lang anhaltenden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tief greifende Verzweiflung auslösen würde“ (Weltgesundheitsorganisation, 1994, S. 124).

Diese Definition ist wesentlich enger gefasst als im DSM-IV und berücksichtigt nicht das subjektive Erleben in der traumatischen Situation. Auch findet sich im ICD-10 kein Mindestkriterium für die Dauer der Symptome, was die Abgrenzung von der akuten Belastungsreaktion problematisch machen kann. So wird einerseits ein Beginn der Symptomatik innerhalb von sechs Monaten nach dem Belastungsereignis oder nach Ende einer Belastungsperiode gefordert, gleichzeitig wird jedoch auf einen möglichen späteren Beginn hingewiesen. Solche Widersprüche sollen in Zukunft nicht mehr auftreten, da die diagnostischen Kriterien von ICD-11 und DSM-V, die vermutlich 2013 veröffentlicht werden, aufeinander abgestimmt werden sollen. Auch ist geplant, eine Gruppe „trauma- und stressbezogene Störungen“ in die Klassifikationssysteme einzuführen.

Fischer und Riedesser schlagen in ihrem Lehrbuch der Psychotraumatologie (1999) eine Traumadefinition vor, die mehr die subjektiven Bedingungen für die Entwicklung von Traumastörungen in den Vordergrund rückt. So ist für sie Trauma ein „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (Fischer & Riedesser, 1999, S. 79).

ICD und DSM stellen in ihren Traumadefinitionen verstärkt die Bedrohung der körperlichen Integrität in den Vordergrund. Dadurch, so wird von vielen Autoren kritisiert, wird beispielsweise sexuelle Gewalt an Kindern mit ihrer daraus resultierenden körperlichen sowie auch psychischen Schädigung von der Traumadefinition ebenso ausgeschlossen wie der große Bereich der Entwicklungstraumatisierungen. Martin Sack schlägt daher in seinem Buch Schonende Traumatherapie (2010) zusätzlich zu den bisherigen Kriterien eine erweiterte Traumadefinition vor, die die verschiedenen Formen von körperlicher oder seelischer Vernachlässigung und Gewalt in der Kindheit berücksichtigt (Sack, 2010, S. 16):

„Die betroffene Person war Situationen ausgesetzt, in der die folgenden Bedingungen erfüllt waren:

Die Person war in ihrer Kindheit wiederholt Situationen emotionaler oder physischer Vernachlässigung ausgesetzt oder wurde wiederholt vorsätzlich und ohne Grund entwertet, gedemütigt oder angeschrien.

Die betroffene Person reagierte mit starker Angst, Hilflosigkeit und Entsetzen.“

Typologie von Traumatisierungen

Die vielen verschiedenen traumatischen Ereignisse lassen sich nach unterschiedlichen Gesichtspunkten einteilen bzw. typisieren. Bewährt haben sich die Unterscheidungen nach erstens personalen, d.h. menschlich verursachten, und apersonalen oder sogenannten zufälligen Traumen und zweitens nach kurz- (Typ I) versus langfristigen (Typ II) Traumen.

Apersonale oder auch akzidentelle Traumen sind nicht durch Menschen herbeigeführt. Beispiele dafür sind Naturkatastrophen, aber auch technische Katastrophen, Einsatzerlebnisse für bestimmte Berufsgruppen wie Polizei, Feuerwehr oder Militär oder Arbeitsunfälle und Verkehrsunfälle, die zwar von Menschen verursacht, jedoch nicht beabsichtigt wurden.

Personale oder menschlich verursachte Traumen sind dagegen sexuelle Übergriffe, kriminelle bzw. körperliche Gewalt sowie ziviles Gewalterleben, wie z.B. ein Banküberfall, aber auch Folter, Geiselhaft und Kriegseinwirkungen.

Die Einteilung nach Typ-I- bzw. Typ-II-Traumata unterscheidet in plötzlich und überraschend einsetzende (Typ-I) einmalige Traumatisierungen – wie z.B. Naturkatastrophen, schwere Verkehrsunfälle, technische Katastrophen, aber auch kriminelle Gewalttaten wie Überfälle oder Schusswechsel – sowie in Typ-II-Traumata, die länger dauernd und wiederholt stattfanden – wie Geiselhaft, wiederholte Folter, Kriegsgefangenschaft, aber auch sexuelle und körperliche Gewalt/Missbrauch in der Kindheit bzw. im Erwachsenenalter.

Neben den Typ-I- und Typ-II-Traumata wird von Maercker (2009) noch die Kategorie der medizinisch bedingten Traumata vorgeschlagen. In dieser Kategorie werden akute lebensgefährliche Erkrankungen, aber auch chronische lebensbedrohliche/schwerste Krankheiten sowie als notwendig erlebte medizinische Eingriffe bei den sogenannten zufälligen Traumata eingegliedert, während ein komplizierter Behandlungsverlauf nach angenommenem Behandlungsfehler bei den menschlich verursachten Traumata eingeordnet werden soll.

Die Typ-I-Traumata sind meist durch akute Lebensgefahr, Plötzlichkeit und Überraschung gekennzeichnet, während die Typ-II-Traumata durch Serien verschiedener traumatischer Einzelereignisse und durch geringe Vorhersagbarkeit des weiteren traumatischen Geschehens gekennzeichnet sind (Terr, 1989).

Typ-I-Traumata (einmalig/kurzfristig)

Typ-II-Traumata (mehrfach/langfristig)

Medizinisch bedingte Traumata

Akzidentelle Traumata

Schwere Verkehrsunfälle

Berufsbedingte Traumata (z.B. Polizei, Feuerwehr, Rettungskräfte)

Kurz dauernde Katastrophen (z.B. Wirbelsturm, Brand)

Lang dauernde Naturkatastrophen (z.B. Erdbeben, Überschwemmung)

Technische Katastrophen (z.B. Giftgaskatastrophen)

Akute lebensgefährliche Erkrankungen (z.B. kardiale, pulmonale Notfälle)

Chronische lebensbedrohliche/schwerste Krankheiten

(z.B. Malignome, HIV/Aids, Schizophrenie)

Als notwendig erlebte medizinische Eingriffe (z.B. Defibrillationsbehandlung)

Interpersonelle Traumata

(„man made“)

Sexuelle Übergriffe

(z.B. Vergewaltigung)

Kriminelle bzw. körperliche Gewalt

Ziviles Gewalterleben

(z.B. Banküberfall)

Sexuelle und körperliche Gewalt/Missbrauch in der Kindheit bzw. im Erwachsenenalter Kriegserleben

Geiselhaft

Folter, politische Inhaftierung

(z.B. KZ-Haft)

Komplizierter Behandlungsverlauf nach angenommenem Behandlungsfehler*

* Der Status dieser Eingruppierung ist noch Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen (Maercker, 2009, S.15).

Abbildung 1: Schematische Einteilung traumatischer Ereignisse

Ebenso findet der Begriff der Bindungs- und Beziehungstraumatisierung (Wöller, 2006), wie auch in der erweiterten Traumadefinition von Martin Sack vorgeschlagen, seit einigen Jahren Eingang in die Literatur zur Klassifikation von Traumatisierungen. Unter Bindungs- und Beziehungstraumatisierungen werden alle Verhaltensweisen Erwachsener verstanden, die geeignet sind, Kinder und Jugendliche mit psychologischen Mitteln zu schädigen. Dazu gehören u.a. (siehe auch Kap. A.10.4):

emotionale Vernachlässigung,

chronische Entwertung von Kindern und Zuschieben einer Sündenbockrolle,

Behinderung der psychosozialen Entwicklung des Kindes durch Quälen, Isolieren (Abschneiden von Außenkontakten wie Spielkameraden), Terrorisieren (Drohung der Erwachsenen, das Kind zu töten oder zu verlassen) oder Ignorieren des Kindes,

Erleben einer Vielzahl von Trennungen und Verlusten,

Erleben von Gewalt, Gewaltandrohung oder Suiziddrohungen zwischen den Eltern, Erleben von Substanzmittelmissbrauch durch die Eltern,

Missachtung aller elementaren psychischen Bedürfnisse eines Kindes, wie wahrgenommen werden, gehalten werden, beschützt werden und Ähnliches.

Die Formen der Bindungs- und Beziehungstraumatisierung lassen sich nicht klar voneinander trennen und kommen oft in gehäufter und massiver Form vor. Missbräuchliche Handlungen sind meist nur die hervorstechenden Ereignisse in einem problematischen familiären Umfeld mit emotionaler Vernachlässigung, Zurückweisung oder Isolation.

Zwar sind für alle genannten Traumata die gleichen psychischen Symptome beschrieben, wie sie auch in den Hauptkriterien des DSM und ICD dargestellt sind, allerdings hat sich herausgestellt, dass einerseits die willentlich durch Menschen verursachten Traumata und andererseits die zeitlich länger andauernden Typ-II-Traumata häufig zu stärker beeinträchtigenden und chronischeren psychischen Folgen führen als die anderen Formen der Traumatisierung. So gelten Folter, wiederholter Missbrauch oder Vergewaltigung sowie Geiselhaft zu den Ereignissen, die mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zu lang anhaltenden Traumafolgestörungen führen können.

Retraumatisierung

Mit dem Begriff der Retraumatisierung sind Zustände des Betroffenen gemeint, in denen eine erneute Erinnerung an das traumatische Ereignis direkt zu einer Symptombelastung führt (Maercker, 2009). Retraumatisierungen können auch hervorgerufen werden in juristischen oder polizeilichen Kontexten, durch häufige Betrachtung des traumatischen Ereignisses in Filmen sowie durch Medienaktivitäten gegenüber Opfern.

Eine 25-jährige Studentin berichtet, dass sie vor zwei Jahren während einer Wanderung einen Blitzschlag überlebt habe. Nach einer vierteljährlichen Krankenhausbehandlung sowie einer zehnstündigen begleitenden Psychotherapie habe sie sich gut erholt und ihr Studium fortsetzen können. Vor drei Monaten sei es zu einem Blitzschlag während eines Amateur-Fußballspiels gekommen, einige Spieler seien schwer verletzt worden. Der regionale Fernsehsender habe sie ausfindig gemacht, mehrfach kontaktiert und interviewt mit dem Wunsch, sie solle ihre Geschichte im Fernsehen erzählen, damit sich die Zuschauer die Folgen eines solchen Ereignisses besser vorstellen könnten. Durch dieses Drängen seien bei ihr wieder die alten Flashbacks und intrusiven Erinnerungen ausgelöst worden, von denen sie sich nun nicht mehr alleine lösen könne.

Techniken der Traumakonfrontation sind jedoch eindeutig von einer Retraumatisierung zu unterscheiden, da die therapeutische Traumakonfrontation gewollt, geplant und in einem sicheren Setting mit dem Ziel der Verarbeitung des Vergangenen durchgeführt wird. Allerdings können vorschnelle Traumakonfrontationen bei nicht ausreichender Stabilisierung zu einer Retraumatisierung führen und den Behandlungserfolg gefährden oder gar zu einer anhaltenden Dekompensation beitragen.

3. Risikofaktoren und posttraumatische Reifung

Ein Trauma bedeutet die Erschütterung der gesamten Persönlichkeit. Unmittelbare Folgen des traumatischen Stresses sind:

nicht mehr wissen, was los ist (Verstörung),

nichts mehr fühlen (wie im Schock),

nichts mehr spüren (emotionale Taubheit),

nichts mehr wahrnehmen oder überflutet werden von Bildern sowie

nichts mehr wissen durch Erinnerungslücken oder den Verlust der räumlichen und zeitlichen Einordnung des Geschehens.

Michaela Huber hat in ihrem Buch Trauma und die Folgen (2003a) sehr eindrücklich die Erschütterungen durch eine Traumatisierung beschrieben. Welche Einflüsse führen nun dazu, dass eine Person nach einem Trauma eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln wird? Metaanalysen bestätigen, dass es bestimmte Risikofaktoren gibt, die bereits vor dem Trauma bestanden haben. So unterscheidet man zwischen Personenmerkmalen sowie Merkmalen des sozioökonomischen Status, die Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit einer posttraumatischen Belastungsstörung haben. Zu den Personenmerkmalen zählen weibliches Geschlecht sowie jüngeres Alter bei der Traumatisierung. Aus epidemiologischen Studien ist bekannt, dass Frauen im Vergleich zu Männern etwa doppelt so häufig eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Frauen sind zwar insgesamt seltener traumatischen Erfahrungen ausgesetzt, dafür aber vermehrt den stark pathogenen Traumaarten wie sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung. 80 bis 90 % aller sexualisierten Gewaltangriffe werden auf Mädchen und Frauen verübt. Weitere Risikofaktoren vor dem traumatischen Ereignis sind niedriger Bildungsstatus und geringes Einkommen sowie geringe Intelligenz und Persönlichkeitseigenschaften wie Introversion oder extrem gehemmtes Verhalten, aber auch schlechte körperliche Gesundheit und frühere psychische Störungen. Auch negative vorherige Lebenserfahrungen – wie Schicksalsschläge, vorangegangener Missbrauch oder Vernachlässigung in der Kindheit, psychiatrische Auffälligkeiten – stellen einen erhöhten Risikofaktor für eine folgende posttraumatische Belastungsstörung dar.

Welche Faktoren machen es nun Menschen besonders schwer, ein Trauma zu integrieren? Michaela Huber hat dazu 15 Faktoren zusammengetragen und beschrieben (Huber, 2003a, S. 75).

Ereignisse, nach denen besonders schwere Traumareaktionen zu erwarten sind:

dauern sehr lange,

wiederholen sich häufig,

lassen das Opfer mit schweren körperlichen Verletzungen zurück,

sind vom Opfer schwerer zu verstehen,

beinhalten zwischenmenschliche Gewalt,

der Täter ist ein nahestehender Mensch,

das Opfer mochte (mag) den Täter,

das Opfer fühlt sich mitschuldig,

die Persönlichkeit ist noch nicht gefestigt oder gestört,

beinhalten sexuelle Gewalt,

beinhalten sadistische Folter,

mehrere Täter haben das Opfer zugerichtet,

das Opfer hatte starke Dissoziationen,

niemand hat dem Opfer unmittelbar danach beigestanden,

niemand hat nach der Tat darüber mit dem Opfer gesprochen.

Die lange Dauer eines Ereignisses oder häufige Wiederholungen machen es potenziell schwerer, das Erlebnis ins Leben zu integrieren.

Eine 29-jährige Studentin kommt in Therapie und berichtet, dass sie vor zehn Jahren im Rahmen einer Feier an einem See eine Vergewaltigung erlebt hat, die sich über insgesamt sieben Stunden erstreckte. Immer wieder war sie aufs Neue von ihrem Peiniger mit einem Messer bedroht, gestochen oder geschlagen worden. Aufgrund der Abgelegenheit des Platzes hatte sie für sich keine Fluchtmöglichkeit gesehen und sich über die lange Zeit hinweg ihrem Vergewaltiger absolut hilflos ausgeliefert und voller Todesangst erlebt – auch aufgrund der Bedrohung mit dem Messer. Bis heute, zehn Jahre nach diesem Erlebnis, habe sie nicht darüber hinwegkommen können, sondern sei in ihrer Erlebnisfähigkeit und Beziehungsfähigkeit absolut eingeschränkt.

Ebenfalls besonders schlimm für das Opfer ist es, wenn ihm nach der Tat niemand beisteht und nicht über die Tat oder das Erlebnis gesprochen werden kann. Besonders gravierende Traumafolgen – nämlich schwere dissoziative Störungen des Selbsterlebens – sind zu erwarten, wenn das Opfer ein Kind ist und Täter die eigenen nahen Bezugspersonen, auf deren Schutz und Fürsorge es angewiesen ist, und niemand ihm beistand.

Eine Klientin berichtete, dass sie ab dem 14. Lebensjahr vom besten Freund ihres Stiefvaters regelmäßig sexuelle Gewalt erlebt hatte. Er hatte sich ihr gegenüber zunächst sehr fürsorglich gezeigt, sich sehr für ihre schulischen Leistungen und ihre Hobbys interessiert und sie dann zu sexuellen Handlungen gezwungen. Nach dem ersten Mal wollte sie sich ihrer Mutter anvertrauen, doch die schimpfte mit ihr und gebot ihr, still zu sein, und behauptete: „Das hast du dir nur ausgedacht, du willst dich nur wichtigmachen. Du willst nur, dass ich mit deinem Stiefvater streite. Du weißt genau, dass es sein bester Freund ist und er das niemals tun würde. Also halt den Mund und erzähl nichts mehr davon.“ Die Patientin gehorchte und verinnerlichte das Verbot. Als es ihr in der Therapie nach vielen Stunden endlich möglich war, den Missbrauch anzusprechen, musste sie sich nach den folgenden Therapiestunden regelmäßig zur Strafe heftig selbst verletzen.

So sind während des Ereignisses erlebte Todesangst oder mentale Selbstaufgabe sowie das Erleben von intensivster Furcht, Hilflosigkeit und Schrecken Merkmale, die die Wahrscheinlichkeit einer PTBS-Symptomatik erhöhen. Posttraumatische Risikofaktoren sind weiterhin mangelnde soziale Unterstützung, aber auch fortgesetzte negative Lebensereignisse, eine auf Dauer mangelnde Anerkennung des Traumas durch andere sowie sekundäre Stressfaktoren wie Schulwechsel, Umzug, weitere Angst vor dem Täter oder Probleme am Arbeitsplatz.

Neben zahlreichen Risikofaktoren gibt es auch einige wenige Schutzfaktoren, deren Auswirkung auf die Schwere von traumatischen Entwicklungen untersucht worden ist. Dazu gehören gute soziale Unterstützung, kommunikative Kompetenz sowie ein kohärentes Weltbild. Dieses von Aaron Antonovsky (1987) beschriebene Konstrukt des Kohärenzsinnes beinhaltet als überdauerndes Persönlichkeitsmerkmal die Fähigkeit, belastende Ereignisse geistig einzuordnen, zu verstehen und als sinnhaft zu bewerten.

Resilienz und posttraumatische Reifung sind zwei weitere Begriffe, die erfolgreiche Bewältigungsstrategien von schwierigen traumatischen Erfahrungen aufzeigen. Der Begriff der Resilienz stammt ursprünglich aus der Materialkunde und bezeichnet die Eigenschaft von Substanzen, sich nach mechanischen Einwirkungen wieder in die Ausgangsform zurückformen zu können, d.h. biegen, ohne zu brechen. Übertragen auf die traumatische Erfahrung, bedeutet Resilienz das Vorhandensein von Widerstandsfähigkeit, psychischer Robustheit und Spannkraft trotz sehr ungünstiger Lebensumstände oder Erfahrungen. Aufgrund der Bedeutung des Resilienzkonzepts wird dieses in Kap. B.9 näher ausgeführt.

Das Konzept der posttraumatischen Reifung hat im Gegensatz zum Resilienzbegriff einen direkten Traumabezug. Berichte von Überlebenden extremer Traumatisierung zeigen, dass Betroffene traumatischer Erfahrungen diese zum Wachstum im Sinne einer Umdeutung des Erlebten und seiner Folgen – verbunden mit psychischen Reifungsprozessen – nutzen konnten. Calhoun & Tedeschi (2006) führten den Begriff der posttraumatischen Reifung in die Psychotraumatologie ein. Er soll erklären, dass aus dem Erleben der Traumatisierung eine neue positive Selbst- und Weltsicht sowie ein Wachstum in verschiedenen Lebensbereichen erfolgen können. Dazu werden fünf Bereiche posttraumatischer Reifung genannt:

Intensivierung der Wertschätzung des Lebens

Intensivierung persönlicher Beziehungen

Bewusstwerden der eigenen Stärke

Entdecken neuer Möglichkeiten

Intensivierung eines spirituellen Bewusstseins

Allerdings lassen bisherige Forschungsergebnisse ein sehr unklares Bild dieses Konzepts entstehen. Viele Betroffene sind aber zweifellos Beispiele beeindruckenden psychischen Wachstums nach und trotz schrecklicher Traumata. Gerade im Bereich der Resilienzforschung gilt, die Ergebnisse zum einen zum Ausbau präventiver Interventionen zu nutzen, zum anderen aber auch den Betroffenen mithilfe des Wissens über Bewältigungsmöglichkeiten genug Hoffnung einzuflößen, um die tief greifenden negativen Erfahrungen der Traumatisierung überwinden zu helfen.

4. Spektrum akuter und chronischer posttraumatischer Störungsbilder

Unter dem Begriff der Traumafolgestörungen werden neben der posttraumatischen Belastungsstörung weitere relevante Störungen nach traumatischen Erlebnissen zusammengefasst, wie die akute Belastungsstörung, die komplexe posttraumatische Belastungsstörung oder auch die Entwicklungstraumastörung.

4.1 Posttraumatische Belastungsstörung

Die drei Hauptsymptomgruppen der posttraumatischen Belastungsstörung – Intrusion, Vermeidung und Hyperarousal (siehe auch Kap. A.2) – können jeweils in Form unterschiedlicher Einzelsymptome bzw. Einzelbeschwerden auftreten.

Intrusives Wiedererleben

Intrusionen sind ungewollt wiederkehrende und belastende Erinnerungen oder Erinnerungsbruchstücke. Oft treten sie nicht nur als bloßes Wiedererinnern auf, sondern als ungewolltes Neudurchleben des traumatischen Ereignisses oder von Aspekten des Ereignisses mit allen Sinnesqualitäten und Affekten, so, als ob es gerade in der Gegenwart wieder geschähe. Zu den bekanntesten Intrusionen zählen Flashbacks, auch Nachhallerlebnisse oder Erinnerungsattacken genannt, die durch plötzliches Auftreten und sehr detaillierte Erinnerung gekennzeichnet sind. Mitunter haben die Betroffenen das Gefühl, das traumatische Erlebnis noch einmal in allen Einzelheiten zu durchleben. Je nach Schwere eines Flashbacks kann die betroffene Person den Gegenwartsbezug beibehalten oder ihn auch komplett verlieren, d.h. nicht mehr wissen, was gerade geschieht. Dieser dissoziative Zustand kann einige Sekunden bis mehrere Stunden oder Tage dauern. Intrusionen können in allen Sinnen auftreten, in Form von Bildern, Geräuschen, Gerüchen, Geschmacksempfindungen und Körperwahrnehmungen. Häufig kommt es zu einem subjektiv erlebten Überflutungszustand. Intrusionen können auch – ohne visuelle oder hörbare Erinnerungsfragmente – nur als diffuse Gefühle von Angst, Ohnmacht oder Handlungsunfähigkeit auftreten. Ausgelöst werden sie oft durch Schlüsselreize, auch Trigger genannt, die eine – sehr häufig unbewusste – Assoziation zum Traumaereignis haben. Schlüsselreize können ähnliche Situationen, Gegenstände, Wörter, Geräusche oder Düfte sein, aber auch Jahrestage oder Berichte in Filmen oder den Medien.

Eine Patientin hatte in der Therapie berichtet, dass ihre Mutter in ihrer Erziehung sehr viel Wert darauf gelegt hatte, ein schlankes Kind zu haben. Wann immer die Patientin dann in jungen Jahren aus dem Kühlschrank oder der Speisekammer genascht hatte, wurde sie von der Mutter aufs heftigste bestraft und sehr häufig in den dunklen Keller gesperrt, für Stunden oder auch für einen ganzen Tag. Zwölf Jahre später lebte sie in einer pädagogischen Einrichtung und nahm an einem Selbstständigkeitstraining teil mit dem Ziel, die Wäsche selber waschen zu lernen. Nachdem sie einige Male mit der Erzieherin geübt hatte, wie die Wäsche sortiert und dann in der Waschmaschine das richtige Programm ausgewählt wird, sollte sie dies eines Tages alleine tun. Die Waschmaschine stand im Keller, die Patientin betrat die Kellertreppe, fand nicht sofort den Lichtschalter, sondern ging die ersten Stufen im Dunkeln hinunter. Der spezifische Geruch des Kellers, die Dunkelheit sowie das Hinabsteigen der Treppen triggerten eine traumatische Erinnerung und führten dazu, dass sie sich wie in der früheren Situation im Alter von fünf bis acht Jahren erlebte, bewegungsunfähig wurde und auf der Kellertreppe zusammenbrach.

Vor Jahrestagen traumatischer Erlebnisse kann das Herausarbeiten eines kontrastierenden Tagesablaufs für diese Tage hilfreich sein, damit die Betroffenen nicht so leicht von alten Erinnerungen gefangen genommen werden, wie es sich im nachfolgenden Beispiel ereignete.

Eine 25-jährige Patientin wollte sich von ihrem nigerianischen Ehemann trennen, da dieser sie regelmäßig körperlich misshandelt hatte. Sie teilte ihm ihre Trennungsabsichten mit, und eines Tages wollte sie ihre Sachen aus der gemeinsamen Wohnung holen. Der Ehemann hielt sie mehrere Tage in der Wohnung gefangen und bedrohte sie mit dem Messer. Nach drei Tagen gelang ihr die Flucht, in der Folge kam sie in teilstationäre Behandlung zur Traumatherapie. Am Tag vor dem Jahrestag dieser Geiselnahme wurde mit ihr in der Therapie noch besprochen, wie sie den folgenden Tag verbringen werde. Sie kündigte an, wie immer in die tagesklinische Behandlung zu kommen. Nachdem sie jedoch an diesem Tag nicht in der Tagesklinik erschienen war und auf mehrere Telefonanrufe nicht reagiert hatte, wurde sie am Abend von Mitarbeitern des Klinik-Teams in ihrer Wohnung aufgesucht. Dort brannte Licht, auf Klingeln oder Klopfen öffnete sie jedoch zunächst nicht. Erst nachdem sich die Mitarbeiter durch Rufen ihres Namens und sanftes Werfen kleiner Steinchen an ihr Fenster bemerkbar gemacht hatten, öffnete sie einen Spalt breit die Tür. Sie hatte sich – durch das Wissen um den Jahrestag getriggert – nach dem Aufwachen am Morgen wie in der damaligen Situation gefühlt, gedacht, ihr Exmann befände sich in der Wohnung in einem anderen Zimmer und bedrohe sie mit dem Messer, sodass sie sich nicht getraut hatte, ans Telefon zu gehen oder auf Klingeln die Wohnungstür zu öffnen. Erst das Rufen ihres Namens durch ihr vertraute Personen hatte sie aus der Erstarrung gelöst und sie zweifeln lassen, ob sie sich tatsächlich in einer bedrohlichen Situation befinde.

Vermeidungsverhalten und emotionale Taubheit (Numbing)

Da Erinnerungen an das erlebte Trauma mit sehr starken Emotionen gekoppelt sind, ist leicht nachvollziehbar, dass diese überflutenden und belastenden Gedanken und Gefühle mit aller Macht vermieden werden. Aus diesem Grund versuchen Betroffene oft, nicht mehr an das Erlebte zu denken, was jedoch meist nicht gelingt. Auch werden Situationen, Menschen, Gegenstände oder Örtlichkeiten gemieden, die mit dem Trauma assoziiert sind. So führt das Abschalten der Erinnerungen zu dissoziativen Zuständen wie Teilamnesien, bei denen man sich nur noch sehr unscharf an das Erlebte erinnern kann. Diese willentlich herbeigeführte Form der Vermeidung stellt einen Bewältigungsversuch dar, der jedoch dazu führen kann, dass die posttraumatische Symptomatik gerade deswegen bestehen bleibt. Vermeidungsstrategien können eigene Gedankenstopp-Versuche sein wie z.B. „Nicht mehr dran denken, ich mache mich doch sonst nur verrückt“ bis zu völliger sozialer Zurückgezogenheit, bei der man nicht mehr aus dem Haus gehen kann.

Eine 24-jährige Heimbewohnerin wurde in den Vormittagsstunden an ihrem Arbeitsplatz außerhalb der Einrichtung vergewaltigt. Dies führte dazu, dass sie die von ihrer Betreuerin vereinbarten ambulanten Psychotherapietermine nicht wahrnehmen konnte, da sie in der Folgezeit tagsüber die Einrichtung nicht mehr verlassen wollte. Nachdem sich dieses Verhalten über Wochen nicht veränderte, wurde schließlich als Lösung eine stationäre Traumatherapie beantragt, um überhaupt eine therapeutische Aufarbeitung zu ermöglichen.

Ein Handelsvertreter hatte auf der Autobahn zwischen Regensburg und München zweimal innerhalb eines Jahres zwischen den gleichen Anschlussstellen einen nahezu identischen, sehr schweren Verkehrsunfall mit Überschlag des Autos und Totalschaden. Vor beiden Unfällen hatte bei sehr hohem Tempo ein vorausfahrender Lkw abrupt die Spur gewechselt. Nach dem ersten Unfall gelang es dem Patienten nach einem halben Jahr und Auskurieren der körperlichen Verletzungen, wieder Auto zu fahren. Nach dem zweiten Unfall wollte er zunächst überhaupt nicht mehr in ein Auto steigen. Erst nach längerer Therapie, zu der er immer von seiner Frau gebracht werden musste, fühlte er sich wieder in der Lage, in kleinen Schritten selbstständig Auto zu fahren. Allerdings vermied er grundsätzlich den betreffenden Autobahnabschnitt, an dem die zwei Unfälle stattgefunden hatten, und nahm lieber einen längeren Umweg von circa 70 Kilometern in Kauf, um auf einer Alternativautobahn nach München zu fahren.

Ebenfalls in die Symptomkategorie der Vermeidung gehört das emotionale Betäubtsein (Numbing). Dazu gehören alle Symptome, die mit der Unfähigkeit, positive Gefühle zu erleben und auszudrücken, verbunden sind. Dies sind z.B. eine Verminderung der Interessen an wichtigen Aktivitäten des täglichen Lebens oder an individuell vor dem traumatischen Erlebnis gerne ausgeführten Aktivitäten, ein eingeschränkter Affektspielraum mit der Empfindung, dass das Trauma das eigene Gefühlsleben massiv beschädigt hat, sowie eine eingeschränkte Zukunftsperspektive. So berichten Patienten immer wieder von Gedanken, nun könne in ihrem Leben nichts mehr Wichtiges passieren oder man habe ihnen die beste oder wichtigste Zeit ihres Lebens gestohlen. Für zukünftige Klassifikationssysteme wird diskutiert, das Vermeidungsverhalten und die emotionale Taubheit in jeweils eigene Symptomgruppen zu untergliedern.

Hyperarousal

Infolge der traumatischen Erfahrung sinkt die Erregungsschwelle des autonomen Nervensystems, und Belastungen wirken früher und nachhaltiger. Auch kleinere Belastungen, die zuvor sehr leicht kompensiert werden konnten, rufen stärkere Erregung hervor. Das autonome Nervensystem befindet sich so in ständiger Alarmbereitschaft. Kleinste Belastungen führen zu starker Schreckhaftigkeit oder Reizbarkeit, auch das Schlafverhalten ist oft beeinträchtigt. Sowohl das Einschlafen als auch das Durchschlafen sind nachhaltig gestört.

Ein Gastwirt, der kurz vor Schließung seines Lokals von zwei Jugendlichen überfallen und bedroht sowie schließlich niedergeschlagen worden war, berichtete im Rahmen der Traumatherapie von Beziehungsproblemen mit seiner Ehefrau. Auf Nachfragen erklärte er, seine Frau beschwere sich immer wieder, dass er sich so verändert habe und nicht mehr „der Alte sei“. Er sei sehr leicht reizbar, schon kleine Angewohnheiten seiner Frau, wie z.B. dass sie ihre gebrauchte Tasse nicht sofort in die Spülmaschine stelle, würden ihn massiv aufregen. Er würde sie deswegen in eine längere Diskussion mit Vorwürfen verwickeln. Vor dem Überfall habe er über solche Situationen hinweggesehen und einfach selbst die Tasse in die Spülmaschine geräumt.