Träume aus Meerglas und Sand - T. I. Lowe - E-Book
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Träume aus Meerglas und Sand E-Book

T. I. Lowe

4,0

Beschreibung

Sophia Prescott führt ein Bilderbuchleben an der Seite ihres erfolgreichen Mannes. Doch dann kippt der schöne Traum, denn ihr Mann wird ihr nicht nur untreu, sondern scheint auch in kriminelle Finanzgeschäfte verwickelt zu sein. Sophia zieht, gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn, zurück in ihren Heimatort Sunset Cove, wo sie auf die Unterstützung ihrer Mutter und ihrer beiden Freundinnen Opal und Josie zählen kann. Dort trifft sie auf den engagierten Kinderarzt Weston Sawyer, der ebenfalls Zerbruch in seinem Leben erlebt hat. In Sophia und Weston kommen sich zwei verwundete Seelen näher, die es einander nicht immer leicht machen. Doch werden die beiden es schaffen, ihrer Liebe eine Chance zu geben? Wird die Hoffnung letztendlich siegen? Und wie kann der Glaube in all dieser Verletztheit eine Unterstützung sein? Der Titel ist der letzte Band einer dreiteiligen Serie, die an der Küste South Carolinas spielt.

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Über die Autorin

T.I. Lowe lebt mit ihrem Mann und ihrer Familie im US-Bundesstaat South Carolina und liebt es, besondere Geschichten zu schreiben. Mittlerweile hat sie bereits 20 Romane veröffentlicht, von denen Sophies Café ihr Debütroman war. Wenn Sie mehr über sie wissen möchten, besuchen Sie sie auf ihrer Homepage tilowe.com, auf Facebook unter T.I. Lowe und Instagram unter tilowe.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Titel der Originalausgabe: Sea Glass Castle © 2020 by T. I. Lowe. Alle Rechte vorbehalten.Veröffentlicht bei Tyndale House Publishers, Inc. In Zusammenarbeit mit der Literaturagentur Browne & Miller Literary Associates, LLC, 52 Villages Place, Hinsdale, Il 60521.„Träume aus Meerglas und Sand“ ist ein fiktionales Werk. Wo reale Personen, Ereignisse, Einrichtungen, Organisationen oder Schauplätze auftauchen, werden sie fiktiv verwendet. Alle anderen Elemente des Romans entstammen der Vorstellungskraft der Autorin.Bibelstellen wurden entnommen aus Neues Leben. Die Bibel. © 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG,Witten.© 2024 Gerth Medien in der SCM Verlagsgruppe GmbH,Berliner Ring 62, 35576 WetzlarErschienen im März 2024ISBN 9783961226368Lektorat: Katharina TöwsÜbersetzung: Renate HübschUmschlagmotive: Kira Laktionov / unsplash.com (Verlagsausgabe); Umschlaggestaltung: Olaf Johannson, spoondesign.deSatz: Apel Verlagsservice, Cellewww.gerth.de

Für meine Tochter Lydia Lu.Wage es, über dein Schicksal selbst zu bestimmen.~

Von allen Seiten werden wir von Schwierigkeiten bedrängt, aber nicht erdrückt.Wir sind ratlos, aber wir verzweifeln nicht. Wir werden verfolgt, aber Gott lässt uns nie im Stich.Wir werden zu Boden geworfen, aber wir stehen wieder auf und machen weiter.2. Korinther 4,8-9

1

Die Dunkelheit war ein Geschenk, denn sie verbarg fast alles, was Sophia Prescott verbergen wollte – die Trümmer ihrer Ehe, die noch nicht verblassten Narben und die kümmerlichen Reste ihres Selbstwertgefühls. Ihr Selbstwert war so gründlich erschüttert worden, dass mit ziemlicher Sicherheit keine Hoffnung mehr bestand, ihn jemals wiederherstellen zu können.

Die Schatten der Nacht hüllten das Leben barmherzig in den Mantel des Vergessens, und sei es nur für eine kurze Zeit am Montag. Jeden Sonntag nach der Kirche nahmen ihre Eltern Sophias zweijährigen Sohn mit zu sich, wo er über Nacht und bis zum Montagabend blieb. Und in dieser Zeit, die sie für sich allein hatte, verweilte Sophia in den Schatten, ließ zu, dass sie sich in Tränen auflöste, bevor sie sich um ihres Sohnes willen wieder zusammenreißen und vorzeigbar präsentieren musste. Collin verdiente sie ganz. Nicht in zerbrochenem Zustand.

Doch jeden Montag zerbrach sie.

Unter die dicke Bettdecke gekuschelt, riss Sophia die Augen auf, als das leise Klicken der sich schließenden Tür ihre Aufmerksamkeit erregte. Da sie wusste, was auf sie zukam, wappnete sie sich für den Kampf, umklammerte die Decke mit beiden Händen und kniff die Augen wieder zu.

Sie wusste, dass sie keine Chance hatte, als ihr die Decke von kräftigen Armen weggezogen wurde und gleißendes Licht an den zurückgezogenen Vorhängen vorbei hereinströmte.

„Lass das, Opal!“, kreischte Sophia. „Es ist viel zu hell!“ Sie vergrub den Kopf unter dem Kissen, in der Hoffnung, dem Licht und allem anderen, was auch immer ihre unternehmungslustige Freundin vorhatte, zu entkommen. Warum nur hatte sie ihr einen Schlüssel und damit die Erlaubnis gegeben, jederzeit hereinplatzen zu können?

„Unsinn. Es ist ein herrlicher Sommertag. Ein Tag, der dazu einlädt, im Freien zu sein und ihn zu genießen. Komm! Lass uns rausgehen und eins werden mit der Natur.“ Opal zog ihr nun auch das Kissen weg.

Sophia öffnete die Augen gerade noch rechtzeitig, um es durch den Raum fliegen zu sehen. „Ich wohne auf einem Golfplatz. Ganz bestimmt nicht das, womit ich eins sein will“, brummte sie und setzte sich auf, um ihre beste Freundin mit ihrem finstersten Blick zu fixieren.

Opals funkelnde grüne Augen verloren nie ihre Fröhlichkeit. Im Moment schien auch eine gewisse Belustigung darin zu liegen. „Der Golfplatz ist sehr schön gestaltet. Lass meinen Vater nicht hören, dass du seinen Platz schlechtmachst.“

„Ich zahle ihm die Miete für diese Wohnung, also kann ich so viel darüber lästern, wie ich will.“ Sophia rieb sich die Augen und wünschte, wenn sie sie wieder öffnete, wäre die Dunkelheit zurück. Aber sie kannte Opal Gilbert Cole zu gut. Es gab keine andere Möglichkeit, als mit ihr mitzugehen. Sie erhob sich mühsam aus dem Bett und lehnte sich gegen die Wand. „Was hast du vor?“

„Oh, eine ganze Menge.“ Opal grinste und drehte ihre goldroten Locken zu einem unordentlichen Knoten zusammen, wobei die blonden Spitzen in alle Richtungen abstanden. „Aber ich gebe mich damit zufrieden, dass du mir heute hilfst, ein Rätsel zu lösen.“

„Es ist Montag. Solltest du nicht arbeiten?“ Sophia beobachtete, wie Opal sich von ihr entfernte, und begann, in ihrem Schrank herumzukramen. Es war ein schlichtes weißes Möbelstück, das zum Küstenthema der Wohnung passte. Als sie eingezogen war, war sie ziemlich überrascht gewesen, nicht in jedem Detail der Wohnungseinrichtung Opals Handschrift wiederzuerkennen, aber da es sich um eine Mietwohnung handelte, hatte Opals Familie sie wohl etwas neutraler gestalten wollen. In der Stadt hieß Opal nur die Möbelfee, und diesen Titel hatte sie sich redlich verdient, denn sie verstand es, aus jedem alten Stück auf magische Weise etwas ganz Neues zu zaubern.

Opal war dafür bekannt, dass sie diese Magie auch bei Menschen einsetzte, also war Sophia vorsichtig, was die Aufmerksamkeit anging, die ihr zuteilwurde. Sie starrte auf die Badezimmertür und überlegte, ob sie sich darin einschließen sollte, um dem zu entgehen, was jetzt passieren würde.

„Bless This Mess* hat montags nicht geöffnet, das weißt du ja. Und es gibt gerade keine dringenden Aufträge für Möbelrestaurierungen.“ Opal warf eine dunkelrote Strumpfhose und ein grau-orange gestreiftes T-Shirt-Kleid aufs Bett, zwei Stücke, die Sophia noch nie miteinander kombiniert hatte. Das würde auch heute nicht passieren. „Außerdem habe ich heute andere dringende Angelegenheiten auf dem Plan.“

„Wovon redest du?“ Sophia verschränkte die Arme, als Opal auf den Kleiderstapel zeigte. „Ich bin übrigens schon angezogen.“

Opal kniff die Augen zusammen, und ihr Blick glitt über das schlichte schwarze Shirt und die Yogahose, die Sophia trug. „Schwarz hat dir noch nie gestanden. Es lässt selbst deine türkisfarbenen Augen blass aussehen“, flötete Opal, als stünde ihr jedweder Kommentar über die Wahl von Sophias Outfit zu.

Mit einem vernichtenden Blick schnippte Sophia mit einer Hand in Richtung von Opals knallblauen Bermudashorts und psychedelischem Neckholder-Top, das sie nur ansehen musste, damit ihr schwindelig wurde. „Willst du mich ärgern?“

Opal tänzelte im Kreis herum und wackelte mit dem Hintern. „Wenigstens sehe ich nicht aus wie eine lebende Leiche. Ich bin groovy, Baby!“ Sie gab ihre beste Austin-Powers-Imitation zum Besten. Die Sand Queens hatten den Film aus den späten Neunzigern mehrmals gesehen.

Das zauberte Sophia fast ein Lächeln auf die zusammengepressten Lippen. Fast. „Opal, hör auf, in Rätseln zu reden, und spuck endlich aus, was für eine hirnrissige Idee du für heute hast.“ Sie ließ sich aufs Bett fallen und schnaufte. „Oder besser: Lass es bleiben und sag, wir hätten es gern getan. Und schließ die Tür hinter dir ab.“

„Nein, im Ernst.“ Opal griff nach Sophia und zerrte an ihrem Arm, bis die nachgab und sich auf die Bettkante setzte. „Jemand ist nebenan eingezogen, und das ist mir ein bisschen suspekt. Ich möchte, dass du rüberkommst und mir mitteilst, was dein Instinkt sagt.“

„Mein Instinkt ist derzeit echt übel drauf“, murmelte Sophia und ließ ihren Blick auf ihre Hände fallen, die in ihrem Schoß ruhten. Zum ersten Mal seit Jahren waren ihre Nägel frei von Acryl und Lack. Und zum ersten Mal seit Jahren hatte sie nicht das Bedürfnis, etwas dagegen zu tun.

„Das Einzige, was hier übel ist, ist dein Atem. Puh!“ Opal rümpfte die Nase und wies mit dem Kinn in Richtung Bad. „Tu mir einen Gefallen und ändere das.“

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Sophia sich dazu überreden ließ, sich die Zähne zu putzen und die Haare zu bürsten. Doch sie weigerte sich entschieden, ihre Kleidung zu wechseln. Wenn Opal sie aus der Wohnung zerren würde, dann nur im schwarzen Schleier der Finsternis. Nachdem sie sich eine riesige Sonnenbrille und einen ebenso riesigen Sonnenhut aufgesetzt hatte, schleppte sich Sophia zu Opals Wagen und fragte sich, wie sie es vermeiden konnte, dabei über ihre Unterlippe zu stolpern.

~

„Ich bin so froh, dass die Sand Queens wieder mal zusammen sind!“ Opal ging um den Tisch auf ihrer Terrasse herum und nahm sich ein Glas Limonade, bevor sie sich auf einen Gartenstuhl setzte. Sophia tat es ihr gleich. Der Sommertag war warm und sonnig und eine Brise trug das Lachen der Strandbesucher und das Kreischen der Möwen heran.

„Ich auch“, stimmte Josie zu, die bereits am Tisch saß, und strich sich eine Strähne ihres weißblonden Haares hinters Ohr. „Zwei Monate, ohne sich zu treffen – das ist entschieden zu lange. Ich bin froh, dass ich August überredet habe, mir den Nachmittag vom Camp freizugeben.“

„Dein Mann weiß eben, wie wichtig wir dir sind – er würde dir natürlich eine Auszeit geben“, sagte Opal in diesem leicht übertriebenen Tonfall, der eine versteckte Botschaft in sich trug.

Sophia verstand die Botschaft genau, beschloss aber, sie zu ignorieren. Ja, sie war es, die die beiden anderen versetzt hatte, und zwar hartnäckig. So war das Leben. Und in den letzten Monaten, die sich fast schon nach Jahren anfühlten, hatte das Lebenihr einen Teller voller Ungerechtigkeiten serviert.

„Sophia, freust du dich nicht, dass wir heute Zeit zusammen haben?“, fragte Josie mit dieser leisen Stimme, die nie so recht zu ihr passte. Während sie auf ihre Antwort wartete, schob sie Sophia ein Glas mit Limonade über den Tisch und nahm selbst einen Schluck.

Sophia betrachtete Josies lange Finger, die voller bunter Farbe waren.

„Nichts gegen euch beide, aber ich verbringe meinen Montag lieber allein … mir geht so vieles durch den Kopf.“ Ja, die Wärme der Sonne und die sanfte Brise auf ihrer Haut fühlten sich gut an, aber das spielte jetzt keine Rolle.

„Oh, darauf wette ich. Hast du vor, Collin im Herbst für das Vorschulprogramm der Gemeinde anzumelden? Ich habe gehört, wie Mama gestern nach der Sonntagsschule mit dir darüber gesprochen hat.“ Opal nahm einen Schluck von ihrem Drink und warf Sophia einen unschuldig aussehenden Blick zu, der in Wirklichkeit ausdrückte, dass sie sich in fremde Angelegenheiten einmischte.

Sophia stieß einen langen Seufzer aus. „Er muss erst trocken sein, bevor sie ihn nehmen.“

„Oh, das ist ganz einfach“, sagte Opal schulterzuckend. „Ein paar Tutorials auf YouTube und dann besorgst du ihm eins von diesen Kinderklos.“

„Ich möchte, dass er aufs Töpfchen geht, wenn er dazu bereit ist. Bis jetzt hat er kein Interesse daran.“ Sophia rieb ihren linken Daumen am linken Ringfinger und konnte nicht verhindern, dass sie zusammenzuckte, als sie die Leere spürte, wo früher ihr Ring gewesen war. Die Geste hatte sie sich angewöhnt, nachdem Ty ihr den auffälligen Verlobungsring an den Finger gesteckt hatte. Den Ring an ihrem Finger zu berühren, hatte ihr immer Trost gespendet und sie an ihr gegenseitiges Versprechen erinnert. Sie hatte immer noch Mühe zu begreifen, dass der Ehering – und die Versprechen, für die er stand – nicht mehr zu ihr gehörte.

„Ach, sicher willst du Collin doch ein bisschen auf die Sprünge helfen. Die Vorschule wäre eine gute Gelegenheit für ihn, mit Gleichaltrigen zusammenzukommen. Und du könntest dir wieder einen Job suchen.“ Josie lächelte, schien aber unsicher zu sein. Sie war nicht annähernd so gut darin, im Leben anderer herumzupfuschen, wie Opal es war.

Sophia nahm ihre Sonnenbrille ab und taxierte die beiden Frauen mit großen Augen. Sie fragte sich, worauf sie hinauswollten. „Ich kriege Unterhalt und Kindergeld und habe eine schöne Abfindung. Ich brauche keinen Job.“

Tys PR-Team hatte den größten Teil seines Schmutzes schnell unter den Teppich gekehrt, und die Anwälte waren noch schneller dabei gewesen, alle Formalitäten zu erledigen und die Scheidung durchzukriegen. Sophia hatte lediglich eine Verschwiegenheitserklärung über die Missbrauchsvorwürfe unterschreiben müssen, die ihr untersagte, jemals öffentlich darüber zu sprechen, und das war für sie in Ordnung. Sie hatte zugestimmt, nachdem eine Klausel hinzugefügt worden war, wonach Ty sich einer Therapie unterziehen musste, um seinen Jähzorn in den Griff zu kriegen, und er Collin nur unter Aufsicht besuchen durfte.

„Das ist Blödsinn. Dein starkes Rückgrat hat noch nie zugelassen, dass sich mal jemand anders um dich kümmert und …“

Bevor Opal ihre Tirade fortsetzen konnte, fiel Josie ihr ins Wort. „Aber ein Job wäre ein guter Grund, um aus dem Haus zu kommen und unter Erwachsenen zu sein. Außerdem bist du zu talentiert, um zu Hause zu versauern. Du solltest was aus deinen Gaben machen.“

Sophia hatte vor Kurzem nicht nur das Scheitern ihrer Ehe, sondern auch das Scheitern ihrer Karriere erleben müssen. Als Southeastern Public Relations zwischen einer ersetzbaren Referentin und ihrem Starathleten wählen musste, war die Entscheidung für Sophias Entlassung nicht schwergefallen.

„Ach, wirklich? Bei Southeastern denkt man ja anscheinend, ich bin nicht mehr als eine billige Arbeitskraft, der es irgendwie recht geschieht, wenn sie von ihrem berühmten Mann fertiggemacht wird, weil sie ihn mit einer anderen Frau im Bett erwischt hat“, schnappte Sophia und knallte ihr Glas auf den Tisch, sodass eine Fontäne aus blassgelber Flüssigkeit auf die Tischplatte schwappte. Das reichte als Ventil für ihre aufgestaute Wut nicht, sodass sie mit den Füßen auf den sandigen Terrassenboden stampfte.

Sophia hatte immer eine treffsichere Intuition besessen. Sie war ein Ass, wenn es darum ging, diese Fähigkeit zum Wohle anderer einzusetzen und die Kunden der Firma aus gefährlichen Fahrwassern herauszumanövrieren. Bei ihr selbst klappte das allerdings weniger. Ihr Gespür hatte ihr nicht im Geringsten genutzt, wenn es um den Schönling mit dem rotbraunen Haar, dem schimmernden Teint und dem unwiderstehlichen Lächeln ging. Ty Prescotts umwerfende Fassade hatte sie genauso getäuscht wie die Massen seiner Fans. Es waren inzwischen Monate vergangen, seit Ty seine Maske abgelegt und damit auch einen Teil ihrer Seele geraubt hatte, und immer noch hatte sie mit den Trümmern zu kämpfen. Sie war so wütend auf sich selbst, weil sie zugelassen hatte, dass es überhaupt passiert war. Das Schlimmste daran war, dass sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Sohn im Stich gelassen hatte.

„Warum gibst du so viel darauf, was die denken, wenn du dir sicher bist, dass es nicht wahr ist?“, fragte Opal, die genau wusste, welchen Knopf sie drücken musste. „Du benimmst dich seitdem, als hätten sie recht.“

Monatelang hatte Sophia zugelassen, dass die Umstände ihr diktierten, was sie von sich selbst hielt. Die einzigen Tage, an denen sie Hoffnung hatte, dass die Dinge sich zum Besseren wenden würden, waren die Tage, an denen sie ihr Baby zum Lächeln bringen konnte, und das geschah nicht annähernd so oft, wie es sollte. Ein Satz, den ihre Großmutter einmal gesagt hatte, flimmerte durch ihre Gedanken, während sie mit den Fäusten gegen die Lehne ihres Liegestuhls hämmerte und damit ihren Sonnenhut zum Wackeln brachte. „Unterschätze niemals die Macht eines guten alten Wutanfalls.“

Der Nebel der Niedergeschlagenheit lichtete sich kurz und Sophia leistete sich einen glorreichen Ausraster. „Ich bin kein Nobody! Ich habe genauso viel Talent wie dieser Superbekloppte, der nichts kann, als mit einem Ball über ein bescheuertes Spielfeld zu rennen! Am liebsten würde ich ihm sein blödes Grinsen aus der Fr… hämmern! Ich werde ihm schon noch zeigen, dass er mich nicht kleingekriegt hat!“

Opal nickte überschwänglich. „Bravo, meine Liebe!“

„Hä?“, schnappte Sophia zurück, und heiße Tränen liefen über ihr gerötetes Gesicht.

„Du bist wieder lebendig!“ Opal machte ein Victoryzeichen, stand auf und hüpfte über die Terrasse. „Sie lebt! Halleluja!“ Sie drehte sich wieder zu Sophia um und schüttelte sie an den Schultern. „Eine bange Minute lang dachte ich, du hättest dich in einen Roboter verwandelt.“ Als Opal kicherte, folgte ein leises Glucksen von Josie, und das brachte Sophia zum Schnauben, bis das Ganze sich zu einem schallenden Gelächter zu dritt steigerte.

Das war Opal in ihrem Element. Sie drehte und wendete eine heikle Situation immer so lange, bis sie herausfand, wie sie die Spannung entschärfen konnte. Das war einer der Gründe, warum Sophia sie so gern hatte – und auch der Grund, warum sie Opal die Hälfte der Zeit am liebsten in ihre kleine Stupsnase kneifen wollte.

„Also, Mädels, es tut mir leid … Es fällt mir nur schwer, die Kurve zu kriegen.“ Sophia schüttelte den Kopf. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mich von einem Mann so manipulieren lassen oder zulassen würde, dass er aus Wut Hand an mich legt.“

Josie ging zu Sophia und hockte sich vor ihren Stuhl. „Ich wünschte, du hättest uns anvertraut, was wirklich los war.“

„Es war mir peinlich. Ist es immer noch.“ Sophia sah zu, wie Opal sich zu Josie vor ihren Gartenstuhl gesellte, und angesichts der geballten Mauer an Unterstützung, die die beiden bildeten, verspürte sie eine Enge in der Brust. Sie räusperte sich und flüsterte: „Es ist nicht oft passiert, aber doch oft genug, um Spuren zu hinterlassen. Er hat es fertiggebracht, dass ich an meiner Kraft und an meinem Charakter gezweifelt habe. Ich hasse es, wenn ich schwach bin.“

„Schon ein einziges Mal ist viel zu oft.“ Opal legte Sophia die Hand aufs Knie. „Und wer sagt überhaupt, dass du schwach bist?“

Die Frage erwischte Sophia auf dem falschen Fuß, sodass sie nur mit einem halbherzigen Achselzucken antwortete.

„Du bist diejenige, die über dein Selbstwertgefühl bestimmt. Lass es dir nicht von den Umständen diktieren. Zeig Ty und der ganzen Welt, dass du immer noch die Frau mit dem superklugen Köpfchen und dem ausgeprägten Ehrgeiz bist, die sich von nichts und niemandem unterkriegen lässt.“

Josie wippte zustimmend mit dem Kopf. „Opal hat recht. Du hast alles erreicht, was du dir je vorgenommen hast. Du bist die ehemalige Miss Sunset Cove, du warst Kapitänin des Cheerleader-Teams, hast bei deinem Schulabschluss die Abschiedsrede gehalten, du hast als Abschlussprojekt die Initiative für den Schutz unserer Strände gegründet, während der Rest von uns sich damit begnügt hat, ein langweiliges Referat zu schreiben …“

„Diese Initiative hat mich begeistert!“ Opals Gesicht leuchtete vor Bewunderung, Josies ebenso. „Mädel, du hast die ganze Stadt und meinen Daddy, den Senator, dazu gebracht, sich dafür einzusetzen, dass unser Strand abfallfrei und unbelastet bleibt.“

Sie taten das, was die Sand Queens am besten konnten: Wenn das Leben versuchte, sie in die Knie zu zwingen, konzentrierten sie sich auf das Gute und Positive – oder halfen sich dabei, es wieder zu sehen, wenn eine von ihnen es aus dem Blick verloren hatte.

Sophias Tränen der Wut verwandelten sich in Tränen der Dankbarkeit, und sie beugte sich vor und umarmte die beiden wunderbaren Freundinnen, mit denen Gott sie schon so lange, wie sie sich erinnern konnte, beschenkt hatte. Obwohl Sophia den beiden anderen altersmäßig und in der Schule ein Jahr voraus war, waren die drei immer unzertrennlich gewesen.

Nach der herzlichen Umarmung zu dritt setzte jede sich wieder auf ihren eigenen Stuhl, und schließlich fragte Sophia, nachdem sie ihren Hut wieder zurechtgerückt hatte: „Was war das vorhin über diesen geheimnisvollen neuen Nachbarn?“

„Es gibt keinen geheimnisvollen …“

„Ich glaube, letzte Nacht ist ein Vampir eingezogen.“ Opal war Josie rasch ins Wort gefallen, aber Sophia tat es mit einer Handbewegung ab, als sie begriff, was die Freundin gerade von sich gegeben hatte.

„Ein Vampir?“ Sie wischte sich die letzten Tränen von den Wangen und verdrehte die Augen über Opals absurde Worte.

„Ja. Möglicherweise sogar zwei.“ Opal lehnte sich verschwörerisch zu Sophia und Josie vor und blickte sich um. Sie wies mit dem Kinn zu dem weißen Strandhaus mit graublauen Fensterläden rechts von Opal. „Gestern spät am Abend kam ein Umzugswagen mit zwei Männern, die im Dunkeln herumschlichen. Als ich frühmorgens aufs Klo musste, waren sie immer noch beschäftigt. Dann wurde es unheimlich still da drüben.“

Sophia hielt Ausschau nach einem Lebenszeichen von nebenan. Hinten auf der Terrasse waren moderne Gartenmöbel aufgestellt worden und ein Strandfahrrad war an die Hauswand gelehnt, aber nichts schien ungewöhnlich. Sie setzte die Sonnenbrille wieder auf und wollte gerade den Blick abwenden, als der Vorhang am Küchenfenster flatterte und die Andeutung einer schattenhaften Gestalt freigab. Sophia setzte sich aufrecht hin, neigte den Kopf zur Seite und flüsterte: „Jemand ist in der Küche.“ Sie hörte Opal nach Luft schnappen und Josie prusten.

Alle drei standen auf, gingen ans Geländer der Terrasse und lehnten sich darüber, als ob sie dadurch nahe genug herankommen würden, um mehr zu sehen. Sophia wusste, dass sie wie ein Trupp neugieriger Gaffer aussahen, aber sie lehnte sich weiter vor, bis vom Nachbarhaus ein lauter Knall ertönte. Die drei Frauen schrien vor Schreck laut auf.

„Was war das?“, flüsterte Sophia, duckte sich hinter das Geländer und legte ihre Hand auf ihren Brustkorb, in dem ihr Herz laut pochte.

„Siehst du!“ Opal hockte sich neben sie. „Ich hab’ doch gesagt, dass mit ihm etwas nicht stimmt.“

„Woher weißt du überhaupt, dass es ein Er ist?“ Sophia kniff die Augen zusammen und schaute zu Josie hinüber, die sich wieder auf ihren Stuhl gesetzt hatte und sich nun zurücklehnte, offensichtlich die einzig Vernünftige in der Runde. Sophia stand auf und tat es ihr gleich.

„Ich habe es dir schon gesagt. Es sind zwei Männer, und ich habe gestern Abend gesehen, wie sie Sachen reingeschleppt haben. Da war auch so eine lange Kiste dabei.“ Opal breitete die Arme aus und riss die Augen weit auf, während sie sich wieder setzte. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein Sarg gewesen sein könnte.“

Josie schnaubte erneut. „Hör auf zu spinnen, Dummchen, und vergiss das ganz schnell.“

Opal wischte sich den Sand von ihren Shorts. „Ich meine es ernst. Das Haus steht leer, seit Mrs Clark letztes Jahr verschwunden ist …“ Wieder riss sie die Augen auf. „Oooh! Der Nachbar war’s!“

„Ja, genau, mit dem Kerzenständer aus dem Esszimmer!“, warf Josie mit beißendem Sarkasmus ein. „Ich habe die seltsamsten Freundinnen der Welt“, murmelte Sophia und stützte den Kopf in die Hände.

Josie ignorierte die Stichelei und wandte sich an Opal: „Du weißt doch, dass Mrs Clark zu ihrer Schwester nach Florida gezogen ist.“

„Sagt man zumindest …“ Opal brach ab und sie wies mit dem Finger auf das Haus nebenan. „Sie könnte die ganze Zeit im Keller versteckt worden sein.“

„Dein eigener Mann hat erst letzten Monat die Renovierung des Hauses mit beaufsichtigt. Linc hätte sicher eine alte Dame bemerkt, die irgendwo gefesselt im Keller hockt.“ Josie verdrehte die Augen, nahm sich einen Keks vom Teller und schnupperte vorsichtig daran. „Die hast du nicht selbst gebacken, oder, Opal?“

„Du weißt, dass Linc mich nicht mal in die Nähe des Backofens lässt. Momma hat sie gemacht.“ Opal trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch, den Blick weiter auf das Haus nebenan gerichtet. Plötzlich zuckte sie so heftig zusammen, dass Sophias allmählich schwindende Aufmerksamkeit wieder geweckt wurde. „Der Vorhang hat sich wieder bewegt!“

Sophia richtete ihren Blick nach nebenan. Alles, was sie sehen konnte, waren Schatten, die sich hinter den Fenstern bewegten. Sie schienen ziellos und ohne eine bestimmte Richtung herumzuwandern. Genau wie sie in letzter Zeit.

„Ich denke, wir sollten rübergehen und sehen, was los ist.“

„Wir tun nichts dergleichen“, befahl Josie, während sie noch zwei Kekse nahm, von denen sie einen an Sophia weiterreichte. „Im Ernst, Opal, das reicht jetzt. Wenn du so weitermachst, rufe ich Linc an, damit er dich aus dem Verkehr zieht.“

Sophia schnupperte aus Gewohnheit an dem Keks, da er von Opal kam, und roch nur den köstlichen Duft von Vanille und Schokoladensplittern. Sie nahm einen Bissen und kaute abwesend, während ihr langsam bewusst wurde, dass ihrer benebelten Aufmerksamkeit etwas entgangen war. Warum verhielt sich Opal so sonderbar und warum reagierte Josie so heftig auf das alles? Offensichtlich kapierte sie gerade nicht, was vor sich ging. Aber es war ihr nicht wichtig genug, um einen Versuch zu machen, es herauszufinden.

* zu Deutsch in etwa: „Segne diese Unordnung“

2

Am Abend zuvor waren der Geruch von frischer Farbe und der Zitrusduft, den die Putzkolonne hinterlassen hatte, noch sehr einladend gewesen. Aber nachdem Weston Sawyer die ganze Nacht durchgearbeitet und Umzugskartons ausgeräumt hatte, bis die Sonne aufging, hatte er genug davon. Er sah mit müden Augen auf die Uhr und stellte fest, dass es schon nach Mittag war. Das Einzige, was er jetzt noch mit seinen Sinnen wahrnehmen wollte, war der Duft von frischem Kaffee. Sofort.

„Sieht so aus, als wäre die Nachbarschaftswache schon auf dich aufmerksam geworden“, murmelte Seth, der aus dem Küchenfenster von Wes’ neuem Zuhause schaute.

Wes durchwühlte die dritte Kiste mit der Aufschrift Küche in der Hoffnung, die Kaffeemaschine zu finden. Wenn seine Suche erneut ergebnislos verlief, würde er zur Tür hinausmarschieren, um irgendeine Form von Koffein zu finden. „Wieso das denn?“

„Auf der Terrasse nebenan sitzen drei Frauen und beobachten uns. Sind schon eine ganze Weile da.“

„Aha!“ Wes hielt die Kanne der Kaffeemaschine hoch, als wäre sie ein Hauptgewinn. Als Nächstes zerrte er das Maschinenteil aus dem Karton und ging damit zum Tresen, um es in Betrieb zu nehmen. Während er die Kanne mit Wasser füllte, schaute er aus dem Fenster und entdeckte sein Publikum. Eine Blondine aß Kekse, während eine andere Frau mit einem riesigen Sonnenhut und Sonnenbrille in ihrem Stuhl zu schmelzen schien, so tief war sie in sich zusammengesunken. Über die dritte, die wild mit den Händen herumfuchtelte, konnte er nur grinsen. „Die Rothaarige ist meine neue Nachbarin, Opal Cole. Ihr Mann hat das Haus und die Praxis für mich umgebaut.“ Wes begutachtete den Raum und war beeindruckt von den klaren Linien der Küche. Die weißen Marmorarbeitsplatten mit dezenter Maserung waren mit nichts zu vergleichen, was er je in seinem Haus gehabt hatte. Angesichts der espressobraunen Holzböden und der klaren grauen Wände kam er zu dem Schluss, dass das auch für alles andere galt. Lincoln Cole hatte perfekte Arbeit geleistet.

„Oh.“ Seth sah weiter aus dem Fenster. „Sie hat vorhin die Kekse vorbeigebracht, stimmt’s?“

„Ja. Sie hat geschworen, sie hätte sie nicht selbst gebacken. Was auch immer das bedeutet.“ Wes löffelte den gemahlenen Kaffee in den Filter und atmete tief den kräftigen Duft ein. „Die werden gut zum Kaffee schmecken. Ich hoffe, mit dem Zucker und dem Koffein können wir genug Energie aufbringen, um noch ein paar Zimmer einzurichten, bevor ich dich zum Flughafen bringen muss.“ Er blickte seinen Bruder aus dem Augenwinkel an. Es war, als würde er in den Spiegel schauen, nur dass aus dem Anblick seines Bruders eine ungetrübte Seele sprach, was für Wes nie wieder der Fall sein würde. „Ich wünschte, du könntest länger bleiben als nur einen Tag.“

Seth wandte sich vom Fenster ab und griff nach einem weiteren Karton. „Ich habe diesen lausigen Umzugswagen den ganzen Weg hierhergefahren und dir den größten Teil der Nacht beim Ausladen geholfen. Ich betrachte meine brüderlichen Pflichten als erfüllt.“ Seths spöttisches Grinsen verschwand, als er stolperte und den Karton fallen ließ, woraufhin ein explosives Klirren ertönte.

„Mann, wenn du meine Töpfe ruinierst …“ Wes ging hinüber und löste das Klebeband vom Deckel, damit er den Inhalt inspizieren konnte.

Seth stieß ein verärgertes Schnauben aus. „Du stellst dich wegen allem immer gleich so an, mein Alter. Das sind doch nur Töpfe und Pfannen.“

„Was ist falsch daran, wenn ich gern sorgsam mit dem umgehe, was mir gehört?“ Wes verstummte, als ihm klar wurde, was er gesagt hatte. Genau darin hatte er versagt – sorgsam mit dem umzugehen, was zu ihm gehörte, als es am wichtigsten gewesen wäre. Ohne den Inhalt des Kartons zu überprüfen, stand er auf und ging zurück zur Kaffeemaschine. Sein Blick haftete an dem Strahl dunkelbrauner Flüssigkeit, der plätschernd und zischend herabfloss und die Kanne füllte, und er legte beide Hände in den Nacken.

„Ich hoffe, du gibst diesem Neuanfang eine echte Chance, Wes.“ Seth trat hinter ihn und klopfte ihm auf die Schulter. „Du weißt, dass es an der Zeit ist. Du verdienst es, wieder glücklich zu sein.“

Der Verkauf des Hauses, in dem zu viele Träume zerbrochen waren, und der Abschied von der erfolgreichen Praxis, die er in Alabama von Grund auf mit aufgebaut hatte, sollten das Ende eines langen, schwierigen Kapitels sein. Und die Unterzeichnung der Papiere für den Kauf des Strandhauses und der kleinen Arztpraxis in Sunset Cove der Beginn eines neuen, ruhigeren Kapitels.

Bislang war Wes in dem Teil der Geschichte gefangen, der eine tragische Wendung genommen hatte. Er war sich nicht sicher, ob er jemals herausfinden würde, wie er einem neuen Kapitel eine echte Chance geben könnte. Das Einzige, was ihm Halt gab, war immer noch sein Glaube an Gott.

Seth drückte seine Schulter. „Hörst du mich, Mann?“

Wes löste die Hände von seinem Nacken und füllte zwei Tassen mit Kaffee. „Glücklich war ich mal.“ Er hob eine der Tassen und atmete den Duft ein, bevor er einen Schluck nahm. „Ich bin nicht hergekommen, um hier nach Glück zu suchen. Ich will nur etwas Frieden und Ruhe.“

Seth streckte die Hand aus und griff nach der anderen Tasse. „Es ist mehr als drei Jahre her …“

„Und doch fühlt es sich so an, als wäre es erst gestern gewesen.“ Kopfschüttelnd ging Wes zu der geräumigen Frühstücksecke hinüber, die von Erkerfenstern umgeben war, und ließ sich in einen Stuhl mit Blick auf den Ozean plumpsen. Der massive weiße Tisch mit einer maßgefertigten Sitzbank an der Rückseite und Stühlen an den anderen drei Seiten war schlicht und doch bequem. Er war wie alle anderen Möbelstücke neu.

Seine alten Möbel hatte er in einem Lagerraum zurückgelassen, ebenso wie alle übrigen materiellen Gegenstände aus seinem letzten Lebenskapitel. Zu schade, dass er das nicht auch mit seinen Erinnerungen so machen konnte.

~

Zum hundertsten Mal las er das Namensschild an der Tür zu seinem Büro. Dr. med. Weston Sawyer. Es war sein Name, doch er war nicht sicher, ob er wirklich die neue Tür zieren sollte. Als es klopfte, war er mit wenigen Schritten bei der Eingangstür, öffnete sie und bedeutete dem älteren Herrn mit dem schlohweißen Haar und dem üppigen Schnurrbart, einzutreten.

„Sind Sie sicher, dass Sie Ihre Praxis wirklich hinter sich lassen wollen?“, fragte er den älteren Arzt, während sie in sein Büro gingen. Wes hatte den Großteil der ersten drei Tage in der Carolina-Kinderambulanz damit verbracht, Fragen zu beantworten, warum Doc Nelson nicht da war. Die meisten wollten wissen, ob es möglich wäre, ihn anzurufen und um eine zweite Meinung zu bitten. „Anscheinend ist die Stadt noch nicht bereit für mich“, murmelte er.

Der Doc ließ sich auf dem Stuhl vor Wes’ Schreibtisch nieder und faltete die Hände über seinem Bauch, der schon leicht rundlich war. „Junge, ich stehe mit einem Fuß im Grab und mit dem anderen auf einer glitschigen Bananenschale. Ich bin noch nicht bereit, einfach in die Grube zu rutschen. Muss erst noch ein paar hübsche Angeltouren machen, und wenn ich hierbleibe, habe ich dafür keine Zeit.“

Wes saß in seinem Stuhl und achtete auf eine gerade Haltung. Der Doc hatte ihn vom ersten Tag an Junge genannt, aber mit seinen siebenunddreißig Jahren fühlte sich nichts mehr an ihm jung an. „Aber …“

„Du weißt, wo du mich findest, wenn du mich brauchst. Nach dem, was ich von Agnes gehört habe, kommst du hier gut zurecht. Bisher gab es keine Beschwerden, das ist ein gutes Zeichen.“

„Nun, wenn Sie nicht hier sind, um mich rauszuwerfen, was verschafft mir dann diese Ehre?“ Wes verschränkte die Finger und versuchte, nicht den Atem anzuhalten, denn er wusste, dass etwas nicht stimmte.

„Agnes und ich haben darüber gesprochen, und wir haben beschlossen, dass es auch für sie Zeit ist, sich zur Ruhe zu setzen.“ Der Doc nickte wieder, wobei seine beeindruckende Mähne auf und ab wippte.

Wes setzte sich aufrechter hin. „Aber Sie haben doch gesagt, sie würde hier sein, um mir bei der Einarbeitung zu helfen.“ Ungläubig schüttelte er den Kopf und rieb sich das Kinn. „Ich habe keine Zeit, mich um die Patienten zu kümmern und die Praxis zu organisieren. Vor allem, wenn ich mich mit Ihrem veralteten Papierablagesystem herumschlagen muss. Ihre Frau hat versprochen, noch eine Weile weiterzumachen.“

Gutmütig griff der Doc nach Wes’ Arm über den Schreibtisch und tätschelte ihn. „Beruhige dich, Junge. Agnes ist bereits auf der Suche nach einer neuen Bürokraft. Und sie lässt dich nicht im Stich, bis sie einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin eingearbeitet hat.“

Wes stand auf und atmete tief aus, auch wenn er sich nicht wirklich besser fühlte.

„Okay. Haben Sie noch mehr Überraschungen für mich, bevor ich für heute die Türen öffne?“, fragte er, während er sein Jackett auszog und es durch seinen weißen Laborkittel ersetzte. Nachdem er das Stethoskop umgehängt und seine Krawatte zurechtgerückt hatte, ging er zur Tür und wartete auf die Antwort des Docs.

„Nein.“ Nachdenklich strich sich der Doc den Schnurrbart glatt. „Aber ich melde mich, sobald ich etwas Neues weiß.“ Während er langsam aufstand, ächzten seine Knie. „Junge, mach dir keine Sorgen um Dinge, die du nicht kontrollieren kannst.“

„Ich werde mein Bestes geben, aber Sie wissen ja, wie ich bin.“ Wes gluckste leise und nahm die väterliche Umarmung des alten Mannes an, bevor sie das Büro verließen. Der Doc rügte ihn gern für sein zwanghaftes Bedürfnis, sich an einen genauen Plan zu halten. Auf grausame Weise hatte das Leben ihm bewiesen, dass die meisten Dinge außerhalb seiner Kontrolle lagen, also tat er sein Bestes, um alles, was er kontrollieren konnte, fest im Griff zu haben. Als er sich in dem frisch gestrichenen blauen Flur umsah und dann auf den Mann blickte, der neben ihm stand, begann er daran zu zweifeln, dass er in seiner momentanen Lage überhaupt irgendetwas unter Kontrolle hatte.

„Gib mehr als dein Bestes“, erwiderte der Doc lächelnd und steuerte auf das Büro seiner Frau am Ende des Flurs zu.

Das erste Mal hatte Wes Dr. Wallace Nelson elf Jahre zuvor auf einer Konferenz getroffen, auf der der rüstige alte Mann der Hauptreferent gewesen war. Sobald er seinen Platz hinter dem Podium eingenommen hatte und in seinem schweren Südstaatenakzent zu sprechen begann, schienen alle Anwesenden von ihm bezaubert zu sein. Tatsache war, der Mann verstand sein Handwerk, wenn es um Kinderheilkunde ging. Er hatte genau die richtige Mischung aus alter Schule und modernster Wissenschaft, um bei einem kranken Patienten, der Hilfe brauchte, das Richtige zu tun. Wes wusste, dass er sich glücklich schätzen konnte, den brillanten Mann seinen Mentor nennen zu dürfen, auch wenn der Doc ihn immer wieder mit den schrulligsten Lebensweisheiten bedachte. Wes erinnerte sich an einige der weisen Sprüche, mit denen der Doc ihn im Laufe der Jahre beglückt hatte, und musste leise lachen. Nach einem kurzen Stoßgebet ging er nach vorn in die Praxis, um den Tag zu beginnen.

Hier hatte er mit Ohrenschmerzen, Nasennebenhöhlenentzündungen und Wellnessbesuchen zu tun, was sich anfühlte wie ein laues Lüftchen im Vergleich zu seinen zermürbenden Tagen in der Praxis für Hämatologie und Onkologie. Das war ein medizinischer Bereich, der auch von der Seele eines Arztes einen beträchtlichen Teil einforderte, und nachdem sein Privatleben in die Brüche gegangen war, hatte Wes nicht mehr viel davon übrig gehabt, das er hätte investieren können. Der Plan war gewesen, seine medizinische Laufbahn aufzugeben und zuzulassen, dass die Dunkelheit seines Verlustes ihr Schlimmstes tat. Fast drei Jahre lang war er an diesem trostlosen Ort begraben gewesen, bis ein Anruf vom Doc Anfang letzten Jahres ihm keine andere Wahl gelassen hatte, als ein vor langer Zeit gegebenes Versprechen einzulösen.

Wes verdrängte die Gedanken, die er am liebsten in Alabama gelassen hätte, und konzentrierte sich auf die nächste Patientenkarte, die anzeigte, dass die Patientin an einem Ausschlag litt. Gerade als er sich umdrehte, um in den Untersuchungsraum zu gehen, flog die Eingangstür auf, und ein wildes Durcheinander von einer Frau mit einem Kleinkind, das sich an sie klammerte, taumelte herein.

Die neue, offene Gestaltung der Praxis ermöglichte den Besuchern im Wartezimmer einen freien Blick auf den Rezeptionsbereich und machte es Wes leicht zu beobachten, wie die verstörte Frau auf ihn zustürmte, ohne sich anzumelden. Vom Wartezimmer aus folgten ihr etliche Kommentare der wartenden Erwachsenen.

„He!“

„Sie müssen warten, bis Sie dran sind!“

„Meine Tochter ist die Nächste!“

Die Lady kümmerte sich nicht um die Zurufe. Mit einem riesigen Strohhut und einer Designersonnenbrille joggte sie an Wes vorbei, und etwas an ihr kam ihm bekannt vor, aber er schob den Gedanken beiseite und beeilte sich, sie einzuholen. „Ma’am, Sie müssen sich an der Rezeption anmelden und –“

„Es ist ein Notfall!“, rief die zierliche Frau über die Schulter, steuerte ein leeres Untersuchungszimmer an und hielt den kleinen Jungen fest, als ginge es um sein Leben.

Wes betrat das Schildkrötenzimmer, in dem mehrere der grünen Kreaturen im handgemalten Meeresgemälde an der Rückwand herumschwammen. Er trat zu der Mutter und strich dem Kind über die braunen Locken, in der Hoffnung, es dazu zu bringen, ihn anzuschauen. „Was ist los, kleiner Mann?“ Die einzige Antwort, die er erhielt, war ein leises Schluchzen, während das Kind sich enger an seine Mutter klammerte und das Gesicht in ihrer Halsbeuge vergrub.

„Er hat starke Bauchschmerzen. Der arme Kerl hat sich vor Schmerzen auf dem Boden gewälzt“, antwortete die Mutter, deren Stimme immer noch panisch schrill war.

„Ist er schon einmal in dieser Praxis gewesen?“

Die Mutter nickte, was die große Krempe des Hutes auf und ab wippen ließ. Ein Büschel dunkler Haare war flüchtig darunter gesteckt. „Sein Name ist Collin Prescott.“

Wes steckte den Kopf aus der Tür und winkte der Assistentin, die Akte des Kindes zu holen. Nachdem er sich die Hände gewaschen hatte, ging er zum Untersuchungstisch. „Könnten Sie ihn bitte hier absetzen, damit ich ihn mir ansehen kann?“

Die panische Frau tat, was er sagte, aber sie machte ihm keinen Platz. „Er ist schon seit heute Morgen so. Ich dachte … ich dachte, es würde vorbeigehen, aber es ist nur noch schlimmer geworden. Vielleicht hätte ich direkt in die Notaufnahme gehen sollen, anstatt hierherzukommen …“ Sie redete weiter, während Wes versuchte, an ihr vorbei an den Jungen zu kommen.

„Ma’am, würden Sie bitte zur Seite gehen.“ Wes versuchte, das Kind mit seiner beruhigenden Stimme zu besänftigen, aber es hatte nicht den gewünschten Effekt. Er hatte den Verdacht, dass sich der Junge mehr über die Reaktion seiner Mutter aufregte als über die eigentlichen Bauchschmerzen. Wenn sie ihm aus dem Weg gehen würde, könnte er seine Theorie beweisen. Wes schob sie sanft beiseite, damit er etwas Zugang zu dem Jungen hatte. Er verzichtete darauf, lauter zu werden, um seine Genervtheit zu zeigen, und begann die Untersuchung, wobei er der zierlichen Frau praktisch über Kopf und Schulter griff.

Nachdem die Assistentin ihm die Akte gebracht und er die Untersuchung mit einer Runde Fragen abgeschlossen hatte, war er sich in seiner Diagnose sicher. „Ihr Sohn leidet an Verstopfung.“ Die Mutter war offensichtlich anderer Meinung, denn ihr Gesicht färbte sich leuchtend rosa. „Mrs Prescott, das Licht ist hier so schwach, dass Sie die Sonnenbrille abnehmen können.“

Sie sog die Luft durch die Zähne. „Ich heiße Sophia. Und ich würde sie lieber auflassen, vielen Dank. Aber das hier ist ernster, als Sie denken. Mein Sohn braucht mehr Tests. Warum machen Sie kein Röntgenbild oder ein MRT?“

Wes versuchte erneut, es ihr zu erklären. „Er hat kein Fieber und …“

„Aber er hat sich die linke Seite gehalten!“

Er hob die Hand. „Und das ist ein sehr gutes Zeichen, wenn man bedenkt, dass sein Blinddarm auf der rechten Seite liegt.“

„Doc Nelson würde uns nicht so behandeln!“, schimpfte sie, während sie am Ausschnitt ihres schwarzen T-Shirts zerrte, als würde es sie erwürgen.

Das war genau das, was Wes in diesem Moment am liebsten mit ihr machen wollte.

Wes ballte die Fäuste und schob sie in die Taschen seines Laborkittels, kaum in der Lage, seine Manieren am Krankenbett aufrechtzuerhalten. „Mrs Prescott, ich habe Sie professionell behandelt …“

„Ich verlange eine Röntgenaufnahme!“ Sie stampfte mit dem Fuß auf, was das Kleinkind zu einem weiteren Schluchzen veranlasste.

Wenn sie mich noch einmal unterbricht … „Wissen Sie was? Sie haben recht. Lassen Sie uns ein Röntgenbild machen.“ Kopfschüttelnd führte Wes sie in den hinteren Raum, denn er wusste genau, was das Bild zeigen würde.

Nachdem er zwei Aufnahmen gemacht hatte, geleitete er Mutter und Kind in den Wartebereich. „Ich rufe Sie wieder auf, wenn das Ergebnis vorliegt.“

Er ließ sie dort zurück und entschuldigte sich bei der Patientin mit dem Ausschlag, die den größten Teil der letzten Stunde im Untersuchungsraum „Korallenriff“ verbracht hatte. So viel zu seinem Plan, vergebene Termine möglichst einzuhalten …

Nachdem er drei weitere Patienten behandelt und versucht hatte, die verärgerten Mütter zu beruhigen, die ungeduldig gewartet hatten, untersuchte Wes Collins Röntgenbilder und fand genau das, wovon er wusste, dass er es finden würde. Er verließ sein Büro und schaltete den Röntgenbildbetrachter im hinteren Teil des Empfangsbereichs ein. Er musste woanders angebracht werden, da nun der Wartebereich freie Sicht darauf hatte. Irgendwie hatten sie das bei der Renovierung übersehen.

„Mrs Prescott?“, rief er und winkte sie zu sich herüber.

Sie hielt den Jungen fest und eilte auf ihn zu. „Bitte nennen Sie mich Sophia. Was haben Sie gefunden?“ Vielleicht war ihre Wut beim Warten verraucht, jedenfalls war ihre Stimme nicht mehr so schrill. Wes war überrascht, wie rau ihre Stimme war, ungewöhnlich für eine so kleine Frau.

Wes zeigte auf die Aufnahme. „Sehen Sie die kräftigen weißen Stellen hier?“

Die Frau schob die riesige Sonnenbrille von der Nase und schaute sich das Bild an. Sie keuchte und schob die Brille wieder hoch. „Ja! Sehen Sie? Ich hab’s doch gesagt!“

„Ma’am, die weißen Stellen sind Verdauungsprodukte. Ihr Sohn leidet unter Verstopfung.“ Wes versuchte, es so leise zu sagen, dass nur die Mutter es hören konnte, aber nach dem Gekicher im Wartebereich zu urteilen, war ihm das nicht gelungen.

„Was?“ Ihr Gesicht wurde knallrot, ein Hinweis, dass sie ihn richtig verstanden hatte.

„Collin muss den Darm entleeren.“ Er überreichte ihr eine Liste mit empfohlenen Einläufen und mehrere Broschüren über richtige Ernährung. „Darf ich vorschlagen, dass Sie sich um eine gesündere Ernährung für den Kleinen bemühen? Viel Wasser, viele Ballaststoffe und meiden Sie verarbeitete Lebensmittel. Das wird dazu beitragen, dass so etwas nicht wieder vorkommt.“

„Aber …“ Es schien, als würde sie aus ihrer Verlegenheit aufschrecken, um gleich wieder in Empörung zu verfallen. „Wollen Sie etwa sagen, ich bin eine schlechte Mutter?“

„Ma’am, bitte, Sie müssen Ihre Stimme senken. Ich werde nicht zulassen, dass Sie hier eine Szene machen.“

„Ich soll hier also ganz ungerührt bleiben, während Sie mir sagen, ich sei eine schlechte Mutter?“ Sie ging mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihn los, hielt kurz inne und stach ihm dann den Finger in die Brust. „Das überdenken Sie wohl besser noch mal. Sir.“

Wes konnte das Seufzen nicht länger unterdrücken. „Was ist eine typische Mahlzeit für Collin?“ Als sie nicht sofort antwortete, fuhr er fort. „Sagen Sie mir, was er gestern zu den Mahlzeiten gegessen hat.“

„Einen Donut, ein Happy Meal und … noch ein Happy Meal.“ Sophia senkte den Kopf und sah auf den Boden.

Gut, er hatte gehofft, dass sie sich verraten würde.

„Also kein Obst und Gemüse. Sondern nichts als Müll.“ Vielleicht hätte er die letzten Worte für sich behalten sollen, aber die Frau hatte seine Geduld so sehr strapaziert, dass kaum noch etwas davon übrig war. Außerdem war sie schließlich diejenige, die am Zustand ihres Sohnes schuld war.

„Er hat in letzter Zeit eine Menge durchgemacht … Ich wollte nur …“ Sie unterdrückte ein Schluchzen, aber das beeindruckte Wes nicht, nein, kein bisschen.

„Das ist keine Entschuldigung. Und um ehrlich zu sein, ist es unverantwortlich, seinem Kind beizubringen, dass es in Ordnung ist, seine Gesundheit auf diese Weise zu vernachlässigen, wenn das Leben schwierig wird.“ Er wandte sich zum Gehen, wohl wissend, dass er schon mehr als genug gesagt hatte, aber der Drang, noch einen letzten Seitenhieb über die Schulter auszuteilen, siegte. „Es wäre wahrscheinlich ein guter Zeitpunkt, es mit dem Töpfchentraining zu versuchen. Es wird jedenfalls mehr als nur eine Windel voll sein, sobald die Medizin verabreicht ist.“ Er hielt das Röntgenbild hoch, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen.

Das Kind war fast drei Jahre alt, und die Mutter hatte bei der Untersuchung zugegeben, dass sie noch nicht einmal versuchte, es aufs Töpfchen zu setzen. Wes schüttelte den Kopf und versuchte, seine aufsteigende Wut zu zügeln. Er musste seine persönlichen Gefühle unbedingt aus der Praxis heraushalten. Aber nun versagte er bereits in der ersten Woche.

„Wie können Sie es wagen, so mit mir zu reden! Das war das letzte Mal, dass Sie meinen Sohn gesehen haben! Wir werden nicht wiederkommen!“

Nicht, dass mir das leidtäte, dachte er, schwieg aber und huschte in sein Büro, um dem ruinierten Tag zu entfliehen. Und das alles, weil eine selbstgerechte Zicke dachte, sie könne in seine Praxis stürmen, als gehöre ihr der Laden.

Er würde alles dafür geben, einen Sohn zu haben, den er richtig ernähren und aufs Töpfchen setzen und … lieben könnte.

3

Einige Lichterketten im Edison-Stil schaukelten in der Abenddämmerung leicht in der Meeresbrise, während die Zahl der Gäste auf der Terrasse von Opal und Lincoln Cole zunahm, die wieder einmal eine ihrer legendären Partys feierten. Sophia hörte dem fröhlichen Geplauder und unbeschwerten Lachen zu und fühlte sich völlig allein.

„Da bist du ja!“ Opal glitt zu ihr herüber. Mit ihrem hochgesteckten Haar und dem flotten Kleid sah sie aus wie ein Pin-up-Girl aus den Fünfzigern.

„Wow, Opal. Das Kleid ist fantastisch“, kommentierte Sophia, während sie mit der Hand über die Seite ihres geblümten Maxikleides strich und sich alles andere als gut fühlte.

Opal drehte sich im Kreis, sodass der Saum mit den leuchtend roten Kirschen auf dem dunkelblauen Stoff ihres Cocktailkleides herumschwang. „Danke. Linc sagt, ich sehe heute Abend aus wie jemand aus der Rockabilly-Szene.“ Sie reichte Sophia einen Cocktail, den sie auf fast jeder Sommerparty tranken, seit sie sich erinnern konnten: Ananassaft mit rosa Limonadensirup – das Ganze gefroren, dann mit Ginger Ale gemixt und als Slush serviert.

„Meine Liebe, dein Mann läuft die meiste Zeit in fadenscheinigen T-Shirts, löchrigen Jeans und barfuß herum. Woher weiß er überhaupt etwas über Rockabilly-Mode?“ Sophia nahm einen Schluck von dem süßen, spritzigen Drink.

„Das wüsstest du wohl gern, was?“, sagte Lincoln selbstgefällig, der sich langsam zu ihnen gesellte. Er streckte die Hand aus und zupfte an Sophias Haaransatz. „Freut mich, dass du eine Haarbürste gefunden hast.“

Sophia konnte es sich gerade noch verkneifen, die Augen zu verdrehen. „Freut mich ebenfalls für dich, dass du das Gleiche getan und deine Mähne zur Abwechslung mal nicht vor den Augen hast.“ Kein Mann sollte so schöne Haare haben, schon gar nicht ein solcher Riesen-Neandertaler wie Lincoln Cole, dachte Sophia.

„Nur kein Neid“, frotzelte Lincoln, als könne er ihre Gedanken lesen, und strich sich das dunkle Haar zurück. Es war schulterlang und fiel in glänzenden Wellen herab.

„Sei kein Idiot.“ Jetzt verdrehte sie doch die Augen. Aus irgendeinem Grund hatte Lincoln es auf sich genommen, ihr Großer-Bruder-Ersatz zu werden. Einerseits zog er sie bei jeder Gelegenheit auf, andererseits beschützte er sie leidenschaftlich. Sie war immer noch nicht darüber hinweg, dass er sich mit Ty eine ziemlich heftige Schlägerei geliefert hatte, als sie das letzte Mal mit blauen Flecken bei Opal und Linc aufgetaucht war. Lincoln hatte zwar Spaß daran, sie bis zur Weißglut zu reizen, aber er ließ nicht zu, dass jemand anderes das tat. Egal, wie nervig er war, sie hatte ihn gern auf ihrer Seite. Er war definitiv einer von den Guten, und sie konnte Gott nicht genug dafür danken, dass er ihn zu Opal geschickt hatte. Zusammen waren die beiden ein unschlagbares Team.

„Sie hat es sogar geschafft, etwas anderes als die Trauerkleidung zu tragen.“ Diese treffende Bemerkung kam von dem anderen Mann, der es liebte, ihr auf die Nerven zu gehen.

Sophia fuhr herum und funkelte August an, der von einem Ohr zum anderen grinste, ihr das halb geleerte Glas aus der Hand nahm und es austrank. „Hey!“ Sie langte zu ihm hin und kniff ihn ordentlich in den Unterarm.

August wich aus ihrer Reichweite zurück. „Zum …, Sophia! Wie oft haben wir dir schon gesagt, dass du deine Klauen bei dir behalten sollst?“ August schnalzte tadelnd mit der Zunge und war so dreist, ihr das leere Glas wieder in die Hand zu drücken.

Sie wollte sich gerade auf einen Schlagabtausch mit dem berühmtesten Künstler der Stadt einlassen, als jemand erschien, der nicht nur ihre Aufmerksamkeit erregte, sondern auch die der anderen, die um sie herumstanden.

„Wes! Schön, dass Sie es geschafft haben!“, rief Opal über die Musik und das Geschnatter hinweg, um ihn auf sich aufmerksam zu machen.

Mit selbstbewusstem Schritt schlenderte Dr. Weston Sawyer in einem hellblauen Hemd und perfekt gebügelten Kakihosen zu ihrer Gruppe herüber, und Sophia konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Gepflegt und selbstsicher nickte er jeder Lady zu, an der er vorbeikam, während ein Lächeln um seine Lippen spielte. Einen bedeutsamen Moment lang ruhte sein Blick auf Sophia. Offensichtlich erkannte er sie jedoch nicht – oder sie interessierte ihn nicht –, denn er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Opal zu.

„Danke für die Einladung. Leider hatte ich am Montagmorgen keine Zeit, mich vorzustellen. Aber die Kekse waren köstlich.“

Zwei Dinge fielen Sophia sofort auf. Erstens hatte der Mann eine so geschmeidige Stimme, dass sie sich am liebsten an ihn gekuschelt hätte. Und zweitens verabscheute sie sich selbst für diesen Gedanken. Daran war eindeutig die Einsamkeit ihres neu entdeckten Singlelebens schuld. Aber dann fiel ihr noch etwas Drittes ein, nachdem sie begriffen hatte, was er gesagt hatte. Sie funkelte Opal aus zusammengekniffenen Augen an, aber ihre Freundin ignorierte sie geflissentlich.

„Sie mussten auspacken. Es gibt nichts, wofür Sie sich entschuldigen müssten. Schön, dass Ihnen die Kekse geschmeckt haben.“ Opal lächelte ihr herzlichstes Lächeln.