Treue ist auch keine Lösung - Holger Lendt - E-Book

Treue ist auch keine Lösung E-Book

Holger Lendt

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Beschreibung

Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen: Treue ist die Ausnahme, nicht die Regel. Und: Untreue kann Liebe sein, Treue dagegen lieblose Gewohnheit. Noch nie zuvor waren so viele Ideen zu diesem Thema gleichzeitig verfügbar und selten gab es eine so große Freiheit, zwischen ihnen zu wählen.Trotzdem sind Partnerschaften nach wie vor fest mit dem Wunsch nach Treue verknüpft. Fremdgehen stellt für viele eine der größten vorstellbaren Krisen dar. Was sind die richtigen Lösungsstrategien für das Dilemma aus Treuewünschen und Untreuesehnsüchten?Vor dem Hintergrund ihrer provokanten These – Liebe braucht keine Treue – zeigen die Autoren, dass es sich lohnt, Modelle zu entwickeln, die sich an der Liebe orientieren und nicht an romantischen Klischees.

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Seitenzahl: 428

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Für Claudio Naranjo

ISBN 978-3-492-95365-8 Februar 2016 © Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2011 Umschlaggestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin Umschlagfoto: Getty Images/Neo Vision

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck  

PROLOG BEI FISCH UND CHIPS

»Wovon handelt eigentlich das neue Buch von dir und deinem Kollegen Holger Lendt?«, fragt Conny interessiert beim Warten im beliebten Fisch- und Chips-Imbiss an der Elbe.

»Von der Liebe«, antwortet Lisa Fischbach.

»Versteh ich nicht«, erwidert Conny, »im Titel stand doch was von Treue und dass sie keine Lösung ist.«

»Stimmt«, fährt Lisa fort, »aber das Buch hat nichts mit einer Fremdgehfibel zu tun. Es geht vor allem um die Freiheit, sich seiner Bedürfnisse in der Liebe bewusster zu werden. So verblüffend es sich zunächst anhört, doch auch Untreue kann Liebe sein. Das hängt schließlich nur von der Perspektive ab.«

»Stimmt«, fällt Sybille aus dem Controlling ein. »Eine Freundin von mir ist seit fünf Jahren mit einem verheirateten Mann zusammen. Verrückt, sie hat sogar ein Kind von ihm. Er war bei der Geburt dabei, sie waren schon zusammen im Urlaub. Keine Ahnung, wie er es hinkriegt, dass seine Frau nichts davon mitbekommt. Ich habe ihn kennengelernt, er ist an jedem ihrer Geburtstage mit dabei. Seine Frau scheint nichts zu ahnen, verlassen wird er sie wohl auch nicht. Meine Freundin will sich aber nicht von ihm trennen, irgendwie hat sie sich damit arrangiert. Sie spricht immer von Liebe. Er übrigens auch.«

»Hm, super«, platzt Johanna kopfschüttelnd heraus. »Seine Frau würde das bestimmt anders nennen. Typisch Mann. Die sind doch eh alle untreu«, flucht sie und steckt sich zur Beruhigung ein Stück knusprigen Fisch in den Mund.

»Frauen sind doch auch nicht besser«, wirft Conny ein. »Die sind nur raffinierter im Vertuschen.«

Johanna unterbricht genervt: »Glaube ich nicht, Conny. Männer gehen ganz sicher öfter fremd.«

»Also, mein Bauchgefühl sagt mir, dass Frauen es ähnlich oft tun, nur eher die Klappe halten, weil eine Frau mit vielen Lovern …«

»Eben«, mischt sich Sybille ein. »Aber die Kerle sind tolle Hechte, wenn sie Eroberungen sammeln. Wir leben im 21. Jahrhundert und sind immer noch nicht bei der sexuellen Gleichberechtigung angekommen.«

»Also, ich will Treue, aber ich bin auch überzeugt, dass das nicht auf Dauer klappt.« Johanna wirkt nachdenklich.

»Laut Statistik ist das wohl wirklich ein Trend«, wirft Lisa ein. »Gunter Schmidt, bei dem ich hier am UKE in Hamburg Sexualwissenschaften studiert habe, hat mal sinngemäß geschrieben, dass Partnerschaften in den letzten dreißig Jahren kürzer, aber treuer geworden sind.«

»Na, dann ist das ja wohl kein Kunststück. Aber sag mal, Johanna, wenn du dich schon so aufregst, wo fängt denn für dich Untreue an?«, will Sybille wissen. »Ist das nicht für jeden unterschiedlich?«

»Also, für mich ist das ganz klar: eben wenn was passiert. Was Körperliches halt«, antwortet Johanna.

»Wie, etwa schon beim Küssen?«, hakt Sybille nach.

»Na klar. Für mich geht das gar nicht. Küssen ist doch voll intim.«

»Du würdest dich von deinem Freund trennen, nur weil der auf ’ner Party völlig betrunken mit einer anderen geknutscht hat, auch wenn das Ganze völlig bedeutungslos war?«

»Ja, das geht für mich zu weit.«

»Wow! Nur gucken, nicht anfassen, was?«, meint Conny.

»Genau, da hört’s auf. Schluss mit lustig«, unterstreicht Johanna energisch.

»Ach, Mädels, das ist so leicht gesagt. Wenn es dann passiert, sieht es doch ganz anders aus«, wirft Conny ein.

Sybille nickt: »Lässt sich hier bei Pommes leicht drüber quatschen. Aber ich finde das echt schräg, Johanna. So eine blöde Knutscherei fändest du echt schlimmer, als wenn dein Freund sich beim Onanieren eine andere vorstellt?«

»Ja«, bestätigt Johanna.

Sybille bleibt hartnäckig: »Und es würde dich auch nicht stören, wenn er in eine Kollegin verliebt wäre, die er so heiß findet, dass er an sie denkt, wenn er mit dir schläft?« Johanna: »Stören würde mich das schon, aber das ist nicht untreu für mich. Da ist doch nix passiert.«

»O Gott, ich bekomme schon bei der Vorstellung Herzrasen. Das geht doch gar nicht. Das ist voll wie benutzt zu werden«, entgegnet Conny.

»Tja, die Gedanken sind frei«, grinst Sybille. »Man muss ja nicht alles wissen.«

»Dass du kein Engel bist, ist mir schon klar. Stille Wasser sind tief, ne?« Conny knufft Sybille in die Seite und fügt schelmisch hinzu: »Wer von uns noch nie untreue Gedanken hatte, werfe den ersten Stein … Oh, Leute, wir müssen los, wir haben uns verquatscht.«

Beim Zahlen kommentiert Sybille abschließend: »Spannend, Lisa, womit du dich beruflich so beschäftigen darfst. Das sind Themen, über die man viel zu selten spricht. Morgen wieder gleicher Ort, gleiche Zeit?«

Ja – die Damen werden sich wiedersehen, um bei Fish & Chips in der Mittagspause weiter in das Mysterium der Liebe vorzudringen … mitten im Leben!

VORGESCHMACK

If you love somebody, set them free.

Sting

Haben Sie kurz Zeit? Dürfen wir Sie mal eben mit ein paar scheinbar haltlosen Behauptungen reizen? Ja? Wunderbar, dann legen wir gleich los:

Treue ist Liebe – Untreue auch!

Untreue ist statistisch ebenso normal wie Treue.

Es ist jedem Menschen möglich, mehrere andere Menschen

 gleichzeitig zu lieben.

Definitionen von Untreue gibt es so viele, wie es Menschen gibt.

Die meisten Menschen halten sich für treuer, als sie sind.

Kein Mensch kann sich in Sachen Treue mit einer Amöbemessen – das sollte zu denken geben.

Es soll möglich sein, offener zu lieben … Das hat man mal irgendwo gehört oder gelesen, aber als Option wahrgenommen hat man es nicht. In der Beziehungsleitkultur der Monogamie werden andere Modelle als nicht lebbar abgeurteilt, nach dem Motto: »Die freie Liebe ist gescheitert!« Tja – ist sie das?

Wir haben sie seit längerer Zeit beobachtet und verraten Ihnen ein Geheimnis: Sie treibt sich herum, sie zieht um die Häuser, sie lebt da, wo keiner sie vermuten würde. Sie ist ein Kind der Freiheit, und das spüren wir auch, wenn sie uns richtig erwischt!

Wenn wir verliebt sind, dann scheint alles möglich. Es herrscht ein Gefühl der Freiheit und Grenzenlosigkeit, das uns glauben lässt, der Horizont sei nur einen Schritt entfernt. Dieses Gefühl trägt uns durch jede Minute des Tages. Wir haben uns in jemand anderem und damit eine Erweiterung unserer selbst gefunden: Das Wir, nach dem wir uns vielleicht schon lange gesehnt haben, ist plötzlich Wirklichkeit. Ein Blick aus den Augen des geliebten Menschen verleiht uns Flügel, und wir spüren, wer und warum wir sind.

Was dann einsetzt, ist ein leiser, vollkommen unschuldiger Impuls des Festhaltens am frisch erblühten Glück. Augenblick, verweile doch! Ebendieser Impuls dreht dem ganzen Zauber über kurz oder lang ziemlich zuverlässig den Saft ab. Mit einem Mal geht es um Festhalten, um »Verträge« und Sicherheit, denn unser Garten Eden (und das ist er ohne Zweifel) soll natürlich ewig blühen. Haben wir nämlich unser »Ich« auf ein »Wir« erweitert, hängen wir daran fast so wie an unserem Leben.

Wer dies für übertrieben hält, ist vermutlich noch nie betrogen worden. Es gibt wenige Erlebnisse, die von Betroffenen als vernichtender und qualvoller erlebt werden. Der Seitensprung des Partners ist für den Großteil der Betrogenen ein Fall ins Bodenlose, ein Trauma, das viele niemals überwinden. Oft bleibt das Erlebte unverarbeitet an ihnen haften und begleitet sie in weitere Beziehungen. Der Realitätsverlust, den der Betrogene erlebt, ähnelt einer Psychose. Unsere Welt reißt entzwei und uns selbst gleich mitten durch, und nichts und niemand kann diesen gähnenden Abgrund schließen. Absturz ins Nichts, Trennung, Bauchlandung, Ende der Durchsage!

Es ist verständlich, dass wir uns eine solche Erfahrung gerne ersparen möchte. Also schwören wir einander vorsorglich die Treue und erwarten, dass dieser Deal bis auf Widerruf Bestand hat. Nur übersehen wir dabei eine winzige, aber bedeutsame Kleinigkeit: Wir begegnen unserem Schicksal oft auf ebendem Weg, den wir gewählt haben, um ihm zu entfliehen!

Mit einem distanzierten Blick auf die Sache mit der Treue und der Liebe wird schnell das Dilemma deutlich, in dem die Liebe in unserer Gesellschaft steckt. Noch vor zwei bis drei Jahrzehnten waren Beziehungen laut einer Studie der Universität Hamburg untreuer, aber dafür dauerhafter. Wer heutzutage bei Menschen auf Partnersuche nachfragt, bekommt Treue zuverlässig als höchstes Gut für die künftige Beziehung genannt. Wer hingegen langjährig gebundene Paare befragt, wird Treue oft nicht mal in den Top Ten der Erfolgsfaktoren vorfinden.

Unsere Beziehungen ächzen unter der Last der Ansprüche, die wir an sie stellen und die an der Realität vorbeizugehen scheinen. Nun ist die Frage berechtigt, ob dieses Dilemma wirklich neueren Datums ist oder ob dieser Konflikt zwischen Hirn, Herz und Hose nicht seit Urzeiten zum menschlichen Dasein dazugehört. Unsere Antwort ist ein entschiedenes »beides«!

Natürlich gibt es im Menschen widerstreitende Stimmen. Sogar die moderne Forschung teilt unser Gehirn in drei Teile ein: Hirn, Herz und Hose heißen dort nur anders, nämlich Neocortex, limbisches System und Stammhirn. Jeder Teil hat ganz andere Aufgaben, und es gibt durchaus Kompetenzgerangel im Kopf des Homo sapiens. Wenn wir den vernunftbegabten Teil entscheiden lassen, sagt der vielleicht entschlossen: »Treue«, aber sehr viel weiter unten werden ganz andere Entscheidungen getroffen, und es gelten völlig andere »Werte«. Unter Umständen nimmt das Stammhirn bei der Arbeit am Fortbestand der Art den Wunsch nach Treue von oben kaum wahr, geschweige denn ernst, und so passiert zwei angeblich vernunftgeleiteten Wesen das, was nicht passieren darf.

Diese innere Dreifaltigkeit gibt es also seit Menschengedenken, aber der Umgang mit dieser Tatsache war noch bis vor zwei-, dreihundert Jahren ein völlig anderer. Bis zum Zeitalter der Romantik war nie in großem Maßstab versucht worden, eine gesellschaftliche Institution wie die Ehe mit einem Gefühl wie der Liebe zusammenzubringen.

Die Idee der Treue, also der Zuverlässigkeit und Sicherheit, ist für eine Wirtschaftsgemeinschaft, wie es die Ehe stets war, sehr sinnvoll, denn die Werte, die dort geschaffen wurden, waren auf Verlässlichkeit angewiesen. Ein Gefühl hingegen konservieren zu wollen, widerspricht seinem Wesen, denn schon im Wort Emotion steckt die Beweglichkeit. Und was sich bewegt, bringt Veränderungen und damit Risiko mit sich, nicht Festigkeit und Halt.

Man könnte also sagen, Liebe und Treue beißen sich irgendwie!

Sind Sie noch da? Reden Sie noch mit uns? Phantastisch!

Vielleicht dürfen wir uns kurz vorstellen, bevor wir auf den restlichen Seiten dieses Buches die Thesen einer freiheitlich gedachten Liebe mit Leben füllen und klarmachen, dass wir trotzdem viel von intelligenter, individueller Treue halten und Fremdgängerei wie auch Eifersucht für tragische Übel der Monogamie.

Lisa Fischbach – freut mich! Holger Lendt – angenehm!

Wir haben uns in unserem Leben bereits früh und eingehend mit dem Thema Liebe und Partnerschaft beschäftigt. Beide erlebten wir als Kinder äußerst stabile eheliche Bilderbuchverhältnisse zu Hause. Wir fanden in unseren Eltern beste Voraussetzungen dafür, Monogamie unhinterfragt als Selbstverständlichkeit zu sehen. Tatsächlich entwickelten wir aber völlig unabhängig von einander vor dem Hintergrund dieser recht luxuriös bereiteten Nestwärme die Neugier für den Blick über den Tellerrand. Daheim konnten wir lernen, dass Beziehungen auch mit bewusstem Bemühen zu tun haben und nicht bezugsfertig vom Himmel fallen, sondern ein recht arbeitsintensives Gemüse sind. Beide empfanden wir die Liebesbeziehung als Königsdisziplin des mensch lichen Miteinanders und entwickelten entsprechende Wertehaltungen. Als wir später Beziehungen beobachten konnten, die so ganz anders zu funktionieren schienen – wo es nämlich möglich war, dass zwei Liebende im Streit urplötzlich in Hass und Abwertung verfielen –, interessierte es uns umso mehr, wie es zu einer solchen Entwicklung kommen kann. Deshalb trafen wir beide recht früh den Entschluss, Psychologie zu studieren und unser leidenschaftliches Interesse für Herzensdinge zum Beruf zu machen. Im Studium der Sexualwissenschaften lernten wir uns kennen und stellten bald fest, dass uns das Ungewöhnliche nie schockierte, sondern als Bezugspunkt für das gemeinhin Normale interessierte – man könnte sagen: Nichts Menschliches ist uns fremd –, auch wenn es uns und unseren Werten nicht entsprechen sollte. So können wir noch heute vieles erst einmal vorurteilsfrei betrachten. Gerade Extreme helfen uns häufig dabei, grundlegende Prinzipien zu verstehen. Das betrifft auch das Thema Treue.

Untreue ist zum Beispiel gar keine pathologische Ausnahme und ist es in der Menschheitsgeschichte nie gewesen. Wir möchten in diesem Buch deshalb eine Perspektive »gegen« die Monogamie entwickeln, die sich nicht gegen die Monogamie an sich richtet, sondern gegen das hochproblematische Dogma, das aus ihr gemacht wurde.

Wir tun dabei etwas, das wir im Kontext einer Paarberatung nur sehr begrenzt tun können: Wir ergreifen Partei und beziehen eine Position, um einen wichtigen Gedankengang ausführlicher darzustellen, der für viele gewinnbringend sein könnte.

Wenn Menschen, die durch die Untreue ihrer Partner tief verletzt wurden, einzeln oder als Paar zu uns kommen, steht meist der Schmerz im Vordergrund. In solchen Fällen ist es wichtig zu verstehen, dass Liebe und der Wunsch nach Treue fast automatisch Hand in Hand gehen; der Betroffene soll das eigene Selbstwertgefühl in einem Scherbenhaufen wiederfinden, was in diesem Stadium eine Grundsatzdiskussion über die Treue an sich ziemlich absurd erscheinen ließe. Dennoch ist es wichtig zu erkennen, dass an der höchst leidvollen Situation vor allem die Umstände schuld sind und dass es etliche Paare oder sogar ganze Kulturen gab und gibt, die Eifersucht völlig anders bewerten und offen mit anderen Partnern Umgang pflegen. Wir kennen Paare, die genussvoll, einvernehmlich und geplant Hochverrat am Treue ideal begehen und damit sehr zufrieden leben.

Langfristig wäre es die beste aller Lösungen festzustellen, wes Geistes Kind zwei Menschen sind, und dann – so unabhängig wie möglich von den eigenen Konditionierungen – ein individuelles Arrangement für die Untreuesehnsüchte und Sicherheitsbedürfnisse des jeweiligen Paares zu finden. Für solche Überlegungen ist inmitten der Katastrophe allerdings nur selten Raum. Darum haben wir uns dazu entschlossen, die weitaus weniger bekannten Möglichkeiten, Liebe zu leben, in einem Buch darzustellen, das geduldig wartet, etappenweise gelesen und verdaut werden kann und auch mal an die Wand geworfen werden darf. Werfen Sie, wir halten das aus!

Da alle Welt glaubt, dass Liebe durch Untreue zerstört wird, möchten wir zeigen, dass die Liebe über der Diskussion von Treue und Untreue erhaben ist. Wir wollen einen anderen Zugang zu dieser wundervollen Kraft aufzeigen. Einladen möchten wir alle, die sich in ihrem Leben schon von der Liebe geadelt, verwundet, verraten und verkauft oder im Stich gelassen fühlten, die in ihr ein unerreichbares Ideal sehen, die bereits mit ihr experimentiert haben, die anders über sie denken oder sie schlichtweg nicht begreifen können. Sie sind willkommene Leser dieses Buches. Wir möchten zeigen, dass Untreue normal ist, dass das Dogma der Treue Menschen und Beziehungen auf dem Gewissen hat, obwohl die Treue einen wundervollen Kern hat und würden dann gerne gemeinsam mit Ihnen konstruktiv über die Liebe grübeln, streiten und herumspinnen.

Wir würden uns freuen, wenn Sie uns beim Denken helfen könnten, denn eines sei vorab gesagt: Am Ende eines Buches könnte man gleich wieder von vorne beginnen, weil Wissen sich entwickelt, wenn es angewendet wird. Wir hoffen, Sie können unsere Gedanken brauchen, wenn Sie der Liebe mal wieder in die Arme laufen. Allerdings bräuchte dieses Büchlein dafür noch etwas mehr Zeit mit Ihnen, als für das Lesen dieser ersten Seiten notwendig war. Zeit ist kostbar – wollen Sie investieren?

1 UNTREUE

Die Macht darf nur insoweit von mir fordern,

dass ich ein sittlicher Mensch sei, als sie selbst sittlich

das ist, als sie nicht Macht ist.

Johann Heinrich Pestalozzi

Herzen in Not – Liebe und Sicherheit

Fear can stop you loving

Love can stop your fear …

Morcheeba, »Fear and Love«

Ich liebe dich! Dieser schlichte Satz ist wahrscheinlich das Schönste und Wichtigste, was ein Mensch dem anderen sagen kann. Er ist das »Sesam öffne dich« des Herzens und weckt ganze Gebirge von Assoziationen: Glück, Zärtlichkeit, Harmonie, Intimität, Vertrauen, Hoffnung, Ankommen, Öffnung, Tiefe, Hingabe, Erotik, Sinnlichkeit, Leichtigkeit, Verspieltheit, Erhabenheit, Einvernehmlichkeit, Glaube und natürlich Treue!

Und wir wollen lieben! Wir sehnen uns danach, dass die Liebe unser Leben adelt und uns die Vollkommenheit unseres Daseins spüren lässt, die wir im Alltagsgrau so oft aus dem Blick verlieren. Wenn im Film geliebt wird, wird die Musik schöner, die Farben werden bunt und hell, und die Perspektive verändert sich. Und das entspricht auch unserer eigenen Erfahrung. Nur zu verständlich, dass wir am liebsten dauernd und für den Rest unseres Lebens lieben wollen, wenn es irgendwie möglich ist.

Natürlich ist das nicht ganz so einfach, denn wir können das Gefühl der Liebe weder aktiv hervorrufen, noch können wir es festhalten – und das Schlimmste ist, dass dies ebenso für den Menschen gilt, den wir lieben!

Es ist logisch – da, wo wir lieben, wollen wir auch geliebt werden. Da, wo wir jetzt geliebt werden, wollen wir auch in Zukunft geliebt werden. Und weil die Liebe so selten und kostbar ist, hängen wir an dem einen Menschen, mit dem wir sie erleben. Was könnte da schlimmer sein als der Verlust der Exklusivität?

Wir können sicherlich akzeptieren, wenn eine Liebe mitunter unglücklich ist, wenn es mal rau statt zärtlich zugeht, wenn es mal Missklänge in der Harmonie der Seelen gibt … aber Untreue wird als der Dolchstoß in das Herz unserer Beziehung empfunden. Wir können mit fast allem anderen besser umgehen als mit dem Verlust der Treue.

Obwohl uns allen die Treue so wichtig ist, ist in der Liebe heutzutage irgendwie der Wurm drin. Wir beraten seit Jahren partnersuchende Singles. Dabei haben wir mehr als einmal erlebt, dass diejenigen, die Treue großschreiben, parallel mehrere vielversprechende Partneroptionen daten – eine Art Untreue vor der Beziehung! Überhaupt wird derzeit viel hintergangen. Seitensprungagenturen im Internet werden offen im Fernsehen beworben und boomen. Man darf getrost davon ausgehen, dass der Grund dafür in der regen Nachfrage beider Geschlechter liegt. Daneben gibt es diverse Sexkontaktseiten ganz unterschiedlichen Niveaus.

Dafür, dass unsere Gesellschaft angeblich alle sexuellen Freiheiten genießt, wird noch sehr viel Sexuelles voreinander versteckt. Auch die angeblich sexuell Befreiten scheinen sich nicht wirklich frei zu fühlen. Ich – Holger Lendt – treffe zum Beispiel einen alten Bekannten – einen ausgemachten Schürzenjäger –, und man plaudert. Mir wird (ohne Not) versichert, dass es nun in Richtung Sesshaftigkeit mit seiner einzig Richtigen gehe. »Mann« sei ruhiger geworden. Am Abend auf Recherche in einer Sexkontaktbörse sehe ich dann zufällig das Bild vom Schürzenjäger a. D. im gut frequentierten Single-Profil (!) von »Loverboy2000«.

In unserer Gesellschaft geht offensichtlich mehr, als wir gerne zugeben wollen, und irgendwie auch nicht. Es gibt sie tatsächlich, die frei flottierenden Lustbarkeiten auf Sexpartys oder -messen und in Swingerclubs, und das reiben uns die Medien ungefragt als neue Standards unter die Nasen. Wer Sex und Lust nicht ganz hoch hängt, muss sich schon fast schlecht fühlen. Weil sich damit einfach gut Kasse machen lässt, werden wir medial versext, was unsere Wahrnehmung des tatsächlichen Geschehens aufs Glatteis führt. Die Beschreibung »oversexed and underfucked« versucht sich dem Phänomen zu nähern, denn gerade in diesem Bereich ist den Tatsachen auf seriöserem Wege gar nicht so leicht beizukommen.

In der Sexualforschung ist es ein offenes Geheimnis, dass Statistiken über sexuelle Gewohnheiten mit besonderer Vorsicht genossen werden müssen. Hier wird so viel kleingeredet oder aufgeblasen, geschönt oder weggelassen und natürlich auch unterschiedlich gefragt, dass Statistiken zum Thema Untreue sehr unterschiedliche Ergebnisse zutage fördern. Spitzenwerte finden sich im Fachbuch »Systemische Paartherapie« von Arnold Retzer, einem der führenden deutschen Sexual- und Paarberater. Diese durchaus ernst zu nehmenden Angaben behaupten, dass neun von zehn Männern und drei von vier Frauen mindestens einmal in einer festen Beziehung untreu waren und dass jede zweite Ehe von Untreue betroffen ist. Dabei sollten wir noch wissen, dass Singles auf Partnersuche nach den zahlenmäßig umfangreichen Untersuchungen der Online-Partnervermittlung Elitepartner.de zu 90 Prozent Treue als wichtigste Anforderung an eine Beziehung stellen. Auch Menschen in Beziehungen halten sie für wichtig – und die sollten es ja größtenteils von sich selber besser wissen, wenn Retzers Zahlen bezüglich der Untreue stimmen.

Hören wir uns eigentlich selbst nicht zu?

Anstatt unsere sexuellen Freiheiten als wundervolle Errungenschaften zu feiern, werden nach wie vor »Realität« und »Anspruch« fein getrennt gehalten. Widersprüchliches wird dabei gern verschwiegen, obwohl unser Liebesleben zum Bersten voll davon ist. Der scheinbar biedere Nachbar führt heimliche Mehrfachbeziehungen mit sadomasochistischem Touch, während das attraktive Pärchen, das sich vor uns schwülstig-erotisch auf der Tanzfläche inszeniert, nach der Heimkehr gähnend nebeneinander ins Bett fällt, gelangweilt und erschöpft vom Vorgaukeln einer sexuell aktiven Partnerschaft.

Damit das Monogamie-Ideal nicht der allgegenwärtigen Realität zum Opfer fällt, benutzt Homo sapiens offenbar irgendeinen sagenhaften Dämmstoff, der die lichtvolle Idee von der eher morastigen Lebenserfahrung getrennt hält.

Nicht verschwiegen werden sollen allerdings auch diejenigen, denen die Treue rein »technisch« gesprochen gelingt. Manchen Menschen bedeutet Sex nun mal nicht so viel, oder sie sind emotional nicht so leicht entflammbar. Ihnen fehlt in ihrer Beziehung nichts oder nur wenig aufgrund der Treuemaxime. Sie richten ihre Bedürfnisse exklusiv auf den Partner und erleben diese durch ihn auch als ausreichend erfüllt. Die Frage ist jedoch, wie viele sind das, und wie viele bleiben es ein Leben lang? Und wenn wir tiefer schauen, wie viele Phantasien gibt es dann bei diesen erfolgreich treuen Partnern, die ihre Sprengkraft manches Mal nur deshalb nicht entfalten, weil die Kontrolle stärker ist als die Sehnsucht nach mehr? Wir haben nicht vor, in diesem Buch, das sich viel mit Moral beschäftigen wird, selber moralische Urteile zu fällen. Es ist aber unser Interesse zu zeigen, dass Monogamie nur eine Option ist und beileibe keine selbstverständliche, auch wenn sie es in unserer Gesellschaft leider immer noch ist. Wer Mono gamie wählt, wählt automatisch Verzicht, es sei denn, er könnte behaupten, vollkommen frei von geheimen Sehnsüchten nach Anderen zu sein. Nach unserer Erfahrung sind das die allerwenigsten, und darum klappt die Monogamie eben sehr oft nicht mal in technischer Hinsicht. Wir werden deshalb etwas Zeit damit verbringen müssen, die Monogamie zu demontieren – in jeder Hinsicht. Die Absicht dahinter ist keineswegs der Wunsch nach einer Bekehrung zu offeneren Liebesmodellen, denn wir glauben daran, dass Menschen stets ihre eigenen Entscheidungen treffen sollten, wenn sie es darauf anlegen, glücklich zu sein. Was wir hingegen bezwecken wollen, ist, einen großen geistigen Abstand zu dem meistpraktizierten Partnerschaftsmodell herzustellen, ja durchaus ein Misstrauen zu säen, denn nur so können Monogamie und die traditionelle Variante von Treue zu dem werden, was sie sind: nicht mehr als eine Option unter sehr, sehr vielen.

Zutiefst verletzte Partner sitzen immer wieder in unseren Paar beratungen, die in diesem Setting – fast wahnsinnig vor Eifersucht – ihre Partner an den Fremdgeh-Pranger stellen wollen. Das wäre nur zu verständlich, aber leider erzählt ein erschreckend hoher Anteil dieser Klienten nach einiger Zeit, meist in Einzelgesprächen oder nach der erfolgten Trennung, dass natürlich auch sie bereits Verhältnisse hatten – sehr gerne auch mal in ebendieser Beziehung, in manchen Fällen sogar während der Beratung!

Sie müssen wie Feuer und Wasser sein, vollkommen unvereinbar, wenn wir beides geistig derart zwanghaft getrennt halten müssen, vollkommen voneinander gespalten: Realität und Ideal. Untreue und Treue. Neugier und Sicherheit. Sind sie das wirklich?

Wir glauben, »fast«! Es gibt einen sehr gesunden Kern in der Idee der emotionalen und erotischen Exklusivität, aber dieser wird stark überlagert von kulturellen Prägungen, und auf diesem Nährboden wächst wiederum eine neurotische Angst um das eigene Besitztum Partner. Während Furcht eine natürliche Reaktion angesichts realer Bedrohungen darstellt, ist diese neurotische Angst eine Kopfgeburt. Sie plant, hypnotisiert befürchtete Albträume herbei, engt uns ein, und sie bringt uns dazu, angstbesetzte Situationen, Menschen oder sogar Ideen zu vermeiden.

Die Liebe ist paradoxerweise eigentlich eine Antithese zu dieser Art, die Welt zu sehen. Die Liebe öffnet uns innerlich, anstatt uns zu verschließen. Sie verbindet uns mit der Welt auf neue Weise über eine veränderte Wahrnehmung. Der Genuss einer Liebe ist unter anderem deshalb so sinnstiftend, weil er unsere Sinne schärft, die weder Zukunft noch Vergangenheit kennen, sondern nur das Hier und Jetzt.

Die Freiheit, die wir durch die Liebe empfinden, ist vor allem die Freiheit von unserem taktierenden, planenden Alltags-Ich, das überall ist, aber nicht im gegenwärtigen Augenblick. Man könnte es von daher auch anders sehen. Je mehr wir planen, desto weniger »sinn-voll« und erfüllend wird unser Leben sein. Je mehr wir uns auf das Risiko Liebe und Lust einlassen, desto weniger können wir voraussagen, was passieren wird. Liebe einfangen und konservieren zu wollen ist prinzipiell unmöglich. Es ähnelt dem Versuch, einen quirligen Gebirgsbach im Aquarium nach Hause tragen zu wollen – wir können das Wasser mitnehmen, aber das wichtigste Element wird fehlen: »der Fluss«.

Liebe und Sicherheitsbedürfnisse können wir meist nur individuell auszubalancieren versuchen, und auch dieses Buch bietet keine einfache Lösung des Dilemmas. Allerdings hätten wir eine »merk-würdige« Idee für eine Synthese in die Diskussion einzubringen.

Bevor wir diesen Gedanken aber entwickeln, möchten wir uns um den besagten Dämmstoff kümmern, der verhindert, dass die widersprüchlichen Teile unseres Selbst aufeinanderprallen und Funken schlagen. Wir glauben, dass wir diese Funken dringend für ein reinigendes Feuerchen brauchen, denn in der Liebe liegen unsere größten Hoffnungen direkt neben unserem größten Leid und dazwischen viel geistiges Heile-Welt-Gerümpel, das uns die Sicht versperrt. Die Vermeidung oder Unterdrückung von Ideen ist diesem wichtigen Thema und unserer globalisierten Zeit nicht mehr angemessen, denn eines muss uns klar sein: Es sterben Menschen an der Monogamie! Eifersucht enthält ein gigantisches Gewaltpotenzial.

Darüber hinaus zerbrechen tausendfach Beziehungen, »nur« weil es Augenblicke gab, in denen die Sehnsucht nach einer anderen Quelle für Liebe oder Sex doch die Selbstkontrolle eines Partners überrumpelte. Als Menschen sind wir durchaus involviert, wenn wir immer wieder Paaren helfen sollen, denen unter dem Paradigma der Monogamie schlichtweg kaum zu helfen ist, ohne dass dieses Paradigma beschädigt wird.

In Zeiten des Wandels trotz gangbarer Alternativen auf alten Mustern zu beharren rächt sich meistens langfristig. Was aus unserer Sicht gefragt wäre, ist eine Idee zum Sinn der Unternehmung Liebe und Treue. Wir werden ein paar größere Schleifen ziehen, denn das Thema Liebe kann ein umfangreicheres Update vertragen, und die Wurzeln unserer Konditionierung reichen tief, sodass wir auf dem Weg zu einer einigermaßen freien Entscheidung schon ein bisschen buddeln müssen. Wer glaubt, Treue sei das Normalste auf der Welt und dem Wesen des Menschen eigen, quasi naturgegeben, der wird sich von einigen Überzeugungen verabschieden müssen, um sich frei zu machen und für neue Horizonte zu öffnen. Das mag mit Widerständen, ärgerlichen Gefühlen und zähem Ringen in inneren Konflikten verbunden sein – wie sie auch viele unserer Klienten durchmachen. Aber wir hoffen, wir versöhnen Sie letztlich mit neuen Erkenntnissen, Anregungen und produktiven Perspektiven, die wie derum überraschend romantisch sein werden, denn dies ist kein Leitfaden zum Fremdgehen, sondern vielmehr ein Buch über die Liebe!

Wir könnten jetzt schon feststellen, dass der Mensch nicht treu ist. Allerdings könnte man das entschuldigen wollen, weil man meint, dass früher alles besser war, Gott es anders gewollt hätte oder wir gegen unsere eigentlich monogame Natur handeln. Wir wollen dem nun etwas detaillierter widersprechen und uns zunächst mit der letzten Idee befassen, denn biologische Begründungen liegen gerade wieder voll im Trend. Zu Gott und der angeblich guten alten Zeit kommen wir dann später noch zurück.

BIOLOGISCHES

Die Sache mit den Bienen und den Blumen – Gruppensex im Höhenflug

Zerstöre keinem Kinde sein buntes Kartenschloss,

reiß nur des Irrtums Binde, dem Mann von starker

Seele los.

Friedrich Schiller

Es ist ein Tag wie aus dem Lehrbuch der Romantik, und er wird für zwei Menschen ein Leben lang das Sinnbild für den Mythos ihrer Liebe sein. Ein junges Pärchen wandert frisch verliebt durch Wald und Flur. Die ganze Natur scheint sich im Rhythmus ihrer Herzen zu wiegen. Postkartenmotive hier und dort – Bilder von einer Welt, wie sie sein sollte. Nur leider ist sie anders, sobald wir genauer hinschauen. Die Natur ist einfach nicht idyllisch. Hier herrscht Fressen und Gefressenwerden, und das, was wir als lieblichen Gesang wahrnehmen, ist für die jeweiligen Vögel wüstes Gepöbel vom obersten Ast. Wir mögen Treue und Monogamie für gottgegeben und natürlich halten, aber je mehr geistige Klöppeldeckchen die Forschung lüftet, umso liederlicher erscheint Mutter Natur.

Um die ganze Pflanzenwelt sollten wir bei unserer Suche nach Treue schon mal einen großen Bogen machen. Die Eiche treibt es entweder mit sich selbst (Selbstbestäubung) oder »lässt jeden ran«, dessen Samen gerade geflogen kommen. Auch die Rose fragt die Biene nicht, von wem sie den Pollenfleck am Kragen hat, bevor sie sich befruchten lässt. Trotzdem schenken wir weiter Rosen zum Valentinstag und empfinden die Eiche als Symbol für Verlässlichkeit.

Wenn wir bei den Tieren entwicklungsgeschichtlich ganz weit vorne anfangen, treffen wir zunächst äußerst treue Lebewesen. Amöben und viele andere weniger komplex konstruierte Tierchen sind treu wie Gold. Das ist weniger ihrem Wesen geschuldet als der Tatsache, dass sie gar keinen Sex kennen. Pantoffeltierchen legen sich hingegen bereits mit ihren Mundfeldern zusammen, streifen dort die Härchen ab und verschmelzen miteinander. Das klingt nach Entkleiden und romantischen Küssen, ist aber wahlloser genetischer Datentransfer in schlechten Zeiten und wird mit jedem x-beliebigen Pantoffelhelden betrieben. Sobald der Sex auf diesem Planeten auftauchte, gesellte sich offenbar gleich die Untreue dazu.

Bienenköniginnen lassen sich im inzestuösen Gruppensex im Höhenflug von bis zu zwanzig ihrer Söhne nacheinander begatten. Wer dieses zweifelhaften Glückes teilhaftig wurde, stirbt direkt danach oder wird von seinen Schwestern erstochen. Und es gibt noch weitere Gräuel unter den Kerbtieren zu berichten, die immerhin über 80 Prozent aller Tierarten stellen. Grillenweibchen sammeln Männer und verzehren ihre Partner stückweise, die Fangschrecken tun dies gleich ganz während der Paarung: Lebenslange Treue ist hiermit auf männlicher Seite garantiert.

Aber wie sieht es bei den angeblich höher entwickelten Lebewesen aus? Vögel gelten seit alters als Sinnbild der Monogamie und der aufopfernden Jungenaufzucht. Im Orient ist die Nach tigall, die mit unermesslicher Kunstfertigkeit für ihre Rose singt, ein Inbegriff der Liebeslyrik. Tatsächlich sind bei den meisten Arten aber nicht nur die Männchen Hahn im Korb, sondern sogar die Weibchen halten zielgerichtet nach anderen Samenspendern Ausschau. Interessante Entdeckungen wurden möglich, als Forscher begannen, sich als Gendetektive zu betätigen. Etwa 18 Prozent der Gelege von Amseln und anderen Arten waren Kuckuckseier – ohne vom Kuckuck zu sein. Jedes fünfte Weibchen zog, unschuldig mit ihrem Gatten zwitschernd, die Eier eines anderen Männchens auf. Wir ahnen langsam, warum die Amseln und Co. auch nach erfolgreicher Brautwerbung weitersingen, oder?

Sicher geht es zunächst um das Anlocken von Weibchen, aber selbst wenn das Männchen eine Partnerin gefunden hat und diese im heimatlichen Nest weiß, singt es weiter. Wer möglichst lautstark und variantenreich singt, der protzt mit seiner blendenden Verfassung nicht nur vor den Weibchen, sondern zeigt auch den Kerlen, was Sache ist. Dummerweise folgt unter Umständen das eigene Weibchen währenddessen dem Ruf anderer Männchen. Vogelgesang ähnelt also eher dem Battle-Rap als dem Minnesang. Modern formuliert, »disst Mann« die Konkurrenz und »macht auf Posen in mächtig dicken Hosen«.

Wir sehen, dass die sexuelle Fortpflanzung generell diverse Probleme erzeugt. Man mag sich fragen, warum sich die Natur von der Vermehrung durch Ableger und Ähnliches entfernt hat. Eine ästhetisch unerträgliche, aber moderne Variante gibt die Antwort: als Kriegslist gegen Parasiten. Sie und wir tragen etwa sieben Kilo davon mit uns durchs Leben und müssen durch Genaustausch verhindern, dass unser Körpersaftladen völlig überrannt wird. Was Romeo und Julia trieb, war demnach eine Art Wurmkur potenziellen Nachwuchses. Ein widerwärtiges Detail und kein gutes Argument für Treue! David P. Barash, Professor der Psychologie, und seine Frau, die Psychiaterin Judith Eve Lipton, legen in ihrem Buch »The Myth of Monogamie« ausführlich dar, dass Monogamie vor allem unter Säugern sehr selten ist. Inzwischen lösen Gentests nur noch dann ein großes Hallo aus, wenn sie die Treue (!) von Tierarten nachweisen. Man könnte also sagen, dass es im Tierreich zwar durchaus echte Lebenspartnerschaften gibt, dass aber nur bei ganz wenigen Arten auch die sexuelle Treue anhand von Vaterschaftstests belegt werden kann. Wenn die Forschung also genauer hinschaut, verkrümelt sich das Bild einer naturgegebenen Treue schnell und nachhaltig.

Da der Mensch für sich natürlich beansprucht, über dem Tierreich zu stehen, wollen wir uns nun diesem vernunftbegabten Affen biologisch annähern und schauen, ob wir auf diese Weise dem »Mythos Monomensch« ebenso leicht die Luft rauslassen können wie den treuen Vögeln.

Caveman – Homo sapiens und die bucklige Verwandtschaft

Am Anfang lebte der Mensch am Baum,

doch verändert hat er sich seit damals kaum.

Er geht zwar aufrecht, und er fliegt ins All,

doch er ist noch immer im Neandertal.

EAV, »Neandertal«

Durch die Brille der Monogamie betrachtet, herrscht auch in der Ordnung der Primaten Unordnung. Wenn wir nun die Geschichte mit der Evolution für glaubwürdiger halten als die mit dem von Gott beatmeten Lehmklumpen, gehört der Mensch »tierisch gesehen« zu den sogenannten Trockennasenaffen.

Auch hier gibt es herzlich wenig Arten, die sich einander in Treue zugetan sind. Wie bei den Schwänen gibt es zum Beispiel bei den Weißhandgibbons Paare, die es oft bis zur Silberhochzeit schaffen, aber wenn die Herren Gibbon mal die Vaterschaftstests der Wissenschaftler gesehen hätten, wüssten auch sie vom sexuell aufgeschlossenen Wesen ihrer Partnerinnen.

Am nächsten verwandt sind wir allerdings nicht mit den Gibbons, sondern den Bonobos, einer Unterart der Schimpansen. Wenn wir uns also fragen, was die Natur bei uns in Sachen Treue vorgesehen hatte, bekommen wir hier sehr erhellende Hinweise. Die Aussagekraft ist zwar beschränkt, aber die Richtung ist interessant.

Das Paarungs- und Sexualverhalten der Bonobos als freizügig zu bezeichnen wäre – vorsichtig formuliert – eine höfliche Untertreibung. Hier gibt es keine Rangordnung, die sonst so oft das sexuelle »Wer-mit-wem« in der Gruppe reglementiert. Hier treibt es buchstäblich jeder mit allen. Oralsex gehört dabei ebenso zum Verhaltensrepertoire wie gegenseitige Masturbation, Sex in der angeblich rein menschlichen Missionarsstellung, Zungenküsse, Penisfechten zwischen Männchen (ja – das ist genau das, was Sie jetzt denken) und Weibchen, die ihre lustvollsten Zonen aneinanderreiben. Der Begriff Quickie wäre allerdings für die meisten dieser sexuellen Interaktionen noch die reine Schmeichelei, da sie im Schnitt 13 Sekunden dauern. Im Gegensatz zu den größeren und aggressiveren Schimpansen sind die Bonobos eher scheu und friedfertig. Schon auf dem Weg zu einem Futterplatz wird verhandelt, wer wie viel essen darf – Zahlungs- oder Kommunika tionsmittel ist dabei wiederum Sex. Man kann hier von einer großen sozialen Intelligenz sprechen, die keinen zu kurz kommen lässt und die zu großen Teilen auf den entspannenden Effekt sexueller Aktivitäten zurückzuführen ist.

Darüber hinaus gibt es noch andere Anhaltspunkte für unsere natürliche Ausstattung in Sachen Treue, angefangen bei der überlegenen Körpergröße und größeren körperlichen Aggressivität der Männchen, die vor allem bei Arten mit Vielweiberei auftaucht, über die Größe der männlichen Geschlechtsorgane, die zeigt, dass Sperma von möglichen Vorgängern mittels Masse verdrängt werden soll, bis hin zum Vorhandensein sogenannter Killerspermien, die es auch beim Menschen gibt und die mit dem Auftrag »Suchen und Zerstören« nach den Spermien anderer Artgenossen fahnden, um diese dann außer Gefecht zu setzen. Man sieht, die Sache mit der Konkurrenz oder Eifersucht geht bis hinunter in die kleinsten Details unseres biologischen Liebeslebens.

Wären diese Mechanismen nötig, wenn unsere evolutionäre Vergangenheit von beschaulicher Treue bestimmt gewesen wäre? Sie werden an der fehlenden Antwort merken, dass diese Frage rhetorisch war.

Wenn wir uns nun dem Thema Liebe biologisch annähern, lässt sich auch hier nur wenig Romantisch-Monogames finden. Tiefe Bindungsmuster lassen sich – wie Sexualität – laut Wissenschaftlern auf hormonelle Vorgänge reduzieren. Allerdings sollte man dazu wissen, dass sich zwar durch Liebe bestimmte Hormone verstärkt bilden, sich Liebe aber im Gegensatz zum Sextrieb bislang nicht durch Hormongabe erzeugen lässt.

Aus einem biologischen Blickwinkel betrachtet, sind lebenslange Partnerschaften aus Liebe unter Humanoiden biologisch gesehen unnötig – im Gegenteil: Um einen Genpool frisch zu halten und genügend Mutationen zu erzeugen, die die Art insgesamt stabilisieren, ist häufiger Partnerwechsel eine ratsamere Strategie als Treue. Benötigt wird nur eine Bindungsdauer, die gerade solange hält, bis ein Kleinkind aus dem Gröbsten raus ist. Vielleicht zeigt sich ebendies ja in der nachlassenden Verliebtheit und dem klassischen verflixten siebten (Trennungs-)Jahr?

Wir sollten allerdings unterscheiden zwischen sexueller und emotionaler Untreue beziehungsweise wechselnder Partnerbindung. Für die Gene mag es gesund sein, mal vom Nachbarpapa ergänzt zu werden, für die Aufzucht eines solchen vielversprechenden Gencocktails sind sicherlich stabile Bindungen zu festen Bezugspersonen sinnvoll. Damit taucht nun zum ersten Mal der zentrale Widerspruch auf, der Untreue überhaupt zum Problem macht und uns noch einige Seiten lang in Atem halten wird. Die Bindung zwischen den Eltern ist wichtig für den Nachwuchs, der nicht voll einsatzbereit zur Welt kommt, wie die meisten Insekten. Im Falle des Trockennasenaffen Mensch haben wir es mit der unreifsten Lebensform überhaupt zu tun, wenn es um die Neugeborenen geht. Nichts Hilfloseres in der Natur als ein neugeborenes Menschenbaby! Die Festplatte ist so offen wie sonst nirgends in der Natur, und das macht uns so abhängig davon, dass uns jemand in jahrelanger Kleinarbeit die Software auf-»spielt«. Dieses Bedürfnis nach geneigten »Informatikern« (also Eltern) wird natürlich bedroht, wenn Mama und Papa lustig mit anderen gegengeschlechtlichen ArtgenossInnen durch das Laubwerk springen. Es ist traurige Realität, dass unter Scheidungen vor allem die Kinder sehr nachhaltig leiden, aber die Natur hatte oftmals Schlimmeres vorgesehen, denn wenn im Gorillaharem der Herrscher wechselt, bringt er oft den gesamten Nachwuchs der Vorgänger um. Die Kinder profitieren erwiesenermaßen selten von der Untreue der Eltern. Die Art durch verschiedene (evolutions-)biologische Faktoren insgesamt schon. Bleibt die Frage zu klären, inwieweit sich Untreue für die beteiligten Individuen auszahlt. Darauf werden wir später noch zurückkommen.

So weit wollen wir als erstes Ergebnis festhalten: Unsere nächsten Verwandten aus dem Tierreich sind sehr sexuelle Wesen. Bei Arten, die zu festen Bindungen neigen, kommt es fast ausnahmslos zur sexuellen Untreue, die evolutionsbiologisch sehr sinnvoll für die genetische Vielfalt ist. Trotzdem gibt es in jedem Individuum die zwei widerstreitenden Teile, die man als sexuelle und emotionale Bindung bezeichnen könnte. Im Falle des Menschen kommt mit der Großhirnrinde sogar eine dritte, biologisch gut abgrenzbare Ebene verkomplizierend hinzu. In ebendiesem Spannungsfeld bewegen wir uns bei jeder Diskussion um Monogamie oder Untreue. Und: Wenn wir uns die biologische Hardware des Homo sapiens ansehen wollen, bekommen wir sie leider nie in der Urform dargereicht, sondern immer nur mit bereits installiertem Betriebssystem, genannt: Kultur.

Unsere Gehirne – aller guten Dinge sind drei!

So wie die Verrücktheit, in einem höhern Sinn,

der Anfang aller Weisheit ist, so ist Schizophrenie

der Anfang aller Kunst, aller Phantasie.

Hermann Hesse, »Der Steppenwolf«

Schon bei den alten Griechen wurden mit Eros, Philia und Agape drei Arten der Liebe unterschieden, die man auch in modernen Konzepten immer wieder findet. Man könnte diese »drei Lieben« auch mit Leidenschaft, Freundschaft und Partnerschaft bezeichnen, wie es unser Kollege Michael Mary tut. Grob vereinfachend, lassen sich diese drei Lieben drei Abschnitten des Gehirns zuordnen. Im Stammhirn geht es hauptsächlich um Erregungszustände und körperliche Funktionen, was für die Leidenschaft am wichtigsten ist. Im limbischen System werden hauptsächlich Gefühle empfunden, was Grundvoraussetzung für die emotionale, freundschaftliche Liebe ist. Im Großhirn sitzen Sprache, Vernunft und Planung, und wer Partnerschaft im Sinne eines produktiven Teams begreift, der sieht ihren Sitz sicherlich hier. Wir nennen diese Dreifaltigkeit des instinktiv-körperlichen, emotional-fühlenden und mental-denkenden Liebens in unserem Beziehungsmodell Triple Bind schlicht Bauch, Herz und Kopf.

Inzwischen ist auch die moderne Hirnforschung so weit, um zu erkennen, dass unsere Vernunft herzlich wenig zu sagen hat und wir sehr viel stärker von unten nach oben regiert werden als andersherum. In diesen Kreisen spricht niemand mehr vom freien Willen.

Fragen wir uns nach der natürlichen Ausstattung des Menschen in Bezug auf Treue oder Untreue, dann bleibt festzustellen, dass wir gleichzeitig drei Meistern dienen. Unserem Bauch – einem mächtigen, schnellen, instinktiven und sehr egoistischen Teil –, unserem Herzen – einem emotionalen Ich, das nach der Verbindung zu einem Du sucht – und dem Kopf – einem etwas abgehobeneren Prinzip der abstrakten Ziele und Werte, die über das menschliche Einzelwesen hinausgehen.

Kommen wir jetzt zu der Frage der Biologen, was ein einzelnes Weibchen davon hat, wenn es sexuell untreu wird. Da wird viel diskutiert und nach evolutionärem Nutzen gefragt. Es gibt auch plausible Erklärungen – eine ist das »Shopping for good genes«. Dennoch: Die Wissenschaft hat viele Jahre gebraucht, um sich einzugestehen, dass so intelligente Tiere wie Delfine vermutlich zu zweckfreiem Spielen in der Lage sind. Lange und geradezu verzweifelt wurde nach etwas »Sinnvollerem« gesucht als der Befriedigung des Spieltriebes. Wenn wir uns also fragen, was ein Weibchen vom Sex mit fremden Männchen hat, wäre eine furchtbar simple Antwort: Spaß!

So schockierend es sein mag – wir sagen es auf unseren Seminaren mitunter den erstaunten Herren deutlich ins Gesicht: Auch Frauen mögen Sex – zumindest solchen von guter Qualität! Meistens übernimmt diesen Part des Vortrags der weibliche Teil unseres Teams, was die Glaubwürdigkeit stark erhöht, denn sonst würde das gerne mal als männliche Wunschvorstellung des Coaches abgetan werden.

Frauen und Männer haben beide ein Stamm- oder Reptilienhirn, und das geht keine tieferen Bindungen ein, sondern urteilt nach purem Eigennutzen. Das Triebleben ist auch in anderen Hirnteilen ansässig, aber das Prinzip des Egoismus kommt hier am deutlichsten zum Tragen. Wenn es also um die sexuelle Untreue geht, dann sind wir dafür gut ausgerüstet, denn auch wenn unser Säugerhirn eine exklusive, persönliche Bindung will, tickt unser evolutionäres Erdgeschoss anders.

Seien wir ehrlich: Kaum ein Mann wird scharf durch den Gedanken, dass sich mit der reizenden Frau, mit der er gerade flirtet, eine weitere Möglichkeit eröffnet, seine Nachkommenschaft zu vergrößern. Die meisten Männer haben da kurzfristigere Lust interessen, die durch den Gedanken an reizende, brabbelnde Babys tendenziell gestört werden, wobei sie diese aber oft auf diesem Wege unfreiwillig produzieren.

Dem Individuum muss keinerlei Nutzen ins Auge springen, außer der Befriedigung eines sehr ursprünglichen und äußerst natürlichen Bedürfnisses, damit sich Folgen im Sinne der Arterhaltung einstellen. Die Natur ist wahnsinnig effektiv. Ein (scheinbar) einfacher Trieb tut es äußerst zuverlässig, und den haben offensichtlich alle weiblichen Lebewesen genauso wie die männlichen.

Sooft in den letzten Jahren von Comedians und Wissenschaftlern nämlich auch das Gegenteil behauptet wurde: Die angeblich biologisch bedingten Unterschiede zwischen Mann und Weib halten einer tiefer gehenden Untersuchung kaum stand. Ein selten besonnener Artikel zu dieser unpopulären Position fand sich 2007 im ZEIT-Magazin mit dem vielsagenden Titel: »Frauen sind auch nur Männer.« Dort wurden, dem Mainstream zum Trotz, sehr ausführliche Untersuchungen aufgeführt, die zeigen, dass kein Forscher anhand eines Gehirns sagen könnte, ob dieses einst von einem Mann oder einer Frau durch die Welt getragen wurde. Die angeblich so massiven Geschlechterunterschiede sind rein statistischer Natur und so dünn, dass sie je nach Forscher auch mal ganz verschwinden. Die meisten wollen aber gemütliche Klischees bestätigt sehen, obwohl wissenschaftlich gilt, was der Kabarettist und Autor Dieter Nuhr in dem Satz zusammenfasste: »In Sachen Primitivität herrscht völlige Emanzipation!« Wir wollen diese hochinteressante Diskussion über Hormone und Co. hier nicht weiter vertiefen, sondern es mit den Worten Alice Schwarzers halten: »Frauen sind nicht etwa die besseren Menschen, sie hatten bisher nur nicht so viel Gelegenheit, sich die Hände schmutzig zu machen.« Chauvinismus ist nicht an ein Geschlecht gebunden und keine Frage der Biologie.

Fassen wir unseren Exkurs in die Natur an dieser Stelle zusammen. Das Tier Mensch ist Teil der Natur und ist, wie seine näheren Verwandten auch, ein sexuell sehr aktives Wesen. Es dürfte seit jeher ebenso zur sexuellen Untreue geneigt haben wie zu festen Partnerschaften mit emotionaler Bindung – meist gleichzeitig und von der Seite der Weibchen aus ebenso wie von den Männchen. Darum sollte für eine erfolgreiche Haltung beides in ausreichendem Maße zur Verfügung gestellt werden. Das Problem ist, dass das Mensch bis zur Unkenntlichkeit domestiziert wurde, sodass es quasi keinerlei Studien über die Wildformen gibt. Es zeigt oft äußerst unnatürliche Verhaltensweisen, die eindeutig durch Lernprozesse seines Großhirns verursacht werden, die es selbst gerne voller Stolz als Erziehung, Religion oder Kultur versteht und die besonders starken Einfluss nehmen auf die Gestaltung von Paarungsverhalten und Liebesleben. Diesen wichtigen Faktoren wollen wir uns im Weiteren zuwenden.

Vereinsmatratzen und tolle Hechte – wir sind nicht emanzipiert

Niemand ist den Frauen gegenüber aggressiver und herablassender als ein Mann, der seiner Männlichkeit nicht ganz sicher ist!

Simone de Beauvoir

Dossie Easton erzählt in ihrem ebenso empfehlenswerten wie provokanten Klassiker »The Ethical Slut« (Die ethische Schlampe) folgende Geschichte: »Eine Freundin von ihr entschied sich damals in den Siebzigern, mit dem zu experimentieren, von dem es hieß, das es die Phantasie jedes Mannes sei. Sie saß eines Nachts geduldig in einer Single-Bar, wurde von vielen Männern angesprochen, bis einer erschien, den sie attraktiv fand, und sie begann zu flirten. Er fragte, ob er ihr einen Drink spendieren dürfe, und sie fragte ihn freundlich, ob er mit zu ihr nach Hause kommen wolle, um zu ficken (Entschuldigung, aber im Englischen steht wirklich ›fuck‹). Er verschluckte seine Eiswürfel. Es brauchte einige Minuten, bis der arme Kerl wieder zusammenhängend sprechen konnte, und als sie schließlich bei ihr waren, stellte er fest, dass er ›impotent‹ war. Die beiden erlebten zusammen eine perfekte, liebevolle Massage.«1

Wir sind uns nicht sicher, ob das Szenario vierzig Jahre später völlig anders aussähe. Nach Einsicht diverser Umfragen und Ratgeber zum Thema Flirten und Daten sagen wir: nein! Da wird als Regel für Frauen ausgegeben, bloß nicht beim ersten Date über das Küssen hinauszugehen, denn mehr mache jede Chance auf was Ernstes mit großer Wahrscheinlichkeit zunichte. Warum, mag man sich fragen. Hört man den Männern in solchen Umfragen zu, dann haben sie nichts dagegen, wenn beide beim ersten Date deutlich persönlicher werden. Jedoch kommen solche Frauen nicht so richtig für eine langfristige Partnerschaft und große Liebe infrage. Irgendwie ist das billig, und Frau muss es Männern schwer machen, damit sie sich die Zähne ausbeißen und sich als große Jäger fühlen können. Das steigert den Wert der Frau. Ganz schön doppelbödig und hinderlich diese Spielchen, oder?

Wir haben gesehen, dass unsere Biologie eigentlich sexuelle Offenherzigkeit für beide Geschlechter nahelegt. Da wir in einer so säkularisierten, aufgeklärten und emanzipierten Zeit leben, sollte es doch eigentlich eine Kleinigkeit sein, wenn eine Frau auszieht, um Männerträume Wirklichkeit werden zu lassen, die ja letztlich nicht so weit ab von denen der Frauen liegen dürften, wenn wir uns mal die Gemeinsamkeiten der Geschlechter auf Stammhirnebene ins Gedächtnis rufen.

Auch der Film »Tootsie« enthält so einige erhellende Szenen. Als Frau verkleidet, erfährt der Schauspieler Michael Dorsey diverse Sexismen der Gesellschaft am eigenen Leib. Er verliebt sich in eine attraktive Kollegin. »Unter Frauen« gesteht sie ihm, dass sie manchmal davon träumt, ein attraktiver Mann käme auf einer Party direkt und selbstbewusst auf sie zu und würde ihr auf charmante Art gestehen, dass er sie interessant fände und mit ihr schlafen wolle – einfach so. Gehört, getan! Auf der nächsten Party begegnet er ihr als (für sie ja unbekannter) Mann und zitiert sie fast wörtlich. Dass ihr Drink sein Behältnis daraufhin sehr plötzlich in Richtung seines Gesichts verlässt, ist wenig überraschend, denn unter realen Umständen gibt sich seine angeblich hinreißend offene Kollegin eben doch als »anständige junge Frau« und hinterlässt den charmanten Eroberer als begossenen Pudel.

Warum liegen zwischen dem, was sich auch Frauen durchaus manchmal wünschen, und dem, was zwischen den Geschlechtern möglich ist, immer noch Welten?

Weil wir eben nicht emanzipiert sind! Frau Schwarzer und ihre Mitstreiterinnen haben sich sicherlich nicht umsonst abgerackert, aber es gibt nach wie vor zweierlei Maß, mit dem sexuell initiative Menschen beurteilt werden. Senftöpfchen, Schlampe, Allmende, Flittchen – es existieren viele wenig schmeichelhafte Bezeichnungen für erotisch selbstbewusste und aktive Frauen, die sich tatsächlich das Recht auf eine abwechslungsreiche und selbstbestimmte Sexualität nehmen. Männer hingegen, die das Gleiche tun, bekommen nach wie vor eher Titel verliehen wie Casanova, Don Juan oder Frauenheld, denen das Negative irgendwie abgeht. Man-eater ist noch einer der wenigen Ausdrücke, die der Frau eine Position der Stärke zugestehen und sie nicht zum schmuddeligen Sexspielzeug im Spiel zwischen heiliger Madonna und verachteter Hure degradieren. In diesem Wort kommt zur Abwechslung mal die Angst der Männer deutlicher zum Tragen, die sich hinter der ganzen Frauenverächtlichkeit verbirgt und die auch in der Geschichte von Dossie Easton sichtbar wird. Der Mann, der so mir nichts, dir nichts zur Verwirklichung einer Männerphantasie geladen wird, kann im Bett plötzlich nicht mehr seinen Mann stehen, weil in diesem Kontakt offensichtlich sie die dominante Rolle einnimmt.

Männer glauben meist, nur Männer zu sein, wenn sie der erlernten und meist sehr eng beschriebenen Rolle entsprechen. Da dieses Selbstbild mit Überlegenheit und Autonomie zu tun hat, setzen Männer viel daran, sich gegenüber einer Frau so zu fühlen. Also stellen sie gerne Situationen her, die sie dominant und autonom erscheinen lassen. Frauen wird hingegen meist von Kindheit an gelehrt, Beziehungen herzustellen, und sie mögen entsprechend auch ein bisschen Beziehung um den Sex herum. Wir glauben, dass es den Männern ganz ähnlich geht – nur braucht es eben ganz verschiedene Situationen.

Ein romantisches Dinner entspricht mehr dem emotionalen Drehbuch der Frau, das schnelle, unpersönliche Ran-an-den-Feind der Idee, die Männer von sich haben. Sie erobern, was sie wollen, und das ist eine rein körperliche Angelegenheit ohne Gefühle.

Die Pornografie unserer Tage bringt es auf den Punkt! Früher gab es selbst in männertypischer Pornografie noch einen Hauch von hanebüchener Geschichte drum herum. Der optisch belanglose Postbote klingelt. Die Dame des Hauses öffnet lasziv und in seidener Reizwäsche, Nylons und Stiletto-Pumps daherstöckelnd die Tür (denn in dieser Montur pflegt sie täglich sowohl die Gläser zu spülen als auch sich sinnfrei alleine vor dem Spiegel zu räkeln). Der Dialog beschränkt sich in etwa auf: »Hier ein Paket«, der Blick der Frau wandert auf den leicht gewölbten Schritt des Mannes, sie kniet sich nieder und antwortet ebenso schlagfertig wie schwer atmend: »Das sehe ich, darf ich es aufmachen?« Der Rest der Geschichte soll hier nicht weiter aufgeblasen werden.

Da sogar diese einleitende Minute meist überspult wurde und das besondere Talent der meisten Darsteller eher im Halten von Erektionen bestand als im Halten von mitreißenden Monologen, sind viele der heutigen Pornos absolut handlungsfrei. Wenn doch eine Handlung im Kopulationskino vorkommt, dann geht es etwa darum, dass ein Mann vollkommen überraschte Frauen auf der Straße anspricht und diese dann für etwas Geld zu Hause nach allen Regeln der Kunst vor der Kamera zur Schau stellt. Manchmal wird die Frau auch vorher als Inbegriff der sexuellen Anziehungskraft in Nahaufnahme präsentiert. Dann folgen alle möglichen sexuellen Praktiken, die schnell an Härte zunehmen. Dieser Tage ist a2m, also »ass to mouth«, sehr angesagt, was bedeutet, ohne Schnitt vom Anal- zum Oralverkehr überzugehen. Was mag der Sinn dieser Unternehmung sein, die keinen eigentlichen Lustgewinn bietet?

Die Demonstration von Macht durch die Erniedrigung der Frau! Die bildschöne Frau vom Anfang macht besinnungslos vor gespielter Lust jeden Blödsinn mit, lässt sich in alle Öffnungen schauen und leckt sich am Ende noch schnurrend die Lippen, wenn der Herr sie in Standardmanier mit dem Ergebnis seiner Lust im Gesicht bekleckert.

Dieses Szenario hilft dem Mann, sich sexuell frei und souverän zu fühlen, indem er die Frau symbolisch unten hält. Dass dieser Zustand äußerst zerbrechlich ist, zeigt das Beispiel oben: Wenn nun das Happy End in der zeitgenössischen Pornografie so aussieht, dann sollten wir uns fragen, was dahintersteckt. Das Wort Ejakulation (lat. hinauswerfen) deutet es an: Der Mann wirft seine Lust hinaus. Dass Männer nicht versöhnt mit ihrer Lust sind, zeigt sich daran, dass die Frau, nachdem der Mann in oder auf ihr zu Ende masturbiert hat, entsorgt wird wie ein schmutziges Taschentuch.

Es ist naheliegend, wie sich dies psychologisch entwickelt hat: Kleine Jungs zelebrieren ihre Lust meist nicht genüsslich und langsam, sondern eher heimlich und schnell. Da sich ab der Pubertät mit der Ejakulation auch ein Ergebnis ihrer Lust einstellt, wird damit das Taschentuch, die Socke oder was auch immer zur Entsorgung dient, zu einer Art schmutzigem Geheimnis vor den Eltern.

Wenn aus solchen Jungs nun Männer werden und diese ihre Phantasien ausleben, dann ist es nur wahrscheinlich, dass ein Teil dabei auch Rebellion gegen das Versteckspielen der eigenen Kindheit ist. Der Mann zeigt sich im Porno also trotzig-offen von seiner animalischen Seite, und deshalb muss die Darstellung dem entsprechen. Es scheint aber so zu sein, dass der Mann dabei eingeholt wird von seinem Schuldgefühl und dass sein Sperma ihn selber anekelt. Im Porno für Heteromänner kommt es unter weiblichen Darstellerinnen regelmäßig zum sogenannten Snowballing zwischen Frauen, also der Übergabe von »Sie wissen schon« von Mund zu Mund. Nie ist aber zu sehen, dass ein Mann von seiner Partnerin einen solchen »Kuss« bekommt, nachdem er sie besudelt hat. Genau das ist aber die sinnliche Komponente, die das Snowballing für manche Paare in der Realität mitunter reizvoll macht, denn hier gilt es als Beweis äußerster Intimität und gegenseitiger Vertrautheit.

In diesem Bild wird das Dilemma symbolisch auf den Punkt gebracht, das uns in diesem Buch beschäftigt: Wohin bloß mit der ganzen verdammten Lust? Und wie kann sie so gelebt werden, dass sie nicht zerstörerisch für Beziehungen oder Beteiligte ist?

Sie wird vom Mann während des Aktes auf die Frau »geschoben« und bleibt dort als sichtbare Befleckung haften. So wie reale Beziehungen durch Sex mit anderen zerbrechen, scheint der virtuelle Männersex im Porno sogar durch minimale Emotionen bedroht zu sein.

Die Männer sind hirnlos Rammelnde, die Frauen besinnungslos Stöhnende – das ist der Standardentwurf der Pornografie, wie ihn unser Professor Gunter Schmidt in einem seiner Seminare zusammenfasste. Dass dies für keines der Geschlechter ein Kompliment darstellt, geht nur wenigen auf. Man kann sich von dieser Art der Darstellung nämlich auch als Mann beleidigt fühlen. Es geht dabei nicht um die moralische oder psychologische Verurteilung ungewöhnlicher Praktiken oder ihre explizite Darstellung, sondern um die Eintönigkeit, den Einzug der Gewalt und das Erzeugen von Entfremdung zwischen den Geschlechtern, was eine tiefere Wertschätzung zwischen Mann und Frau für eine offen gelebte Sexualität verhindert. Der normale Porno ist eine klassische Nichtbefreiung unter kapitalistischen Vorzeichen, weil er Ideen wachruft und Drehbücher in den Köpfen der Männer hinterlässt, die einer gelebten Sexualität im Wege stehen.

Es scheint genauso zu kommen, wie es Volkmer Sigusch in seinem Buch »Neosexualitäten« prognostiziert: Um die Erregung weiter zu steigern, nachdem eigentlich alles Sexuelle gezeigt worden ist, wird Gewalt ein immer stärkeres Element in den Darstellungen.

Die allgegenwärtige Gewalt in Form der Diskriminierung der Frauen ist aus unserer Sicht deshalb so problematisch, weil sie verhindert, was sich Tootsie und seine Kollegin gewünscht haben: das unbeschwerte, freie Genießen von sexuellen Begegnungen in einer offenen Gesellschaft. Und wir werden das Thema Treue und Untreue vermutlich nicht in den Griff bekommen, wenn wir im Grunde immer noch kein Bild von einer menschenfreundlichen Sexualität entwickelt haben.

Ende der Leseprobe