15,99 €
Louise Glück ist eine der wichtigsten Lyrikerinnen Amerikas und wurde 2020 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
»Endlich umfing mich die Nacht / ich schwebte auf ihr, vielleicht in ihr / oder sie trug mich, wie ein Fluss / ein Boot trägt …«
Wir betreten die Welt dieses Buches durch eines ihrer vielen traumartigen Tore. Wir gelangen immer an denselben Ort, doch jedes Mal erscheint er anders. Wir entdecken ihn als Frau, als Mann, als Kind oder Greis. Eine einzige Geschichte in fließenden Teilen. Es ist die Geschichte eines Abenteuers, einer Begegnung mit dem Unbekannten, der mutigen Reise des treuen und edlen Ritters ins Königreich des Todes. Als Fortsetzung der Welt unserer Kinderbücher ist sie uns zutiefst vertraut. Nur beginnt das Vertraute sich zu wandeln, geheimnisvoll zu glänzen wie die Umrisse eines Traums, wie die Sterne der »treuen und edlen Nacht«.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 105
Inhalt
Wir betreten die Welt dieses Buches durch eines ihrer vielen traumartigen Tore. Wir gelangen immer an denselben Ort, doch jedes Mal erscheint er anders. Wir entdecken ihn als Frau, als Mann, als Kind oder Greis. Eine einzige Geschichte in fließenden Teilen. Es ist die Geschichte eines Abenteuers, einer Begegnung mit dem Unbekannten, der mutigen Reise des treuen und edlen Ritters ins Königreich des Todes. Als Fortsetzung der Welt unserer Kinderbücher ist sie uns zutiefst vertraut. Nur beginnt das Vertraute sich zu wandeln, geheimnisvoll zu glänzen wie die Umrisse eines Traums, wie die Sterne der »treuen und edlen Nacht«.
Autorin
LOUISEGLÜCK hat bisher dreizehn Gedichtbände, zwei Essaysammlungen und ein Prosakurzstück veröffentlicht. 2020 wurde sie mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet »für ihre unverkennbare poetische Stimme, die mit strenger Schönheit die individuelle Existenz universell macht«. Glück erhielt u. a. auch den Pulitzerpreis, den Bollingen Prize und den National Book Award. Sie lehrt an der Yale und der Stanford University und lebt in Cambridge, Massachusetts.
Übersetzerin
UTAGOSMANN, geb. 1973 in Bochum, lebt in New Haven, Connecticut. Sie ist Lyrikerin, Literaturwissenschaftlerin, Psychoanalytikerin und hat Werke von Louise Glück, Susan Howe und Ellen Hinsey übersetzt.
Louise Glück
TREUE UND EDLE NACHT
Aus dem amerikanischen Englisch von Uta Gosmann
Luchterhand
Parable
Gleichnis
An Adventure
Ein Abenteuer
The Past
Die Vergangenheit
Faithful and Virtuous Night
Treue und edle Nacht
Theory of Memory
Erinnerungstheorie
A Sharply Worded Silence
Ein spitzes Schweigen
Visitors from Abroad
Besuch aus der Fremde
Aboriginal Landscape
Ursprüngliche Landschaft
Utopia
Utopie
Cornwall
Cornwall
Afterword
Nachwort
Midnight
Mitternacht
The Sword in the Stone
Das Schwert im Stein
Forbidden Music
Verbotene Musik
The Open Window
Das offene Fenster
The Melancholy Assistant
Der melancholische Assistent
A Foreshortened Journey
Eine verkürzte Reise
Approach of the Horizon
Anflug des Horizonts
The White Series
Die weiße Reihe
The Horse and the Rider
Pferd und Reiter
A Work of Fiction
Eine Erzählung
The Story of a Day
Die Geschichte eines Tages
A Summer Garden
Ein Sommergarten
The Couple in the Park
Das Paar im Park
First divesting ourselves of worldly goods, as St. Francis teaches,
in order that our souls not be distracted
by gain and loss, and in order also
that our bodies be free to move
easily at the mountain passes, we had then to discuss
whither or where we might travel, with the second question being
should we have a purpose, against which
many of us argued fiercely that such purpose
corresponded to worldly goods, meaning a limitation or constriction,
whereas others said it was by this word we were consecrated
pilgrims rather than wanderers: in our minds, the word translated as
a dream, a something-sought, so that by concentrating we might see it
glimmering among the stones, and not
pass blindly by; each
further issue we debated equally fully, the arguments going back and forth,
so that we grew, some said, less flexible and more resigned,
like soldiers in a useless war. And snow fell upon us, and wind blew,
which in time abated – where the snow had been, many flowers appeared,
and where the stars had shone, the sun rose over the tree line
so that we had shadows again; many times this happened.
Also rain, also flooding sometimes, also avalanches, in which
some of us were lost, and periodically we would seem
to have achieved an agreement, our canteens
hoisted upon our shoulders; but always that moment passed, so
(after many years) we were still at that first stage, still
preparing to begin a journey, but we were changed nevertheless;
we could see this in one another; we had changed although
we never moved, and one said, ah, behold how we have aged, traveling
from day to night only, neither forward nor sideward, and this seemed
in a strange way miraculous. And those who believed we should have a purpose
believed this was the purpose, and those who felt we must remain free
in order to encounter truth felt it had been revealed.
Nachdem wir uns von weltlichem Gut getrennt hatten, wie der heilige Franziskus lehrt,
damit unsere Seelen sich nicht
um Gewinn und Verlust bekümmerten und auch damit
unsere Körper sich an den Bergpässen
frei bewegen könnten, mussten wir besprechen,
woher oder wohin wir reisen wollten, wobei die zweite Frage war,
ob wir eine Bestimmung haben sollten, wogegen
viele von uns empört einwandten, dass solch eine Bestimmung
weltlichem Gut entspräche, Begrenzung und Verengung wäre,
während andere sagten, dass erst dieses Wort uns nicht zu Wanderern,
sondern wahren Pilgern mache: In unseren Augen wies das Wort auf
einen Traum, ein Ersehntes, das, wenn wir uns konzentrierten,
wir zwischen Steinen vielleicht glänzen sähen und nicht
blind daran vorübergingen; alle
weiteren Fragen besprachen wir ebenso gründlich, reichten Argumente hin und her,
sodass wir, sagten manche, unbeweglicher und mutloser wurden
wie Soldaten in einem sinnlosen Krieg. Und Schnee fiel auf uns nieder, und Wind blies,
der mit der Zeit nachließ – wo Schnee gelegen hatte, wuchsen viele Blumen,
und wo zuvor die Sterne leuchteten, schob die Sonne sich über den Waldkamm,
sodass wir wieder Schatten hatten; viele Male geschah dies.
Und auch Regen und manchmal Überschwemmungen und Lawinen, in denen
mancher von uns verloren ging, und zuweilen schienen wir uns
fast geeinigt zu haben, schulterten schon
unsere Feldflaschen; doch zog der Moment stets vorüber, sodass
wir (nach vielen Jahren) immer noch am Anfang waren, immer noch
den Aufbruch planten. Trotzdem fanden wir uns verändert;
wir sahen es einander an; wir hatten uns verändert, obwohl
wir uns nie bewegt hatten, und einer sagte, ach, seht doch, wie alt wir geworden sind,
die wir nur vom Tag zur Nacht reisten, nicht vorwärts noch seitwärts, und dies schien
ein Wunder auf seltsame Weise. Und wer glaubte, wir sollten eine Bestimmung haben,
glaubte, dies sei die Bestimmung, und wer meinte, wir sollten frei bleiben,
um die Wahrheit zu erfahren, meinte, sie habe sich offenbart.
1.
It came to me one night as I was falling asleep
that I had finished with those amorous adventures
to which I had long been a slave. Finished with love?
my heart murmured. To which I responded that many profound discoveries
awaited us, hoping, at the same time, I would not be asked
to name them. For I could not name them. But the belief that they existed –
surely this counted for something?
2.
The next night brought the same thought,
this time concerning poetry, and in the nights that followed
various other passions and sensations were, in the same way,
set aside forever, and each night my heart
protested its future, like a small child being deprived of a favorite toy.
But these farewells, I said, are the way of things.
And once more I alluded to the vast territory
opening to us with each valediction. And with that phrase I became
a glorious knight riding into the setting sun, and my heart
became the steed underneath me.
3.
I was, you will understand, entering the kingdom of death,
though why this landscape was so conventional
I could not say. Here, too, the days were very long
while the years were very short. The sun sank over the far mountain.
The stars shone, the moon waxed and waned. Soon
faces from the past appeared to me:
my mother and father, my infant sister; they had not, it seemed,
finished what they had to say, though now
I could hear them because my heart was still.
4.
At this point, I attained the precipice
but the trail did not, I saw, descend on the other side;
rather, having flattened out, it continued at this altitude
as far as the eye could see, though gradually
the mountain that supported it completely dissolved
so that I found myself riding steadily through the air –
All around, the dead were cheering me on, the joy of finding them
obliterated by the task of responding to them –
5.
As we had all been flesh together,
now we were mist.
As we had been before objects with shadows,
now we were substance without form, like evaporated chemicals.
Neigh, neigh, said my heart,
or perhaps nay, nay – it was hard to know.
6.
Here the vision ended. I was in my bed, the morning sun
contentedly rising, the feather comforter
mounded in white drifts over my lower body.
You had been with me –
there was a dent in the second pillowcase.
We had escaped from death –
or was this the view from the precipice?
1.
Eines Nachts, ich schlief schon fast, wurde mir klar,
dass ich abgeschlossen hatte mit den amourösen Abenteuern,
denen ich lang verfallen war. Abgeschlossen mit der Liebe?,
raunte mein Herz. Worauf ich erwiderte, dass noch viele große Entdeckungen
auf uns warteten, und gleichzeitig hoffte, sie nicht
benennen zu müssen. Denn nennen konnte ich sie nicht. Doch zu glauben, dass es sie gab –
sicher zählte das?
2.
Die Nacht darauf kam mir derselbe Gedanke,
betraf diesmal das Dichten, und in den Nächten danach
wurden weitere Leidenschaften und Empfindungen in gleicher Weise
für immer beiseitegelegt, und jede Nacht erwehrte sich mein Herz
seiner Zukunft wie ein kleines Kind, dem man sein liebstes Spielzeug nimmt.
Diese Abschiede, sagte ich, sind doch der Lauf der Dinge.
Und noch einmal wies ich auf den weiten Raum,
der sich mit jedem Lebewohl vor uns auftat. Und mit jenem Satz wurde ich
zum glorreichen Ritter, der in die untergehende Sonne reitet, und mein Herz
wurde unter mir zu meinem Ross.
3.
Ich trat, du weißt es wohl, ins Reich des Todes ein,
doch warum die Landschaft so gewöhnlich war,
konnte ich nicht sagen. Auch hier waren die Tage sehr lang,
die Jahre aber sehr kurz. Die Sonne versank hinter dem fernen Berg.
Die Sterne leuchteten, der Mond nahm zu und ab. Bald
erschienen mir Gesichter der Vergangenheit:
Mutter und Vater, meine kleine Schwester; sie hatten wohl
nicht ausgesprochen, doch jetzt
konnte ich sie hören, denn mein Herz war still.
4.
An dieser Stelle erreichte ich die Klippe,
doch der Pfad, wie ich sah, führte jenseits nicht hinab;
er flachte vielmehr ab und lief, so weit das Auge reichte,
auf gleicher Höhe weiter, wobei
der Berg, der ihn trug, nach und nach verschwand,
sodass ich mich in einem fort auf Luft reitend fand –
Ringsum spornten mich die Toten an, doch die Freude, sie zu finden,
wurde von der Pflicht, ihnen zu antworten, erstickt –
5.
Wie wir gemeinsam einmal Fleisch waren,
waren wir nun Nebel.
Wie wir in Gestalt einmal Schatten hatten,
waren wir nun Substanz ohne Form, wie verdampfte Chemikalien.
Es wieherte mein Herz,
vielleicht weigerte es sich auch – es war schwer zu sagen.
6.
Hier endete die Vision. Ich lag in meinem Bett, die Morgensonne
ging gemächlich auf, die Daunendecke
bauschte sich in weißen Wellen über meinem Körper.
Du warst bei mir gewesen –
das zweite Kissen lag noch eingedrückt.
Wir waren dem Tode entronnen –
oder tat sich hier der Blick in den Abgrund auf?
Small light in the sky appearing
suddenly between
two pine boughs, their fine needles
now etched onto the radiant surface
and above this
high, feathery heaven –
Smell the air. That is the smell of the white pine,
most intense when the wind blows through it
and the sound it makes equally strange,
like the sound of the wind in a movie –
Shadows moving. The ropes
making the sound they make. What you hear now
will be the sound of the nightingale, chordata,
the male bird courting the female –
The ropes shift. The hammock
sways in the wind, tied
firmly between two pine trees.
Smell the air. That is the smell of the white pine.
It is my mother’s voice you hear
or is it only the sound the trees make
when the air passes through them
because what sound would it make,
passing through nothing?
Kleines Licht am Himmel scheint
plötzlich zwischen
zwei Kiefernzweigen, ihre feinen Nadeln
jetzt auf die strahlende Fläche graviert
und darüber dieser
hohe, federleichte Himmel –
Atme die Luft. Das ist der Duft der Seidenkiefer,
am intensivsten, wenn der Wind durch sie weht,
und der Klang, der entsteht, ebenso fremd
wie der Klang des Winds in einem Film –
Schatten regen sich. Die Seile
haben ihren Klang. Was du jetzt hörst,
ist der Gesang der Nachtigall, chordata,
das Männchen lockt das Weibchen –
Die Seile rutschen. Die Hängematte
wiegt im Wind, befestigt
an zwei Kiefern.
Atme die Luft. Das ist der Duft der Seidenkiefer.
Meiner Mutter Stimme ist es, die du hörst,