Trotzig Lächeln und das Weltall streicheln - Lutz Rathenow - E-Book

Trotzig Lächeln und das Weltall streicheln E-Book

Lutz Rathenow

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Beschreibung

Pünktlich zu seinem 70. Geburtstag legt der bedeutende DDR-Oppositionelle seinen literarischen Lebenslauf vor. Von der frühen Kindheit bis in hohe politische Ämter erzählt Rathenow von einem Leben zwischen Kunst und Politik. Mal magisch, mal realistisch, stets liebevoll. Schule, Familie, erste Eifersucht. Das Meer, das All, die Mittagsstunde. Janis Joplin, Michail Gorbatschow, Harald Hauswald. Die Wende, das Kino, die Ameisen im Garten. – Lutz Rathenows Leben fügt sich zu einem farbigen Kaleidoskop aus Erzählungen, Dialogen, Reportagen und Tagebuch-Notaten zusammen. Sein Blick auf rassistische Ressentiments, unaufgearbeitete DDR-Prägungen, enttäuschte West-Projektionen und ihr Wegreden im Alltag ist scharf. Seine Erinnerungen an Weggefährten sind freundschaftlich, skeptisch und innig. Seine starken Heldinnen verblüffen ebenso wie die rasanten Ortswechsel zwischen Jena, Berlin oder Montevideo. In seinem Nachwort setzt Marko Martin diese facettenreiche Biografie in den Kontext der deutsch-deutschen Zeitgeschichte. »Lutz Rathenow zeigt in seinem Leben und Werk, dass beides möglich ist: Gewitztheit und Engagement, Spielerisches ebenso wie Klarheit.« Marko Martin

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Mein Leben in Geschichten

Lutz Rathenow

Trotzig lächeln unddas Weltall streicheln

Herausgegebenund mit einem Nachwortvon Marko Martin

kanon verlag

ISBN 978-3-98568-050-4

eISBN 978-3-98568-051-1

1. Auflage 2022

© Kanon Verlag Berlin GmbH, 2022

© Lutz Rathenow, 2022

Umschlaggestaltung: Anke Fesel / bobsairport

Unter Verwendung einer Fotografie von

ullstein bild /Anita Schiffer-Fuchs

Herstellung: Daniel Klotz / Die Lettertypen

Satz: Marco Stölk

Druck und Bindung: Pustet, Regensburg

Printed in Germany

www.kanon-verlag.de

Lutz Rathenow

Trotzig lächeln und das Weltall streicheln

Mein Leben in Geschichten

Kapitel 1

Lauter Anfänge

Der Hampelmann

Der Weg hin und der zurück

Das Radio

Im Glaswerk

Das Verständnis

Der Auszug

Blues Trampen Hippies

Versetzungsgefährdet

Die Ostsee, der Urlaub und der Westen. Oder umgekehrt

Der Westen im Osten

Möglichkeiten

Den Raum krümmen und die Zeit dehnen

Der Herrscher

Kapitel 2

Die weite weite Welt

Ohne Anfang

Ein böses Ende

Drei Generäle

Szenenwechsel

Für Lilo

Kontakte

Der letzte Besuch in der ersten Kommune

Feiertag

Die Freude

Ausscheren

Es grünt so grün

Böse Geschichte mit gutem Ende

Die ersten Tage des Dezember. Ich kann wieder schreiben

Was sonst noch passierte

Kapitel 3

Beschleunigen

Sisyphos. Ein Puzzle

Spieglein im Gesicht

Mitten im Jahr

Sechste Eingabe

Gedanken zu Schranken beim Thema Frieden

Schlachthofmonolog

Die Außentoilette

Der Wolf und die widerspenstigen Geißlein

Ein Eisbär aus Apolda

Das neue Fahrrad

Es wird einmal

Todesfälle

Jedem sein eigenes Deutschland

Der Diener

Er-Schöpfung

Vier Liebesgeschichten

Stadtgestaltung in Ostberlin

Kapitel 4

Go West

Die Macht der Worte

6.10.89: Zwei Statements zur Situation

Wo waren Sie an diesem Abend

Keine Gute-Nacht-Geschichte

JuniJuliNeunzehnhundertneunzig/NochOstberlin

Der Mann redet, die junge Frau lächelt und denkt einen Text

Das Ghetto Prenzlauer Berg

Töten lernen

Fritz ist ein Dieb

Umzug zum Strausberger Platz

Kapitalismus mit Tübinger Antlitz

Kapitel 5

Anschwellende Gegenwart

Narziss, 1980

Narziss, 2000

Ein Haus in Montevideo

Das Gleichnis von den anvertrauten Zentnern

Nummer 3048

Ein offenes Ohr. Das Leben mit Handy

Aufstieg zu den Bücherbergen

Kaliningrad, eine Zwitterexistenz

Das Arbeitsamt, dein Freund und Helfer

Klick zum Glück

Ein Streit mehr

Allesklau

Am Alexanderplatz

Alexandria 2011

Eröffnungsrede zu einem Poetry-Slam

Unerwartetes Glück

Maskierungszärtlichkeit

Mauersensibilitäten

Die Rätsel in Dresden. Ein Verzettelungsroman

Nachwort

Editorische Notiz

Nachweise und Anmerkungen

Kapitel 1

Lauter Anfänge

Wunschreisen

Wie ein Grashüpfer springen.

Von Planet zu Planet.

Und wenn keine Lust

oder verrenkt das Bein?

Sich Schonung auferlegen –

zwei Tage

in einem Sonnensystem bleiben

1971

Der Hampelmann

1

Bequem mit halbausgestrecktem Arm erreichbar, handtellergroß, natürlich bunt. Seit dem zweiten Geburtstag hing er über seinem Bett.

Vier Jahre und an die gegenüberliegende Wand wurde ein weiteres gestellt, darin die Schwester. Irgendwann (das ihm verwandte Mädchen konnte schon sprechen, auch laufen, ohne sich an Möbelstücken im Zimmer festhalten zu müssen) spürte er in sich ein Gefühl, für das er das Wort »Neid« noch nicht kannte; den schmerzhaften Gedanken, dass ihr von Eltern und Verwandtschaft mehr Beachtung zukam. Ein Empfinden vergleichbar mit Zahnschmerz, jäh auftauchend, betäubt mit Schokolade und freundlichen Gesten, vergessen vielleicht, bis es erneut auftrat, unerwartet, heftiger als zuvor.

Die Schwester und er führten abends Gespräche, balgten sich, spielten Verstecken, Lampenzielen mit dem Hausschuh oder Ichsehe-was-was-du-nicht-siehst. Keiner wollte schlafen.

Also erzählte er, der Ältere, der die Welt zu kennen glaubte. Und sprach mit zwei Stimmen, die tiefere sollte dem Hampelmann gehören.

Märchen, Gruselgeschichten, die die Schwester bis in die Träume verfolgten. Alte Männer bissen kleinen Mädchen ins Genick, um ihnen das Rückenmark auszusaugen. Fleischermeister lockten Kinder beim Einkauf zu einer Fallgrube, um sie dann im Keller zu schlachten und zu Büchsenfleisch zu verarbeiten.

Aufhören, bat die Schwester manchmal, was ihn nur zu noch größerem Eifer anspornte. Der Hampelmann wollte Süßigkeiten. Er bekam sie. Eine Banane sollte auf den Nachttisch des Bruders gelegt werden. Sie wurde.

Die Mutter merkte etwas, Vater und sie erfuhren von der Sache, erklärten der Tochter den Unsinn, tadelten ihren Sohn, aber nicht sehr, da es sich um keine weltbewegende Angelegenheit handelte, wie Vater meinte.

Er hatte Talent und lernte verschiedene Rollen, in die sich der Hampelmann verwandeln konnte. Der Drache mit seiner klebrigen Zunge, von der (einmal berührt) keiner loskommt. Der Riese, der sich nur wohlfühlt, wenn er Köpfe abreißt. Der Polizist, der jeden verhaftet und zu lebenslänglichem Schuhputzen verurteilt.

Er übte auf dem Weg zur Schule.

Die Schwester durchschaute das Spiel nicht. Jene seltsame Stimme im Dunkel besaß Macht und übte diese aus. Beständig, nie zu dreist, zuerst um verschiedene Kleinigkeiten zu bekommen, dann verlangte sie kleine Geldbeträge, das Nachsprechen von Sätzen (Ich bin so dumm wie Bohnenstroh, haust du mich jetzt, so werd’ ich froh), das Erledigen aller Hausarbeit, die bis dahin der Bruder machen musste. Es brauchte keine Begründung, die Schwester gehorchte. Und weinte, hatte Angst vor der handtellergroßen Figur über dem Bett.

Es gab Streit.

Er solle mit dem Quatsch endlich aufhören, sagte die Mutter. Doch er bestand darauf: Den sprechenden Hampelmann gab es, und er konnte sich bewegen.

Außerdem konnte er singen und ließ sich Lieder vorsingen. Auf Befehl.

Ein Griff nur, der Weg in die Küche, keine zwanzig Sekunden, und die Mutter steckte den Hampelmann in den Herd, wo er neben anderem aussortierten (zumeist defekten) Spielzeug verbrannte.

Als sie es ihm am Nachmittag sagte, hasste der Sohn seine Mutter, einen Augenblick lang, bis er sie fragte, ob er auf die Straße gehen dürfe, Räuber und Gendarm spielen.

2

Er hatte der Schwester einen lebenden Hampelmann vorgetäuscht, nutzte ihn zum Erhalt von Süßigkeiten und Dienstleistungen. Jahre später schrieb er eine Geschichte darüber. Ich erschrecke, wenn ich daran denke – lautete der erste Satz auf dem Papier; der letzte, den er aus der endgültigen Fassung strich. Er hatte zugespitzt. Übertrieben. Die Schwester ängstigte sich nicht unablässig vor dem Holzspielzeug, sie konnte über seine Einfälle auch lachen. Über seine Sprüche. Laura, der Schutzmann kommt, / lass dich ja nicht sehn, / sonst wirst du eingesperrt, / Zelle Nummer zehn. Sie weinte aus Furcht, das war richtig, aber rückblickend glaubte er, dass sie einen lebenden Hampelmann wollte. Sonst hätte ihr etwas gefehlt. Das Verlangen nach einer starken Empfindung, der man sich hingeben kann. Einer heftigen Erschütterung, gleichgültig ob Freude oder Schmerz oder Angst. Und warum dann heimliches Raffen von Süßigkeiten, mieses Schachern, das mit Leidenschaft nichts zu tun hat? Vielleicht, um mehr als andere zu haben, damit die betteln müssen. Doch betteln stimmt nicht. Bitten.

Daraus Schlüsse ziehen. Einen Schluss finden. Erfinden fällt leichter als erinnern. Denn was hatte er seiner Schwester genau abverlangt, abgeluchst. Wie weit ging der Einfluss jenes Holzgebildes außerhalb des gemeinsamen Kinderzimmers. Die Mutter verbrannte es, später, das steht auf dem Papier. Auch, dass er sie hasste, für einen Augenblick.

Das Wort »Hass« bei einem sieben- oder achtjährigen Jungen. Ein Mann und eine Frau in einer gängigen Filmszene. Sie ist aus irgendeinem Grund wütend auf ihn und sagt: Ich hasse dich. Vielleicht gibt es noch eine Ohrfeige, bevor sie sich küssen.

Genauso richtig wäre: Erst schrie er, dann wollte er die Mutter töten. Dann nahm er sich vor, nie wieder ein Wort mit ihr zu sprechen. Das sagte er ihr. Ich auch nicht mit dir, antwortete die Mutter.

Wortlos verließ er die Küche, und erst die Mathematikstunde am kommenden Morgen erinnerte ihn an seinen Schwur. Obwohl es keinen plausiblen Anlass gab, dass es gerade die Mathematikstunde sein musste. Jedenfalls machte er einen Knoten ins Taschentuch, um nicht wie beim Frühstück zu vergessen, dass er kein Wort mehr mit seiner Mutter sprechen wollte. Schon wenn er in drei Stunden nach Hause kam, sollte sie es merken.

Er betrat die Wohnung sechs Stunden später, die Hose vom Zäune überklettern zerrissen, und verwendete viel Mühe auf eine glaubhafte Entschuldigung, die jene dreieckförmigen Löcher zur Fußballspielbeschädigung herabzumindern suchte. Seinen Vorsatz vergaß er. Die Mutter hörte allerdings kaum der aufgeregten Beschreibung des Spielverlaufs zu, sie beschäftigte eine rätselhafte Dienstreise ihres Mannes mehr; zumal der Name der Stadt, in die er zu fahren angab, und der Bestimmungsort der Reichsbahnkarten um hundertfünfzig Kilometer differierten. Der Sache auf den Grund gehen, dieser Satz hämmerte in ihrem Kopf. Und sie wunderte sich nur beim Waschen über die Fähigkeit ihres Sohnes, auch robuste Kleidungsstücke binnen kurzer Zeit zur Unkenntlichkeit zu deformieren. Sie entnahm dem Hosenfragment ein verstümmeltes Taschentuch und registrierte mit Erstaunen, dass es nur verknotet war.

Er dachte am Abend nicht mehr an das Vergehen der Mutter. In meinem Bauch ist ein Mann versteckt, sagte er zu seiner Schwester. Und was macht er da? Er gähnt, er brummt, er isst. Wenn er schimpft, rumort es. Und warum ist er dort? Weil er nicht auf Arbeit will.

In meinem Bauch ist eine Frau mit grünen Augen. Und lila Haar, sprach die Schwester.

Grüne Augen, lila Haar?

Damit sie keiner verwechselt.

Hm, stellt er fest, meiner organisiert öfters Kuchen und Schlagsahne. Außerdem achtet er darauf, dass ich nicht krank werde.

Die Schwester lacht: Meine Frau passt auf, dass dein Mann wirklich nicht zur Arbeit geht. Denn da sind viele laute Maschinen und man kann sich nicht richtig unterhalten.

Stimmt, bestätigt der Bruder, doch am Wochenende geht er manchmal. Sogar mit deiner Frau. Aber nur manchmal. Und nur, wenn sie wollen.

Der Weg hin und der zurück

Ein Mann mit zwei Beilen. Kommt mit einem im Kopf und einem in der Hand. Ich beruhige mich. Es hätten drei sein können, in jeder Hand ein Beil. Und im Mund Platz für ein Messer.

Alles in allem sieht der Mann harmlos aus, rede ich mir ein, als er näher kommt. »Deine Mutter will, dass ich dir die Haare stutze!« Die Stimme des Mannes klingt schäbig. Ein heruntergekommenes Gebrüll, knapp vorm Winseln.

»Ja, ja«, nöle ich den Kerl an und mustere seinen Spalt im Kopf. »Geh voraus! Drüben der Fleischer hat den richtigen Klotz. Ich warte auf Regen, feucht hacken sich Haare besser!«

Wortlos nickt der Mann und trottet in die angewiesene Richtung. Das Beil muss fest im Kopf klemmen, sonst wäre es beim Nicken rausgerutscht. Ich träume sonst grusliger, denke ich, und schließe die Augen. Ich wache nicht gleich auf. Wieso wache ich nicht gleich auf. Auf.

Auf, auf! Weiter träumen, grusliger, origineller, länger. Zunehmend pflichtbewusst durchlebe ich das Geschehen und langweile mich dem Schluss entgegen. Aha, der mit den beiden Beilen kommt zurück. Wollte wohl nicht warten. Auf seiner Brust schillert ein Orden: ein nach oben gereckter goldener Zeigefinger. Jetzt erst erkenne ich ihn: mein Klassenlehrer. Er nuschelt Sätze vor sich hin. Ich sehe seinen rechten Arm mit dem Beil ausholen und höre die breite Kante auf die Kante im Kopf hämmern. Ein dumpfer Gong. So sieht eine gespaltene Persönlichkeit aus, alles ist so klar in den Träumen – ich biete meine Hilfe an und weiß nicht, ob aus Höflichkeit, ob aus Gehässigkeit. Der Lehrer schlägt stumm und schnell auf seinen Kopf. – Immer heller klirrt der Aufschlag. – Immer ergebnisloser der Aufwand. Und das Klirren verwandelt sich in das Klingeln eines Weckers.

Wer muss beim Aufstehen nicht an Schule denken? Der darf sich glücklich schätzen. Er gehörte nicht zu denen. Trotzdem änderte sich sein Verhältnis zum Erwachen in den ersten Schuljahren grundlegend. Fast ein Jahr hörte er das altmodische Rattern des Weckers nicht. War immer vorher wach. Munter werden verhieß Erlösung von den Folterträumen. Ein spannender Schultag steht bevor. Der Morgen befreite von einer bedrohlichen Nacht. Endlich neue Pläne mit Helmut besprechen. Über Heimgard zum Beispiel. Entführt sollte sie werden. Heimgard war neu in die Klasse gekommen und sprach nicht mit Jungen. In seinen Träumen wurde sie öfter von einem Mörder verfolgt. Sie bettelte dann um Rettung. Bei ihm. Er gab sich großzügig und frech. Einmal kuschelte er seinen Körper eng an ihren. Da erwachte er sofort und vermied künftig jegliche Art von Berührung. In dieser Zeit braucht er den Wecker schon. Ganz schnell beginnt das Ding, lästig zu werden. Nun flucht er wie alle auf den Ratterzwerg. Zerklingelt die spannendsten Geschichten. Aufstehen kostete jedes Schuljahr mehr Überwindung. Weil schon der erste Gedanke nach dem Erwachen um vorhandene, mögliche und vergessene Probleme kreist. Was muss er heute verbergen? Was vor dem Lehrer und was vor den Eltern? Die Schule, ein Riesenapparat, der einem Stunden wegsaugt. Gerade die, in denen man wirklich etwas anderes vorgehabt hätte.

Stehe ich schließlich auf, stehe ich rasch auf. Beim Waschen ziehe ich mich vorsichtshalber an. Und beim Anziehen frühstücke ich bereits. Beim Frühstück erledige ich die Schularbeit.

Für die Mathematik noch einen Spickzettel schreiben. Das gelingt nur zu Hause. Dafür braucht es Ruhe und dünne Federn. Zu Weihnachten kam der gewünschte Satz Metallfedern mit Federhalter. Ganz zart schreiben die. Auf die handtellergroßen Zettel soll einiges passen. Manche Fakten prägen sich so schon beim Übertragen ein. Spickzettel schreiben gehört durchaus zum Lernprozess. Wäre ich Lehrer, beurteilte ich Schüler anhand ihrer Spickzettel. Meine rechte Hand, die besonders klein schreiben kann, notiert Lösungswege. Die linke ergreift das mit Butter geschmierte Schinkenbrot und schiebt es in den Mund. Rasch ist der Zettel auf beiden Seiten beschriftet. Klebeband? Gewissensfrage. Verzichte ich auf eine Schutzschicht, zerlaufen die Worte möglicherweise. Eine vor Aufregung feuchte Hand passiert halt mal. Zweimal war so die Arbeit vor der Arbeit umsonst. Aber mit Klebeband kann ich den Zettel im Notfall schwer runterschlucken, wenn ich erwischt werden sollte. Ein Abzählreim als Entscheidung – ich greife zu Band und Schere.

Er bringt die Zäune zum Klingen. Laute für verschiedene Latten, nuancenreich dumpf bis hell und schrill. Keinen Zaun lässt er aus. Hecken stören das musikalische Vergnügen. Ihnen entlockt der Stock nur ein Rascheln. Ein Knacken, schlägt er energisch zu. Nichts geschieht ohne Laute. Er arbeitet an seiner jahrelang währenden Sinfonie täglich zehn bis zwanzig Minuten. Immer auf dem Weg zur Schule. Bei Regen Ausfall der Vorstellung. Bei Wut beschleunigte Abfolge der Töne. Das Werk soll neuen Höhepunkten zusteuern. Die paukenartigen Schläge sind an der Reihe.

Reaktionen auf die Steigerung der Lautstärke bleiben nicht aus. Die Hunde der Straße bellen sich ein. Sensible Katzen verpassen nicht ihren Einsatz. Endlich meckern auch Frauen mit, samt ihrer Babys. Dies aufmunternde Konzert entschädigt für die Schule. Nun brauchen Lehrer wieder zwei, drei Stunden, um alle geweckten Energien einzuschläfern. Seine Lust auf einen spannenden Schluss. Der lässt ihn nach handlichen Steinen suchen. Kaum einer liegt bereit, zu viele Schulkinder sammeln hier. Er grabscht Kleinkram und streut Kieselregen gegen Zäune und Dächer. Es prasselt wunderbar. Zwei Männer schreien über ein Grundstück einander zu, wo der kleine Verbrecher stecke. Da ist er schon weg. Läuft, was Beine laufen in dem Alter. Biegt in eine Nebenstraße ein und schlendert weiter. Die Harmlosigkeit in Person. Ein guter Schauspieler. Das will er werden. In einem Western, der in seiner Schule spielt. Mutige Schüler erledigen Lehrer für Lehrer im fairen Duell. Der Direktor zittert, als er an der Reihe ist. Der Held schenkt ihm zum Trost einen Whisky ein. Und sagt: »Es gibt Schlimmeres als den Tod!«

»Seinen Unterricht!«, johlen Klassenkameraden.

Ein unangenehmer Geruch mahnt den Helden, den Direktor Heber auf die Toilette zu schicken. Zuvor. Als er zurückkehrt, unterdrückt der Direx kaum noch das salzige Wasser in seinen Augen, das abfließen will. Er reicht ihm seine Waffe für den Kampf. Der Held sagt noch nicht, was er gleich sagen wird. Und was gesagt werden muss. Ruhig reinigt er die Pistole.

Der Weg aus der Schule ohne Musik. Wir plappern, wer von wem am Nachmittag Schulaufgaben abschreiben kann. Prahlereien über spätabends im Fernsehen geschaute Filme. Notfalls erfinde ich den Krimi, der gegen Mitternacht gekommen sein soll. Andere staunen, wie lange ich aufbleiben darf. Helmut erzählt von seinem Geheimversteck im Wald. Echte Schätze lagern dort. Dreimal machten wir uns auf den Weg. Und mussten im letzten Moment aus Sicherheitsgründen umkehren. Die Entdeckung des Versteckes kann Helmut natürlich nicht riskieren. Ein Faustschlag beendet unser Palaver. Eine energische Prügelei beginnt. Mit der Nachbarklasse, unserem Hauptfeind. Feinde haben, eines der ersten und dauerhaftesten Resultate der Schule. Bandenkämpfe, erste verloren gegangene Zähne, knopfloser Rückzug als Sieger. Als Sieger haben wir Glück. Vielleicht doppeltes Glück heute. Also Schatzsuche. –Wir graben in einem Loch auf dem Bauplatz. Zum Glück sind die Mittagspausen der Arbeiter lang. – Wir buddeln ungestört. Wenn wir schon keine Schätze finden, dann wenigstens Lehm und Ton. Los, tiefer! Allmählich sind die Hände verschmiert, das könnte Lehm sein. Nicht aufgeben, der Ton liegt weiter unten. Darunter vielleicht Erdöl, das wäre ein Schatz! Unser Land kann Erdöl dringend gebrauchen. Die Erde erwärmt sich, je tiefer einer bohrt. Irgendwann wird es flüssig unter der Kruste. Vor Hitze. Solche Auskünfte kennen wir von Eltern und Lehrern. Ich habe Angst, mir die Finger zu verbrennen. Doch Erschöpfung überlagert jegliche Angst. Weiter hacken und schaufeln. Es ist ein wenig wärmer geworden. Wir graben uns den richtigen Weg.

An anderen Tagen verfliegt alle Neugier. Drei Jahre lang die wöchentliche Note in Betragen. Am Sonnabend. Stunde voller Selbstmitleid. Er will allein sein, es ist alles aus, wieder eine Vier, nur noch die Fünf könnte schlechter sein. Noch nie gab es eine Fünf in Betragen. Die Vier als größtmögliche Demütigung der Lehrer. Sein letzter Gang vollzieht sich in Zeitlupe.

Indianer haben den Marterpfahl, er den Schulweg – traurig, aber gerecht. Bitter nur, dass er diesen Wochenendtod des Öfteren sterben muss. Da bringe ich mich lieber richtig um. Dieser gefährlich tröstende Satz hämmert in seinem Kopf. Er schleppt sich den Bürgersteig entlang. Ein Feldweg unterbricht ihn. Er nutzt jede Unebenheit, den Fuß verweilen zu lassen. Als bereite es den Beinen Mühe, das Hindernis zu überwinden. Er denkt über Möglichkeiten nach, die eigene Beerdigung mitzuerleben. Wie Tom in dem berühmten Buch. Seine Fingerspitzen gleiten den Zaun entlang. Ein dahinschleichendes Tacktacktack. Sein Entschluss steht fest. So kann er den Eltern eine Chance geben, noch. Eine. Die schimpfen über die späte Ankunft. Das ewige Rumgammeln. Sie sehen das Hausaufgabenheft mit der Zensur und beginnen einen Streit über richtige Erziehungsmaßnahmen. Günstigenfalls. Er entfernt sich unauffällig, schlimmerenfalls packt Vater die Wut. Er schlägt zu, trifft nur die Luft. Greift nach dem Arm seines Sohnes. Der flüchtet in die Küche und schnappt eine Fußbank.

Die Küche als Ort des Widerstandes. Auf dem Rücken liegen, Beine treten schützend um sich, gegen die Schienbeine des Vaters. Die Bank als Schutzschild gegen Hiebe. Der Vater außer sich. Weil sein eigen Fleisch und Blut sich derart gebärdet. Wegen einer harmlosen Strafe. Einige Schläge auf den Po verdient der doch wirklich. Bei der dritten Vier hintereinander. Der Sohn stößt gezielt mit der Bank. Und heult. Mutter heult auch und wirft sich Vater in den Arm. Die jammernde Schwester kommt, erste alles verzögernde Verwirrung. Ruckartig springt der Sohn auf und flüchtet in sein Zimmer. Dieser Schulweg ist beendet. Ein paar Verbote folgen. Sein geplanter Selbstmord ist Tage später vergessen.

Vor der ersten großen Samstagspause werden die Hausaufgabenhefte auf den Lehrertisch gelegt, während die Kinder auf den Hof rennen. Wir spielen Verstecken oder fesseln jemanden und schubsen ihn oder sie den Hang hinunter. Mit einer geklauten Streichholzschachtel wollen wir einen Laubbaum anzünden. Der aufsichtsführende Lehrer entreißt uns die Hölzer und nimmt sie später für seine Zigaretten. Ab einem bestimmten Tag sollen wir auf dem Hof im Kreis laufen. Warum? Ein Verbesserungsvorschlag, für den einer die Prämie einsteckte? Anhand von Zahlen bewies er, dass der Erholungseffekt pro Schüler erheblich gesteigert werde, wenn die Hofpause in geordneten Bahnen verlaufe. Ruhiges Entlangschreiten garantiere bessere Luft, da kein Staub aufgestampft würde. Die Verletzungsgefahr schrumpfe außerdem. Nur dem Kopf passt dieses Dahintrotten nicht. So bleiben Rempeleien mit Vorder- und Hintermännern nicht aus.

Jeden Sonnabend schreite ich besonnen und betäubt im Kreis umher. Hoffentlich schaut die Lehrerin noch auf den Hofkreis, bevor sie die Noten in das aufgeschlagene Heft einträgt. Mitteilungen für die Eltern. Hoffentlich sieht sie mich. Vergessen oder Verbrennen des Hefters nützen nichts. Die Eltern haben auf Arbeit Telefon. Ich watschele brav hinter den Braven her. Tränen treten in meine Augen, weil ich mich so quäle. Und weil ich die Vergeblichkeit dieser Mühe schon ahne. Am Ende der letzten Stunde gibt es die Hefte. Mit der Wochennote für Betragen, unter Berücksichtigung von Ordnung und Gesamtverhalten. Ich nehme das Heft entgegen. Nie sind meine Vorsätze so ehrlich und rein: In der nächsten Woche sitze ich absolut still. Rufe nie dazwischen. Kein Boxen in der Stunde. Noch sehe ich meine Note nicht. Noch hoffe ich zwanghaft. Verzögere das Aufklappen des Heftes. Noch wäre ich zu jeder entsetzlichen Bravheit bereit gewesen.

Die Wege wachsen sich aus. Ab der siebenten Klasse Besuch einer Spezialschule. Er wandert durch die halbe Stadt. Er könnte Straßenbahn fahren. Die untersteht seinem Vater, er läuft lieber. Die Angst vor den Noten verringert sich Jahr um Jahr. Andere Ängste reifen.

Wird das wochenlang auf dem Schulweg beobachtete Mädchen die Einladung zum Tanzen annehmen? Verträgt er die Zigarre, die Gerd mit ihm nach der Schule rauchen will? Wie kann er in der letzten Deutschstunde die Kopfhörer unauffällig verstecken, um in Ruhe die Hitparade zu hören? Ob die Verhöre wegen dieser Serie weitergehen? Der Film läuft im Westfernsehen. Einige kleiden sich wie die Helden des Krimis. Tag für Tag holt der Direktor Schüler aus dem Unterricht. »Wo siehst du das Machwerk? Was sagen deine Eltern? Wer aus der Klasse schaut Westen? Ich habe alle Namen, will nur prüfen, ob du lügst. Weißt du, was der Westen mit solchen Sendungen bezweckt? Wer besorgt sich schwarze Handschuhe? Im Klassenkampf unserer Tage muss eine sozialistische Schülerpersönlichkeit Farbe bekennen! Also, wer noch?«

Spröde Wege, auf denen er sich Antworten überlegt: »Ich habe bei einem Freund, der gerade aus der Stadt wegzog, zweimal die Serie gesehen. Die Eltern wissen nichts. Vater würde nie erlauben, Feindsender zu gucken.« Ich lerne, glaubhaft zu lügen. Wir schauen meist Westen. Der Direktor auch. Ich weiß es vom Sohn des Hausmeisters, bei dessen Vater sich der Schulchef gern besäuft, wenn er zu Hause nicht mehr darf. Dies Wissen nützt nichts. Ich muss meinen Vater decken. Ein leitender Genosse, das kann ihn ruinieren, unsere Existenz steht auf dem Spiel. Mutter schärft mir solche Befürchtungen immer wieder ein. Nüchterne, kopflastige Wege. Mutmaßungen überlagern jede andere Wahrnehmungsfähigkeit.

Ab der neunten Klasse nach den Sommerferien alljährlich ein ähnliches Spiel. Ich kämme am ersten Schultag die feuchten Haare und verstecke sie im Kragen. Ich eile auf die weit geöffnete Schultür zu, die sechs Kinder gleichzeitig durchschreiten könnten – stünde nicht der Direktor in der Mitte. Mit dem Instinkt eines Jägers lauert er, dass sich noch nicht alle Beute gezeigt habe. Drei schickt er zurück, erfahre ich anderntags. Drei ergaben sich und sind beim Friseur gewesen. Zwei Problemfälle schlüpften gerade so durch. Ich gehe dem Grund meiner Angst entgegen. Und spüre zwei Finger, die eine Haarsträhne aus meinem Kragen schnippen lassen: »Fünf Zentimeter runter, vorher führt kein Weg in diese Schule!« Ich gehe, schwankend zwischen Stolz und Scham. Am Schaufenster meines Friseurs wandere ich vorbei. Laufe die ansteigende Straße weiter. Die Wohnung eines Freundes. Weiter hinauf. Die Kleingartensiedlung. Wald. Ich kraxle den laubbedeckten Hügel hoch. Ich will keinen Menschen sehen und lege mich auf die Blätter. Braungelbrot eine gefährliche Art der Buntheit. Alles in meinem Kopf rebelliert. Nach einer Weile werde ich nach Hause gehen. Der Weg zur und der Weg aus der Schule verschmelzen zu einem einzigen der Entschlossenheit. Ich gebe nicht nach. Ich bitte nicht beim Haarschneider um zwei Zentimeter längere Haare. Wenn ich wegen des verwahrlosten Aussehens keinen Studienplatz bekomme, bekomme ich eben keinen. Dann werde ich etwas anderes oder gar nichts. Verstecke mich als Partisan in diesen Wäldern. Ich muss lächeln und begreife meinen Ernst noch nicht.

Das Radio

Klein und rechteckig und in einer schwarzen Hülle aus künstlichem Leder. Mit Löchern, damit die Töne nicht hängen bleiben. Deshalb bin ich vierzehn geworden, weil es dann ein Fest gab, das Geldgeschenke brachte. Die reichten für mein erstes Radio. Eine Kofferheule als Behälter, der sich nie leerte. Die Batterien mussten immer wieder ausgewechselt werden, damit die Töne Ausgang hatten. Ich trug es über die Schulter gehängt, vorsichtig und lässig. Ich trug es wie ein Baby im Arm hin und her und suchte in der Wohnung die besten Empfangsmöglichkeiten. Oder auf dem Balkon. Die Elektrogitarre von Hendrix und bei »My Friend Jack« (The Smoke) musste klar verzerrt zu hören sein. Meine Schwester bewunderte mich und durfte mein Radio anfassen und es einen richtigen Berg hinauf und wieder hinab tragen. Jeder Schritt veränderte die Sender. Es pfiff und rauschte in Varianten. Der Träger des Gerätes war ständig mit den Knöpfen und dem Richten der Antenne beschäftigt. Ich konnte nicht an die Ostsee in den Urlaub, dort empfing man kaum einen Westsender. Ich würde fünf bis sechs Hitparaden verpassen. In den Schulstunden schrieb ich deren Ergebnisse in Hefte und einige aus der Klasse schrieben ab. Ich schmuggelte eine erfundene Gruppe darunter, deren Titel bald zwei oder drei Freunde gehört zu haben glaubten: »The I«. Jena war das Senderparadies und brachte den Tönekoffer zum milden Dröhnen. Er hätte energischer vibrieren dürfen. In den achtziger Jahren gaben sie bei der Gehäuseherstellung Kreide zur Verlängerung bei. Mit Erdöl musste gespart werden. Mit Holz auch. So blieb Sperrholz, mit Kunstleder umspannt, für das Äußere. Darüber sah ich hinweg. Über mangelnde Eleganz dachte ich nicht nach. Ich stellte es laut und lauter. Ich spülte den Alltag aus meinem Kopf. Und die Schule setzte mich jeden Tag neu auf Entzug.

Im Glaswerk

Durch einen kräftigen Ruck fliegt das Blech zurück. Es klappert herausfordernd und die Glasschüsseln dahinter drohen hinauszustürzen. »Die haben das Zeug vielleicht wieder schief eingebaut. Wie kann man bei dieser Lorenart noch eine vierte Schicht dazwischen klemmen!«

»Am besten, wir sagen es Gudrun, sonst lernt die Glasbläserei nicht dazu!« Vier Hände tragen die wackligen Packungen, gefüllt mit Glasschüsseln, in der vorderen Reihe der Packungsmauer zur Hälfte ab. Setzen diese unmittelbar neben der Lore auf den Boden. »Pass auf!«, ruft Gertrud – aber der Flug eines buntbedruckten Kartons gen Boden ist nicht mehr zu verhindern. Ein kräftiges Klirren bei der Landung.

»Auf der glatten Oberfläche der Kartons kann ja wieder Schlittschuh gefahren werden, da soll sich keiner wundern, wenn’s mal Bruch gibt wie jetzt.« Es ist auch nicht mehr früh am Tag. Und sie haben den Waggon zum Entladen zu spät einrangiert bekommen. Samt Fluch wandert der Scherbenberg an das Seitengitter des Regals. Wegwerfen macht auch Spaß, aber das sagt keine der beiden Frauen, die täglich die Loren entladen.

Sie balancieren die Schüsseln nun vorsichtiger, immer fünf übereinander, um weiteren Bruch zu vermeiden. Noch sechs, sieben Handgriffe, und alles steht halbwegs solide da. Ein Durcheinanderpurzeln ist verhindert, wenn dies passiert, benötigen sie die doppelte Zeit.

Sabine fragt: »Bin ich heute dran mit bauen?«

»Nein, du gibst sie heraus. Vorgestern machten wir die defekte Lore zuletzt und ich stand darin. Wie hast du gestern deinen Haushaltstag verbracht?«

Sabine streicht einige Haare aus der Stirn, schiebt die Haarklemme weiter nach hinten und zieht den Kittel glatt. »Frag lieber nicht. Gerade zum Waschen bin ich noch gekommen und auch nur das Bunte. Gestern fand doch die Aussprache statt, erzählte dir doch davon – aber warte, Kreide holen.« Die Sandalen klappern eilig davon. Ein Kopf beugt sich durch das offene Fenster des kleinen Büros vom Brigadier und die rechte Hand greift nach dem Kreidekasten. Zwei Sandalen klappern zurück.

Getrud hat es sich inzwischen auf den Schüsseln vor der Lore bequem gemacht, zählt lässig zurückgelehnt die Kartons im Regal.

»Na, stimmt es?«, erschreckt Sabine sie von hinten. »Ich schreibe die Zahl dran, sonst vergessen wir es wieder. Sie schwenkt das Stück Kreide in der Hand und zeichnet eine sorgfältige Zweihundert auf den obersten Karton.

»Und die Aussprache vor der Parteigruppe? Was sagt dein Mann jetzt?«

»Er isst wieder zu Hause und am Sonntag war er mit der Kleinen spazieren.« Sabine geht zur Lore und reicht fünf Schüsseln hinüber. »Ich habe dir doch gleich gesagt, er kommt zur Besinnung. Die Partei regelt so was schon!«

Sabine schüttelt den Kopf: »Da glaube ich nicht mehr dran. Aber er muss jetzt hundert Mark mehr im Monat herausrücken, sonst habe ich ja auch nie mit meinem Geld gelangt. Ja, wenn man allein wäre – aber eigentlich bin ich froh, dass Bernd noch da ist. Bis zur Scheidung wird noch gekocht, dann passé.«

Die Arme, mit Schüsseln gefüllt, wandern hin und her. Zwischen beiden pendelt sich ein gleichmäßiger Rhythmus ein. Kein Wunder, nach vier Jahren, man ist eingespielt. Die Kartons sind im Regal aufgeschichtet, um zu gegebener Zeit für den Export bereit zu sein. »Wenn ihm der Geldbeutel beschnitten wird, hat das Flittchen bestimmt bald genug von seiner werten Person.«

Die erste Reihe ist voll. Sabine wischt sich Schweiß von der Stirn, steigt in die Lore und gibt die Schüsseln von dort heraus. Dadurch klingt ihre Stimme dumpfer als vorher: »Die Sache ist nicht so leicht. Das Geld ist nur die eine Seite. Eine Erziehungsmaßnahme, oder wie die das nennen, hat er sowieso schon weg. Sein Verhalten schade der Partei …«

»Ganz richtig!«

»Mag sein, aber ich brauche keinen Mann, der auf Beschluss bei mir bleibt … So eine Schweinerei, schon wieder einer ohne Inhalt!« Sabine hält den leeren Karton in der Hand, bevor er seinen Flug zur Ausschusshalde antritt.

Gertrud kommt näher: »Wenn die Fehlpackungen fünf übersteigen, rufen wir drüben an … Steht der Scheidungstermin fest?«

»Ja, am ersten September. Bernd wollte eher, überhaupt hat er sehr mit seinen Genossen gestritten.«

»Wie denn?«

»Na, er wolle sich nicht in Privatangelegenheiten reinreden lassen. Es stünde in keinem Statut, dass er keine andere Frau lieben dürfe.«

Gertrud lacht hämisch: »Der bildet sich was ein! Der Scheidungsgrund ist auch nicht triftig – größere gegenseitige Zuneigung – wie sich das schon anhört. Begreif doch, damit kommt er nie durch, wenn du deine Zustimmung zur Scheidung verweigerst.« Auch die zweite Reihe wächst beständig und die Lore zeigt immer mehr von ihren nackten Wänden.

»Weiß ich. Aber die Wohnung behalte ich auf jeden Fall, für die Kinder muss er sorgen, da haben sie ihm gehörig die Meinung gesagt.« Sie bückt sich nach den Schüsseln in den Ecken.

Gertrud schwitzt, krempelt die Ärmel des Pullovers hoch. »Vielleicht setzen sie ihm noch so lange zu, bis er auf die Scheidung verzichtet. Es ist ja auch sonnenklar; da müssen die Männer fort zur Parteischule, haben nichts zu tun und angeln sich so ein Flittchen. Die Ehe wird systematisch zerstört und das heißt dann Fortschritt.« Ihr Kopf wäre beinahe an eine hervorstehende Holzleiste gestoßen. Die Bewegungen werden vorsichtiger.

»Sie war ja auch mit zur Aussprache. Ich hatte mir fest vorgenommen, richtig wütend auf sie zu sein, aber die machte einen vernünftigeren Eindruck als Bernd. Sie hatte auch nichts dagegen, ihren Urlaub so zu legen, dass er nicht mit seinem zusammenfällt.« Sabine schüttelt den Arm aus, das Gewicht des Glases macht sich mit der Zeit doch bemerkbar.

»Ich muss mich über dich wundern. Da kommt so eine daher, nimmt dir deinen Mann, und dir ist die Sache anscheinend gleichgültig.« Gertruds Kopf lugt nun aus der Lore hervor und will die Kollegin sehen, wenn sie mit ihr spricht.

Sabine hält inne, als ob sie sich auf die nächsten Worte konzentrieren müsse: »Da hast du gar nicht so unrecht. Sie hat mehr Zeit, sich zu pflegen, keine Kinder – sieht man an der Figur – ist drei Jahre jünger. Sie wirkte ehrlich, leider. Sie liebe meinen Mann und wolle nicht verzichten, verlange aber, dass er sich bis zur Scheidung um die Familie kümmere. Der Vorschlag mit den hundert Mark mehr im Monat stammt übrigens auch von ihr.«

Die Lore ist so gut wie leer, nur noch ein paar vereinzelte Exemplare rechtfertigen es, hier zu stehen. »Geschafft!«, sagt die eine. »Nein, die hier noch«, bemerkt die andere und klettert aus der Lore.

Beide setzen sich auf den Rand und verschnaufen erst mal. Zwei Zigaretten wandern in zwei Münder, ein Feuerzeug genügt. Mit Hilfe des Zeigefingers zählt Gertrud aus der Ferne den aufgebauten Stapel, zieht zweihundert ab und vergleicht das Ergebnis mit dem auf dem Zettel.

»Stimmt haarscharf, bis auf jene zwei!« Die andere wirft noch einen kurzen Blick auf den Laufzettel. Gertrud raucht und greift das Gespräch wieder auf: »Bohr weiter, und wenn nur mehr Geld rauszuschlagen ist. Schenk dem nichts!«

Die Kollegin wiegt den Kopf: »Ich weiß, mit dem Gedanken an die Trennung habe ich mich abgefunden. Ich bin kein Schakal, der nach jedem Bissen schnappt.«

Gertrud wirkt auf einmal eher resigniert: »Na, dann stimmst du zu, aber bedenke, du bist schon neunundzwanzig und finde erst mal einen ordentlichen Mann.«

Die Zigarette schnippt in Sabines Hand hin und her. »Trotzdem, die Ehe bloß als Versorgung, das will ich nicht. Etwas Liebe muss schon dabei sein, auch wenn im Laufe der Jahre ein gewisser Verschleiß … Vielleicht passen die beiden besser zueinander … Gibst du mir eine neue? Meine Schachtel liegt im Spind.«

Gertrud steckt sie ihr schon angezündet in den Mund. Beide schweigen eine Zigarettenhälfte. »Na, du musst es wissen …«, sagt Gertrud und versucht das Gefühl nicht zuzulassen, dass sie ihre Kollegin beneidet, wie sie das wegsteckt.

Statt einen neuen Satz zu beginnen, drückt Sabine ihre Zigarette aus, erst halbgeraucht. Sie stemmt sich gegen die Lore und beginnt, diese allein auf das Abstellgleis zu schieben.

Das Verständnis

Vater und Sohn spielen Tischfußball.

Mutter zum Sohn: Du sollst doch ins Bett.

Sohn: Hm.

Vater: Gleich, gleich. Schuss. Mist. Rache!

Mutter: Er soll ins Bett.

Vater: Sofort. Wenn ich ihn geschlagen habe. Tooor!

Sohn: Lass Vati seine Freude.

Vater: Läster nicht, sondern schieß.

Sohn: Wir können auch aufhören.

Vater: Weil ich führe?

Sohn: Fünf zu zwei, schaff ich sowieso nicht mehr.

Es klingelt, die Mutter geht öffnen.

Vater: Ecke. Pass auf. Sechs zwei. Gekonnt ist gekonnt. Trotzdem steckt man nicht gleich auf.

Sohn: Ich habe keine Lust mehr. Ich will ins Bett.

Vater: Die Halbzeit wird zu Ende gespielt.

Mutter tritt wieder ein: Die Lehrerin.

Lehrerin klopft nochmals an die Tür, tritt ein. Begrüßung. Der Sohn wird mit einigen Gesten aus dem Zimmer geschickt. Die Lehrerin setzt sich. Der Vater räumt das Fußballspiel weg.

Vater: Moment, ich räume weg. Was tut man nicht dem Jungen zuliebe.

Lehrerin: Lassen Sie sich nicht stören.

Vater und Mutter setzen sich der Lehrerin gegenüber.

Lehrerin: Ich hatte ja schon angerufen.

Vater: Angerufen?

Mutter zu Vater: Ich hatte dir davon erzählt.

Vater: Ach ja. Von was?

Mutter: Am Telefon sagten Sie etwas von sexuellen Problemen. Oder habe ich das falsch verstanden?

Lehrerin: Nein, nein. Ganz richtig, Aber zuerst soll ich mich für die Klassenlehrerin, Frau Breuer, entschuldigen. Sie ist aus demselben Grund unterwegs, zwei Elternbesuche gleichzeitig.

Mutter: Einen Kaffee?

Lehrerin: Wirklich vielen Dank, ich möchte Sie nicht lange aufhalten.

Mutter: Ich verstehe.

Lehrerin: Wir wollen die Sache nicht aufbauschen und am Telefon wirkt es so unpersönlich. Sagen wir, unangemessen wichtig …

Vater: Ich verstehe nicht richtig, um was …

Mutter: Sie erklärt es gerade.

Lehrerin: Tja. Wie am besten sagen? Kurz gesagt: Ihr Kind hat zusammen mit einer anderen Schülerin ein gleichaltriges Kind auf die Damentoilette gelockt. Und es sich dort ausziehen lassen.

Mutter: Nein.

Vater: Was weiter?

Lehrerin: Nicht viel. Gewisse Manipulationen am Geschlechtsteil. Das sogenannte Doktorspiel. Dabei wurden sie von einer Kollegin ertappt.

Vater: Diese Schlingel. Auf der Mädchentoilette.

Mutter: Wer waren die anderen?

Lehrerin: Vielleicht verstehen Sie, dass wir die Namen für uns behalten möchten. Der Ihres Kindes wird den anderen Eltern ebenfalls nicht gesagt.

Mutter: Diese Blamage.

Vater: Na ja. Gibt Schlimmeres.

Lehrerin zu Vater: Es freut mich, dass sie verständnisvoll herangehen.

Vater: Die Kinder werden langsam groß.

Mutter: Du machst es dir einfach. Zur Lehrerin: Kommt die Sache auf der Elternversammlung zur Sprache?

Lehrerin: Nein, nein. Der Vorfall soll sich nicht wiederholen. Deshalb sind wir ja unterwegs und wollen das Problem möglichst unverkrampft angehen.

Mutter: Ach so.

Lehrerin: Sie sollten ein klärendes Gespräch führen. Ohne Strafandrohung.

Vater: Wo denken Sie hin? Wir sind nicht von gestern. Die werden eben heute früher reif.

Lehrerin: Mit dieser Haltung dürfte ein kameradschaftliches Gespräch gelingen.

Vater: Ein gewisses naturwissenschaftliches Interesse ist nicht zu übersehen.

Mutter: Stolz brauchst du darauf nicht zu sein.

Vater: Ich war in dem Alter auch verliebt.

Lehrerin: Sie haben doch ihr Kind, verzeihen Sie die Frage, schon aufgeklärt?

Mutter: Natürlich. Das heißt: ungefähr. So im Prinzip.

Vater: An den Klapperstorch glauben jedenfalls weder unsere Tochter noch der Sohn.

Lehrerin: Ich meine nur. Das Problem der Aufklärung müssen wir auf der Elternversammlung ganz allgemein zur Sprache bringen. Ich werde als unterrichtsintensivste Lehrerin in dieser Klasse daran teilnehmen.

Mutter: Ganz allgemein zur Sprache bringen?

Lehrerin: Die gesamte Klasse schreibt schon Liebesbriefe.

Vater: Pfiffige Bürschchen.

Lehrerin: Man sollte offen darüber reden.

Mutter: Unter vier Augen. Aber in der Versammlung …

Lehrerin: … sollen Hinweise erfolgen, wie man den Kindern in dieser Frage gegenübertritt. Vielleicht gelingt es uns, einen Fachmann zu gewinnen, der ein kurzes Referat hält.

Mutter: Das ist gut, sehr gut.

Vater: Klar, man kann über alles reden.

Lehrerin zu Vater: Würde mich freuen, wenn Sie einen Diskussionsbeitrag …

Mutter: Ich weiß nicht …

Lehrerin unterbricht: Ohne die Sache zu erwähnen. Einen kurzen. Man kann das Problem auch von der positiven Seite angehen.

Vater: Wenn er sehen will, wie das andere Geschlecht aussieht, ist das ganz normal.

Mutter: Wäre ja später noch Gelegenheit.

Lehrerin: Moment mal, entschuldigen Sie – ich glaube …

Vater unterbricht: Wird er nicht verklemmt. Ich muss sein Taschengeld erhöhen. Wir geben ihm außerdem Mann und Frau intim zum Lesen.

Lehrerin: Sie missverstehen etwas. Es geht um Ihre Tochter.

Mutter: Bettina?

Lehrerin: Sie hat mit einer Schülerin einen Jungen auf der Toilette ausgezogen.

Vater: Das darf doch nicht wahr sein.

Mutter: Jetzt verstehe ich.

Vater: Die eigene Tochter. So eine …

Mutter unterbricht: Helmut!

Vater: Entschuldigung.

Mutter: Sie wird erwachsen. Hast du selbst gesagt.

Vater: Doch nicht so.

Lehrerin: Verkomplizieren wir die Sache nicht. Sohn oder Tochter ist wirklich egal.

Vater: Finden Sie?

Mutter: Schließlich haben wir Gleichberechtigung. Find ich auch.

Vater: So. Ich finde das für ein Mädchen nicht normal.

Mutter: Und warum nicht?

Vater: Tu nicht so als ob. Das ist etwas anderes. Hast du schon mal gehört, dass Frauen einen Mann vergewaltigt haben?

Lehrerin: Das hat mit dem, was Ihre Tochter gemacht hat, nichts zu tun.

Mutter: Außerdem gibt es das. Denk nur an das Lehrlingswohnheim vor zwei oder drei Jahren, wo die drei Weiber dann den Kerl in den Kühlschrank stecken wollten.

Lehrerin: Biologisch gesehen sind Mädchen zwei Jahre früher geschlechtsreif. Im Durchschnitt.

Mutter zum Vater: Siehst du!

Lehrerin: Ich wollte mich ja nicht lange aufhalten. Steht auf.

Vater zur Mutter: Na, dann klär das mit deiner Tochter. Wenn du dieses Verhalten billigst. Er steht auf, zur Lehrerin: Auf Wiedersehen.

Lehrerin: Auf Wiedersehn.

Mutter steht auf: Warten Sie, ich gehe mit zur Tür. Mutter und Lehrerin ab.

Der Auszug

Er weigert sich, das alte Service mitzunehmen, alles Reden der Frau bleibt erfolglos, er steht neben dem Container und wirft es Stück um Stück hinein. Die Frau, die nicht seine Frau ist, geht in die Wohnung. Hätte er sie zwei Wochen früher kennengelernt, wäre das Haus nicht verkauft worden. Ein Siedlungshaus, zur Stiftung des stadtgrößten Betriebes gehörend, in den dreißiger Jahren gebaut. Mit seinen Händen, wie er gelegentlich feststellt, ohne danach gefragt worden zu sein. Verkauft ist verkauft, an den Betrieb, der jetzt ein VEB vor dem Namen hat. Wollte eben nicht allein sein, nachdem seine Frau gestorben war. Auch wenn die Leute lästern. Auch wenn es natürlich lachhaft ist, das Ding für zehntausend abzugeben – doch so ist der Taxwert und der Betrieb hat das Vorkaufsrecht. Wo eine Vorschrift gilt, wächst die Versuchung, sie zu umgehen; auch er erfuhr andere Zahlen, selbstverständlich Geschenke, die mit dem Kauf in keiner Beziehung stehen. Allein die Garage handelte man für zehntausend. Die Abwicklung solcher Geschäfte kennen jene, die sich dazu nicht äußern. Mit so was will er nichts zu tun haben. Die Frau, die seit vier Wochen bei ihm lebt, tritt aus der Tür. Sie fragt, ob der Möbelwagen immer noch nicht da sei.

»Lass nur, kommt schon. Erst einen Kaffee.«

Er stellte sie zuerst als seine Haushälterin vor. Natürlich war sie von Anfang an mehr als eine Frau, die nur für die Haushaltsführung zuständig war. Hätte er sie früher getroffen, würden sie nicht zu seinem Sohn ziehen. In die Gegend bei S., waldlos, Braunkohletagebau, ohne Berge. Aber Menschen, die neue Schwiegertochter, ein Enkel, der noch nicht »Opa« sagen kann. Darauf freut er sich. Auch wenn alle meinen, er sei zu alt für einen Klimawechsel. Könne sich nicht mehr eingewöhnen, würde den schönen Garten vermissen. Sollen sie sich den Mund fusselig reden, er hat nie mit »Heil Hitler« gegrüßt. Er versteckte keine Westantenne. Alle hat er abblitzen lassen, die ihm weismachen wollten, was zu tun gut für ihn wäre.

»Ihn muss der Teufel geritten haben«, sagt Oma Leufel, die am gegenüberliegenden Küchenfenster steht und sieht, wie Nachbar Kröger Haushaltsgegenstände in den Container wirft. Da, eine Kanne.

»Reitet der Teufel gern?«, fragt das Mädchen neben ihr. »Nein, nein, nein – und das mit siebzig.« Die Oma vergisst ganz das Strickzeug. »Muss bald voll sein, der Container.«

»Kaffee ist fertig!«, ruft die Frau, zwanzig Jahre jünger als er.

Vor drei Wochen stand dann der Krankenwagen an der Tür. Kann ja nicht gut gehen, munkelten sofort die Leute, plötzlich eine Frau, die sicher nicht bloß ins Bett geht, um einen Roman zu lesen. »Halb so schlimm«, erklärte Kröger zwei Tage darauf den anteilnehmenden Nachbarn, zwar noch hinkend, jedoch mit gewohntem Mundwerk. »Hab zwei Kriege überlebt, was sind da zwei Tage Krankenhaus!« Nach diesem Schlaganfall schloss man Wetten, ob der Möbelwagen wirklich kommen würde.

Für ihn war die Sache klar, klein beigeben gab es nicht. Er weigerte sich damals, bei den Nazis einzutreten und riskierte seine Hausmeisterstellung, er hängte auf Arbeit kein Stalinbild an die Wand.

»Die letzten Tage nicht einfach verdösen. Solange er lebt, soll der Mensch unterwegs sein«, erklärte er Oma Leufel, die ganz vergaß, dass sie nicht mehr lange stehen konnte, ohne ihre Krampfadern zu spüren.

Oma Leufel sagt: »Die Alteingesessenen sterben weg!«. »Du lebst noch lange.« Die Enkelin zieht den Mund nach vorn, so bekommt das Gesicht einen bedeutsam wirkenden Ausdruck. Wie ihn Opa hat, wenn er für einen Moment das Rauchen am Fenster unterbricht und die Wolken betrachtet.

Eine Familie zieht jetzt ein, Schichtarbeiter, in den Jahren vorher kamen vorwiegend Ingenieure in die Häuser, die frei wurden, weil keiner der Erben sie wollte. Seit dem neuen Direktor, der den Betrieb aus den roten Zahlen dirigieren soll, werden Garten und Haus vorzugsweise an Arbeiter vergeben. »Wenn das kein Fortschritt ist«, kommentierte das Oma Leufel dem Nachbarn gegenüber. Der frotzelte nur: »Klar, mehr schuften, besser schlafen.« Mit ihm war manchmal nicht ernsthaft zu reden. Dass er die Wohnung fast verschenken musste, fand sie nicht gerecht.

»Alles wegen der Stiftung«, spricht plötzlich Oma Leufel und seufzt.

»Ich verstehe«, meint Katrin und stellt sich eine Reihe aus Bleistiften vor, die Papier beschreiben. Die Bleistifte sind oben befestigt wie in Lampen, »Fassung« hat dieselbe Endung wie »Stiftung«. Da entdeckt sie plötzlich ein großes Auto.

»Der Möbelwagen«, stellt Oma fest.

Und die Haushälterin, die wegen der schönen Witwenrente nicht wieder heiraten will, sieht ihn auch, trinkt die Tasse schnell leer, bevor sie das Gartentor öffnet.

»Muss wissen, auf was er sich einlässt«, erklärt die Frau von schräg gegenüber ihrem Mann und verbietet jegliche Hilfe. »Fremde ranholen, die die Apfelbäume plündern statt an die Nachbarschaft zu verteilen!«

Doch zwei andere aus der Straße packen mit an. Zu viert bugsieren sie den Wohnzimmerschrank ins Auto.

»Riesenvieh«, knurrt der Fahrer alle zehn Schritte, um darauf hinzuweisen, dass das Tragen von Möbelstücken eigentlich nicht zu seinen Aufgaben gehört.

»Hau ruck!«, ruft der Nachbar Kröger, und sie wuchten den Schrank auf die Ladefläche.

»Er hinkt gar nicht mehr«, bemerkt Oma Leufel verwundert.

»Stimmt es, dass bald der nächste Schlaganfall kommt?«

»Wer sagt denn das?«

»Mutti.«

»So, so. Soll aufpassen, dass sie nicht eine ihrer Kopfschmerztabletten in den falschen Hals kriegt.« Die Oma legt sich ein Kissen auf das Fensterbrett, weil es langsam unbequem wird für die Arme. Doch dann fällt ihr das Essen ein, und sie verlässt den Beobachtungsposten. Die Enkelin langweilt sich schon. Immer dasselbe, ständig werden Möbelstücke aus dem Haus getragen. Auf den Wagen geschoben. Die Frau bringt alle kleinen Sachen, Kästchen. Taschen. Tischlampen. Irgendwann ruft sie: »Mittag!«