Tugendethik ohne Tugendterror - Heinz Kleger - E-Book

Tugendethik ohne Tugendterror E-Book

Heinz Kleger

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Beschreibung

"Tugendethik ohne Tugendterror" heißt das neue Buch des Potsdamer Politikwissenschaftlers Heinz Kleger. In Reaktion auf Tilo Sarrazins Buch "Der neue Tugendterror" behandelt der Autor die ideengeschichtliche Bedeutung von Begriffen wie Tugend, Terror und Ethik und deren Ausprägungen in Geschichte und Gegenwart. Wie beeinflussen politischer Populismus, Agitation und Moralismus die Urteilsfähigkeit und Debattenkultur in einer Demokratie? Welche Rolle spielt das Internet als Medium, indem per Klick moralisch gewertet und an den Pranger gestellt werden kann? Was gelten Unschuldsvermutung und einordnende Distanz in einer Echtzeit-Kommunikationskultur? Was kann dagegen eine demokratische Tugendethik als Form der Selbstzivilisierung leisten? "Demokratische Tugendethik ist in einer lernenden Demokratie verortet. Sie entspringt aus Erfahrungen mit dieser. Ihr Fokus liegt auf einem Begriff des Politischen als Teihabe. Das heißt: Mann/Frau übernimmt Verantwortung für seine/ihre Stimme der Wahl, der Abstimmung, des Protests und sonstiger Beteiligung. Insofern arbeitet die Tugendethik einer demokratischen Regierbarkeit zu, ohne die Menschen zu überfordern. Das selbstbestimmte Subjekt soll hinter den Regeln und Beauftragten nicht verschwinden."

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Inhalt

Einleitung

Was sind Tugenden?

Urteilsfähigkeit im Konkreten

Politik und Ethik

Kriterien der Zumutbarkeit

Der Liberalismus und seine Feinde

Liberalismus der Furcht

Praxis der modernen Freiheit

Paradigmen der Revolution

Politischer Moralismus

Empörung und Kritik

Rücksicht im Alltagsleben

Dichtestress

Eine Prise Stoizismus

Neue Religion der Gleichheit?

Schluss: Demokratische Tugendethik

Einleitung

‚Tugendterror‘ ist ein starkes Wort. Sein Inhalt diente dem Jakobiner Robespierre im Verlauf der Französischen Revolution dazu, mittels (seiner) Tugend den Terrorismus zu rechtfertigen: Die reale „terreur“ folgte aus der „émanation de la vertu“ (15. 2. 1794). In diesem Kontext entstand der moderne Terror-Begriff. Hegel hat ihm in seinem Kapitel ‚Die absolute Freiheit und der Schrecken‘ in der ‚Phänomenologie des Geistes‘ (1807) ein Denkmal gesetzt, ohne Robespierre beim Namen zu nennen: „die Welt ist ihm schlechthin sein Wille, und dieser ist allgemeiner Wille.“1 Das kommt einem bekannt vor.

Die Tugendethik dagegen, die von Aristoteles ausgeht, versucht Extreme (statt Kleinlichkeit oder Protzerei, Großzügigkeit; statt Angeberei oder Heuchelei, Wahrhaftigkeit usw.) zu verhindern und das richtige (Augen-)Maß zu finden.2 Die Augenmetaphorik ist kein Zufall: Man kann ‚sehen‘, ob eine Handlung angemessen ist oder nicht. Ihre zentrale (Meta-) Tugend ist die menschliche Urteilskraft (phronesis), diese wiederum braucht eine lebendige Demokratie der Bürger und Bürgerinnen, wenn sie mit Eigenhaftung funktionieren soll. Die Urteilskraft beratschlagt nicht nur, sie kommt auch zu Entscheidungen: ‚Diskurs‘ und ‚phronesis‘ sind nicht dasselbe. Die Verantwortung für die Entscheidungen tragen die Bürger mit. An diesem Kern von Demokratie, in dem das griechische Wort ‚demos‘ steckt, welches aktive Bürgerschaft (wir können auch sagen: verantwortliche Bürgerschaft) bedeutet, wollen wir festhalten.

Dieses Spannungsfeld wird heute im Neuland des digitalen Medienzeitalters nachhaltig von den Risiken einer schnellen und ungezügelten Internet-Kommunikation geprägt – einer Kommunikation, die gewissermaßen noch ohne Kultur ist. Diese Art der ‚kommunikativen Verflüssigung‘, von der sich die Diskursphilosophie die Auflösung von Herrschaft erwartete, ist in der alles verschlingenden ‚Kommunikationsgesellschaft‘, ihrer redseligen und ‚verschwatzten‘ Kultur, ein zweischneidiges Schwert geworden. Das schnelle Votum, ja der vorgegebene Klick jederzeit und überall über alles ersetzt die Mühen des Urteils. Das ständige Abfragen und demoskopische Abstimmen suggeriert direkte Demokratie. Tatsächlich handelt es sich aber um eine Pseudo-Direktdemokratie, die sich wie eine Krake ausbreitet und jeden derart in Beschlag nimmt, dass man von einem verdrahteten oder sogar enteigneten Bewusstsein sprechen muss. Das menschliche Selbstbewusstsein kann sich diesen Zugriffen allerdings zu entwinden suchen.

Real ist es wieder möglich geworden, Menschen bequem – sozusagen per Knopfdruck – an den (mittelalterlichen) Pranger zu stellen und sozial zu vernichten. Die Beispiele sind Legion. Dabei werden oft einfache Gerechtigkeitsgrundsätze wie die Unschuldsvermutung oder die Güterabwägung verletzt. Zudem wird die feine Grenze zwischen (ver-)urteilen und brandmarken kaum noch beachtet. Selbst an Schulen ist Mobbing im Cyberspace ein beunruhigendes und vordringliches Thema geworden, welches nur schwer in den Griff zu bekommen ist und vielen jungen Menschen Seelenqualen bereitet. Auf dem Weg zum Erwachsenwerden ist der Exhibitionismus, zu dem unsere moderne Welt geradezu einlädt, ein Problem – nicht nur für Jugendliche.

Mit der politischen Korrektheit wird ebenfalls übertrieben, wenn jedes Wort freier Rede gleich auf die Goldwaage gelegt wird. Gauck darf „Spinner“ sagen – zur NPD, das Bundesverfassungsgericht hat es ihm erlaubt. Der Bundespräsident hat von Amts wegen parteipolitisch neutral zu sein, ein ‚Neutralier‘ ist er – wie alle Menschen – gleichwohl nicht. Das gilt erst recht für die Leidenschaften und Interessen der Demokratie, zu denen die in EU-Europa verbreitete politische Theorie der Technokratie (Saint-Simon, Comte) seit den Ereignissen der Französischen Revolution (und in Reaktion auf sie) bewusst Distanz zu halten pflegt.

Politik ist keine Idylle, aber wer wagt sich noch in Öffentlichkeiten vor, die nicht zufällig ‚Arenen‘ heißen? Es sei denn, man kann es sportlich nehmen („hart aber fair“). Die Gerechtigkeit mutiert damit zur sportlichen Fairness. ‚Arena‘ hieß ursprünglich der Kampfplatz im Amphitheater. Tatsächlich gibt es neue Gründe, sich zu fürchten, von den technologischen Möglichkeiten totaler Überwachung nicht zu reden. Der Internet-Pionier Jaron Lanier spricht in seiner Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche von „gefährlicher Rudelbildung“; blanker Hass kann sich frei äußern. Dadurch wird das vernünftige Reden von zwei Seiten unter Druck gesetzt: durch die Hasspropaganda ebenso wie durch Korrektheit als Meinungskontrolle. Die ‚Überwachungsdemokratie‘ kommt hinzu. Eine spontane vernünftige Meinungsbildung, die grundlegend ist für jede Demokratie, wird so zum Problem für die Einzelnen, die nicht ‚optimal‘ angepasst sind.

Solche Bedenken, die gang und gäbe sind, sozialisieren. Viele benötigen schon Mut, um überhaupt das Wort zu ergreifen (public speaking). Auf der anderen Seite vereinfacht die elektronische Kommunikation und der permanente Live-Chat die Wortergreifung: das Twittern wird zur „schärfsten Waffe der Demokratie“ (Altmaier). Aber auch mit dieser Waffe muss man umgehen können. Die Entgleisungen, welche empörte (Pseudo-)Debatten auslösen, häufen sich. Die wichtigeren Debatten werden dadurch überlagert. Kleinste Fehler und maßlose Übertreibungen verbreiten sich durch die neuen sozialen Medien schnell. Die Streitsucht dockt hier an, und der Faktor der Aggressivität mit seinen Unterstellungen wird dabei nicht kleiner, sondern größer. Das schnelle Moralisieren wird zur gängigen Münze, insbesondere dann, wenn die Mechanismen der Skandalisierung bekannt sind. Aus kleinen Provokationen können derart große Konflikte erwachsen, wie die angekündigten Koranverbrennungen gezeigt haben. Eine Medienethik vonseiten der Profis wie der Nutzer, die sich nur dorthin wenden, wo ihre Vorurteile bestätigt werden, wird hier dringlich, die andererseits fast schon vergeblich erscheint.

Der politische Moralismus arbeitet meist mit Unterstellungen, auf die man parieren muss. Er dient mehr der Demonstration richtiger Gesinnung als der Übung in abwägender Urteilskraft. Welches Naturell von Personen kann diese Art von Auseinandersetzungen noch führen? Viele resignieren vor dieser medialen Dynamik und fühlen sich ohnmächtig. Die Dekultivierung der Auseinandersetzungsformen verhindert zudem die Demokratie eher, als dass sie allen Bürgern Zugang, Teilhabe und Einfluss ermöglicht. Es fehlt an ständiger Übung in politischer Urteilskraft, wofür es nicht nur Erfahrung und Wissen, sondern auch eines toleranten Umfeldes bedarf. Die Demokratie der vielen Bürger und Bürgerinnen braucht deshalb Orte, Zeit, Praxis und Kultur. Bürgerschaften schaffen sich dafür ‚gemeinsame Welten‘, über die der sprachliche Dialograum bei allen Zugehörigkeiten, die wichtig sind, noch hinausgehen kann.

Es gibt mithin genug Themen und Anlässe, solche Probleme von verschiedenen Plätzen unserer Lebenswelt aus zu erörtern. Auch, um daraus verbindliche Konsequenzen zu ziehen. Das mediale Sarrazin-Theater, welches gerade den ‚neuen Tugendterror‘ diskutiert3, hilft dabei nicht weiter. Das Buch wurde4 im Fernsehen und Radio schon kommentiert, bevor es überhaupt erschienen ist. Dabei geht es offensichtlich vor allem darum, es zu verkaufen. Von einer inhaltlichen Diskussion kann man nicht sprechen. Dafür fehlt es fast an allem, was dafür notwendig wäre.

Schon 2010, als Thilo Sarrazin sein Buch ‚Deutschland schafft sich ab‘, obwohl es sich seit 1989 neu erfindet, erstmals im ausverkauften Nikolaisaal in Potsdam vorstellte, haben wir postuliert: Toleranzedikt als Stadtgespräch statt Sarrazin-Theater. Ein solches Stadtgespräch ist mehr als ein Event. Die Konsum-, Medien- und Erlebnisgesellschaft hat jedoch Mühe, über eine bloße Eventkultur hinauszukommen. Es fehlt ihr die praktische Philosophie, die für viele Menschen ein Bedürfnis ist. Der ‚neue Tugendterror‘ ist ebenfalls in Potsdam zum ersten Mal öffentlich vorgestellt worden. Das ist Anlass, aber nicht Thema für die folgenden Überlegungen. Sie ergänzen und vertiefen die Zwischenbilanz nach sieben Jahren Toleranzedikt als Stadtgespräch.4

‚Toleranzedikt als Stadtgespräch‘ heißt ein Weg, der zugleich ein Ziel ist. Dieser bürgerschaftliche Weg, der Geduld, Respekt und einen langen Atem braucht, verknüpft die Offenheit des Dialogs mit der Verbindlichkeit von Werten des Zusammenlebens. Er ist vor Rückschlägen und Enttäuschungen nicht gefeit; außerdem sollen Probleme und Irrtümer nicht unter den Tisch gekehrt sowie Gegner nicht dämonisiert werden. Gerade ihre Themen muss man in einer Demokratie, die ständig um Mehrheitsbildungen ringt, aufgreifen können, wozu wir im Allgemeinen schlecht vorbereitet sind.

Dieser Weg, wenn er denn gegangen wird, eröffnet Möglichkeiten einer demokratischen Tugendethik, die durch argumentative Überprüfung von Überzeugungen und Haltungen Einfluss nehmen kann. Sie ist der Versuch einer Vertiefung der praktischen Philosophie des ‚Toleranzedikts als Stadtgespräch‘. Dort hatten wir die Toleranz als eine mehrschichtige Verhaltenstugend mit Identität und Urteilskraft bestimmt, die in einer pluralistischen Gesellschaft ins Zentrum gerückt ist, so dass sie neuerdings auch als ‚Wert‘ angesprochen und festgehalten wird. Was bedeutet diese liberale Verschiebung im Tugend- und Wertekatalog? Welche Auswirkungen hat dies für eine demokratische Tugendethik? Und wieso braucht die Demokratie eine solche Tugendethik? Das sind die Fragen, die sich stellen und die wir im Folgenden unter verschiedenen Teilaspekten genauer angehen möchten:

Unter dem Aspekt der Zusammenhänge zwischen Ethik und Politik in einer verfassungsdemokratischen Bürgergesellschaft (

Kap. 2

,

3

,

4

);

unter dem Aspekt eines aktuellen Liberalismus der Furcht, dem es um elementare Bedingungen von Freiheit und Bürgersouveränität geht (

Kap. 5

,

6

);

unter dem Aspekt mehrerer Elemente unseres modernen Freiheitsverständnisses, wie wir es in Wohlstands- und Wohlfahrtsgesellschaften faktisch leben (

Kap. 7

);

unter dem Aspekt verschiedener Paradigmen der Revolution, darunter der demokratischen Revolution, die jeder Zeit und überall möglich ist (

Kap. 8

);

unter dem Aspekt verschiedener Varianten des politischen Moralismus, die jeweils spezifische Vor- und Nachteile aufweisen (

Kap. 9

,

10

);

sowie schließlich unter Aspekten einer lebbaren Alltäglichkeit, wozu die politischen Auseinandersetzungsformen ebenso zählen wie die zivile Koexistenz und Vielfalt der Menschen (

Kap. 11

,

12

,

13

,

14

).

Zuerst müssen wir uns allerdings vergewissern (Kap. 1), was Tugenden überhaupt sind. Am Schluss wollen wir dann einige allgemeine Überlegungen anstellen, die das, was zuvor in den einzelnen Kapiteln ansatzweise und exemplarisch behandelt worden ist, als Versuch einer demokratischen Tugendethik zusammenfassen. Als deren Hauptkomponenten sind die Urteils- und Handlungsfähigkeit sowie Rücksicht und Zumutbarkeit zu nennen.

1 Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1973 (1807), S. 432.

2 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Reinbek bei Hamburg, 3. Aufl. 2001. Eine Übersicht über die Einzeltugenden und Laster (36 insgesamt) findet sich auf S. 357 f.

3 Thilo Sarrarzin, Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland, München 2014.

4 Heinz Kleger, Toleranzedikt als Stadtgespräch 2008-2013, Potsdam 2013.

1. Was sind Tugenden?

‚Gutsein‘ müsste es im Deutschen heißen, wo im Griechischen ‚arete‘ steht, was gewöhnlich, obwohl unbefriedigend mit ‚Tugend‘ übersetzt wird.5 Was den Menschen jedoch ‚gut macht‘ ist ebenso umstritten wie der Weg dorthin. Erst unter dem Einfluss von Imanuel Kants Ethik im 18. Jahrhundert wird ‚Tugend‘ vor allem ‚moralisch‘ im Sinne von Sittlichkeit oder Moralität verstanden.6 In der antiken Ethik-Tradition ist dies nicht so. Der weite Sprachgebrauch umfasst deshalb bis heute mit Tugenden auch nicht-moralische Eigenschaften wie etwa die Tugenden des Handwerks, des Dirigenten, des Sportlers usw. Zu diesem Sprachgebrauch gehören Syndrome von Tugenden wie sogenannte ‚protestantische Tugenden‘, ‚preußische Tugenden‘, ‚deutsche Tugenden‘, ‚asiatische Werte‘ usw. Sie lassen sich rhetorisch leicht instrumentalisieren und sind hier nicht unser Thema.

Wer verstehen will, was in der antiken Ethik unter Tugendethik verstanden worden ist, muss sich zunächst von bestimmten neuzeitlichen Vorstellungen befreien: „In der antiken Ethik spielt der Begriff der Tugend eine ungleich größere Rolle als in der modernen Ethik. Dies gründet vor allem darin, dass im Zentrum der modernen Ethik die Frage steht, zu welchen Handlungen man moralisch verpflichtet ist und was die Quelle dieser Verpflichtung ist, während für die antike Ethik die sehr viel weitere Frage, wie man leben soll, leitend ist. Diese Frage verstehen die Griechen als Frage danach, welche Art von Mensch man sein soll. Ihre ganz allgemeine und triviale Antwort lautet zunächst, dass man ein guter Mensch, also ein Mensch, der Arete hat, sein soll. Was aber macht die Arete aus, worin liegt das Gutsein eines Menschen? Die Dominanz dieser Fragen bei den Alten hat gelegentlich dazu geführt, die antike Ethik eine ‚Tugendethik‘ zu nennen. Versteht man diese Charakterisierung in dem Sinne, dass der Begriff der Tugend der basale Begriff der antiken Ethik sei, ist sie irreführend.

Die antike Ethik ist eudämonistisch. Ihr basaler Begriff ist der des Glücks, nicht der der Tugend. Freilich waren sich alle Philosophen der Antike, die sich mit Ethik beschäftigt haben, darin einig, dass Arete zu haben, ein Mittel zum Glück oder ein Konstituens oder gar das Ganze des Glücks ist. Umso dringlicher war es, zu fragen, was das Gutsein des Menschen eigentlich ausmacht und auf welchem Wege es zu erlangen ist. Natürlich haben diese Fragen nicht erst die Philosophen gestellt. Jeder, der über sein Leben und das anderer Menschen nachdenkt, interessiert sich für sie.“7 Das wollen wir uns zu Herzen nehmen und dabei im Gedächtnis behalten, dass Glück und Tugend ebenso wenig wie Tugend und Moral, dasselbe sind. In der Sophistik sodann wird die ‚arete‘ zum zentralen Thema. Diese ersten Aufklärer der Philosophie verstehen sich als Lehrer der Arete, wofür sie sich bezahlen lassen. Wie die Sophisten, so nahmen auch Sokrates und Platon an, dass die Arete eine Voraussetzung des Glücks ist. Sie dient dieser eudämonistischen Ethik, denn der Mensch will letztlich glücklich sein. Heute scheint das sogar mehr denn je so: Von den modernen individualistischen Menschen spricht man nicht nur von Gott-Suchern, sondern sogar von Glück-Suchern. In der antiken Ethik dient selbst das ‚Gerecht-sein‘ dem Glück des Menschen. Moral und Glück stehen nicht in einem Gegensatz, sondern in einem Verhältnis zueinander. Die Tugend dient dem Glück, obwohl die verschiedenen Philosophenschulen unterschiedliche Auffassungen davon haben. Es ist zudem nicht klar, welche weiteren Güter (etwa Gesundheit, Reichtum oder Macht) zum Glück beitragen. Insgesamt ist das genaue Verhältnis der Arete zum (jeweiligen) Glück ein Hauptthema vieler philosophischer Kontroversen.

Epikur zum Beispiel ist der Auffassung, dass Glück kein intrinsischer Wert ist, sondern dass nur die ‚arete‘ bewirkt, was das Glück ausmacht, nämlich Lust, die wiederum primär in der Schmerzverminderung besteht.8 Dagegen ist es eine Kernthese der Stoiker, dass die Arete allein schon das Glück ausmacht und es dazu keiner weiteren Güter bedarf. Dieser stoische Gedanke darf nicht „kantianisierend missverstanden werden“, denn auch die stoische Ethik bleibt im Unterschied zur kantischen Ethik eudämonistisch.9 Widersprüche zu einer strengen Pflichtenethik gibt es hier noch nicht. Dazu kommt, dass für die Stoiker die Arete lehr- und lernbar ist. Sie hängt von einem selbst (Selbst) ab (Autarkie). Mit Cicero wird ‚arete‘ sodann ins lateinische ‚virtus‘ übertragen, das mit ‚Mannhaftigkeit‘ (vir), ‚Kraft‘ und ‚Tapferkeit‘ übersetzt worden ist und weitere Assoziationen mit sich führt. Diese folgenreiche Umbesetzung durch ‚männliche Tugenden‘ nimmt der Republikanismus von Machiavelli wieder auf.10 Bei ihm ist ‚virtù‘ die politische Tugend schlechthin, bei der die Wehrhaftigkeit der Bürger als Bedingung republikanischer Freiheit im Fokus steht. Dieses Tugenddenken wirkt weiter etwa in amerikanischen oder eidgenössischen Vorstellungen einer Republik der Freiheit, die sich selber verteidigen kann.11 Es ist mit Wehrpflicht und Patriotismus eng verbunden.

Dagegen begründet das Christentum eine ganz andere Tradition: „Dem Denken des Alten und Neuen Testaments ist der Begriff der Tugend fremd. In dieser durch und durch theonom gedeuteten Welt wird nicht gefragt, welche Charaktereigenschaften dem eigenen Glück förderlich sind. Gott hat den Menschen Gebote und Gesetze gegeben, ihnen müssen sie nachkommen. Dies ist das einzig richtige, weil Gott gefällige Leben.“12 In dieser Tradition ergibt sich im Mittelalter die Unterscheidung zwischen ‚theologischen‘ Tugenden wie Glaube, Hoffnung und Liebe und sogenannten ‚natürlichen‘ Tugenden. Bei Thomas von Aquin – dem Aristoteles des Mittelalters – bedürfen die Tugenden sodann der Leitung durch die Vernunft („ratio est radix omnium virtutum“).13 Thomas wirkt weiter vor allem in der katholischen Welt, aber auch darüber hinaus in der internationalen Ethik-Diskussion.

In der Neuzeit wird der Tugendbegriff sodann aus seinem engen Zusammenhang mit Philosophenschulen wie der aristotelischen, der stoischen oder christlichen gelöst. Der Tugendbegriff büßt seine zentrale Stellung ein, die er in der antiken Ethik und praktischen Philosophie als Philosophie des guten Lebens innehatte. Er wird ersetzt und zugleich aufgefächert durch Begriffe, welche vorher lediglich einzelne Komponenten des Tugendbegriffs waren. Solche Begriffe, die wir heute noch gebrauchen, ohne sie immer genauer definieren zu können, sind ‚Charakter‘, ‚Integrität‘, ‚Einstellung‘, ‚Haltung‘ oder ‚Verhaltensmuster‘.14

Sie deuten auf die moralische Kohärenz einer Person, gewissermaßen auf eine Haltung, die beständig ist und auf die man zuverlässig bauen kann. Diese Tugenden manifestieren sich (im Unterschied etwa zu Rechten, Werten und Gütern) in bestimmten Verhaltenstugenden oder Charakterzügen, die durch Erziehung, Politik und ein Verhältnis zu sich selbst modelliert und modifiziert werden können. Es sind durch Bewährung geprägte Dispositionen, die indes veränderbar bleiben. Sie können aber auch verfallen (Dekadenz). Gleichwohl bringen sie in Praxis und Interaktion einigermaßen erwartbare Handlungen über die Zeit hinweg hervor. Der Begriff des Charakters, der dafür steht, hat zwar als ‚Zwangscharakter‘, ‚Maske‘, ‚Heuchelei‘ und ‚Rolle‘ schwere Blessuren erhalten. Ein Charakter der ‚Charakterlosigkeit‘ stört uns aber nicht minder. Lieber sprechen wir stattdessen heute – etwas vage – von ‚Integrität‘ oder gar – noch unbestimmter – von ‚Identität‘, wohlwissend, dass beides narrative Konstruktionen sind.

In der neuzeitlichen Ethik wird Kants Auffassung der Moralität als „Handlung aus Pflicht“ zentral und begründet fortan die strenge Unterscheidung zwischen (antiker) Tugendlehre und universeller Pflichtenethik. Die wichtigsten Moralphilosophien der Neuzeit sind der Utilitarismus15 und die Moralphilosophie Kants.16 Nach der Wittgenstein-Schülerin Elizabeth Anscombe „liegt diesen Moraltheorien eine Gesetzeskonzeption der Ethik zugrunde, die der jüdisch-christlichen Tradition mit der für sie zentralen Idee eines göttlichen Gesetzgebers verpflichtet ist.“17 In scharfem Kontrast dazu bedeutet die Aktualisierung der Tugendethik eine Kritik an dieser Pflichten- und Prinzipienethik: Der tugendhafte Mensch orientiert sich ihr zufolge nämlich nicht primär an Prinzipien und Pflichten, sondern an Handlungssituationen, die er für sich neu beurteilen muss. Dabei geht es zunächst um die adäquate Wahrnehmung der moralisch relevanten Eigenschaften einer Handlungssituation, woran wir, wie bereits Aristoteles erkannt hat, anknüpfen können (vgl. Kapitel 2).

Allerdings ist der Interpretation von Anscombe, dass das Christentum dem „göttlichen Gesetz“ unterliegt, zu widersprechen. Gerade weil das Christentum sich in Abgrenzung zum antiken Judentum nicht als Gesetzesreligion etablierte, konnte es zu einer Inklusion der klassischen Tugendlehre kommen. Diesen Inklusionsversuch gab es auch im Islam (Avicenna, Al-Farabi, Averroes), allerdings wurde die Tugendethik dort nach der Niederlage der innerislamischen Aufklärung des 9. bis 11. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit der Orthodoxie von einer theonomen Ethikkonzeption verdrängt. Im Christentum konnten sich hingegen Platonismus, Aristotelismus und Stoizismus als Hintergrundphilosophien erhalten, da die Frage nach dem Seelenheil gemäß der christlichen Botschaft nicht nur über gutes und gerechtes Verhalten beantwortet werden konnte, sondern vielmehr der Gnade Gottes obliegt. Glaube und Gnade rücken dadurch in den Vordergrund und öffnen die Tür für die moralphilosophische Spekulation, die gerade nicht als Säkularisat der antik-jüdischen Gesetzesreligion angesehen werden kann, sondern den gnadenbedürftigen Menschen in seiner Freiheit und Eigenverantwortlichkeit in den Mittelpunkt stellt.

Darüber hinaus denken wir im Unterschied zu Anscombe, dass Kant die Pflichtenethik nicht vor dem Hintergrund der christlichen Theologie etablierte, sondern eher vor dem Hintergrund der Erosion der antiken Tugendlehren in der Neuzeit. Die klassische aristotelische Tugendlehre ging nämlich von einer Unterscheidung zwischen ethischen und dianoetischen Tugenden aus. Erstere unterlagen der ‚prhonesis‘, letztere dem Logos oder ‚nous‘. Die dianoetischen Tugenden waren die Domäne der Philosophen, wobei es vornehmlich um metaphysische Erkenntnis bzw. um die Einsicht in die Ordnung der Welt ging. Die tugendhaften Bürger sollten sich jedoch für solche Einsichten nach Aristoteles nur am Rande interessieren. Ethische Tugenden waren für sie wichtiger, da diese auf das soziale Verhalten abzielen: Die ‚timé‘ wird hier höher geschätzt als die ‚theoria‘. ‚Gute Bürger‘ müssen im Sozialen klug handeln können, denn das ist ihr primärer Bezugsrahmen. Metaphysische Spekulationen sind hier fehl am Platz, ja sogar hinderlich. In dieser Hinsicht war Aristoteles im Gegensatz zu Platon durchaus ein Empiriker und Pragmatiker18, an den wir heute wieder anknüpfen können. Politische Theorie ist wie bei Aristoteles ein Produkt der Stadt und nicht der Schule oder Akademie.

Ein zweiter Kritikpunkt der Tugendethik liegt darin begründet, dass die Prinzipienethiker von einem unangemessenen Bild moralisch Handelnder ausgehen: „Moralische Überlegungen sind wirksam, sofern sie mit Faktoren zu tun haben, die für unser Selbstverständnis relevant sind.“19 Demnach bewegen sich sowohl der Utilitarismus als auch die kantische Ethik zu weit weg von den motivationalen Ressourcen der Menschen. Mit anderen Worten: Diese Ethiken erreichen die Menschen nicht und können deshalb auch keine motivationale Kraft entfalten. Die Tugendethik versucht dagegen, die konkreten Menschen in ihrem Alltag zu erreichen und zu bewegen.

Ohne hier auf die verschiedenen Positionen der Tugendethik eingehen zu können20, liegen ihre Gemeinsamkeiten darin, dass nicht die Bewertung von Handlungen, sondern die moralischen Akteure selber, die angesprochen werden sollen, im Vordergrund stehen. Die grundlegenden ethischen Urteile sind somit Urteile über Einzeltugenden sowie den Charakter von Menschen. Tugenden sind Dispositionen, das Richtige zu wählen. Sie beziehen sich auf Charaktereigenschaften von Menschen, welche diese ausbilden müssen, um in bestimmten Kontexten moralisch richtig handeln und urteilen zu können. Das heißt etwa klug zu urteilen, besonnen zu handeln, gemäßigt zu regieren oder geduldig zu warten. Diese Eigenschaften sind erworbene Eigenschaften, „die der einzelne selbst entwickelt und die zu entwickeln Hauptaufgabe jeder moralischen Erziehung ist“.21 Systemtheoretische Leitbegriffe wie Flexibilität, Umstellungs- und Anschlussfähigkeit, die in unserer modernen Organisationsgesellschaft im Vordergrund stehen, genügen dafür nicht. Sie sichern gewissermaßen eine vorauslaufende Anpassungsfähigkeit an Modernisierungsprozesse, wobei sie die alten Tugendbegriffe teils überfordern, teils verdrängen. In Kap. 6 werden wir diesbezüglich von einer „Sicherung der Beweglichkeit in der Anpassung“ sprechen. Diese Flexibilität ist tendenziell eine Flexibilität bis hin zur Charakterlosigkeit. So weit wollen wir nicht gehen.

Tugenden als Eigenschaften spielen eine wesentliche Rolle für das menschliche Wohlergehen. Sie basieren auf einer bestimmten Theorie des guten Lebens. Die Verbindung zwischen gutem Leben und Tugend ist jedoch kein zwingendes Element der neuen Tugendethik mehr, da wir als moderne Menschen im Allgemeinen das Glück in das subjektive Belieben der Mitmenschen stellen. Der modernen Moralphilosophie geht es folglich nicht mehr primär um das Glück und das gute Leben, sondern mehr um die Verallgemeinerungsfähigkeit einer verbindlichen Moral22, die wiederum einer politischen Theorie als Rechtslehre zugrunde liegen kann. Bei Kant ist dies der Fall bis hin zum Friedensentwurf von 1795.

Ebenso ist es fraglich, „ob sich ein Tugendsystem entwerfen lässt, in dem bestimmte Tugenden (die vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Tapferkeit) eine zentrale Bedeutung haben und sich andere Tugenden aus ihnen ableiten lassen (wie zum Beispiel Demut aus der Besonnenheit)“.23 Der Wert der Handlung leitet sich also für den Tugendethiker aus dem der Tugend ab; Tugendethik postuliert den Primat der Tugend bzw. des Charakters. Im Zusammenhang mit einer demokratischen Tugendethik ist weiterhin mit Aristoteles die Tugend der praktischen Urteilskraft (phronesis) zu betonen. Es geht uns dabei nicht um eine reine Tugendethik, sondern eher um eine integrative