Gedankensplitter III - Heinz Kleger - E-Book

Gedankensplitter III E-Book

Heinz Kleger

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Beschreibung

Gedankensplitter lll enthält die Blog-Artikel der Jahre 2020, 2021 und 2022, die alles verändert haben. Nach dem »schwarzen Montag" am 9. März 2020 schien es sinnvoll, die Kontakte wieder vermehrt über das Internet zu suchen. Freunde schlugen mir vor, einen Blog einzurichten, eine »kleine Zeitung« zur Zeit, um auf dem Laufenden zu bleiben. Mit dem Bundestagswahlkampf ging es los: mit der Kampfansage der neuen Grünen an die CDU. Kurz darauf ging Olaf Scholz als einzig möglicher Kanzlerkandidat der SPD ins lange Rennen, das er schließlich mit den prägnanten Versprechen von Respekt und Mindestlohn knapp gewann. Corona und seine Folgen blieben ebenfalls präsent, doch schwanden allmählich die Corona-Angst und die Befürchtung vor Lockdowns, die, für uns alle zu überraschend plötzlichen Schließungen aller Art führten - : von Grenzen, Schulen, Kitas, Gastronomie, Theatern, Kinos usw., die zum Teil im Nachhinein als verfassungswidrig festgestellt werden. Am 24. Februar 2022 veränderte sich noch einmal buchstäblich und zur Gänze die Welt: als wir die flächendeckende Invasion der Ukraine durch das russische Militär gesehen haben. Zwar hat sich Putin mit seiner »Spezialoperation« verkalkuliert, der Krieg indessen hat sich zu einem fürchterlichen Zerstörungskrieg ausgeweitet und verstetigt. Derweil trat die Klimakrise, die keine Pause kennt, objektiv in den Hintergrund, was wiederum die Klimaproteste der »Letzten Generation« befeuert hat. Nicht alle legitimen Proteste sind jedoch gut. Gerade auch beim facettenreichen schwierigen Widerstandsbegriff, den auch die revolutionären Rechten auf der ganzen Welt gerne in Anspruch nehmen, ist genau hinzusehen und begrifflich zu differenzieren. Seriöse politische Theorie erweist sich als nötiger denn je. Alles scheint möglich - im Schlimmen wie im Guten.

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Inhalt

Die Jahre, die alles verändert haben: 2020, 2021, 2022

2020

Die neuen GRÜNEN

Das Rennen beginnt

Freiheit – Toleranz – Solidarität.

Potsdams Botschaft von der Einheitsfeier

2021

Bürgerbeteiligung und Demokratie

Was hat die Christdemokratie ideenpolitisch noch zu bieten?

„Wir können es besser“.

Welchen Bürgerglauben braucht die Demokratie?

Bundesrepublikanische Zivilreligion

Die Rechte künftiger Generationen

Reflexive Staatsfähigkeit

Positionen und Konstruktionen.

Die Liberalen wollen mitregieren

Nüchterne Wechselstimmung

Die Schweiz als Antithese?

Der (mögliche) Integrator?

Wenn Staaten versagen, müssen Städte handeln

Wozu Staaten? Der „gute Staat“ und seine Funktionen

Ressentiments (die immer nur die anderen haben)

Einfach, aber schwer

Demokratiepolitik

Die neue Regierungskoalition ist offen

Toleranzedikt als Stadtgespräch

Orientierung vs. Ideologie. Seine wichtigste Rede.

Bürgerbeteiligung als Demokratiestärkung

Richtungsentscheidung: Bürgerliche oder linke Regierung?

Wie regieren?

Rot oder schwarz in grünen Zeiten

Ist die Linke besser als sozialliberal?

Finale furioso

Die Wahrheit liegt in der Urne.

Neustart für Deutschland?

Die Fortschrittskoalition und ihre Idee des Fortschritts

Sozial-liberal-ökologisch. Geht das?

Toleranz als Stärke und die Selbstaufgabe durch Toleranz

Aufbruch, kein Bruch: Die neue Regierung des Fortschritts.

Unbedingte Solidarität?

Neuer Schwung in der Sozialdemokratie

Regierung und Opposition

Ein Repräsentant der bundesrepublikanischen Zivilreligion

2022

Viele richtige Argumente

Was das Land zusammenhält

Die Kraft der Demokratie

Krieg als Kategorie der Politik

„Fällt die Ukraine, fällt Europa“

Der neue Krieg

Es zählen nur noch die Kriegstage

Wahrheit als Evidenz

Frieden in weiter Ferne

Biden in Polen und die „heilige Verpflichtung“

Wahrheit und Lüge

Der 8. und 9. Mai

Krisen- und Solidaritätskonkurrenz

Weltordnung?

„Wir träumten von nichts als Aufklärung“

Die „Natoisierung“ Europas

Normalität in der Krise – Krise als neue Normalität?

Spiel mit der Zeit

Politische Theologie und demokratische Bürgerreligion

Weiterungen des Krieges

Perspektiven und Wunder

Zwischen Eskalation und Diplomatie

Legitime Proteste

Demokratiepolitik im Großen

Demokratiepolitik im Kleinen

Die Jahre, die alles verändert haben: 2020, 2021, 2022

Nach dem „schwarzen Montag“ am 9. März 2020 schien es sinnvoll, die Kontakte wieder vermehrt über das Internet zu suchen. Freunde schlugen mir vor, einen Blog einzurichten, eine „kleine Zeitung“ zur Zeit, um auf dem Laufenden zu bleiben – Blogs als wenig wirksame Flaschenpost.

Corona, Wahlkampf, Krieg

Mit dem Bundestagswahlkampf ging es los: Mit der Kampfansage der neuen Grünen an die CDU. Kurz darauf ging Olaf Scholz als einzig möglicher Kanzlerkandidat der SPD in das lange Rennen, das er schließlich mit den prägnanten Versprechen von Respekt und Mindestlohn knapp gewann.

Die CDU/CSU erlitt eine Niederlage nicht nur, weil Söder zu lange Laschet als Kanzlerkandidaten in Frage stellte. Es genügte ohnehin nicht mehr, lediglich Kanzlerpartei zu sein, wie zweimal rekordverdächtige 16 Jahre lang mit Kohl und Merkel. Das ideenpolitische Programm der Bürgerlichen war durch zu langes Regieren ausgedünnt, wenn man es mit dem frischen neuen grünen Grundsatzprogramm und der SPD, die allerdings auch nicht mehr die Partei der Jungen war, verglich. Mit rot oder schwarz in eine grüne Republik hieß die Alternative, wenn auch nicht überschwänglich.

Die Liberalen (FDP), welche die längste Zeit die BRD mitregierten, wollten ebenfalls wieder in die Regierung, von Anfang an mit einem eigenen Finanzminister. Schließlich kam eine überraschende „Fortschrittsregierung“ zustande zwischen drei Parteien mit grundsätzlich verschiedenen Ansätzen.

Das ist an sich schon eine parteipolitische Leistung, die seitdem durch eine überraschend neue und gravierende Krisenrealität auf eine außergewöhnliche Belastungsprobe gestellt wird. Das Regieren wird schwieriger. Um diese zweite Leistung neben Wahlkampf und Regierungsbildung beurteilen zu können, wird allerdings mehr zeitlicher Abstand nötig sein.

Von „Regierung der Taten“ spricht Scholz nach zwölf Monaten Ampelkoalition, Merz von „miserablem Regierungshandeln“ und Weidel von „Deutschland am Abgrund“ (im Bundestag am 23. November 2022). Politische Rhetorik ist vornehmlich und größtenteils Polemik. Wer verzerrt die Wirklichkeit am stärksten? Und wer schafft wie Zustimmungsbereitschaft? Das sind die eigentlichen Fragen.

Wenn man sich mit Demokratien befasst, muss man sich eingehend auch mit ihren Parteien und Parteiensystemen beschäftigen, obwohl sie ephemer sein mögen. Schon deshalb war dieses Jahr aufschlussreich, in dem zum ersten Mal in Deutschland eine Dreierkoalition für das demokratische Regieren nötig wurde.

Die Grünen wollten in die Regierung mit dem ambitionierten, historisch begründeten Ziel, eine „Klimaregierung“ zu bilden, die Sozialdemokraten wiederum wollten ihr traditionelles Verständnis von „Fortschritt“ unter neuen technologischen Bedingungen umsetzen: neue industrielle Revolution, Wirtschaftswachstum, Sicherung der Arbeitsplätze. Ob daraus ein „neues sozialdemokratisches Zeitalter“ (Klingbeil) entsteht, wollen wir dahingestellt sein lassen.

Man wird jedenfalls zwischen Fortschritt im großen geschichtsphilosophischen Singular (seit der Neuzeit) und buchstäblichen Fortschritten im Kleinen und verschiedenen Bereichen (medizinisch, wissenschaftlich, Politikfelder u. a.) unterscheiden müssen. Ebenso muss man zwischen spontaner, bürgerlich-persönlicher, zivilgesellschaftlicher Solidarität und verrechtlichter Solidarität, die strukturell über den Staat läuft, unterscheiden.

Kann aber die sozialdemokratische Fortschrittsregierung heute noch eine politische Klammer für die Gestaltung der Globalisierung bilden? Was alle drei Parteien, einschließlich der Liberalen eint, ist ihre liberale Gesellschaftspolitik mit vielen überfälligen Punkten, zum Beispiel der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts (siehe Blog vom 20. September 2022). Auffällig ist hingegen die gemeinsame Betonung des starken funktionalen Staates, der nicht zufällig am Anfang des neuen Koalitionsvertrages steht: ein Artikel 1, der ideenpolitisch wenig reflektiert ist. Notgedrungen sind wir Staatsgläubige geworden.

Als Verwaltungsstaat soll er effizienter funktionieren und als Sozialstaat muss er in den Krisen (Corona, Ukraine-Krieg, Energiekrise, Inflation, Preissteigerungen) viel leisten (Bazooka, Doppelwumms) und sich auf Kosten künftiger Generationen verschulden. Beides bekannte deutsche Stärken, die in der multiplen Krise noch stärker hervortreten, selbst im europäischen Vergleich, wobei für den Organisationsweltmeister kränkend auch sehr viel elementares Organisations- und Verwaltungsversagen zutage tritt.

Derweil tritt die Klimakrise, die keine Pause kennt, objektiv in den Hintergrund, was wiederum die Klimaproteste der Letzten Generation befeuert, die bereits in den Anfängen hysterische Reaktionen wie „Präventivhaft“ und „grüne RAF“ hervorruft: „Die Klimajugend wird gefährlich“ (NZZ, 12.11.2022, S. 1). Der Widerstand reicht über zivilen Ungehorsam hinaus bis zur gefährlichen Sabotage, wenn etwa Landebahnen des Hauptstadtflughafens besetzt werden.

Sabotage bedeutet bewusste Unterbrechung und Störung von normalen Kreisläufen des Funktionierens. Auch diesbezüglich gibt es unterschiedliche Stufen und Mittel, von milden bis hin zu militärischen, etwa beim Sprengstoffanschlag auf eine Pipeline. Endlich sieht man auch, durch leidvolle Erfahrung belehrt, die kritische Infrastruktur kritischer. Die moderne Zivilisation wird immer verletzlicher, und wir als Einzelne immer abhängiger von ihren Strukturen.

Nicht alle legitimen Proteste sind gut (siehe Blog vom 8. November 2022). Auch hier, gerade beim facettenreichen schwierigen Widerstandsbegriff, den auch die revolutionären Rechten auf der ganzen Welt gerne in Anspruch nehmen, ist genau hinzusehen und begrifflich zu differenzieren. Diesbezüglich ist seriöse politische Theorie nötig, mehr denn je.

Corona und seine Folgen verschwinden ebenfalls nicht, aber doch weitgehend die Corona-Angst und die Befürchtung von Lockdowns, die historisch für uns alle zu überraschend plötzlichen Schließungen aller Art führten: von Grenzen, Schulen, Kitas, Gastronomie, Museen, Theatern usw., was zum Teil im Nachhinein als verfassungswidrig festgestellt wird.

Experten sprechen bei uns inzwischen vom Übergang von der Pandemie zur Endemie, während in China ein Fünftel der Wirtschaft am 25. November 2022 aktuell im Lockdown steckt. Diese strenge Covid-Politik hat ebenso schlimme Auswirkungen für die Menschen dort, wogegen es Proteste gibt, wie weltweit für die Wirtschaft und ihre Lieferketten.

Krisennormalität

Die Corona-Krise führte zur buchstäblichen Rückkehr in den Nationalstaat, zur Schließung des öffentlichen Lebens und das Zurückgeworfensein auf die eigene kleine Familie, die viel (oft zu viel) tragen musste, vor allem Frauen und Alleinerziehende. Solidarität wird zum wenig geklärten ubiquitären Hauptwort, auch einer liberalen, vornehmlich wirtschaftlich geprägten Gesellschaft, vor allem im permanenten Appell der Regierung an die eigene Bevölkerung („nationaler Notstand“ und „nationale Kraftanstrengung“), die wiederum eine erstaunliche Disziplin zeigte und zugleich spontane erfindungsreiche Solidarität an den Tag legte.

Die Systemrelevanz von Kräften wurde gefeiert, die bisher nicht nur unsichtbar blieben, sondern nach wie vor unterbezahlt sind und deren Arbeitsbedingungen schwer. Wahrnehmung und Wertschätzung sind im hektischen gesellschaftlichen Konkurrenz- und Anschlussbetrieb tatsächlich wieder zu lernen. Wert ist nicht nur ein ökonomischer Begriff, da käme vielmehr die Würde ins Spiel.

Buchstäblich in einer neuen Welt sind wir am 24. Februar 2022 aufgewacht, als wir die Invasion der Ukraine durch die russische Armee gesehen haben. Die militärische Invasion, die als „Spezialoperation“ bezeichnet wurde, flächendeckend in das größte Land Europas schien schon rein militärisch absurd. Unter einer erfolgreichen Spezialoperation hätte man sich etwas anderes vorgestellt, die CIA hat es vielfach vordemonstriert.

Von Anfang an wurde zurecht gesagt, dass sich Putin verkalkuliert hatte – das schien offensichtlich. Die schwerfällige veraltete Kriegsführung musste schon vor Kiew scheitern, was sich von Charkiv bis Cherson im Herbst in der Ost-und Südukraine wiederholte, während im Donbass sich ein zermürbender Artillerie- und Stellungskrieg über eine lange Frontlinie hinweg festsetzte.

Die Annexion der Oblaste Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson durch die russische Föderation „für immer“ bildete einen Höhepunkt des sichtbaren Fanatismus von Putin und führte zugleich zu einer neuen Eskalationsstufe. Russland befindet sich in einem Krieg mit der NATO, vor allem mit den USA, wie die 45minütige antiamerikanische Wutrede von Putin am 30. September im Kreml deutlich offenbarte.

Kann man eine Atommacht besiegen, ohne dass es zum Weltkrieg kommt? Das ist der schwierige Balanceakt der NATO, die nie Russland angreifen wollte. Letzteres ist die größte Propagandalüge Putins, der nun seinen genozidalen Angriffskrieg in einen Verteidigungskrieg Russlands umzumünzen versucht.

Alles scheint möglich – im Schlimmen wie im Guten in dieser unsicher gewordenen Welt, in der wir noch immer im Atomzeitalter sind. In dieser Welt, welche die Apokalypsen verdrängen muss, leben wir jetzt, wenn wir alle mit Bildern konfrontiert sind wie Putin bei einer Atomübung, bewusst der zweiten im Jahr, mit den roten Knöpfen spielt und der NATO-Generalsekretär Stoltenberg von einem amerikanischen Flugzeugträger aus die Botschaft verkündet, dass sich die NATO nicht einschüchtern lässt. Gleichzeitig wird in Berlin ein Marshallplan für den Wiederaufbau der Ukraine organisiert.

Dazu kommt die militärische Widerstandskraft der ukrainischen Bevölkerung, unterstützt durch die westlichen, vor allem amerikanischen Waffenlieferungen. Die Hilmars-Raketen konnten im Herbst den Spieß sogar drehen. Zudem wurden die Gräuel des Krieges durch die russische Armee nach Butscha immer deutlicher. Der Krieg wurde immer sichtbarer für alle zu einem zerstörerischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, wofür die Zerstörung von Mariupol, die Angriffe auf die Wohnbevölkerung in den Städten und die Politik der verbrannten Erde stehen.

Trotzdem: die Ukraine kann und muss diesen Krieg gewinnen – auch für Europa, das beim Wiederaufbau eine große Verantwortung haben wird, die mit der EU-Beitrittsperspektive verknüpft worden ist. Der Ukraine steht ein brutaler Winter bevor, nachdem die Russen ihren Rückzug auf dem Gefechtsfeld mit der Zerstörung von lebensnotwendiger Infrastruktur kompensieren. Wird der Winter zum „Kampfgenossen“?

Russland spielt auf Zeit in einem fürchterlichen hybriden Krieg, bei dem sich die Grenzen verwischen, und schickt neue Rekruten ins Feld. Quantität ist auf dieser Seite eine Qualität – seit jeher. Das ist seit dem Winterkrieg Stalins gegen Finnland 1939/40 nichts Neues, die interne Brutalität dieser Armee auch nicht. Wird es noch weitere Einberufungswellen geben? Gibt es breiten Protest und Widerstand dagegen? Über das große Russland und seine vielfältige leidensfähige Bevölkerung wissen wir wenig, über Putins Propaganda viel.

Auf der anderen Seite ist die ukrainische Armeeführung optimistisch, im Frühling 2023 die Krim zurückerobern zu können, nach der symbolisch wichtigen Befreiung der Hafenstadt Cherson im Süden. Diesen Optimismus teilt und bestärkt auch der amerikanische NATO-General Ben Hodgson.

Cherson war als erste Stadt von russischen Truppen erobert worden. Während der Besetzung kam es immer wieder zu Demonstrationen gegen die Besatzer. Nach der Wiedereroberung erfolgt nun die interne Auseinandersetzung mit den Kollaborateuren. Die Ukraine wird noch lange mit den Wunden des Krieges beschäftigt sein.

Im November steht der Winter schon in der Tür, während die russischen Raketenangriffe weitergehen. Der UN-Sicherheitsrat trifft sich am 24. November deswegen zu einer Dringlichkeitssitzung in New York, er ist funktionslos geworden. Weiterhin wird aber die westliche Unterstützung mitentscheidend sein in diesem zivilisatorischen Konflikt mit Putins Russland.

Für den Raumgewinn in der Krim benötigen die Ukrainer schwere Waffen, vor allem Panzer. Außerdem wird in diesem Winter die Flüchtlingswelle noch einmal anschwellen, bislang sind mehr als eine Million in Deutschland registriert. Ganz Europa wird sich zunehmend diesen Fragen annehmen müssen. Die Krim bleibt derweil ein Kriegsziel, was zu einer weiteren Eskalation des Krieges führen kann. Die Kriegsziele Putins bleiben im Dunkeln.

Das setzt die soziale und politische Solidarität der europäischen Länder unter Druck, die Wohlstandsverluste und soziale Unruhen befürchten. Viele Ängste von neuen Montagsdemo-Teilnehmern in Ostdeutschland, auf die demokratische Parteien reagieren müssen, lassen sich verstehen, aber nicht diejenigen, welche mit russischen Fahnen demonstrieren!

Themen politischer Theorie

Die Jahre 2020–2022 haben bestimmte Themen politischer Theorie wieder in den Vordergrund gerückt – so mit dem 24. Februar 2022

den Krieg als politische Kategorie;

mit dem Verteidigungskrieg der Ukraine den gerechten Krieg sowie

die Zeit des Krieges mit seiner Preiserhöhungsstrategie;

den Weiterungen, Entscheidungsschlachten, Wendepunkten und Eskalationen.

Der Krieg ist mehr als eine Katastrophe oder eine Krise, er verunmöglicht zivilisiertes Leben und stellt wieder grundsätzliche Fragen nach der Zivilisation (siehe den Blog vom 22. August 2022) – Europa wieder aufbauen wie nach den unermesslichen Zerstörungen des 2. Weltkrieges im Namen der Zivilisation, wir haben nicht zu viel davon („Zuvielisation“).

Nicht die Friedensforschung und Friedensethik standen im bundesrepublikanischen Mittelpunkt, sondern – durch die erzwungene Remilitarisierung, die Putins Krieg herbeigeführt hat – urplötzlich ein neualter Realismus, der nicht mit Bellizismus verwechselt werden darf. Die Nachkriegsillusionen eines wohlstandsgesättigten postnationalen Pazifismus sind verflogen, was letztlich in einem größeren Rahmen betrachtet zur Rückkehr der USA und der NATO nach Europa und zur Natoisierung Europas geführt hat, wie wir es in den tagesaktuellen Blogs verfolgen konnten.

Diese Folgen werden uns noch lange im Einzelnen beschäftigen und zu vielen politischen Kontroversen führen, die wir hier nicht vorwegnehmen, sondern nur erahnen können. Wie es zu einem gerechten Frieden kommen kann, wie es mit Russland weitergeht, wie mit einem verteidigungsfähigen Europa, wie mit China und den USA, die 2024 vor wichtigen Wahlen stehen, wissen wir nicht – nichts ist „zukunftssicher“.

Die Krisennormalität hat sich schon deswegen – weil diese großen Fragen und viele andere offen sind – noch einmal erheblich gesteigert (siehe die Blogs vom 28. März und 16. August 2022.) Dadurch ist auch die Frage dringlicher geworden, was Normalität noch heißt – politisch und gesellschaftlich; weltpolitisch, europäisch und national. In den vorliegenden Blogs haben wir uns systematisch genauer vor allem mit den folgenden Themen beschäftigt:

Krieg und Frieden, friedensuchender Realismus, wehrfähige Demokratien (Blogs z. B. 2. und 8. März 2022/1. und 18. April 2022/1. Mai 2022)

Reflexive Staatsfähigeit und starke funktionale Staaten (Blogs z. B. 5. Mai 2021/5. Juli 2021/8. September 2022)

Spontane und verrechtlichte Solidarität (Blogs z. B. 7. Dezember 2021/13. Mai 2022)

Freiheit, Toleranz, Solidarität (Blog z. B. 2. Oktober 2020)

Zivilreligion als Bürgerglaube (z. B. 14. April 2021/19. April 2021/25. Januar 2021/1. Oktober 2022) Demokratiepolitik im Großen und im Kleinen (z. B. 4. August 2021/24. August 2021/16. November 2022/ 27. November 2022)

Politik der Städte (z. B. 29. April 2021/2. Juli 2021)

Toleranzedikt als Stadtgespräch, Religionspolitik und Toleranz (z. B. 16. Februar 2021/15. August 2021/15. Oktober 2021)

Welt und Werte neu sortieren

(Welt-)Politiker und die Einzelnen, deren Würde im Zentrum steht, haben die Wahl, Welt und Werte neu zu sortieren. Dies wird strittig bleiben, und manche treffen gar keine Wahl oder können sich nicht entscheiden, was immer auch eine Festlegung bedeutet.

Aber es genügt nicht, ständig nur Werte zu predigen, aufzuzählen, additiv, korrekt, vollständig und möglichst fehlerlos, sondern man muss auch zu gemeinsamen demokratischen Lösungen von Problemen kommen, zum Beispiel zu europäischen Entscheidungen bei der Migration. Hinter der inflationären Rede von Werten kann man sich auch verstecken. Sie ist einfach und bequem.

Solche Probleme, welche die einheimischen Bevölkerungen beschäftigen, gilt es zunächst zu sehen und ernstzunehmen und nicht akademisch-elitär zu ignorieren, was denen in die Hände spielt, die man eigentlich bekämpfen möchte. Indifferenz und Ignoranz gibt es immer, sogar notwendigerweise, dennoch sollte man lernen, selbstkritischer mit ihnen umzugehen, statt sich moralisch aufzublasen und anmaßend zu werden. Das wäre zumindest der Anfang von politischem Handeln, welches exponiert.

Für die Einzelnen bedeutet das, unterwegs zu bleiben, offen und neugierig, obwohl man auch einmal in Ruhe gelassen werden möchte. Parteiliche Gelassenheit heißt die Lösung: Leben und leben lassen bei möglichst viel Toleranz, wäre die schönste Formel für eine Philosophie der Lebenskunst – einfach, aber schwer.

Sie ist jedoch nur ein Aspekt einer facettenreichen, widersprüchlichen und teilweise feindlichen Welt, in der wir leben. Die Kluft zwischen dieser großen Welt und der kleinen Lebenswelt der Einzelnen ist groß und in den letzten Jahrzehnten noch größer und schwieriger geworden. Wir haben Mühe, mitzukommen.

Die Weltzeit mit ihren überwältigend vielen (Welt-)Ereignissen ist trotz weitgehender Vernetzung fragmentierter und schwerer nachvollziehbar geworden. Sie ist schnell und von keinem Standort aus hat man die Übersicht. Im Gegenteil: gefühlt meint man, es hänge alles davon ab, wo man gerade zufällig geboren wurde und lebt. Oder einfacher gesagt: Von den verschiedenen Ländern und Kontinenten sehen die Probleme und ihre Lösungen perspektivisch oft sehr unterschiedlich aus, und man kann von aussen wenig ausrichten.

Es sind Welten, die hier aufeinandertreffen und erst einmal überbrückt werden müssen. Dafür machen auch 27 Klimakonferenzen Sinn, so frustrierend sie sein mögen. Diplomatie und Austausch sind ohnehin immer notwendig, Offenheit und Neugierde ebenso.

Und deshalb werden auch Bündnisse für die Aufklärung und die Politik (oder die Politik der Aufklärung) wichtiger – vom Bund zum Bündnis, von der amerikanischen zur atlantischen Zivilreligion (Blog 26. und 27. März 2022). Alte und neue, enge und lockere Bündnisse müssen aber wieder aufs Neue überzeugen und Verbündete suchen – kein Bündnis ohne Verbündete! Auch die autoritäre Präsidialrepublik Kasachstan und deren Bevölkerung beispielsweise sucht einen eigenen Weg zwischen Russland und China.

Diese nötige Kooperation bei der Gestaltung primär des Weltfriedens und der Globalisierung ist eine Hoffnung trotz oder gerade wegen Atomangst und Klimakrise. Entkoppelung, Abschottung und Autarkie sind keine besseren Lösungen. (Welt-)Politiker und Einzelne müssen deshalb das Gespräch suchen und im Gespräch bleiben, ohne wirtschaftlich und politisch naiv zu werden. Wenn man nicht direkt über Menschenrechte sprechen kann, dann spricht man halt über Konfuzius, um so auf Umwegen möglicherweise wieder zu gemeinsamen Ausgangspunkten zu kommen.

„Praxis“ bedeutet in der griechischen Philosophie, Vereinseitigungen zu vermeiden, die in einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation mit ihrem Primat auf Wirtschaft, Technik, Wissenschaft und Organisation naheliegen. Im Rahmen dieser „ausdifferenzierten Praxis“, die oft auch Politik lediglich als Organisation versteht, funktionieren wir alle größtenteils. Wie übersetzen wir aber ins Heute die griechische „Praxis“, den Grundbegriff der praktischen Philosophie, von der die politische Theorie ein Teil ist?

Gadamer schlägt vor: „Praxis ist ein Sich-Verhalten und Handeln in Solidarität.“ Und weiter: „Sie ist die entscheidende Bedingung und Basis aller gesellschaftlichen Vernunft.“ Der Philosophielehrer der Gegenwart zitiert dabei Heraklit: „Der Logos ist allen gemeinsam, aber die Menschen benehmen sich, als hätte jeder seine Privatvernunft“ (Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft 1976, S. 76/77).

Freilich sind in der gegenwärtigen politischen Theorie historische und aktuelle Erfahrungen das entscheidende Argument. Hinzukommt die genaue Beobachtung und empirische Analyse der Konflikte unserer Zeit, zusammen mit der nötigen Geistesgegenwart des Urteilens und Handelns.

Potsdam, 1. März 2023

2020

Die neuen GRÜNEN

Das Rennen beginnt

Freiheit – Toleranz – Solidarität

.

Potsdams Botschaft von der Einheitsfeier

1. August 2020

Die neuen GRÜNEN

Die Grünen gehen mit ihrem Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm in die Offensive. Sie werden den Parteienwettbewerb und damit die Demokratie beleben. Mit ihren 383 Einzelpunkten auf 58 Seiten wollen sie nicht länger nur eine ökologische Nischen-Partei sein, sondern sie wollen in die Breite gehen und ebenso Themen wie Gesundheitspolitik, Sicherheitspolitik, Sozialpolitik und andere Politikfelder abdecken. Damit fordern sie den Hegemonieanspruch der staatstragenden Christ- und Sozialdemokratie heraus und formulieren einen „Führungsanspruch“ (ein Wort, das bisher tabu war).

Ihr Ziel ist es, „eine krisenfeste Gesellschaft demokratisch zu gestalten“. Ihre philosophisch interessante Hauptparole lautet „Veränderung schafft Halt“. Das erinnert an die „haltenden Mächte“ der Konservativen (Familie, Vaterland, Religion), denen sie mit der Gestaltung des sozialen Wandels den Wind aus den Segeln nehmen wollen. Sie sind dabei gegenüber früheren Jahren deutlich technologiefreundlicher (selbst gegenüber der Gentechnik) und handlungsoptimistischer geworden. Man merkt sofort, dass sie regieren möchten, auch in Europa. Am überraschendsten ist das Kapitel über eine „föderale Republik Europa“. Im ambitionierten Verfassungsentwurf des Konvents (2003) hieß es noch: „Föderation von Nationalstaaten“. Die Grünen gehen darüber hinaus und setzen geradezu euphorisch auf Europa. Für sie gilt der Primat der Politik, 2021 wird deshalb sowohl für Deutschland wie für Europa ein wichtiges weichenstellendes Wahljahr werden.

Halt durch Veränderung erfordert Sicherheitsversprechen für die große Zahl, gerade im Übergang zur ökologischen Moderne, die das fossile Zeitalter ablösen soll. Das wird sowohl eine große Herausforderung werden als auch erbitterte politische Konkurrenz hervorrufen. Denn: Welche Sicherheiten können wie realisiert werden? Welche Rolle spielt dabei der Staat? Wie sieht die Sozialstaatsagenda aus? Die deutschen Grünen sind staatsgläubig, in anderen Ländern gibt es bereits eine Spaltung in „grün“ und „grünliberal“. Die neuen Grünen sind regierungspragmatisch geworden, sie sind aber auch in Bezug auf viele Fragen radikal, jung und frisch geblieben, offen für neue Bündnisse, was freilich vieles offen lässt. Zwischen Halt, Haltung und Zusammenhalten gibt es bei ihnen einen deutlichen Zusammenhang: „Rechtsextremismus und Rassismus sind die größte Gefahr für die liberale Demokratie.“ Bei der Stärkung der Demokratie wird nach dem Brexit –Schock jedoch weniger auf direkte Demokratie als auf Bürgerräte und die neue „Räterepublik“ (Ethikrat, Digitalrat, Klimarat usw.) gesetzt. Demokratisches Regieren indes geht in Deliberation nicht auf.

Sollten die Grünen nächstes Jahr in die Regierung kommen, werden sie sich mit den ökonomischen Realitäten schmerzlich auseinandersetzen müssen, was zu Enttäuschungen an der Parteibasis führen kann wie einst die Kosovodebatte oder die Castortransporte. Ein Beispiel dafür ist die Ermahnung des grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Kretschmann gegenüber Hofreiter (nachdem dieser den Parteibeschluss mitgetragen hat, Verbrenner bis zum Jahr 2030 zu verbieten), dass man für die Wende zur E-Mobilität noch kein ausgereiftes Konzept geschweige denn eine Infrastruktur habe.

Wandel als Halt ist das Gegenteil einer konservativen Haltung (Halt im Vertrauen auf haltende Mächte). Die Grünen wollen weiterhin im Bewusstsein des Fortschritts (einschließlich der Fortschrittskritik) vorne sein, weder links noch rechts. Ökologie bleibt ihr erster Grundwert. Sie sind aus vielen Erfahrungen klüger und zugleich gelassener und pragmatischer geworden. Das ist cool, solange man nicht regieren muss. Zum 75. Geburtstag der CDU haben sie ihr nicht nur ihr neues Grundsatzprogramm geschenkt, sondern auch einen Präsentkorb mit Ingwer und Rhabarberschorle.

11. August 2020

Das Rennen beginnt

Der Zeitpunkt überrascht, der Kandidat nicht: 13 Monate vor der Bundestagswahl präsentiert die SPD ihren Kanzlerkandidaten Olaf Scholz – in erstaunlicher Geschlossenheit. War er bei der Kandidatur um den Parteivorsitz noch unterlegen, steht er nun in der Mitte der beiden neuen Parteivorsitzenden Esken und Walter-Borjans, die ausführlich seine Erfahrung, sein Ansehen und seine Solidität hervorheben. Nichts ist mehr wie vor der Corona-Krise.

Der eine Krisenmanager Nr. 1 aus Bayern meint zwar, es sei noch zu früh für Wahlkampf, derweil die SPD ihren Krisenmanager Nr. 1 offensiv ins Rennen schickt. Deutlich über 20 Prozent müssen es werden, und Scholz muss gewinnen wollen (wie einst Schröder). Das Rennen jetzt schon gegenüber Schwarz-Grün verloren zu geben, würde nicht nur der (Parteien-)Demokratie schaden, sondern auch der Sozialdemokratie. Die historische Alternative wäre dann tatsächlich, sich nach 2021 in der Opposition neu erfinden zu müssen.

Die Situation hat sich jedoch gegenüber anfangs des Jahres deutlich verändert. Der heutige Kanzlerkandidat mit Wumms ist der Vizekanzler und Finanzminister des starken Staates, der Deutschland vergleichsweise gut durch die Krise geführt hat, wie selbst linke und grüne Kritiker zugeben müssen („big government“). Obwohl Scholz vor der Corona-Krise die Anti-Figur der Linken bzw. der Groko-Kritiker war, kommt er von links und ist vor allem, was schwieriger ist, nachvollziehbar zuverlässig und solide. Das Kurzarbeitergeld zum Beispiel ist zwar ein Produkt des lange gewachsenen Sozialstaats, der besser ist als sein Ruf, Scholz hat indessen als Arbeitsminister in der Finanzkrise 2008/09 seine Hürden deutlich gesenkt. Vorher war es ein Instrument vor allem für saisonal Beschäftigte etwa in der Bauwirtschaft.

Die verschiedenen Facetten der Wohnungspolitik gehören aufgrund seiner Hamburger Erfahrungen ebenfalls zu seinen Stärken. Hier könnte man das Manifest des verstorbenen Hans-Jochen Vogel zur Bodenpolitik gleich noch hinzunehmen. Ebenso lenkt der ehemalige Hamburger Bürgermeister die Aufmerksamkeit auf die Kommunen als „Fundament des Staates“ (Scholz). Der Mindestlohn ist ein weiterer Punkt, der systematisch weiter zu entwickeln ist. Bisher schützt er vor Altersarmut nicht. Die SPD kann und muss sich wieder neben der CDU und den Grünen als soziale und solidarische Partei profilieren. Die klare Ansage, eine progressive Mehrheit führen zu wollen, stärkt die SPD. Und mit Scholz öffnet sie sich auch in die Richtung einer neuen heterogenen Mitte, die der Zukunft zugewandt und der bisherigen Politik eher abgewandt ist.

Puncto Zukunftsprogramm sind die Grünen mit ihrem neuen Grundsatzprogramm der SPD allerdings voraus. Genug Zeit für die Debatte mit den Wählern besteht nun, inhaltliche Fragen zur Wirtschafts-, Klima- und Technologiepolitik gibt es zuhauf, vor Ort und global. Die Sozialde mokratie will das Ökonomische, Ökologische und Soziale zusammenhalten. Das ist eine grosse Gedankenkomplexität, in der auch die reale EU von Merkel und Macron eine zentrale Rolle spielen. Über den weiteren verbindlichen Weg dieser Union als politischer Union müssen in den nächsten Jahren die Entscheidungen fallen. Scholz regiert ähnlich wie Merkel, sozusagen in ihrem Schatten und er wird dies noch eine Zeit lang tun müssen. Das ist ein Nachteil der frühen Kandidatur, ausserdem setzt ihm der Wirecard-Untersuchungsausschuss zu, dem er bisher mit maximaler Transparenz begegnet ist.

Unter diesen Bedingungen muss Scholz und sein Team (!), auf das wir noch warten, mehr Prozentpunkte bei den Wählern holen als die Grünen, die zum ersten Mal den Führungsanspruch sowohl der Christdemokratie als auch der Sozialdemokratie herausfordern.

Das belebt den Parteienwettbewerb und damit die Demokratie. Die Grünen haben den strategischen Vorteil, dass sie nicht vorab eine Koalitionsaussage treffen müssen. Diese wird ohnehin kommen, aber erst am Ende der Debatte.

6. September 2020

Freiheit – Toleranz – Solidarität.

Wir miteinander im 30. Jahr der deutschen Einheit.

Potsdam hat sich 2008 in einem umfangreichen Stadtgespräch ein neues Toleranzedikt erarbeitet. Es sollte ein modernes Toleranzedikt werden für eine weltoffene Stadt einer heterogen gewordenen Bürgerschaft. Ausgangspunkt der zentralen Wiederkehr von Begriff und Tradition der Toleranz bis in die Brandenburger Verfassung von 1992 hinein („Recht, Toleranz und Solidarität“) war das Nicht-Tolerierbare in Gestalt fast alltäglich gewordener Fremdenfeindlichkeit und übergriffiger Gewalt. 1990 waren hier die ersten Todesopfer zu beklagen, der Name des Angolaners Amadeo Antonio ist heute noch bekannt.

Die Übergriffe zielten häufig auf geplante oder bewohnte Asylbewerberheime und Aussiedlerunterkünfte. Brandenburg war in den Augen der Öffentlichkeit, selbst im benachbarten Berlin, ein kompromittiertes Land. 1998 bildete sich das Handlungskonzept „Tolerantes Brandenburg“, zuvor schon das Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Die Gegenwehr von starkem Rechtsstaat und lebendiger Zivilgesellschaft ist seitdem stärker und in der Fläche besser geworden. Dennoch können wir uns heute nicht beruhigen angesichts der Zahlen und Vorfälle (rechts-)extremistischer Gewalt: Diese Entwicklung – Lübcke, Halle, Hanau – darf nicht weitergehen.

Im Neuen Toleranzedikt (2008) haben wir geschrieben, dass das Nicht-Tolerierbare klar zu benennen und zu bekämpfen sowie der Konsens der Demokraten zu stärken ist. Das heißt vor allem, dass die bestehenden Bündnisse noch weit bekannter, zahlreicher und stärker werden müssen. Das neue Toleranzedikt hat 2015 angesichts der Flüchtlingsproblematik mit HelpTo und angesichts von Hate Speech mit der ersten bundesweiten Kampagne gegen Hasspropaganda praktische Bewährungsproben bestanden, die politisch und rechtlich weitergeführt werden müssen.

Im Stadtgespräch über Toleranz 2008 war es vor allem den ostdeutschen Mitbürgern ein Anliegen, zusätzlich den Aspekt der Solidarität zu berücksichtigen in Bezug auf ihre Lebensleistungen und die sozialen Unterschiede in der Stadt. Aufgrund dieser Diskussionen einer neu entstehenden, konfliktreichen Ost-West-Bürgerstadt ist es zur Formulierung des neuen Toleranzediktes gekommen, dass die Verbindung von Toleranz und Solidarität zu festigen ist. In der bisherigen Ideengeschichte ist diese Brücke kaum zu finden. Angesichts der heutigen Bewältigung der Folgen der Coronakrise wird diese Verknüpfung aber erst recht zur schwierigen Hauptaufgabe. Weltweit steht uns die größte Rezession seit der Weltwirtschaftskrise 1929 bevor.

Die These aus den Stadtgesprächen, dass die Toleranz eine Konsequenz der Freiheit ist, so wie die Solidarität eine Konsequenz der Toleranz, steht also erneut auf dem Prüfstand. Die zivile Tugend der Toleranz ist zweifellos eine Konsequenz unserer individuellen Freiheit. Beides ist in den letzten Jahrzehnten gemeinsam gewachsen und ein großer Schatz, der zu bewahren ist. Ist aber die Solidarität auch eine Konsequenz der Toleranz? Diese Verbindung ist alles andere als selbstverständlich und sie bleibt spannungsvoll.

Es stellt sich deshalb die Frage, wie Toleranz und Solidarität heute miteinander zu verbinden sind.

Freilich ist auch die Problematik der Toleranz – in ihren Möglichkeiten und Grenzen – mit sozialen Fragen verknüpft. Toleranzbereitschaft sollte nicht über Gebühr asymmetrisch strapaziert werden, ebenso wie die Solidaritätsbereitschaft. Alle Beteiligten müssen letztlich auf ihre Kosten kommen. Insbesondere die Bereitschaft, Kompromisse zu schließen, darf nicht auf Dauer zu ungleich verteilt sein. Solidarität sorgt für Ausgleich (nicht Gleichheit!), was für eine demokratische Politik, die bei ihren Problemlösungen von Kompromissen lebt, nur förderlich ist.

Bei allem Gegeneinander in der Konkurrenzgesellschaft und allem Nebeneinander (Indifferenz) in der modernen differenzierten Gesellschaft sowie einem zeitlichen Nacheinander der Generationen und beschleunigter Prozesse ist trotzdem Solidarität möglich. Dies ist die Möglichkeit einer zivilen Bürgerschaft, bestehend aus Trotzdem-Sätzen der Zivilität als Zuständigkeit für Zivilisation. Bei der Kampfsolidarität von Schwachen gegen Starke spielt nicht zufällig die Betonung der Einheit eine besondere Rolle. Die Schwachen sind handlungsfähig, wenn es ihnen gelingt, starke Organisationen zu bilden (Gewerkschaften, Parteien, Vereine). Für diese Solidarität war und ist die Einheit über Organisation wichtig. Die wirklich Schwachen sind in der modernen Gesellschaft diejenigen, die hinsichtlich Organisationsgrad und Lobbyskala ganz hinten stehen (z. B. arme Kinder).

Nicht jede Einheit ist jedoch für den Zusammenhang von Toleranz und Solidarität förderlich. Es gibt unterdrückende herrschaftliche Einheiten, und es gibt einen „Egoismus des Wir“ (Todorov), selbst bei einem „vielfältigen Wir“. Es ist normal, dass bei einer so außergewöhnlichen Krise wie einer Pandemie zunächst traditionelle Einheiten wie Familien und Nationalstaaten mit ihren belastbaren Einheiten von Toleranz und Solidarität im Vordergrund stehen, was allerdings nicht zu Regressionen führen darf. Beim Lockdown im März sind überraschend schnell und unsolidarisch die Grenzen für Monate geschlossen worden, oft mit wenig Empathie und Hilfsbereitschaft zum Beispiel gegenüber Italien.

Es war sozusagen ein solidarisch-unsolidarisches Verhalten, was ein Licht auf die Stärken und Schwächen der Solidarität wirft, die auf große Gruppen ebenso bezogen ist wie sie aus spontaner Hilfsbereitschaft entstehen kann. Wir haben es heute in der Krise mit der großen verrechtlichten Solidarität des Sozialstaates (Kurzarbeitergeld z. B.) ebenso zu tun wie mit einem breiten Spektrum spontaner und kreativer Solidarität Einzelner und kleiner Gruppen. Ebenso wird eine „außergewöhnliche Solidarität“ (Merkel) beschworen, wie sie gegenwärtig für die riesigen schuldenfinanzierten Wiederaufbauhilfen für EU-Europa gebraucht wird.

All diese Solidaritäten sind auf Einheiten verschiedener Art bezogen. Welche Einheit feiern wir also diesen September und Oktober nach dreißig Jahren der Einheit? Natürlich die staatliche Einheit, nachdem 1990 die „Fahne der Einheit“ am Reichstagsgebäude hochgezogen worden ist; dann auch den Stand der inneren Vereinigung zwischen Ost und West; nicht vergessen dürfen wir die Bundessolidarität der 16 Länder; vielleicht sollten wir auch die „erwachsene Nation“ (Schröder), die ihre Interessen zu vertreten weiß, feiern, sowie und vor allem die Einheit in der größer gewordenen Vielfalt, sei es in der Stadt Potsdam, sei es in der Region, der Nation und in Europa.

Solidarität heißt in der Philosophie des französischen Solidarismus der Dritten Republik (1870–1940) eine gesellschaftliche Moral der „Versicherungsgesellschaft“, der „sozialen Demokratie“ und des „Vorsorgestaates“, während Freiheit und Toleranz die philosophische Quintessenz des Liberalismus sind, der die größtmögliche Freiheit anstrebt. Dieser Konflikt zwischen Solidarismus und Liberalismus bricht nun wieder deutlich hervor im Umgang mit den Lockerungen in der Coronakrise. Dabei hängt alles davon ab, wie man Freiheit als zentralen Wert versteht. Die (kantische) Autonomie spielte beim Lockdown keine Rolle. Es war reines Regierungshandeln mit Verordnungen, Ausnahmesituation und Notrecht.

Isaiah Berlin (1969) unterscheidet in der Nachfolge von Benjamin Constant (1819) zwischen positiver und negativer Freiheit. Für den Liberalismus postuliert er eine Priorität der negativen Freiheit (Freiheit von). Wenn es tatsächlich vor allem um diese Freiheit geht, so kommt es zu einem schwer überbrückbaren Konflikt mit der gesellschaftlichen Solidarität. Ab Rousseau und Kant wird Freiheit positiv gefasst (Freiheit zu), teils mit antiliberaler Stoßrichtung, teils aber auch Liberalismus-konform. Wird Freiheit in dieser Weise etwa als Autonomie verstanden und Solidarität als wechselseitige Anerkennung von Subjekten, die ihr Handeln an der Autonomie ausrichten, ist es nicht mehr weit zur Solidarität, wie sie Axel Honneth in den Spuren eines (kantianisierenden) Hegel als höchste Stufe der Anerkennung bezeichnet hat.

Allerdings meine ich, dass Solidarität insofern von Anerkennung unterschieden ist, als ihr ein spontanes Gefühl des Mitleids und der Hilfsbereitschaft sowie eine Ethik des Könnens zugrunde liegt, welches der Anerkennung fehlt. Beides macht die moderne Solidarität aus, die freiwillig bleibt und wechselseitig wirksam sein soll. Insofern schließen sich auch Individualismus und Solidarität nicht aus. Gleichwohl birgt Solidarität keine Garantien von Unerschöpflichkeit, nicht einmal von Beständigkeit. So wie die Toleranz bleibt sie eine stets neu auszuhandelnde Größe und bewegt sich nicht selten im Spannungsfeld von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik.

Das Motto „Wir miteinander“ für den Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 2020 ist zu banal. Jeder Fußballverein kennt es, was es nicht abwertet. Aber Deutschland, die Stadt Potsdam oder Europa sind keine Fußballvereine. Freiheit, Toleranz und Solidarität als anspruchsvoller Haupttitel, quasi zur Erklärung des Untertitels „Wir miteinander“ wäre angemessener. Er würde zumindest zum Nachdenken anregen: Wie verstehen wir heute Freiheit, Toleranz und Solidarität und vor allem, wie verbinden wir sie miteinander?

2. Oktober 2020

Potsdams Botschaft von der Einheitsfeier

Am 2. Oktober 2020 fand eine besondere Aktion vor der Leinwand der Stadt Potsdam „Toleranz und Solidarität“ beim Filmmuseum statt. Der EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm und Oberbürgermeister Mike Schubert führten eine gemeinsame Veranstaltung zur Seenotrettung und zur Situation in Moria durch. Auf Bannern stehen die Namen der 194 Städte und Landkreise, die bereit sind, mehr Geflüchtete aufzunehmen, aber bisher daran gehindert werden.

2019 bildete sich das Bündnis „Städte sicherer Häfen“ auf Initiative von „Seebrücke“ für die Seenotrettung. Es ging darum, sich auszutauschen und gemeinsam stark zu werden, um mit einer Stimme gegenüber der Bundesregierung sprechen zu können. Eine eigenständige Politik der Städte ist weder im föderalen System noch in Europa vorgesehen, obwohl die Städte seit je die zivilen Netzwerke eines Europa von unten bilden. Heute sind sie auch die Stiefkinder des Föderalismus geworden, was der gesellschaftlichen Wirklichkeit in keiner Weise mehr entspricht. Dabei gibt es Städtenetzwerke, die transregional und transnational sehr produktiv auf verschiedenen Politikfeldern sind: Klimaschutz, neue Mobilität, gegen Rassismus, für neue Integrationskonzepte usw.

Jahrelang war das Koordinationsbüro der „Europäischen Städtekoalition gegen Rassismus“ in Potsdam angesiedelt. Seit 2019 übernimmt Potsdam die Koordinierung des Städtebündnisses „Sichere Häfen“. Zu den Erstunterzeichnern der „Potsdamer Erklärung“ gehören unter anderen: Berlin, Greifswald und Rostock. Sie treten mit der klaren Forderung an die Regierung heran, dass der Bund die freiwilligen Hilfsangebote ermöglichen soll, was auch ein Akt demokratischer Subsidiarität wäre, die man auf Europa ausweiten könnte. Die Notsituation gebietet es, und die praktische Solidarität ist vorhanden.

„Wir Städte sichere Häfen“ ist auch ein bürgerschaftliches Wir im Sinne einer tatkräftigen politischen Einheit. Oberbürgermeister Mike Schubert hat treffend von moralischem Pragmatismus gesprochen (PNN, 22.9.2020). Solidarität ist auch eine Ethik des Könnens. Eine eigenständige Politik der Städte ist möglich aufgrund initiativer Bürgermeister, politischer Mehrheiten, lebendiger Zivilgesellschaft, Ressourcen und Traditionen. Die Tradition des Potsdamer Toleranzedikts bedeutet: Flüchtlingen in der Not auch auf eigenen Wegen rechtzeitig zu helfen.

Ich bewundere das Edikt von Potsdam 1685, das kein Toleranzedikt war, weil es rechtzeitig kam und subversiv war im damaligen Europa. Seine 14 Punkte waren von A bis Z durchdacht und boten Perspektiven, die grösstenteils eingelöst wurden. So etwas schaffen wir heute nicht mehr, dennoch haben wir seit 2015 viel geschafft. Und wir können es weiterhin, tolerant und solidarisch, schaffen auf einer konfliktiven demokratischen Grundlage mit einem neuen verbindenden Toleranzedikt.

2021

Bürgerbeteiligung und Demokratie

Was hat die Christdemokratie ideenpolitisch noch zu bieten?

„Wir können es besser“

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Welchen Bürgerglauben braucht die Demokratie?

Bundesrepublikanische Zivilreligion

Die Rechte künftiger Generationen

Reflexive Staatsfähigkeit

Positionen und Konstruktionen

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Die Liberalen wollen mitregieren

Nüchterne Wechselstimmung

Die Schweiz als Antithese?

Der (mögliche) Integrator?

Wenn Staaten versagen, müssen Städte handeln

Wozu Staaten? Der „gute Staat“ und seine Funktionen

Ressentiments (die immer nur die anderen haben

)

Einfach, aber schwer

Demokratiepolitik

Die neue Regierungskoalition ist offen

Toleranzedikt als Stadtgespräch

Orientierung vs. Ideologie. Seine wichtigste Rede

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Bürgerbeteiligung als Demokratiestärkung

Richtungsentscheidung: Bürgerliche oder linke Regierung?

Wie regieren?

Rot oder schwarz in grünen Zeiten

Ist die Linke besser als sozialliberal?

Finale furioso

Die Wahrheit liegt in der Urne

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Neustart für Deutschland?

Die Fortschrittskoalition und ihre Idee des Fortschritts

Sozial-liberal-ökologisch. Geht das?

Toleranz als Stärke und die Selbstaufgabe durch Toleranz

Aufbruch, kein Bruch: Die neue Regierung des Fortschritts

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Unbedingte Solidarität?

Neuer Schwung in der Sozialdemokratie

Regierung und Opposition

Ein Repräsentant der bundesrepublikanischen Zivilreligion

10. Januar 2021

Bürgerbeteiligung und Demokratie

Von einer neuen Struktur der Bürgerbeteiligung ist es ein weiter Weg zu einer neuen politischen Kultur der Bürgerschaft, denn diese kann weder verordnet noch einfach organisiert werden. Sie muss vielmehr in Lernprozessen allmählich wachsen, befestigt und verteidigt werden. Das Wort „Beteiligungskultur“ täuscht über vieles hinweg. Allgemein kann man sagen, dass bürgerschaftliche Kultur nicht-herrschaftlich, sondern freiheitlich-bürgerschaftszentriert und chancenorientiert ist. Das heißt noch nicht, dass es Chancengleichheit einfach gibt. Primär geht es um die Eröffnung von Beteiligungsangeboten und Chancengerechtigkeit. Zur modernen Kultur gehören heute politisch gesprochen Bürgersouveränität, demokratische (Parteien-)Politik, Gewaltenteilung und eine veränderte Verwaltungskultur, die mit Bürgerinitiativen und Protesten umgehen kann.

Die Rolle der Politiker und Parteien ändert sich in diesem Gefüge, zu dem sie selber mehr beitragen können und müssen, denn die Zukunft der Parteiendemokratie selber ist offen und gefährdet. Überdies ersetzt auch die zunehmend professionalisierte Bürgerbeteiligung weder die Parteien noch die aktive Bürgerschaft. Letztere nimmt oft nicht einmal zur Hälfte an Wahlen teil, zudem sind ihr oft die Hürden der direkten Demokratie zu hoch und zu anstrengend. Nur weil viel von Bürgergesellschaft die Rede ist, ist diese politisch noch lange nicht zahlreich und stark genug. Diskurs und Realität sind nicht dasselbe. Oft kompensiert Ersterer, was Letzteres nicht zu bieten hat. Zudem sind ein kluger Parteienwettbewerb, ein friedlicher Machtwechsel und die konsensuale Regierungsbildung in neuen Koalitionen keineswegs historische Selbstläufer. Mit einer verbesserten kommunalen Demokratie haben wir also noch lange nicht die ganze moderne repräsentative Wähler- und Parteiendemokratie im Auge, ebenso nicht die schwierigen Probleme demokratischen Regierens heute.

Folgende Semantiken von Demokratie (Definitionen, Selbstverständnisse und Ansprüche zugleich) sind im Umlauf:

Demokratie als Staatsform

Wahl- und Parteiendemokratie

Demokratie als Prozess

direkte Demokratie (Volksabstimmungen)

gelebte Demokratie im kleineren Kreis.

Wichtig für angehende Bürger sind Orte für eine Demokratie von unten, wo sie eingeführt und selber aufgebaut werden kann. Hier beginnt die Erfahrung der demokratischen Selbstwirksamkeit, hier endet aber die Demokratie nicht. Potsdam hat in den vergangenen zehn Jahren sukzessive Elemente eingeführt, beginnend mit dem Bürgerhaushalt. Wie der Verfahrensmonitor belegt, sind sie im diachronen Vergleich zu 2005, als sich Potsdam programmatisch „auf den Weg zur Bürgerkommune“ machte, zahlreicher und vielfältiger geworden. Auch der Überblick für die Bürger, siehe nur die Webseite und den Newsletter der Landeshauptstadt zur Bürgerbeteiligung, ist transparenter und nachvollziehbarer geworden. Insofern hat ein sichtbarer Schub stattgefunden.

Allerdings sind die verschiedenen Verfahren noch nicht in der breiten Bürgerschaft bekannt und wirklich verankert. Zudem besteht kein notwendiger Zusammenhang zwischen Partizipationsoffenheit und Partizipationsbreite. Man kann das auch das „Beteiligungsparadox“ nennen. Das soll hier nicht quantitativ kritisiert werden, sondern es liegt vor allem daran, (a) dass derzeit eher zu viel als zu wenig und vor allem zu viel gleichzeitig versucht wird und (b) dass die Unterschiede zum Beispiel zwischen Bürgerdialog, Bürgerbefragung, Bürgerbeteiligung, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid als auch (c) die Zusammenhänge etwa zwischen der Stadtverordnetenversammlung und neuen Beteiligungsverfahren noch zu wenig in den Köpfen verankert sind. Bei (a) darf man sich nicht überfordern sowohl in zeitlicher wie sachlicher Hinsicht, (b) und (c) sind ausbaufähig, was allerdings Geduld und Beharrlichkeit voraussetzt. Bürger und Bürgerinnen können sich künftig bei einem Beteiligungspool anmelden, sie sind dann nicht nur „ausgeloste“, sondern immer auch besonders „engagierte“ Bürger und Bürgerinnen, die sich für ihre Stadt interessieren. Dabei handelt es sich inzwischen allgemein um einen verstärkten Einsatz von zufallsbasierten Verfahren in der Bürgerbeteiligung auf allen Ebenen, künftig auch auf der europäischen. Diese Verfahren sollen die Zahlen der Teilnehmenden erhöhen und soziale Selektivität abbauen. Ob damit auch die Legitimation durch Beteiligung gesteigert wird, ist fraglich. Mit neuen Formaten wie Bürgerräten zum Beispiel, die aus Irland kommen, wird inzwischen auch in Deutschland (etwa in Leipzig oder Berlin) experimentiert. Das ist auf jeden Fall sinnvoll, wobei man aufpassen muss, dass sie nicht zu Audienzen für die Regierenden werden (wie die Bürgerkonvente in Frankreich).

Die formellen wie die nicht-formellen Verfahren haben je spezifische Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen. Nicht alles ist möglich, und nicht alle Grenzen können auf einmal überwunden werden. Also kommt es auf die Spezifität und die Relationierung an, wenn bestimmte Ziele verfolgt werden. Politisches Handeln ist intentional, gleichzeitig aber auch ziel- und wertorientiert sowie verfahrensinnovativ, was man prozedurale Politik nennen kann. Insbesondere im Krisenmodus wird prozedurale Politik wichtiger. Ebenso wichtig ist aber auch eine kognitive Landkarte in den Köpfen der Bürger, Politiker und Verwalter. Sie sichert eine bessere Orientierung im Denken gerade auch über Demokratie, so dass ihre Rationalität nicht verloren geht. Neben der besseren Nachvollziehbarkeit in der heterogenen Bürgerschaft muss darüber hinaus die bessere Abstimmung der verschiedenen Elemente der Bürgerbeteiligung untereinander sowie mit den herkömmlichen demokratischen Institutionen ein hauptsächliches Ziel bleiben. Demokratiestärkung durch Demokratiepolitik bleibt das Anliegen.

Nur wenn diese Unterschiede erkannt und die Zusammenhänge verstanden sind, können sie für die Bürger als Politiker und die Politiker/Verwaltung als Bürger zu einem „Werkzeugkasten der Demokratie“ werden, der fallweise eingesetzt, ergänzt und sukzessive verbessert wird. Die Machtteilung durch eine effektive und breite Bürgerbeteiligung liegt im eigenen Interesse der Politik, insbesondere auch der Parteien und ihrer Vertreter sowie der Verwaltung, um eigenen Überforderungen in sachlicher, sozialer und zeitlicher Hinsicht entgegenwirken zu können, was noch immer nicht genügend erkannt ist. Auch gibt es Ängste, Macht zu teilen und zu verteilen, nicht nur in der Verwaltung. Die neue Ausbalancierung der Macht hilft aber mit, das Politische im demokratischen Sinne von Teilnahme und Teilhabe zu stärken. Wie Partizipation so verlaufen diese Verknüpfungen und Synergieeffekte nicht automatisch, sie müssen vielmehr von verschiedener Seite erkannt, gesucht und erstritten werden. Sie werden werden allerdings auch umstritten bleiben. Streit gehört zur Demokratie.

Ebenso wenig wie die direkte Demokratie einfach ist, obwohl sie relativ schnell viel entscheiden kann, was für die meisten ihre Attraktivität ausmacht, kann man die neuen Verfahren einfach in ein System bringen. Deshalb plädieren wir dafür, begriffliche Unterscheidungen zu machen, um kognitive Zusammenhänge herzustellen, und zwar im praktischen Erkenntnisinteresse demokratischer Regierbarkeit. Diese muss nicht immer und überall neu erfunden werden, denn die einzelnen Elemente sind vorhanden. Sie muss aber stets neu gefunden und zusammengesetzt werden. Demokratisches Regieren beruht nicht einfach auf generellen Regeln, die oft nichtssagend sind. Vielmehr ist vom werkstadtspezifischen Charakter der verschiedenen Orte, Regionen und Länder, die alle ihr Geschichte und ihre eigenen Probleme haben, auszugehen. Das wiederum heißt nicht, dass man nicht voneinander lernen kann – im Gegenteil. „Glokalisierung“ im doppelten Sinne der Verbindung von global und lokal sowie einer transnationalen Politik der Städte, Regionen und Staaten ist die universale Strategie, die von überall her auf unterschiedliche Weise durchführbar ist.

Die neuen informellen Verfahren prozeduraler Politik sollen zu besseren und konsensfähigeren Lösungen auf allen Ebenen führen. Mit dem bisher umfangreichsten Beteiligungsprozess strengte zum Beispiel die Stadt Potsdam als wachsende Stadt ein neues Leitbild 2025 an, welches schließlich an alle Haushalte verteilt worden ist. Es ist das erste Leitbild, das im September 2016 mit großer Mehrheit von der Stadtverordnetenversammlung bestätigt worden ist. Es benennt ausführlich, wie Potsdams Einwohner und Einwohnerinnen in den nächsten Jahren miteinander leben wollen. Der Titel ist programmatisch: „Eine Stadt für Alle“. Dabei geht es um 26 Thesen. Sie beziehen sich auf „Die innovative Stadt, „Die produktive Stadt“, „Die Wissensstadt“, „Die wachsende Stadt“, und „Die lebendige Stadt“. Dieses Leitbild bildet die oberste Ebene einer „strategischen Steuerung“, die sich auf verschiedenen Ebenen vollzieht. Daraus leiten sich die gesamtstädtischen Ziele ab, aus denen wiederum konkrete Schwerpunkte für die Haushaltsplanung entwickelt werden. Auf der untersten Ebene stehen die themenbezogenen Maßnahmen, die von der Verwaltung umgesetzt werden.

Die neun gesamtstädtischen Ziele, die im Sommer 2018 entwickelt wurden, setzen die Prioritäten: Digitales Potsdam, Wachstum mit hoher Lebensqualität, antizipatives Flächenmanagement, Bildungsinfrastruktur (Schulen, Kitas) usw. Die Ziele fußen auf dem Leitbild. Sie sehen vor, die Bürgerbeteiligung zu stärken, im Haushalt kontinuierlich Eigenmittel zu erwirtschaften und die Neuverschuldung zu begrenzen. Die IT-Infrastruktur soll ausgebaut werden, ebenso geht es um die Balance von Ökologie, Sozialverträglichkeit und wirtschaftlicher Entwicklung. Zudem soll für die Beschaffung von bezahlbarem Wohnraum und einer nachhaltigen Quartiersentwicklung gesorgt werden. Die gesamtstädtischen Ziele verbinden den Haushalt, auch den Bürgerhaushalt, mit dem Ansatz der strategischen Steuerung. So können sich die Planungen stärker auf die wichtigen Aufgaben für die Bürgerinnen und Bürger konzentrieren, was diese freilich weiterhin begleiten und überprüfen müssen. Vor allem die Planungswerkstätten für die integrierte Stadtentwicklung (INSEK), an denen der Beteiligungsrat mitwirkt, dienen dazu. In der Planungswerkstatt „Golm-Eiche-Bornim-Bornstedt“ beteiligten sich am 5. März mehr als 70 Bürgerinnen und Bürger. Auch in der Kulturscheune Marquard beteiligten sich viele, um über die Entwicklungen in Fahrland und Krampnitz zu diskutieren. Sobald alle Planungs werkstätten stattgefunden haben, werden die Ergebnisse in einem Planungsforum zusammengeführt (www.potsdam-de/IN-SEK). Hier wird sich erweisen, wie stark Bürgerbeteiligung wirksam ist. Die Vorschläge zum Potsdamer Bürgerhaushalt für die Jahre 2020 und 2021 sollen möglichst dem Leitbild sowie den gesamtstädtischen Zielen zugeordnet werden. Dieser Prozess ist nun durch die Corona-Krise erheblich verzögert und erschwert worden.

Die demokratische Legitimität einer noch so vielfältigen und kraftvollen Politik der Bürgerbeteiligung ist in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Der von uns referierte und reflektierte Schub an Bürgerbeteiligung (am Beispiel von Potsdam) reagiert auf Defizite der Wähler-, Parteien- und Verbändedemokratie. Zugleich hat dieser Schub Verbindungen mit der Parteien- und Grundrechtedemokratie sowie vor allem auch mit der „Protestgesellschaft“ (vereinfacht gesagt) seit den sechziger Jahren, deren Legitimität von der einklagbaren Grundrechtedemokratie abgeleitet ist. Diese Relationen können und sollen sich wechselseitig verstärken, sie können aber auch auseinanderfallen und in Konflikt geraten bis hin zum „Systemkonflikt“, beispielsweise zwischen „direkter Demokratie“ und „Grundrechtedemokratie“ oder „Protestdemokratie“ und „repräsentativer (Parteien-)demokratie“. Politische Bildung und Urteilskraft, die in Relationen denken, sind hier herausgefordert. Sie brauchen freilich Lernprozesse und Erfahrungen, um sich zu entwickeln – die Schule der Demokratie. Normativ hat für uns die Verfassung als Programmatik für eine verfassungsdemokratische Bürgergesellschaft und ihre lernfähige Demokratie einen Vorrang. Sie ist das umfassendste und oberste Konzept einer bürgerschaftszentrierten demokratischen politischen Theorie und enthält die verschiedenen Elemente der Demokratie, die ausbaufähig sind.

Jedes dieser Elemente hat eine eigene Legitimitätspolitik:

Grundrechtedemokratie; sie hat höchste Legitimität;

repräsentative (Parteien-)Demokratie; sie hat eine hohe Legitimität;

direkte Demokratie; sie hat eine hohe und manchmal höchste Legitimität;

Protestdemokratie; sie hat eine abgeleitete und nicht verfasste Legitimität;

informelle Bürgerbeteiligung; sie hat eine abgeleitete und nicht verfasste Legitimität.

Mit Bürgerbeteiligung und Demokratie geht es uns um eine verbesserte und ergänzte Legitimitätspolitik der repräsentativen Wähler- und Parteiendemokratie, die deutliche Defizite aufweist. Die Wahl bleibt aber nach wie vor die wichtigste Institution demokratischer Legitimation. Die verschiedenen Ersatz-Legitimitäten vermögen diese nicht zu ersetzen. Die demokratischen Revolutionen von 1989 standen im Zeichen demokratischer Legitimität. Uns geht es heute um eine nachhaltige, verbesserte und ergänzte Legitimitätspolitik der repräsentativen Wähler- und Parteiendemokratie. In unserer schematischen Übersicht fehlen freilich noch die „Legitimität des Wirtschafts- und Finanzsystems“ ebenso wie das Mediensystem, einschließlich Internet, sowie der Zustand der Öffentlichkeit, für die alle eine eigene Spalte reserviert und diskutiert werden müsste. Ob Wahlen und Abstimmungen in diese Bereiche ausgedehnt werden können, bleibt eine offene Frage. Außerdem betrifft die Verbesserung der Bürgerbeteiligung, einschließlich der Wahlbeteiligung, nicht nur die Frage der demokratischen Legitimität, sondern ebenso die Frage der sinnvollen Tätigkeiten in einer Zeit unendlicher Vermarktung. Dafür wäre der Begriff des bürgerschaftlichen Engagements sowohl über das Politische wie auch über das Bildungsbürgerliche hinaus zu erweitern und neu zu definieren.

Unser vielfältiges Spektrum der Beteiligung bewegt sich zwischen den beiden gleichermaßen positiven Polen Regierungskunst und Basisaktivierung. Dabei entstehen kombinatorisch neue Elemente der Regierungskunst ebenso wie neue Formen der Aktivierung und Beteiligung. Unser Erkenntnisinteresse gilt der besseren demokratischen Regierbarkeit, vor, in und nach der Krise. Die demokratische Regierbarkeit besteht in einer jeweils problemlösungsorientierten und konstruktiven Kombination der Demokratieelemente, denn Regierungskunst ist nicht per se demokratisch und liberale ebenso wie Bürgerbeteiligung nicht per se demokratisch und liberal ist. Der grundgesetzliche Minderheitenschutz zum Beispiel muss beachtet werden; nicht über alles kann jederzeit abgestimmt werden, wenn Bürgerrechte ernstgenommen werden. Grundrechte stehen nicht einfach zur Disposition von Mehrheitsentscheidungen. Das Asylrecht zum Beispiel kennt grundrechtlich keine Obergrenze. In der Schweiz diskutiert man gegenwärtig – nach den Erfahrungen mit der Minarett-Verbotsinitiative –, wie Texte von Volksinitiativen besser mit völkerrechtlichen Anforderungen zu vereinbaren sind, etwa durch die Prüfung von Verfassungsrichtern. Dies würde die direkte Demokratie nach schweizerischem Vorbild mit dem Volk als Souverän der Grundrechtedemokratie nach bundesrepublikanischem Muster annähern. Legitimitäts- und Verfassungskonflikte bleiben deswegen nicht ausgeschlossen. Sie werden die Demokratiekonflikte in der Demokratie weiterhin begleiten. Eine lernende Demokratie bleibt die Aufgabe.

16. Februar 2021

Religionspolitik und Toleranz

Der französische Islamrat hat nach den entsetzlichen Attentaten auf den Lehrer Samuel Paty in Paris und auf Mitglieder einer Kirchengemeinde in Nizza eine Grundsatzcharta unterschrieben, die Staatspräsident Macron seit seiner Rede gegen „islamistischen Separatismus“ im Oktober 2020 gefordert hatte. Parallel dazu wird ein Gesetzesentwurf „zur Stärkung des Respekts vor den Prinzipien der Republik“ diskutiert, der weitgehende Maßnahmen von Seiten des Staates bzw. der Präfekten vorsieht, bei denen alle Religionsgemeinschaften, also auch katholische, protestantische und jüdische, Kollateralschäden für die Religionsfreiheit befürchten, weil sicherheitspolitische Aspekte überwiegen.

Zum einen birgt dies die Gefahr eines Generalverdachts gegenüber den geschätzten fünf bis sechs Millionen Muslimen in Frankreich, die ihren Glauben praktizieren, und den weit mehr „culture musulmane“. Zum anderen existiert die reale Gefahr des islamistischen Extremismus. Seit dem Angriff auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 und den koordinierten Terroranschlägen am 13. November desselben Jahres in Paris mit 130 Toten steht Frankreich unter Schock. Die Lage bleibt gesellschaftlich und politisch, selbst an Schulen und in der Lehrerschaft aufs Äußerste angespannt. Am 16. Dezember 2020 fand der bisher größte, historisch genannte Prozess wegen islamistischer Anschläge mit harten Urteilen seinen Abschluss.

Die „Charte des principes“ anerkennt das Laizitätsprinzip (1905) und die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Sie verwirft jegliche politische Instrumentalisierung des Islam und die Einmischung fremder Staaten, etwa bei der Ausbildung der Imame. Der Conseil francais du Culte musulman (CFCM) repräsentiert jedoch nur einen Teil der französischen Muslime, weshalb seine Legitimität umstritten ist. Er steht für die eher konservativen Islamverbände der Einwandergeneration (Algerier, Türken u. a.). Der Staat hat im Wesentlichen die Charta formuliert, und die Islamverbände wollten nicht abseitsstehen. Wie weit sie aber innerlich dahinterstehen, ist eine andere Frage. Und wie ist das Verhältnis der Jungen zur Moschee der „Alten“? Woran orientieren sie sich? Beobachter stellen eine Abkehr von der organisierten Religion fest – wie fast überall. Jüngere Generationen informieren und radikalisieren sich übers Internet. Die dritte Einwanderergeneration ist heute in Frankreich schlechter integriert als ihre Eltern, und das ist nicht primär ein religionspolitisches, sondern ein gesellschaftliches Problem, wie es zum Beispiel in den Pariser Vorstadtunruhen im November 2005 manifest geworden ist.

Die Imamausbildung – der Einfluss der Prediger – ist das eine Thema, wie jüngst auch beim Islamrat in Deutschland, und die Radikalisierung bzw. De-Radikalisierung ist ein anderes Thema. Auch bei den österreichischen und deutschen Moscheen gibt es den Verdacht: Was wird gepredigt, und in welcher Sprache soll dies geschehen? Im französischen Fall könnte man auch sagen, dass der Staat etwas durchzusetzen versucht, eine Art islamischer Zivilreligion bzw. genauer: die französische Bürgerreligion. Das war auch bei Rousseaus Zivilreligion am Schluss des Gesellschaftsvertrags (1762) so. Ein paar für die damalige Zeit selbstverständliche (christliche) Annahmen für die „Gesinnung eines Miteinander“ (sentiments de sociabilité) sollten das Ganze innerlich zusammenhalten: Existenz einer Gottheit, zukünftiges Leben, das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen sowie die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze.

Hinzukommt das Verbot der Intoleranz beziehungsweise das Gebot der Toleranz, aus der – wie bei Locke (1689) – die Katholiken und die Atheisten ausgeschlossen waren, was lange nachwirkte und bis heute in der politischen Kultur der USA prägende Folgen hat. Auch unsere Toleranz ist selbstverständlich die Toleranz unserer Zeit, selbst die liberale Toleranz ist nicht nur tolerant. Sie eröffnet vielmehr Spielräume der Freiheit, der freilich die zivile Tugend der Toleranz entsprechen muss.

Rousseaus Zivilreligion war nicht als Staatsreligion (etwa als katholische, orthodoxe oder islamische) gedacht, und diese bürgerliche Religion, genauer: Religion des Bürgers, war für Rousseau auch nicht die eigentlich christliche Religion. Diese findet sich vielmehr im Bekenntnis des savoyardischen Vikars im „Emile“ (1762). In der Nachfolge des Jesus von Nazareth, dem Anti-Politiker, war mit diesem persönlichen Glaubensbekenntnis kein widerstandsfähiger Staat zu machen. Allerdings auch keine hierarchische katholische Kirche, mit der Jesus nicht rechnete, denn er erwartete das Gottesreich. In diesem Punkt dachte Rousseau als politischer Theoretiker ähnlich wie Machiavelli über die christliche Religion, die funktional nicht brauchbar und politisch unzuverlässig schien, weshalb sie sich als Moral der neu begründeten Politik unterzuordnen hatte. Machiavelli stand dabei als Extrembeispiel der religiöse Terror des Dominikaners Savonarola in Florenz vor Augen (1494–98).

Bei Rousseau gibt es indessen explizit verschiedene Verständnisse von (christlicher) Religion. Das Verhältnis zwischen Politik und Religion ist deshalb komplizierter, was wiederum für unsere heutige Diskussion lehrreich ist. Halten wir also zumindest folgende Unterscheidungen fest:

Staatsreligion

kirchlich organisierte Religion

persönliches Glaubensbekenntnis

Zivilreligion als Religion des Bürgers

Rousseau war als Person wie als Theoretiker zwiegestalten, was sich in seiner politischen Theorie und in seiner Pädagogik spiegelt. Er entdeckt, lebt und reflektiert die moderne (Aussteiger-) Subjektivität in seinen „Bekenntnissen“ und „Träumereien“, was – neben politischer Theorie und Pädagogik – sein dritter wirkungsmächtiger Beitrag zum Diskurs der Moderne über die Moderne ist. Genauso orientiert er sich aber in seinen kulturkritischen Schriften (1750/1755) an der antiken Polis und ihren tugendhaften Bürgern, womit er aus dem Kreis der damaligen französischen Aufklärer herausfällt. Die Dialektik des Fortschritts ist schon sein Thema.

In der Systematik seines „Contrat social“ (1762) versucht er eine Vermittlung zwischen der natürlichen Existenz der modernen Subjektivität, die er lebt und gegen die höfische Gesellschaft seiner Zeit formuliert, und der politischen Existenz des Citoyen, der Teilhaber der souveränen Gewalt ist. Das „missing link“ zwischen natürlicher und politischer Existenz (Spaemann) ist die „religion civile“. Davon gibt es bis heute verschiedene Varianten. Ob auch die Demokratie aus affektpolitischen Gründen eines solchen nicht-kirchlichen, transkonfessionellen (Bürger-)Glaubens bedarf, ist die Frage, die hier allerdings nicht unser Thema ist. Wir wollen uns hier primär noch einmal mit der Seite der Religionen selber beschäftigen, und die spezielle Frage aufwerfen, welcher Religionspolitik und Toleranz es ihnen gegenüber bedarf.

Woran müssen heute alle glauben können? An die Verfassung. Und diese müsste mit ihren niedergeschriebenen Normen als oberste Rechtsebene bei allem Interpretationsstreit eigentlich deutlich genug sein. Juristen sagen, was Verfassungsrecht sei, bestimmt letztlich das Verfassungsgericht. Man könnte aber auch von einer Zivilreligion der Menschenrechte, von der Zivilreligion der Gleichheit oder von der Zivilreligion der Würde, des Individuums oder der Person sprechen. Letzteres steckt auch im Liberalismus (durchaus von Locke ausgehend), der heute zu einem großen Teil nicht mehr religiös ist. Genese und Geltung haben sich getrennt. Viele Liberale geben sich deshalb zurecht mit einem rechtlichen Zustand, der friedensfähig ist, zufrieden; sie brauchen keine Religion oder sublimierte Zivilreligion. Heute existiert daher ebenso ein religionsablehnender säkularer Liberalismus, für den auch die klerikale Parallelgesellschaft der katholischen Kirche ein Dorn im Auge ist, wie ein mehr religionsfreundlicher Liberalismus.

Letzterer entspricht sicherlich nicht dem französischen Modell der Laizität, während die Religionstoleranz in den USA und Deutschland eine größere Rolle spielt. Bei der französischen Bürgerreligion geht es um die Durchsetzung republikanischer Werte von Seiten des Staates. „La Laicité n’est pas la tolérance“ (Kintzler). Kann es unter diesen Bedingungen überhaupt eine Lösung geben, die für alle Seiten befriedigend ist? Der französische Staat, der aus einer Revolution gegen die Religion, genauer: gegen die katholische Kirche und ihren Klerus, worauf sich auch Voltaires Religionsspott be zog, hervorgegangen ist, hat indes keine innere Beziehung zur Religion, was sich immer wieder zeigt, wenn heute Nation und Republik gefeiert werden, selbst beim Wiederaufbau der Kathedrale Notre Dame. Frankreich ist das Land der Atheisten und des „Esprit“, deren Schnittmenge größer sein könnte.

Die Klammer, die alles zusammenhalten soll, ist die republikanische Idee, wofür vor allem die Schulen stehen, und der Islam ist aus dieser Sicht eine Hybridreligion, die nicht wirklich zwischen Religion und Politik trennt. Es gilt deshalb, den politischen Islam als „politische Religion“, was begrifflich und inhaltlich noch einmal etwas anderes ist als „Zivilreligion“, die als Liberalitätsgarant wirken soll, zu stoppen. Ein Euroislam oder gar ein französischer Islam kann auf diesem Boden nicht gedeihen. Eine nationale Identitätsstiftung hat auch in der arabischen Welt nicht funktioniert, der Islam blieb den Menschen als gesellschaftliches und soziales Bindemittel wichtiger. Folgende Unterscheidungen sind zu beachten:

politische Religionen (mit totalitären Zügen)

Varianten der Zivilreligion bzw. Bürgerreligion

Extremismen (religiös und nicht-religiös begründet).

Religiöse Kräfte und Einrichtungen können den Menschen – im besten Fall – nicht nur Rückhalt und Orientierung im Privaten geben, sondern sie können darüber hinaus auch positiven Einfluss auf zivilgesellschaftliche Entwicklungen und Solidargemeinschaften nehmen. Agieren sie hingegen machtpolitisch, führt dies zu rechtlich-politische Verwerfungen, im schlimmsten Fall zu theokratischen Strukturen, die an die Stelle von Liberalismus und Demokratie treten (siehe Iran). Um in modernen Gesellschaften über den Rahmen der eigenen Belange hinaus partizipieren zu können, bedürfen Religionsgemeinschaften einer Vereinbarkeit mit politischer Aufklärung. Dies kann auch über die Brücke einer Zivilreligion erfolgen.

Religiöse Reformen müssen von innen kommen, der Staat kann sie nicht deklarieren oder gar durchsetzen, er kann höchstens Rahmenbedingungen setzen und hat dafür „das Recht, zu erzwingen“ (Kant). Das hat Immanuel Kant klar erkannt. Wenn etwas getan werden muss, was innerlich abgelehnt wird, führt dies zu Frustrationen, die sich aggressiv anstauen. Hass und Gewalt sind oft die Folge. Das Problem liegt tiefer und kann nur innerhalb der Religion adressiert werden. Die Herausforderung ist in der Hermeneutik zu finden, die der Fundamentalismus mit Macht zugunsten seiner Dogmen abwehrt. Diesen Konflikt gab und gibt es in jeder Religion. Im Islam hat sich im Mittelalter eine dogmatische Theologie durchgesetzt, die sich als abgeschlossen betrachtet und das eigenständige Urteil des Gläubigen einschränkt.

Eine neuzeitliche Reformation ist im Islam ausgeblieben, eine historische Aufklärung ebenso, obwohl es an Richtungsstreitigkeiten und Kontroversen nicht fehlte. Die islamische Theologie hat sich dadurch versteinert und ist nur schwer zu reformieren. Der Fundamentalismus sitzt politisch-theologisch auf dem traditionellen orthodoxen Islam auf und radikalisiert dessen antimoderne Tendenz. Die dogmatisch-objektivistische Hermeneutik, die es freilich nicht nur im Islam gibt, lässt sich deshalb durch eine kritische Hermeneutik nur schwerlich aufbrechen. Aufklärung kann man jedoch nicht von außen herantragen, sondern sie muss bei den Gläubigen und ihren Gemeinden selber beginnen. Aufklärung und Religion schließen sich nicht prinzipiell aus, ebenso wenig wie Aufklärung und Tradition, eine kritische Traditionsaneignung ist möglich. Nicht jede Irritation einer schnell gekränkten Gesellschaft muss gleich beseitigt werden.

Die religionspolitischen Probleme, obwohl von unterschiedlicher gesellschaftlicher Brisanz und Größe, sind in Frankreich und Deutschland ähnlich, doch die Herangehensweise ist verschieden. Es handelt sich systematisch um unterschiedliche Trennungssysteme und Rollenzuschreibungen zwischen Religion und Politik. Die Voraussetzungen sind in den USA aus historischen Gründen noch einmal andere: „Amerika, Du hast es besser“ (Lübbe 2016). Religionspolitisch, denn die USA sind nicht laizistisch, im Gegenteil: die Religionen blühen öffentlich und vielfältig auf, und sie sind auch nicht durch ein deutsches Staatskirchenrecht eingeengt. Dieses wirft besondere Probleme auf, so dass das Thema „neue Religionspolitik“ (insbesondere gegenüber dem Islam mit 5,4 bis 5,7 Prozent Bevölkerungsanteil) hier aufkommt, während die evangelische und katholische Kirche jede zivilreligiöse Messe der offiziellen Bundesrepublik obligatorischer Weise begleiten. „Grundwerte als Zivilreligion“ (Luhmann) ist nicht zufällig ein bekannter deutscher Titel, der inhaltlich dazu passt. Und die öffentliche Theologie ist stark protestantisch geprägt.