Über das Meer - Wolfgang Bauer - E-Book

Über das Meer E-Book

Wolfgang Bauer

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Beschreibung

Vor unseren Augen spielt sich eine doppelte humanitäre Katastrophe ab: Der syrische Bürgerkrieg fordert nach wie vor zahllose Menschenleben. Millionen Syrer sind auf der Flucht. Einige von ihnen wagen von Ägypten aus die Überfahrt nach Europa. Bei diesem Unterfangen sterben Jahr für Jahr Hunderte Menschen, das Mittelmeer ist damit die gefährlichste Seegrenze der Welt. Der "Zeit"-Reporter Wolfgang Bauer hat syrische Flüchtlinge begleitet. In ihren Verstecken in Ägypten, im Boot, auf den Straßen Europas. Er schildert die Schicksale, die sich hinter den abstrakten Zahlen verbergen, und die dramatischen Umstände der Flucht. Ein authentisches Dokument und zugleich ein leidenschaftlicher Appell für eine humanitärere Flüchtlingspolitik.

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Vor unseren Augen spielt sich eine doppelte humanitäre Katastrophe ab: Der syrische Bürgerkrieg fordert nach wie vor zahllose Menschenleben. Millionen Syrer sind auf der Flucht. Einige von ihnen wagen von Ägypten aus die Überfahrt nach Europa. Bei diesem Unterfangen sterben Jahr für Jahr Hunderte Menschen, das Mittelmeer ist damit die gefährlichste Seegrenze der Welt.

Der Reporter Wolfgang Bauer hat syrische Flüchtlinge begleitet. In ihren Verstecken in Ägypten, im Boot, auf den Straßen Europas. Er schildert die Schicksale, die sich hinter den abstrakten Zahlen verbergen, und die dramatischen Umstände der Flucht. Ein authentisches Dokument und zugleich ein leidenschaftlicher Appell für eine humanitärere Flüchtlingspolitik.

Wolfgang Bauer, geboren 1970, arbeitet für die Wochenzeitung Die Zeit. Für seine Reportagen wurde er u. a. mit dem Katholischen Medienpreis und dem Prix Bayeux-Calvados des Correspondants de Guerre ausgezeichnet. Stanislav Krupar, geboren 1972, arbeitet als Fotograf für Magazine wie Geo, Stern und National Geographic.

Wolfgang Bauer

Über das Meer

Mit Syrern auf der Flucht nach Europa

Fotos von Stanislav Krupar

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagfoto: Stanislav Krupar

eISBN 978-3-518-73963-1

www.suhrkamp.de

Erster Teil

Der Strand I

»Lauft!«, brüllt es hinter mir, die helle Stimme eines jungen Mannes, ein halbes Kind noch, »Lauft!«, und ich beginne zu laufen, ohne viel zu begreifen, ohne in der Dämmerung viel zu sehen, ich renne den schmalen Pfad hinunter, in einer langen Reihe mit den anderen. Ich renne, so schnell ich kann, sehe auf meine Füße, die mal auf Erde aufsetzen, dann auf Stein, springe über Löcher im Boden, über Mauerbrocken, strauchele, renne weiter. »Ihr Hurensöhne!«, schreit einer der Jungen, die uns eben aus den Minibussen gejagt haben und jetzt neben uns her rennen, uns vorwärts prügeln wie Viehtreiber ihre Herde. Er schlägt mit einem Stock auf uns ein, auf unsere Rücken, die Beine. Er packt mich am Arm, reißt mich fluchend voran. Wir sind neunundfünfzig Männer, Frauen und Kinder, ganze Familien, die Rucksäcke geschultert, die Koffer in den Händen, und rennen an einer langen Fabrikmauer entlang, irgendwo am Rande eines Industriegebiets im ägyptischen Alexandria.

Vor mir hebt und senkt sich der Rücken von Hussan, 20, ein massiger Junge, das Gesicht zum Boden, er keucht, torkelt bald, er bremst mich aus, weil er nicht mehr kann, plötzlich stehenbleiben will, ich drücke ihn also von hinten voran, mit aller Kraft, schiebe ihn, bis er wieder zu rennen beginnt. Der Stock des Treibers knallt auf uns nieder. Irgendwo vor Hussan weint die 13-jährige Bissan vor Angst. Sie umklammert beim Laufen den Rucksack mit ihren Diabetes-Medikamenten. »Abschaum!«, ruft der, der uns antreibt. Hinter mir ist Amar, 50, in seiner weithin sichtbaren signalblauen Goretex-Jacke, er hat sie sich extra für diesen Tag gekauft, seine Tochter fand die Farbe schick, auch er wird immer langsamer, das Knie schmerzt, der Rücken, doch, hat er zuvor gesagt, er wird es schaffen. Er muss es schaffen. Er kommt aus Syrien, wie fast alle hier, Ägypten ist für ihn nur eine Station auf seiner Reise. Dann biegt die Mauer scharf nach links ab, und wir sehen plötzlich, ganz nah, keine fünfzig Meter entfernt, was wir uns seit Tagen erhofft, wovor wir uns seit Tagen gefürchtet haben. Das Meer. Glühend liegt es vor uns im letzten Abendlicht.

Der Fotograf Stanislav Krupar und ich haben uns syrischen Flüchtlingen angeschlossen, die versuchen, von Ägypten nach Italien zu gelangen, über das Meer. Wir haben uns Schleusern ausgeliefert, die nicht wissen, dass wir Journalisten sind. Deshalb treiben sie auch uns mit Schlägen voran, denn alles muss schnell gehen, damit die große Gruppe niemandem auffällt. Journalisten würden sie nicht mitnehmen, aus Angst davor, an die Sicherheitsbehörden verraten zu werden. Das ist das Gefährlichste für uns auf dieser Reise: von den Schmugglern enttarnt zu werden. Nur Amar und seine Familie sind eingeweiht, wer wir wirklich sind. Er ist ein alter Freund, den ich von meiner Berichterstattung über den syrischen Bürgerkrieg kenne. Verzweiflung hat ihn auf diese Reise gezwungen, er träumt davon, in Deutschland zu leben. Er wird für uns auf der Fahrt übersetzen. Wir haben uns lange Bärte wachsen lassen und uns neue Identitäten zugelegt. Auf der Reise sind wir Varj und Servat, Englischlehrer, zwei Flüchtlinge aus einer Kaukasus-Republik.

Wir sind jetzt Teil des großen Exodus. Fünfundsiebzigtausend Menschen flohen von Januar bis Juli 2014 über das Mittelmeer nach Europa, die meisten von Libyen aus. Ein Jahr zuvor waren es noch sechzigtausend. Sie stammen aus Ländern, in denen Krieg herrscht, wie Syrien oder Somalia, aus Diktaturen wie Eritrea oder sie wünschen sich ein Leben unter besseren wirtschaftlichen Bedingungen.

Die politische Ordnung des Nahen Ostens bricht in sich zusammen. In Jahrzehnten der Unterjochung haben sich enorme gesellschaftliche Spannungen angestaut. Jetzt lösen sie sich in gewaltigen Erschütterungen. Diktaturen stürzen, demokratisch gewählte Nachfolgeregierungen auch. Die Straßen Kairos füllen sich mit blutigen Demonstrationen. Jemen versinkt im Chaos, der Irak ebenso. Libyen zerfällt in Regionen, deren Milizen sich untereinander bekriegen. Doch kein Land wird so restlos zermahlen wie Syrien. Seit dem Vietnamkrieg und Tschetschenien hat die Welt ein solches Ausmaß an Zerstörung nicht mehr gesehen. Die Städte: Mondlandschaften. Die Dörfer: häufig nahezu verlassen. Seit drei Jahren führt Baschar al-Assad einen Vernichtungskrieg und setzt dabei alle Waffen ein, über die er verfügt. Auch chemische Kampfstoffe. Alawiten kämpfen gegen Sunniten, und keine Seite kann militärisch die Oberhand gewinnen. Zudem haben sich religiöse Extremisten in diesem Chaos eingenistet und predigen das Glaubensbekenntnis des Hasses.

Das Grauen Syriens ist nicht länger in Statistiken zu fassen. Die UN hat zu Beginn des Jahres 2014 aufgehört, die Toten zu zählen.

Auch der Versuch, der Gefahr zu entrinnen, wird immer gefährlicher. Eintausendfünfhundert Menschen ertrinken jedes Jahr auf der Flucht nach Italien und Griechenland. Vermutlich sind es viel mehr, weil die Leichen nie gefunden werden. Immer riskantere Routen wählen die Schmuggler, denn der Kontinent schottet seine Grenzen immer besser ab. Eine Streitmacht aus vierhunderttausend Polizisten bewacht sie. Europa hat sechs Meter hohe Zäune gebaut wie in den spanischen Exklaven Melilla und Ceuta. Bulgarien und Griechenland haben ebenfalls Bauwerke zur Abwehr von Flüchtlingen errichtet. Die Meerenge von Gibraltar hat Europa mit aufwendigen Radar- und Kamerasystemen ausgestattet. Den Atlantischen Ozean zwischen den Kanaren und Westafrika kontrolliert es ebenfalls. In die Abwehrschlacht wirft es Polizei, Soldaten und Eliteeinheiten diverser Nationen. Es setzt Helikopter ein, Drohnen und eine Flotte von Kriegsschiffen. Ein Aufgebot an Truppen und Material, als würde es eine militärische Invasion bekämpfen.

Reporter Wolfgang Bauer (links) und der Fotograf Stanislav Krupar gaben sich als Englischlehrer aus dem Kaukasus aus.

So werden Europas Grenzen wieder zu Todesstreifen.

An der Berliner Mauer der DDR wurden in fünf Jahrzehnten hundertfünfundzwanzig Flüchtlinge getötet. Sie wurde dafür von der freien Welt als Symbol der Unmenschlichkeit kritisiert. An den Mauern, mit denen sich Europa nach Ende des Kalten Krieges umgab, starben bis Frühjahr 2014 knapp zwanzigtausend Flüchtlinge. Die meisten davon ertranken im Mittelmeer. Keine Seegrenze der Welt fordert mehr Menschenleben.

Das Mittelmeer ist die Geburtsstätte Europas und mittlerweile Schauplatz seines größten Versagens.

Noch nie haben Journalisten diese Bootsfahrt von Ägypten aus gewagt, wir sind uns der Gefahr bewusst. Jeder von uns trägt ein Satellitentelefon bei sich, um im Notfall die italienische Küstenwache verständigen zu können. Wir haben uns dagegen entschieden, von Libyen oder Tunesien aus aufzubrechen. Die Entfernung nach Italien ist zwar kürzer, doch die Boote sind extrem marode. Die ägyptischen Schmuggler müssen einen weiteren Weg zurücklegen, setzen deswegen aber bessere Schiffe ein. So hieß es vor unserer Reise, so war unsere Hoffnung.

Wir waren naiv. Wir dachten, die See sei die größte Gefahr auf unserer Fahrt. Dabei ist sie nur eine von so vielen.

Der Abschied I

Eine Woche vor dem Tag, an dem wir unter Stockschlägen zum Ufer getrieben werden, steht Amar Obaid, der in Wirklichkeit anders heißt, unschlüssig in seiner Wohnung in Kairo.* Es ist Dienstag, der 8. April, der letzte Tag, den er mit seiner Familie verbringt. Seine Tochter Reynala, 17, sitzt im Elternschlafzimmer auf der Bettkante und blickt auf ihren Vater. »Was soll ich alles mitnehmen?«, fragt er vor dem offenen Kleiderschrank, die Hände in die Hüften aufgestützt. Viel darf es nicht sein. Amar hat gehört, die Menschenschmuggler würden nur Handgepäck dulden, keine schweren Koffer. »Eine warme Unterhose gegen den Wind auf dem Meer«, sagt seine Tochter. »Ein gutes Hemd«, sagt Amar. »In Italien will ich nicht wie ein Gauner aussehen.« »Das wirst du sowieso«, sagt sie, »›dir wird ein langer grauer Bart wachsen.« »Die Rettungsweste«, sagt er, streift sie aus der Verpackung, legt sie an, absichtlich verkehrt herum. Die Tochter lacht, er lacht, tänzelt um die eigene Achse. Das gemeinsame Lachen von Vater und Tochter hallt durch die Wohnung.

Zweihundertachtzig Quadratmeter, ein Empfangssalon im Barockstil, ein prächtiges Wohnzimmer mit goldbedruckter Tapete und ausladenden Sofas. Die Familie ist wohlhabend, stammt aus dem syrischen Homs, gehört seit Generationen zur Schicht der Kaufleute und Großgrundbesitzer. Doch nach Ausbruch der Revolution 2011 floh Amar mit seiner Frau und den drei Töchtern nach Ägypten. Wie viele aus seinem Clan hatte er sich früh dem Widerstand gegen Assad angeschlossen. Wäre er geblieben, hätte er sein Leben und das seiner Familie riskiert. Er nahm die Ersparnisse und gründete in Kairo einen kleinen Importbetrieb, führte Möbel aus Bali und Indien ein. Er eröffnete einen Laden, beschäftigte bis zu acht Angestellte, er reiste viel. Doch dann taumelte Ägypten in eine Revolution, in eine Gegenrevolution, das Militär stürzte den demokratisch gewählten Präsidenten Muhammed Mursi. In nur wenigen Monaten wendete sich die Stimmung gegen die syrischen Flüchtlinge. Die Junta erlegte ihnen einen Visumzwang auf, Amar konnte das Land für Geschäftsreisen nicht mehr verlassen. Er hatte Angst, kein Einreisevisum mehr zu erhalten. Fremdenhass hat sich am Nil breitgemacht. TV-Moderatoren halten Hasspredigten auf die Syrer. Die bekommen nur noch schwer Arbeit. Ägypter rufen dazu auf, nicht mehr bei syrischen Händlern zu kaufen, nicht mehr bei Amar zu kaufen. Syrer gelten vielen Ägyptern als Terroristen, die Unsicherheit bringen, als Schmarotzer, die ihnen die Jobs wegnehmen.

Ägypten erweist sich als eine Falle, in die die Familie auf ihrer Flucht geraten ist. Die Rückkehr nach Syrien ist ihnen versperrt, die Zukunft in Ägypten ist es auch.

Lange haben sie diskutiert. Dann haben sie sich als Familie für eine weitere Flucht entschieden. Nach Deutschland. Es gibt keinen legalen Weg. Amar, entscheiden sie, geht als Erster. Sobald er Asyl erhalten hat, will er die Familie nachholen. So der Plan, den sie hier im Wohnzimmer zwischen den Polsterkissen beschlossen haben. Er ist optimistisch, aber nicht unmöglich. Sie wissen, trotz der Gefahren kommen die meisten Boote an. Und einmal in Sizilien, gibt es tatsächlich eine gute Chance, unentdeckt nach Deutschland zu gelangen. Dort würde Amar, so hofft er, mit großer Wahrscheinlichkeit als Asylbewerber anerkannt werden, wie viele Syrer vor ihm. Alles, was seine Familie von einer besseren Zukunft trennt, ist das Meer.

»Wie lange wird die Bootsfahrt dauern?«, fragt Rolanda, seine Frau. »Ich weiß es nicht genau«, sagt Amar an ihrem letzten Abend. Vielleicht wird das Boot fünf Tage unterwegs sein, vielleicht aber auch drei Wochen. So viele unterschiedliche Geschichten hat er über die Überfahrt gehört.

Bis tief in die Nacht zieht Rolanda an der E-Zigarette. Amars Frau trägt eine hautenge schwarze Hose aus Latex. Nach und nach versammeln sich die Familienmitglieder um Amar. Amars Jüngste, fünf Jahre alt, kuschelt sich beim Essen in die Armbeuge der Mutter. Sie meidet den Vater instinktiv, wendet sich von ihm ab, ist beleidigt, dass er weggeht, auch wenn sie nicht versteht, wie gefährlich seine Reise sein wird. Die Zweitjüngste, 13, Zahnspange, die Stimme von einer Erkältung ganz brüchig, möchte nicht aus Kairo weg. Sie will als Einzige der Familie in Ägypten bleiben, hier hat sie ihre Freundinnen, ihre Lieblingscafés – in Deutschland hat sie nichts. »Heaven – Germany!«, postet dagegen die Älteste auf ihrer Facebook-Seite. Psychologie will sie in Deutschland studieren. Sie bat den Vater, mitfahren zu dürfen, doch er lehnte ab, weil sie noch nicht achtzehn ist. »Sie kommt am ehesten nach mir«, sagt Amar über sie. Beide Mädchen lässt er auf einer internationalen Schule unterrichten; die Unterrichtsgebühren brauchen die Hälfte des Familienbudgets auf.

Die Schwiegermutter erscheint mit ihrer Dienerin an der Tafel, an der sie das letzte gemeinsame Abendessen einnehmen. Die Grande Dame der Familie, ebenfalls aus Homs geflohen, trinkt ihren Tee mit abgespreiztem kleinen Finger. Zu entwürdigend, sagt die Schwiegermutter zu der Fahrt über das Meer, zu riskant. Er setze die Zukunft der ganzen Familie aufs Spiel. »Was geschieht mit meiner Tochter, deiner Frau, wenn du im Wasser bleibst?«, fragt sie. Die Schwiegermutter ringt den ganzen Abend um Fassung. Die Dienerin bereitet in der Küche das Essen vor, hilft Amars Frau und ist auch gegen eine Flucht zu Wasser. Sie hat Tränen in den Augen. Mit am Tisch sitzt der Cousin, der Diamantenhändler in Homs ist und Ägypten ebenfalls bald verlassen wird – Richtung Homs. »Ich habe von der syrischen Regierung nichts zu befürchten. In Ägypten versuche ich seit einem halben Jahr ohne Erfolg, eine Handelslizenz zu bekommen.« Er will sein Glück erneut in Syrien versuchen, dort boome der Handel mit Diamanten. Als Wertanlage sind sie wie gemacht für den Bürgerkrieg, winzigste Steine, die enorme Vermögen fassen, unauffällig und leicht zu verstecken.

Die Familie isst zusammen, ein letztes Mal, die Frauen haben lange in der Küche gestanden. Die Männer versuchen sich in jovialen Scherzen, sitzen aber meist mit gesenkten Köpfen am Tisch.

»An wen hast du jetzt den Laden verkauft?«, fragt der Cousin. »An meinen Buchhalter«, sagt Amar. »Für ein Viertel des Preises. Er hat versprochen, meine beiden Angestellten zu übernehmen.« »Ich hoffe, du fällst die richtige Entscheidung«, sagt der Cousin. Amar senkt seinen Blick.

Er hat an diesem Tag die letzten Rechnungen bezahlt, die letzten Rechnungen eingetrieben. Die Familie hat jetzt für ein halbes Jahr Ersparnisse, um ohne ihn auszukommen.

Diese Nacht schläft Amar sehr unruhig, die letzten Stunden in seinem alten Leben. Er wird jetzt alles abstreifen müssen, den Familienvater, den Unternehmer, der Probleme am Telefon löst. Alles, was er die nächsten Monate sein wird, ist: auf der Flucht. Als wäre sein Leben noch einmal auf null gestellt.

Amar Obaid mit seiner Frau Rolanda und den drei Töchtern in ihrem Wohnzimmer in Kairo.

Rolanda umarmt ihn morgens beim Abschied an der Haustür, sie weint, drückt ihn an sich. »Oh mein Gott«, sagt sie. »Ich vermisse dich jetzt schon.« Er löst sich von ihr, rasch, grob fast, nicht, dass er es sich noch einmal anders überlegt, eilt durch die Haustür, ohne sich umzuschauen. Er wird nicht weinen, hat er sich geschworen. Er will der Familie zeigen, dass er das Schicksal im Griff hat. Es ist alles in Ordnung, sagt er immer wieder, es gibt einen Plan. Die Tochter, die Älteste, trägt ihm seinen Rucksack hinterher zu seinem Wagen. Er umarmt sie kurz, sieht ihr lächelnd in die Augen, du meine Starke, du meine Schöne, sie weint, obwohl sie sich ebenfalls ganz fest vorgenommen hat, es nicht zu tun, er schlägt die Tür zu, lenkt den Wagen aus der Parklücke, mit zitternden Händen.

Amar wird seine Frau und seine Kinder im besten Fall für Monate, im schlechtesten Fall für Jahre nicht wiedersehen. Im schlimmsten Fall: nie.

Auf der Flucht

Der Menschenhandel in Ägypten ist in seiner Struktur der Tourismusbranche nicht unähnlich. Es gibt über das Land verteilte Verkaufsstellen mit sogenannten Agenten. Sie suggerieren ihren Kunden, sie arbeiteten nur mit den besten Schleusern, tatsächlich haben sie Kontrakte mit einigen wenigen. Die Überfahrt kostet etwa dreitausend Dollar, es gibt billigere und es gibt teurere Angebote, doch letztlich enden alle Buchungsklassen im selben Boot. Der Verkaufsagent bekommt eine Provision, die circa dreihundert Dollar beträgt. Die Summe wird zunächst bei einem Mittelsmann hinterlegt und dem Agenten erst bei Ankunft in Italien ausgezahlt. Die Verkaufsagenten – die meisten zumindest – achten auf ihren Ruf. Sie leben von den Empfehlungen derer, die sie erfolgreich über das Meer vermittelt haben.

Amars Vermittler heißt Nuri, ein alter Bekannter, muskulös, tiefe, raue Stimme, ebenfalls Importeur in der Möbelbranche. Wir teilen denselben Humor, sagt Amar, den das beruhigt. So viele Unwägbarkeiten auf dieser Reise, aber Amar weiß, wie er Nuri zum Lachen bringen kann. Nuri ist ein Mann, der viel lacht. Dieses krachende Lachen, das durch Amars Smartphone zu uns dringt, wird uns von nun an fortwährend begleiten.

Auf der Schnellstraße, die Amar in eine bessere Zukunft führen soll, ist Stau, es geht kaum voran, Stoßstange an