Bruchzone - Wolfgang Bauer - E-Book

Bruchzone E-Book

Wolfgang Bauer

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Beschreibung

Das Jahr 2018. Während wir in Europa weiterhin in einer Art Komfortzone leben, toben in anderen Weltregionen Kriege, zerfallen staatliche Institutionen, leiden Millionen Menschen Hunger. Der Zeit-Journalist Wolfgang Bauer erkundet diese Bruchzone seit Jahren. Für sein neues Buch hat er einige seiner eindringlichsten Reportagen zusammengestellt: über nordkoreanische Geisterschiffe, die an der japanischen Westküste angeschwemmt werden, über den »Maniak«, einen Serienmörder, der in der russischen Wolgaregion sein Unwesen treibt, oder über die Odyssee pakistanischer Seeleute, die am Horn von Afrika Piraten in die Hände fallen. Der Band enthält aber auch hoffnungsvolle Geschichten, etwa die eines IT-Beraters aus Minnesota, der in seine somalische Heimat zurückkehrt, um dort einen Staat aufzubauen.

Bauers Reportagen zeigen die politische und soziale Wirklichkeit aus der Nähe und in ihrer ganzen Komplexität. Anhand konkreter Einzelschicksale entfaltet er virtuos die sozialen und historischen Hintergründe regionaler Konflikte. Dabei gelingt ihm stets die delikate Gratwanderung: Hoffnung ohne Naivität, Mitgefühl ohne Kitsch.

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Seitenzahl: 398

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3Wolfgang Bauer

Bruchzone

Krisenreportagen

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

5Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Vorwort

Das Versprechen.

Afghanistan, 2011/12

Die ersten Tage des Krieges.

Syrien, 2011

Eine Straße in Aleppo.

Syrien, 2012

»Sollen sie doch schießen«.

Libyen, 2011

Das Gift des Krieges.

Sudan und Deutschland, 2016

Der Versuch, die Hoffnung zu buchstabieren.

Südsudan und Deutschland, 2017

Der Maniak.

Zentralrussland, 2014

Ihre letzte Flagge.

Krim, 2014

Die Geisterschiffe.

Japan, Nord- und Südkorea, 2016

Der Präsident der Piraten

I

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Somalia, 2011

Der Präsident der Piraten

II

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Belgien, 2013

Warum Kapitän Ibrahim nie wieder aufs Meer fahren will.

Somalia, Kenia und Pakistan, 2011

Nachts sind die Drohnen besonders laut.

Pakistan, 2013

Dadaab.

Kenia und Somalia, 2011

Bombenjob.

Irak, 2012

Das Sterben der Mütter.

Sierra Leone, 2010

Dank an meine Übersetzer

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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7Vorwort

An der Front bin ich eine Witzfigur. Ich stolpere in Raqqa über die Trümmer auf der Straße. Ich knicke um, stoße gegen Mauern, komme in der Hitze schnell außer Atem. Wie ein fetter Pinguin versuche ich mich auf die Ladefläche des Kleinlasters zu wuchten, mit dem wir eine vierspurige Straße überqueren wollen. Mit Vollgas wollen wir über sie fahren, da sie im Schussfeld der Scharfschützen des Islamischen Staates (IS) liegt. Wir müssen uns beeilen, doch ich komme nicht auf den Laster, habe nicht genug Kraft, mich hinaufzuziehen. Meine Hände krallen sich fest, meine Füße zappeln. Die schwere Schutzweste zieht mich immer wieder hinunter. Die Kämpfer der kurdischen Volksverteidigungseinheiten stehen im Halbkreis um mich herum und lachen. Sie filmen mich mit ihren Handykameras und werden die Aufnahmen hinterher einander zeigen. Mit brüllendem Lachen. Der Pinguin an der Front. Der deutsche Reporter im Krieg.

Dieses Buch handelt nicht vom Mythos des Kriegsreporters, es doziert auch nicht politologisch über die wahren Gründe der Krisen im Nahen Osten oder im Pazifikraum, es will mehr.

Raqqa, Nordsyrien, die Stadt, die der Islamische Staat zu seiner Hauptstadt gemacht hat, September 2017. Seit drei Monaten bombardieren die Amerikaner den Ort, kurdisch-arabische Milizen dringen auf dem Boden vor. Der IS wehrt sich mit Autobomben und Scharfschützen. Die meisten Häuser sind zu Skeletten aus Beton und Metall zerschossen. Die ganze Stadt ein Gerippe. Darin Fliegen, Fliegen in allen Größen, je näher die Front, desto größer die Zahl der Fliegen, überall Müll, an manchen Stellen liegt er meterhoch. Dieser süßliche Geruch, Verwesungsgeruch, trockenes Blut auf Häuserwänden, Kleidungsfetzen mit bleichen Knochen darin, aufgeschüttete Wälle mit Blindgängern gespickt, Löcher, 8die in die Fußböden der Häuser gebrochen wurden, die Ausgänge von Tunneln, aus denen nachts der Feind kommt, weit hinter der Front, um seinen Gegner zu überraschen und zu töten, das Glas, das unter den Füßen knirscht, die Plastikflaschen, die den Boden bedecken, die hier absichtlich verstreut wurden, damit jeder Schritt nachts ein lautes Knacken erzeugt.

Ein Ort jenseits jeder Vorstellung. Die Gewalt des Krieges formt sich die Welt nach ihrem Ebenbild. Ich gehe durch Raqqa, der Schweiß rinnt in Schüben über mich. Mein Körper löst sich auf. Ich bin Wasser, Wasser und noch einmal Wasser. Und Wasser erinnert sich an nichts. Ich gehe durch die Straßen von Raqqa, die zu Gesteinshalden geworden sind, ein Gefühl, als liefe ich über die Oberfläche eines fremden Planeten. Aber es ist kein fremder Planet, es ist unserer.

Ich schreibe diese Zeilen, jetzt, einige Monate später in Rudolstadt, einer Kleinstadt in Thüringen, wohin ich mich für dieses Buch zurückgezogen habe, und ich merke, dass ich mich bereits seit zwei Tagen an diesem Vorwort abarbeite. Dabei hatte ich mir vorgenommen, es in zwei Stunden zu schaffen. Und jetzt zwei Tage. In einem leeren Hotelzimmer, umgeben nur von Notizen, Büchern, den Magazinen, ringe ich mit den Worten, die doch immer nur die falschen sind, zu vage, zu unehrlich, zu schwach.

Wie finde ich die Sprache, um das Grauen begreiflich zu machen, wenn mir schon die Sprache fehlt, selbst das Grauen zu verstehen. Wie fasse ich diese Angst in Sprache? Die Angst, die Millionen von Menschen prägt, ganze Generationen. Wie beschreibe ich den enormen Hass, den diese Angst gebärt? Wie die kleine schreckliche schwarze Verhärtung irgendwo in der Brust, die der Mensch im Extremen seiner Existenz fühlt, die immer größer wird, zur Panik wird oder zur entsetzlich vernichtenden Wut? Der Nährstoff ganzer Kriege.

9Nie in den letzten Jahrzehnten war es so wichtig, von den Kriegen zu erzählen. In den Tagen von AfD und FPÖ und Trump und dem Front National droht uns die Sensibilität dafür abhandenzukommen, was um uns herum in der Welt passiert. Viel zu früh geben wir uns wieder mit Gerüchten zufrieden, mit nicht überprüfbaren Agenturmeldungen, obskuren Internetquellen. Wir leben wieder in einer Zeit, in der uns nur die eigene Angst interessiert und wir uns von dieser Angst lähmen lassen. Wir nehmen die Welt so wahr, wie wir sie wahrnehmen wollen. Wir richten uns in festen Gedankengebäuden ein. Ich will diese niederreißen. Die Reportagen in diesem Buch sollen wenigstens kleine Risse in sie treiben. Das System der zu raschen Urteile sabotieren.

Dieses Buch versteht sich als eine Art Frühwarnsystem. Die hier versammelten Reportagen, die zwischen 2010 und 2017 entstanden sind, erkunden die Zone, in der unsere Welt zerbricht oder gar schon zerbrochen ist. Sie versuchen die Brüche auszuleuchten, wie Klüfte im Gestein, ihre Tiefe festzustellen, ihre Ausmaße, ihre Verzweigungen. Diese Bruchzone ist der Ort der Umwälzung und Veränderung, dort beginnt, dort platzt auf, was uns kurz darauf auch in Europa und Amerika erfasst.

Die Reisen, die ich für diese Reportagen unternehme, führen mich meistens an die Ränder unserer heutigen Machtzentren. Meine Ziele sind die Sümpfe des Südsudans, die Täler Afghanistans oder die Plattenbauwüste des russischen Ischewsk. Die Kartografen des Mittelalters haben früher diese Gegenden mit dem Schriftzug hic sunt dracones übermalt. »Hier sind Drachen«. Darüber schmunzeln wir heute. Aber sind wir ehrlich: Viel mehr als damals wissen wir auch heute nicht über die Ränder unserer Welt. Die Erkundung der Peripherie unseres Weltbildes überlassen wir größtenteils unseren Geheimdiensten. Ihre Fremdheit überwältigt uns noch immer, sie erschüttert uns in unseren Grundfesten. 10Die Angst vor »Monstern und Wundern« kann auch im 21. Jahrhundert Regierungen stürzen und Demokratien ins Wanken bringen. Immer noch wissen wir wenig von den Ländern, in denen die Drachen wohnen.

Dieses Buch erzählt von den gesellschaftlichen Umbrüchen in Afghanistan und wie brisant dort die Liebe sein kann, von der Hoffnung junger syrischer Demonstranten, die sich zu Beginn der Aufstände 2011 jeden Abend zusammenschießen lassen, ich habe in meinem Leben nie eine solche Zivilcourage erlebt. Es erzählt von der Magie der Nuba-Berge und dem Verdacht, dass dort seit Kurzem Giftgas eingesetzt wird, wie seit dem Syrien-Krieg in vielen Regionalkonflikten. Die Tragödie des Mohamed Aden, Präsident eines zentralsomalischen Bundesstaates, der das Gute wollte, aber das Schlechte erreichte, vom namenlosen Mörder in Russland, dem schlimmsten noch nicht gefassten Serienkiller auf der Welt, der alte Frauen mordet, aus der reinen Lust, zu töten. Ich habe drei Wochen lang nur aus einem einzigen Grund seine Geschichte recherchiert. Ich wollte wissen, wieso der Mensch beim Morden manchmal diese Lust empfindet. Eine Lust, die so stark ist, dass sie sogar abhängig machen kann.

Das Buch beschreibt den Alltag in Waziristan, wo US-Piloten mit ihren Drohnen töten, ohne jemals die oft viel zu jungen Gesichter ihrer Opfer zu sehen, es erzählt von den 13 Monaten, die der pakistanische Kapitän Ibrahim und seine Mannschaft in somalischer Geiselhaft leben mussten, und schließlich erzählt es von Fatmata in Sierra Leone, einer der tapfersten Frauen, die ich je kennenlernen durfte. Denke ich in meinem Leben an den Schmerz, denke ich an Fatmata.

Die Reihenfolge der Texte ist weder chronologisch noch geografisch geordnet. Die Logik der Abfolge ist eine emotionale. Sie mäandriert an der Schmerzgrenze entlang in der Hoffnung, dass sie nicht überschritten wird, wenigstens nicht zu oft.

11Am Ende der Gasse in Raqqa, aus der ich im September 2017 über den Krieg gegen den IS berichte, treffen wir in einem vierstöckigen Wohnblock, in einem höhlenartigen Raum, auf den Jungen, den das Cover dieses Buches zeigt. Ein arabischer Kämpfer, vielleicht 16 Jahre alt, von den Kurden für den Kampf gegen den IS zwangsrekrutiert. Er gehört zu einer kleinen Gruppe von Milizionären, die mit Mühe die letzte Nacht überlebt haben. Die Nacht gehört dem IS, der Tag seinen Gegnern. Wir können nur kurz bleiben, weil es schon dämmert. So weiß ich nur wenig über ihn. Ich weiß noch nicht mal, ob er noch lebt. Aber die Angst in seinen Augen werde ich nie vergessen. In diesem Moment war es auch die meine.

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Afghanistan, 2012. Foto: Antonia Zennaro/Zeitenspiegel.

15Das Versprechen

Afghanistan, 2011/12

»Denk nicht einmal daran«, sagte der ältere Bruder zu Rafi, als er ihm seinen Plan verriet. »Du bist ein Träumer«, erklärte der Onkel, der Rafi nur mit halbem Ohr zuhörte. Der verrückte Plan eines Kindes, dachte er bei sich. Die Mutter schaute ihrem Sohn lange in die Augen. Mit 17 Jahren ist Rafi ihr Jüngster. »Mein Junge, du wirst uns alle ins Unglück stürzen.«

Der Tag, an dem die Welt in Jabreel, einem Vorort von Herat, Afghanistan, aus ihrer Ordnung bricht, ist der 6. Juli 2011, ein Mittwoch. An diesem Tag entschließen sich Rafi Mohammed und Halima Mohammedi, ihren Plan umzusetzen. Der Plan ist ein denkbar schlichter, und zunächst scheint er aufzugehen.

Halima, deren Familie die Beziehung zu Rafi ablehnt, verlässt am Nachmittag das Haus ihrer älteren Schwester, in der Hand das Handy, das sie ihr gestohlen hat. Die 17-Jährige tritt auf die Straße und wartet auf den Jungen, der zur vereinbarten Uhrzeit mit einem Wagen kommen soll. Doch Rafi verspätet sich. Im Stau der Stadt kommt er nur langsam voran. Sie ruft ihn an, aufgeregt, bald, sagt sie, wird ihre Schwester ihre Abwesenheit bemerken. Halima redet mit viel zu lauter Stimme. So erfahren die Umstehenden von ihrem Plan. Es sind vor allem junge Rikscha-Fahrer, die hier auf Kundschaft warten und nun hören, dass ein Mädchen aus Jabreel ohne Erlaubnis der Familie mit einem Jungen davonlaufen will ‒ noch dazu einem Jungen, der aus einem anderen Viertel kommt.

16Als Rafi endlich vorfährt und Halima einsteigt, blockieren plötzlich ein halbes Dutzend Rikschas den Weg. Hunderte aufgebrachter Menschen umringen den Wagen. Hände greifen ins Innere des Toyota, zerren an Rafi, kratzen ihm blutige Wunden, er wehrt sich, doch immer mehr Hände drängen durch die Wagentür, reißen ihn schließlich heraus, in den Staub der Straße. Während sich seine Ohren mit warmem Blut füllen, hört er die Rufe der Menge.

»Hängt sie auf! Tötet sie!«

Fäuste schlagen auf ihn ein, Füße treten ihn, in den Bauch, die Rippen, auf den Kopf. Rafis Nase bricht, die Augen schwellen zu, er windet sich schreiend. Die Masse der Schläger füllt die Straßenkreuzung. »Sie hätten die beiden umgebracht«, erinnert sich später der Polizeikommandeur von Jabreel. Seine Männer sind es, die das Paar schließlich dem Mob entreißen.

Hastig werden Rafi und Halima ins Gebäude der Wache gebracht. Doch die wütende Menge drängt nach. Eine Wand aus Körpern drückt gegen das Metalltor der Polizeistation. Alles gerät binnen Minuten außer Kontrolle. In den Straßen von Jabreel wird jetzt geschossen. Unter die Demonstranten mischen sich auch Soldaten der afghanischen Streitkräfte auf Heimaturlaub, sie schleudern Handgranaten auf die Wache. Längst kämpfen die acht Polizisten, die sich im Gebäude verschanzt haben, nicht mehr nur um das Leben des unglücklichen Paares, sondern auch um das eigene. Als alles vorbei ist, Halima und Rafi knapp mit dem Leben davongekommen sind, haben Polizisten versehentlich einen 19-jährigen Schüler erschossen. Sie haben Dutzende verhaftet, Dutzende verletzt. Aus den Straßen von Jabreel steigen Rauchsäulen auf.

»Was wird dann aus uns werden?«, hat Halima am Vorabend Rafi am Telefon gefragt, und er hat ihr versprochen: »Es wird alles gut. Irgendwann werden sie uns verzeihen.« 17Knapp zwei Jahre lang hatten Rafi und Halima an ihrer Flucht gefeilt, sie in nächtelangen Telefonaten besprochen, darüber gelacht, geweint, verschiedene Varianten diskutiert und wieder verworfen. Beide sind 17 Jahre jung, er ein Tadschike und damit Sunnit, sie eine Hazara und damit Schiitin ‒ Angehörige zweier Ethnien, die seit Jahrzehnten miteinander verfeindet sind. Aber sie haben in sich etwas entdeckt, was sie von fast allen ihren Verwandten unterscheidet, das die meisten Afghanen nie kannten und viele sogar fürchten wie einen bösen Fluch. Die Liebe.

Nie zuvor war Afghanistan in so großer Umwälzung. In immer größeren Bereichen des Alltags lösen sich die alten Werte auf. Die Mobiltelefone machen jeden für jeden erreichbar, über alle Lehmmauern hinweg. Die Leute sehen Filme aus Indien mit ungeheuerlichen Bildern, auf denen Menschen einander küssen, sich zärtlich berühren. Männer und Frauen begegnen sich zu Zehntausenden in den Universitäten und in Fabriken, die an den Stadträndern gebaut werden. Menschen lernen sich kennen, die sich nach den Konventionen nie hätten kennenlernen dürfen. Ein Teil der Jugend definiert sein Lebensglück neu. Den Ehepartner wollen sie selber wählen dürfen, den Beruf oder auch nur die Art, die Haare zu frisieren.

Andere Jugendliche klammern sich an das Althergebrachte, kämpfen gegen den Bruch mit den Traditionen, sie tun es mit Worten, mit Stöcken, mit Messern, mit Gewehren. »Wir erleben gerade ein schockierendes Anwachsen der Gewalt«, klagt Suraya Subhrang, die Sprecherin der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission. Es ist Krieg in Afghanistan, aber nicht nur der gegen die Taliban, von dem die ganze Welt weiß. Ein zweiter, stiller Krieg tobt in den Familien. Die Fronten verlaufen im Privaten und werden selten öffentlich. Ein Ende ist nicht absehbar. Dieser Krieg hat erst begonnen.

18»Du hast nicht auf mich gehört«, sagt Rafis älterer Bruder. Die beiden sitzen mit gesenkten Schultern auf dem betonierten Gefängnishof in Herat. Rafi meidet den Blick des Älteren. Er sieht über die Mauerkrone, wo am Himmel Nato-Flugzeuge Kondensstreifen ziehen. »Mutter weint jede Nacht. Sie faucht deine kleinen Schwestern wegen jeder Kleinigkeit an.«

Der Plan, mit dem Rafi und Halima sich die Freiheit erzwingen wollten, hat sie hinter die Mauern der Besserungsanstalt für Jugendliche gebracht. Es ist jetzt Ende Oktober. Vier Monate sind vergangen, seit das Paar in Jabreel vom Mob gestoppt wurde. Dieselben Polizisten, die sie gerettet haben, führten sie später in Handschellen und Fußketten hierher. »Ihr habt das Gesetz gebrochen«, sagten sie ihnen. Die Anklage lautete auf »versuchten vorehelichen Geschlechtsverkehr« nach Paragraf 29 des Strafgesetzbuchs. Rafi und Halima leben seither im selben Gebäude, aber in unterschiedlichen Trakten, nur von einer Wand getrennt. Seit ihrer Festnahme haben sie sich nicht mehr gesehen.

Am Vortag hat das Berufungsgericht in Herat die Haftstrafe für beide von einem halben Jahr auf ein ganzes erhöht. Das Vergehen des Paares sei besonders schwer, da es sich bereits zwei Jahre lang heimlich getroffen habe. »Glaubst du, sie weiß schon davon?«, fragt Rafi seinen Bruder. »Ich habe Angst, wie sie darauf reagieren wird.«

»Es wäre doch das Beste, ich wäre tot«, flüstert Halima im Mädchentrakt, 50 Meter von Rafi entfernt. Sie schaut auf die Spitzen ihrer Finger, die Hände liegen in ihrem Schoß. Heute Morgen hat sie vom Urteil erfahren. »Sie sagen, wir sind Verbrecher. Aber wir sind keine Verbrecher.« Im Zellengang hinter ihr hallt das Brüllen der anderen Mädchen. 34 sind hier mit ihr eingesperrt. Ständig gibt es Streit. Zusammengepfercht auf engstem Raum ziehen sie einander kreischend an den Haaren, schlagen sich ins Gesicht, rangeln mit der Ge19fängniswärterin. »Huren«, rufen die Wärterinnen. Die meisten Insassinnen haben ähnliche Verbrechen begangen wie Rafi und Halima. Sie haben sich in den Falschen verliebt.

Da ist die 15-Jährige, die einen 50-Jährigen heiraten musste und sich dann in einen gleichaltrigen Jungen verguckte. Eine andere wurde von ihrem Vater dabei erwischt, wie sie Textnachrichten mit einem Freund austauschte. Was den Richtern genügte, um sie für ein Jahr einzusperren. Die Jungs, mit denen die Mädchen Kontakt hatten, sind oft ebenfalls in der Besserungsanstalt, doch unter dem Druck der Familien haben sie sich alle von ihren Freundinnen losgesagt. Alle ‒ bis auf Rafi. Rafi sagt immer noch: »Ich liebe sie, aber sie liebt mich zehnmal mehr.« Das hält Halima am Leben.

Rafi und Halima sahen sich das erste Mal vor über zwei Jahren in einer Eiscremefabrik, in der sie beide arbeiteten.

»Seine Augen«, sagt sie.

»Ihr Witz«, sagt er.

Halima kommt aus einer armen Familie, ihre Mutter starb, da war sie sieben. Das Unglück verbindet sie mit Rafi. Sein Vater ist vor acht Jahren ermordet worden, da war Rafi noch keine zehn. Halimas Vater heiratete erneut, doch die neue Frau verstand sich nicht mit Halima. Sie stritten immerzu. Die Fabrikarbeit befreite Halima regelrecht, sie gab ihr Luft zum Atmen. Viele Fabrikbesitzer in Herat schätzen die Frauen, und auch die Kinder, die sie beschäftigen, weil sich zu den niedrigen Löhnen nicht mehr genügend Männer finden. Herat ist Afghanistans Industriestadt. Die Fertigungshallen wachsen weit in die Wüste am Stadtrand hinein. Motorräder und Traktoren werden hier montiert, Säfte abgefüllt und die Super Cola. »Ich habe die Arbeit gemocht«, sagt Halima.

Und irgendwann, nach vielen Blicken, heimlichem Lächeln, hat sie den entscheidenden Schritt getan. Sie steckte Rafi in einem unbeobachteten Moment einen Zettel mit ihrer Handynummer zu.

20Die Tage in der Besserungsanstalt bestehen aus einem ummauerten Nichts. Die Leere ist Programm. Das Gefängnis wird von einer Direktorin geleitet, der die Jugendlichen nicht hart genug bestraft werden. »Wir müssen Unsittlichkeit strenger ahnden, sonst werden die das immer wieder tun.« Das Nichts umgibt Halima, wohin sie schaut. Die Wände sind kahl. Die einzigen Möbel in ihrem Trakt, die Metallregale im Zellengang, sind leer. Der Fernseher im Pausenraum funktioniert nicht. Die Mädchen werden von der alten Wärterin Jontab täglich um vier Uhr morgens geweckt.

Die Wärterin trommelt an die Türen. Sie werden früh in den Tag gezwungen, damit sie umso länger die Eintönigkeit spüren. Nach dem Aufstehen gibt es für viele Stunden nichts zu tun, beten, herumhängen, bloß nicht wieder einschlafen, sonst wirft Jontab ihr Schlüsselbund. Um acht Uhr wird das Frühstück verteilt, Brot und ein Löffel voll Zucker. Im Sommer hatten sie Schulunterricht, doch nun ist der Direktorin das Geld ausgegangen. Von sechs Klassenzimmern ist bloß eines offen, dort lehrt ein Lehrer den Stoff der ersten Grundschulklasse. Halima, die als Einzige ihrer Familie lesen und schreiben kann, hat vor ihrer Zeit im Gefängnis bereits die siebte Klasse besucht. Doch Halima ist glücklich über das bisschen Unterricht. Immerhin etwas, um das Nichts zu füllen.

»Was hat sie gesagt?«, fragt Rafi im Jungentrakt nervös. Er durfte seit vier Monaten nicht mit ihr sprechen. Die Direktorin behauptet, das sei gegen das Gesetz. Er wippelt mit den Füßen. »Liebt sie mich noch? Steht sie noch zu mir?« Die Platzwunden in seinem Gesicht sind verheilt. Fingerbreit wächst ihm Flaum über der Oberlippe. Er spricht in kurzen, abgehackten Sätzen, manchmal verschluckt er vor Aufregung Wörter. »Wir sind so rein wie die Milch unserer Mütter.«

Als sie sich gegenseitig Textnachrichten auf ihre Handys 21schickten, begannen sie sich als Paar zu fühlen. Flüsternd geführte stundenlange Telefonate. Es war anfänglich ein Kichern und Albern, doch dann wurden die heimlichen Gespräche immer ernsthafter. Sie redeten miteinander, wie sie bisher mit niemandem hatten reden können. Sie erzählten sich von ihren Schwächen. Halima klagte Rafi, wie sehr sie unter ihrer Stiefmutter leide. Die behandle sie wie ein kleines Mädchen, obwohl sie selbst nicht viel älter sei.

Rafi erzählte ihr von seinem Onkel, der sich nach dem Tod des Vaters um ihn kümmerte. Der es gut mit ihm meine, ihn aber nicht ernst nehme, ihn ein »Müttersöhnchen« schimpft. Er erzählte ihr, wie sehr er im Schatten seiner beiden älteren Brüder stehe. An ihnen werde er gemessen. Was sie tun, erwarte der Onkel auch immer von ihm. Rafi und Halima trafen sich alle paar Wochen, für ein, zwei Stunden, meistens in einem Park in Herat. Ein Cousin Rafis begleitete sie dabei, damit sie in der Öffentlichkeit nicht als Liebespaar auffielen. In diesem Park geschah es auch irgendwann, dass Halima Rafi ihre Hand auf die Schulter legte. Ganz warm war sie und leicht wie eine Feder. Er träumt bis heute von dieser Berührung. Es war die einzige in ihrer über zweijährigen Beziehung. Nie haben sie sich geküsst. Nie kam es zwischen ihnen zum Äußersten, das wurde sogar gerichtlich erwiesen.

Nach der Verhaftung brachten Polizisten Halima ins Krankenhaus, wo sie das Mädchen zum Jungfrauentest zwangen. Ein Arzt öffnete ihr dabei mit zwei Fingern die Vagina, untersuchte das Hymen, ob es noch intakt sei, drückte mit den Fingern gegen die Scheidenwände, um die Elastizität der Vaginalmuskeln zu prüfen. Das berichten Gerichtsmitarbeiter. Solche Untersuchungen sind international als Verletzung der Menschenwürde geächtet. In Afghanistans Rechtssystem gehören sie nach wie vor zum Alltag. Es war Halimas und Rafis Glück, dass der Arzt ihr die Jungfräulichkeit attes22tierte. Bei einer anderen Diagnose hätte das Gericht das Strafmaß vermutlich auf jeweils bis zu fünf Jahre erhöht.

In der Geschichte von Rafi und Halima ist wunderbarerweise das Glück und das Unglück gleich verteilt. Das größte Glück ist Jamila Khisrawi, Halimas Anwältin. Die 27-Jährige gehört zu Afghanistans neuer Generation selbstbewusster Juristinnen. »Die Richter haben mich vor drei Jahren noch angebrüllt und aus dem Gerichtssaal geworfen.« Sie lacht dieses seltsame Lachen, das sie so häufig lacht. Man hört keinen Laut dabei. »Die sagten, für diesen Beruf bist du als Frau viel zu emotional.« Hartnäckig haben sich Khisrawi und ihre drei Kolleginnen seither die Anerkennung der Gerichte erarbeitet. Die Anwältinnen sind angestellt bei der deutschen Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale.

Ihr Büro in Herat liegt im Stadtzentrum, an einem geheimen Ort, kein Türschild weist darauf hin. »Wir werden permanent mit dem Tod bedroht«, sagt Khisrawi. Aus Angst gehen die Anwältinnen nie allein vor die Tür, immer sind sie miteinander per Handy verbunden. 70 Prozent ihrer Mandantinnen stehen wegen moral crimes vor Gericht, wegen Sittlichkeitsdelikten. Das führt ihre Verteidigerinnen tief in das dunkle Herz Afghanistans.

Khisrawi betreut Mädchen, die als Kindsbräute verheiratet wurden, sich irgendwann in gleichaltrige Jungs verliebten und mit ihnen wegliefen. Die Gerichte verurteilen sie wegen Ehebruchs zu zwei bis drei Jahren Gefängnis. Sie vertritt Frauen, die entführt, über Monate vergewaltigt wurden und später wegen Ehebruchs langjährige Haftstrafen bekommen.

Es ist selten der Mann, der Peiniger, der vor Gericht steht, klagt Khisrawi, sondern fast immer die Frau, die vor ihrem Mann floh. Die Männer können sich häufig der Verhaftung entziehen, sie wissen, wie man die Polizei bestechen kann, die Frauen, die meist zu Hause sitzen, wissen das nicht. Die Fälle auf Khisrawis Schreibtisch werden immer mehr, die 23Prozesse im Familiengericht haben sich binnen eines Jahres verdoppelt.

Jamila Khisrawi hat gegen den Widerstand ihrer Familie Jura studiert, ist gegen allen Widerstand Anwältin geworden.

»Ich weiß manchmal nicht mehr weiter«, sagt sie. Über mehrere Tage wurde sie neulich von einer Frau angerufen. Ihr Mann habe sie in einem Zimmer zu Hause eingesperrt. Er wolle sie töten. »Das letzte Mal sagte sie plötzlich, dass sie die Schritte ihres Mannes hört. Dann legte sie auf.« Seitdem hat die Anwältin nichts mehr von ihr gehört. Jamila Khisrawi konnte nicht helfen. Das Haus der Frau lag außerhalb Herats, in einem Taliban-Bezirk. Dorthin kann sie nicht reisen. »Ich glaube, dass er sie inzwischen umgebracht hat.«

Die Anwältin ist unverheiratet. »Es ist nicht einfach«, sagt sie, »in Herat einen Mann zu finden, der jemand mit meinem Beruf als Ehefrau akzeptiert.«

Den ganzen Herbst über suchen Halimas Anwältinnen verzweifelt nach Wegen, sie vor dem Schlimmsten zu bewahren. Das Leben ihrer Mandantin zu retten. Ihr Vater hat mehrfach öffentlich angekündigt, sie nach der Haftentlassung zu töten. »Sie hat mich und die Familie in den Schmutz getreten«, sagt er mit zitternder Stimme. »Ich bin jetzt für immer ein Mann ohne Ehre.« Nur der Tod der Tochter, so glaubt er, kann die Familienehre wiederherstellen.

Wie ein altes Uhrwerk, in vielen Jahrhunderten erschaffen, feingliedrig in seiner Mechanik, reguliert sich die afghanische Gesellschaft. Das soziale Regelwerk in diesem Land ist hochkomplex, eines mit vielen kleinen und großen Zahnrädern, die filigran ineinandergreifen, selbstverständlich in seinen Abfolgen, doch dieses Regelwerk greift nicht mehr. Besonders in den Städten. Die Mechanik stockt, seit viele der Jungen die Regeln nicht mehr akzeptieren, die Elemente blockieren sich gegenseitig, drängen gar in unterschiedliche 24Richtungen. Die Gesellschaft des Landes ächzt und stöhnt darunter, fast mehr als unter den Kämpfen zwischen den Taliban und den Regierungstruppen.

Während im Gefängnis die Psychologin von Medica Mondiale, Saliha, die Schultern des Mädchens massiert, mit ihr Atemübungen macht, sie lockert, mit ihr weint, damit sie weiter durchhält, das Mädchen sich nicht umbringt, ringt die Anwältin Khisrawi um die einzige mögliche Lösung. Eine Ehe mit Rafi. Unverheiratet müsste Halima ihr Leben im Frauenhaus oder in der Prostitution beschließen. Beinahe die gesamte Familie hat mit ihr gebrochen, sie fürchten die Entscheidung des Vaters, die Schwestern dürfen nicht mit ihr reden, das haben deren Ehemänner verboten.

Nach vielen vergeblichen Telefonaten gelingt es der Anwältin, den Vater Halimas zu einem Treffen zu bewegen. Dreimal wird es anberaumt, dreimal kommt er nicht. Es klappt beim vierten Mal. Die Anwältin begegnet dem Vater auf sicherem Terrain, nicht im Büro, damit er ihr später nicht auflauern kann. Sie laden ihn ins »Mediationszentrum«, so nennen die Frauenrechtlerinnen ihr mit ausgeblichenen Aufklärungsplakaten dekoriertes Besprechungszimmer in einem Regierungsgebäude. »Ich kann diese Beziehung nicht akzeptieren«, sagt Halimas Vater. »Sie raubt mir die Ehre. Ich bin der Spott meiner ganzen Familie.«

»Das ist nicht wahr«, sagt Khisrawi. »Halima und Rafi haben keinen Sex gehabt, aus Rücksicht auf deinen Ruf.« Er wendet widerwillig den Kopf, kneift die Augen zusammen, braucht offenbar alle Kräfte, um nicht sofort aufzustehen und zu gehen.

Es ist ein Gespräch, bei dem das Leben des Mädchens an jeder Silbe hängt. Einmal hat die Anwältin Khisrawi das Gefühl, der Vater wird das Mädchen schonen. Er zeigt Einsicht. Wenig später ist sie wieder überzeugt: Ihre Klientin ist bereits tot.

25»Sie hätte es mir sagen sollen«, klagt der Vater.

»Sie hatte Angst vor dir!«

»Der Junge ist Sunnit, wir Hazara sind Schiiten. Die werden meine Tochter zwingen, ihren Ritus anzunehmen.«

»Ich kenne glückliche Ehen zwischen Schiiten und Sunniten in meiner eigenen Familie«, kämpft Khisrawi unverdrossen. »Wenn sich deine Tochter deinetwegen umbringt, wirst du wegen Mordes angeklagt.«

Ganz Jabreel schaue auf ihn, erklärt der Vater. Der Druck von außen auf ihn sei enorm. Der Ungehorsam Halimas mache alle in der Familie zu Außenseitern, zum Abschaum des Viertels. Was sie sich in Generationen aufgebaut hätten, ihr Ruf, die soziale Stellung ‒ mit dem Fluchtversuch der Tochter sei auf einmal alles dahin. Nach zwei weiteren Treffen schaffen es die Anwältinnen am Ende des Herbstes doch noch, dass er einer Hochzeit zustimmt. »Wir müssen das ja irgendwie beenden«, sagt er in der letzten Besprechung zu Khisrawi. »Trau meinem Vater nicht«, sagt Halima in ihrer Zelle zur Anwältin. »Er wechselt schnell seine Meinung. Er hält sein Wort nicht.«

Die Ehe zwischen Rafi und Halima wäre die zwischen Erzfeinden. Die Hazara, zu denen Halimas Familie zählt, mongolisch stämmig, leben in Herat in einer prekären Situation. Als mittellose Einwanderer werden sie misstrauisch beäugt von den alteingesessenen Tadschiken, zu denen Rafis Familie zählt. Für sie sind die Hazara keine richtigen Muslime, sondern Ungläubige, die Prostitution und Sünde nach Herat bringen. Die Hazara sind das gedemütigte Volk Afghanistans, ihren einst unabhängigen Staat, Hazaradschat, haben Tadschiken und Paschtunen vor 100 Jahren zerschlagen. Unter den Taliban waren es wieder die Tadschiken, die gegen die Hazara kämpften. In Herat leben nun Freund und Feind auf engem Raum, angelockt von Jobs und relativem Frieden.

26Der Ort ist wie ein einziger Rohbau, es staubt, es dampft, Baugerüste überall, Berge von roten Backsteinen, ein Wildwuchs an Armierungseisen, es boomt, alles unkontrolliert, alles neu, im Neuen ist aber schon wieder der Verfall. Sobald etwas errichtet ist, bröselt es und bröckelt es und bricht. Alle Dinge scheinen aus der Balance. Auch die Seele der Menschen. Nirgendwo verbrennen sich mehr Frauen als in der 300 ‌000-Einwohner-Stadt Herat. 75 waren es allein 2011, nirgendwo in Afghanistan zählen die Behörden mehr Scheidungen. Die Entführungsindustrie floriert. Im Ringen zwischen Tradition und Moderne ist Herat so etwas wie Afghanistans Brandungszone.

Es wird Winter vor den Mauern der Besserungsanstalt, bald gilt er als der strengste seit Jahrzehnten. Raureif bildet sich in den Fugen, das Radio vermeldet zweistellige Minustemperaturen. Halima schneidet sich im Dezember mit einer Rasierklinge tief in die Hände. Eine Freundin verrät es der Psychologin Saliha, die zweimal in der Woche die Frauen besucht.

»Was willst du, Mädchen«, sagt die 45-Jährige. »Du willst sterben, aber du willst auch mit Rafi leben, das ist doch ein Widerspruch.« Halima überlebt diesen Winter, und Rafi findet inzwischen immer neue Wege, Nachrichten in den Mädchentrakt zu schmuggeln. Er besticht die Wärterin Jontab, steckt ihr Geld zu, er schenkt ihrer Tochter eine SIM-Karte, ihrer Enkelin gibt er Trockenfrüchte. Er bleibt freundlich zu Jontab, auch wenn sie launisch ist und Halima absichtlich falsche Nachrichten zuträgt. »Ich liebe dich nicht mehr«, hat Jontab ihr einmal ‒ vermeintlich von Rafi ‒ ausgerichtet. Halima brach in Weinkrämpfe aus. So spielt die grimmige Alte manchmal mit ihnen. Jede Woche, zum Besuchstag, kommen der Bruder oder der Onkel vorbei, und versorgen Rafi mit neuem Geld.

Die Direktorin ist eine studierte Juristin aus gutem Hause, 27die hart das Kinn hochzieht, wenn ihr etwas nicht behagt. Sie trägt kunterbunte Kopftücher und hat es sich in ihrem Knast nach Belieben eingerichtet. Sie könnte in ihrer Launenhaftigkeit die Zwillingsschwester der Herzkönigin aus Alice im Wunderland sein. »Ich stehe immer im Dienst der Kinder«, sagt sie. Doch meistens schaut sie in einem Hinterzimmer fern, sommers wie winters, beleibt und leicht reizbar, die Beine auf einem Hocker. Nur in Notfällen verlässt sie diese Position. Ihr dreijähriger Sohn rast tagein, tagaus durch die Gänge und bespuckt aus Spaß das Personal.

Er spuckt auf den Anstaltsarzt, der gelangweilt vor seinem Pillenschränkchen hockt und den inhaftierten Mädchen, wie es heißt, mit Vorliebe Injektionen in den Oberschenkel gibt, nie in den Arm. »Hier kommen die Jugendlichen schlimmer raus, als sie reingekommen sind«, räsoniert der Arzt über die Anstalt. »Ich persönlich wäre ja für die Prügelstrafe.«

Der Kleine rennt auf seinen Runden auch am Büro des Buchhalters vorbei, der es zur hohen Kunst entwickelt hat, hinter dem Schreibtisch mit offenen Augen zu schlafen. Rennt weiter an Türen vorbei, hinter denen Sachbearbeiter für diverse Zuständigkeiten dösen, ohne etwas Sinnvolles zu tun. Gleichzeitig bleiben die jungen Häftlinge in ihren Zellentrakten sich selber überlassen. Die älteren befehligen die jüngeren. In Rafis Zelle ist es ein Mitglied der Taliban. Selten setzt ein Erwachsener einen Fuß hier herein.

Überraschend nimmt Halimas Vater seine Zustimmung zur Heirat eines Tages im Februar wieder zurück. »Er fordert jetzt eine Million Afghani Brautgeld oder ein Mädchen aus Rafis Familie für seinen ledigen 50-jährigen Bruder«, klagt Khisrawi. Rafis Familie ist entsetzt. Die horrende Summe von umgerechnet fast 16 ‌000 Euro kann sie nicht aufbringen. Rafi ist im Knast. Sein Vater in einer Nachbarschaftsfehde vor Jahren ermordet worden. Der ältere Bruder ist 28arbeitslos, nur der Onkel verdient mit einer Baumschule etwas Geld. Rafis Schwestern seien mit sieben und zehn Jahren fürs Heiraten noch zu jung, findet seine Mutter. Die Verhandlungen zwischen den Familien scheinen erneut festgefahren.

Rafi brennt an diesem Tag mit einem Bügeleisen den Buchstaben »H« in die Armbeuge. Es ist jetzt schon das vierte »H« auf seinem Körper. Auf der Schulter schnitt er sich ein »H« mit Rasierklingen in die Haut, mit Streichhölzern brannte er sich ein »H« in den rechten Oberarm, mit Nadeln stach er sich ein »H« in den linken Arm. Er liegt in seiner Zelle oft lange wach und grübelt bis weit hinein in die Nacht.

Dem Land vor den Anstaltsmauern steht noch einmal eine Zeitenwende bevor. In der Hauptstadt Kabul plant die Regierung unter Hamid Karzai für die Jahre nach 2014. Die ausländischen Bündnistruppen sollen bis dahin Afghanistan verlassen haben. Der Westen hat angekündigt, obendrein die Entwicklungshilfe drastisch zu kürzen. Karzai sucht einen Interessenausgleich mit den Taliban, gegen die er sich allein nicht wird halten können. Das gibt den konservativen Mullahs in der afghanischen Politik wieder Raum, spürbar gewinnen die Radikalen an Einfluss. »Wir Frauenrechtlerinnen werden jetzt geopfert«, fürchtet Khisrawi. Die Anwältinnen haben Angst und verbringen ihre Mittagspausen im Büro mit bangen Diskussionen.

Im Präsidentenpalast hat die Versammlung der Mullahs, der Rat der Ulema, vor ein paar Tagen ihre neuesten Beschlüsse verlesen, und Karzai hat dazu kräftig applaudiert. Frauen dürfen künftig nicht mehr ohne männliche Begleitung aus dem Haus. Frauen dürfen nicht mehr mit fremden Männern reden. Es wird ihnen das Recht entzogen, Anteil am öffentlichen Leben zu nehmen. Listen dieser neuen Verbote werden bereits überall im Land in den Moscheen verteilt. Noch sind es nur Empfehlungen, noch haben sie keine 29Gesetzeskraft. Als aber neulich eine der Anwältinnen für eine Weiterbildung nach Kabul fliegen wollte, wurde sie prompt am Flughafen angehalten. Ob ein Mann ihrer Familie Bescheid wisse? Seit der Taliban-Herrschaft, sagt Khisrawi, sei das nicht mehr passiert.

Das Verhandeln mit Halimas Vater wird zum Wettlauf gegen die Zeit. In den ersten Apriltagen soll das Paar entlassen werden, drei Monate vor Ablauf ihrer Strafe. Ein Gnadenersuch der Anwältinnen beim Obersten Gericht in Kabul hatte Erfolg.

»Ich will 250 ‌000 Afghani«, sagt der Vater zwei Wochen vor Ablauf der Haft. Noch einmal hatten sich beide Familien im Mediationszentrum getroffen. »Ich könnte von anderen für das Mädchen eine Million Afghani bekommen.« Am Ende einigen sich die Parteien auf 5000 Dollar, zahlbar in zwei Tranchen, die eine sofort, die andere am Tag der Hochzeit. Mit ihren Fingerabdrücken besiegeln sie den Vertrag.

Am Tag vor der Entlassung hat die Direktorin Halima und Rafi zu sich ins Büro bestellt. Es ist das erste Mal seit ihrer Festnahme, dass sich die Liebenden wiedersehen. Sie sitzen einander gegenüber, jeder auf einem Polstermöbel. Sie mustern sich, hören, was die Direktorin über die bevorstehende Entlassung zu sagen hat, und sind verblüfft. Wie sehr hat sie die Gefangenschaft doch verändert! »Halima ist jetzt ganz anders«, sagt Rafi hinterher verunsichert. »Sie ist so still. Das ist nicht das Mädchen, das ich kenne.« Er hat sie heiter in Erinnerung. Am Telefon hatte sie früher mit ihm oft nur gekichert und ausgelassen herumgealbert.

Auch Halima ist von Rafi überrascht. Das Gefängnis, erzählt sie ihren Freundinnen in der Zelle, hat einen anderen Menschen aus ihm gemacht. »Wie der mit der Direktorin reden konnte. So selbstbewusst.« Über sich sagt Halima, die Anstalt habe ihren Lebensmut zerstört. »Ich werde nie wieder wie früher.« Rafi dagegen tröstet sich und schiebt Zwei30fel beiseite. Sobald sie hier raus ist, glaubt er, dann wird sie wieder ganz dieselbe sein.

»Ich habe große Angst um Halima«, sagt die Psychologin Saliha am selben Abend. Halimas Vater ist bei seinem letzten Besuch in der Anstalt belauscht worden, wie er zum wiederholten Mal einem Wärter verriet: »Ich mach das jetzt, damit sie rauskommt. Aber das Mädchen muss sterben.«

In der Nacht können beide Liebenden nicht schlafen. Rafi redet mit seinem besten Freund in der Anstalt, einem 14-jährigen Dieb, der sich ohne ihn schutzlos fühlt. Die Jungs weinen. Halima schläft nicht, weil zur Aufregung auch noch ihre Regel kommt. Unterleibskrämpfe, schmerzhaft wie nie zuvor.

»Fühlst du auch das Glück, das ich fühle?«, flüstert Rafi am nächsten Morgen in ein schneeweißes Handy. Er hat einen Wachmann bestochen, um Halima anrufen zu können. Sie wiederum hat der alten Jontab Geld zugesteckt, um das Gespräch annehmen zu dürfen. »Was machst du? Stehst oder sitzt du?« Jedes Mal, wenn einer der Wächter in den Raum kommt, verbirgt Rafi das Telefon in der hohlen Hand. »Erinnerst du dich, dass ich dir gesagt habe, eines Tages kommen wir raus? Heute ist dieser Tag.«

Im Leben von Halima und Rafi beginnt das Räderwerk der Traditionen endlich wieder zu greifen, seine Regeln und Bräuche. Erleichtert weiß jeder, was bei den Hochzeitsvorbereitungen zu tun ist. Daheim hat Rafis Familie ein Zimmer mit neuen cremefarbenen Wandbehängen dekoriert. Hier sollen die Frischvermählten die ersten Nächte verbringen. Die Tanten kaufen Bonbons und Schokolade, mit denen der Weg ins Haus bestreut wird. Cousinen gehen auf den Markt, um Fleisch und Gemüse für das Festmahl zu holen. Idyllisch liegt das Lehmhaus an einem kleinen Fluss, der sich durchs Viertel windet. Die Baumschule des Onkels ist gleich nebenan. Der Winter ist vorbei, aus den Kiefern brechen zar31te Triebe. »Ich werde mein Leben geben, um meinen Neffen vor Halimas Vater zu beschützen«, sagt Rafis Onkel in einer ruhigeren Minute. »Aber wenn er noch ein einziges Mal Schande über uns bringt, breche ich mit ihm.«

Rafis älterer Bruder ist für die Hochzeit aus Kabul zurückgekehrt. Er ist bleich und in sich gekehrt. Seit einigen Monaten transportiert er als Lastwagenfahrer Mineralwasser zwischen Herat und der Hauptstadt hin und her. Als Maurergehilfe verdient er zu wenig, um Halimas Brautsteuer zu bezahlen. Eine riskante Arbeit. Er zeigt Bilder, die er auf der Fahrt mit dem Handy gemacht hat. Wracks ausgebrannter Lkw. Die Armee fackelt in Gebieten, die auf seiner Strecke liegen, Opiumfelder ab. Taliban beschießen die Truppen. Rafis Bruder fand sich auf der Straße plötzlich zwischen den Fronten. »Drei meiner Freunde haben sie in den letzten zwei Monaten getötet.« Zweien schlugen sie auf der Straße den Kopf ab, den anderen banden sie ans Lenkrad und zündeten den Wagen an. Die Mutter sorgt sich jetzt um beide Brüder.

An dem Tag, an dem die Welt zurück in ihre Ordnung gerückt werden soll, dem Tag der Hochzeit und der Haftentlassung, füllt sich das Gefängnis mit den Mitgliedern beider Familien. In Festtagstracht treten sie durch das Tor. Rafis Mutter unter der Burka, Onkel und Tanten, der ältere Bruder, der Imam, der die Trauung vornehmen wird, die kleine Gruppe der Anwältinnen.

Halima probiert in ihrer Zelle ein lachsfarbenes Hochzeitskleid an, eng geschnitten, dazu Stöckelschuhe, ein Geschenk ihrer älteren Schwester. So unsichtbar Mädchen in Herat sonst sein sollen, so herausfordernd stellen sie bei der Hochzeit ihre Körper zur Schau. »Ich zieh das nicht an!«, schreit Halima. »Das sitzt viel zu eng!« Zwei Freundinnen umsorgen sie, stimmen sie um, packen ihre Koffer, legen alles säuberlich zusammen, schließen die Arme um Halima. 32Dann wird sie herausgeführt, vor das Zimmer der Direktorin, wo die anderen warten. Rafi, in weißen Kleidern, die Brust goldbestickt. Nervös läuft er den Gang auf und ab.

Die Direktorin tritt aus der Tür, das Kinn hat sie ganz nach oben gezogen, was kein gutes Zeichen ist. Noch am Vortag bestand sie darauf, die Zeremonie im eigenen Büro abzuhalten. Jetzt sagt sie: »Das alles ist illegal!« Anwältinnen und Direktorin brüllen sich über das zwischen ihnen stehende Brautpaar hinweg an. »Du Dreckstück!«, schreit diese Jontab an, die alte Wärterin. »Bring das Mädchen wieder in die Zelle!« Warum Halimas Vater nicht da sei, brüllt die Direktorin, obwohl sie um die Probleme weiß. Ein Onkel Halimas ist von ihm beauftragt worden, das akzeptiert die Direktorin nicht. Der Onkel ruft Halimas Vater an.

Hoffentlich geht er ran, bangt eine Anwältin. Sie haben Glück. Es klingelt, und laut schallt es aus dem Hörer. »Ich bin mit der Heirat einverstanden.« Trotzdem verweigert ihnen die Direktorin die Zeremonie. In Wahrheit verfolgt sie ihre eigenen Interessen. Schon frühmorgens hat sie ihren Buchhalter in Rafis Zelle geschickt. Wem Gutes widerfahre, solle auch anderen Gutes tun, ließ sie ausrichten. 300 Euro will die Direktorin von Rafis Familie. Der Junge lehnte ab, zu viele Schulden hat sein Onkel schon für ihn aufgenommen.

Die Hochzeit platzt. Halima wird in ihre Zelle zurückgeführt und bricht dort zusammen. Das Mädchen kriecht unter das Bettlaken und weint. Ihre Zellengenossinnen, die sonst streiten und zetern, streicheln sie jetzt flüsternd. Sie bestäuben die Weinende mit Parfüm. Die Anwältinnen ringen mit der Direktorin hinter verschlossener Bürotür. Eine Stunde lang, danach stürmen sie heraus, mit hochroten Gesichtern. »Der geht es nur ums Geld«, ist eine Anwältin empört. »Vielleicht hat sie einen Handel mit dem Vater gemacht. Das wäre nicht das erste Mal.« Immer wieder, das wissen 33Frauenrechtlerinnen in Herat, entlässt die Anstaltsleitung Mädchen vorzeitig und übergibt sie den Familien, die ihnen nach dem Leben trachten. Es soll Staatsanwälte geben, die solche Absprachen decken und die Hälfte der Bestechungssummen erhalten. Das Jugendgefängnis ist eine Anlage zur Abschöpfung von Bestechungsgeldern.

»Ich liebe dich wie meinen Sohn«, sagt die Direktorin zu Rafi, als er sich von ihr verabschiedet, immer noch in weißen Hochzeitskleidern. Der Kommandant der Wachleute breitet grinsend die Arme aus. »Kein Geschenk?« Die Direktorin steht daneben und lässt ihn gewähren. Rafi entschuldigt sich, er sei pleite, dann beeilt er sich hinauszukommen ‒ nach zehn Monaten. Als die Familie in der Registratur der Haftanstalt steht, wo sich alle Besucher ein- und austragen müssen, sagt der Pförtner, auch ein Hazara, zu Halimas Onkel: »Wie kannst du es wagen, eins unserer Mädchen an die Tadschiken zu verheiraten! Hast du schon vergessen, was die uns angetan haben?« Der Onkel schweigt.

In dieser Geschichte, in der es so viel Glück gibt wie Unglück, ist es großes Glück, dass die Familien auch bis zum nächsten Morgen nicht die Geduld verlieren. Sie treffen sich in den Fluren des Familiengerichtes. Die Anwältinnen wollen die Trauung hier vollziehen lassen. Halima ist derweil für die Nacht in einem Frauenschutzhaus untergebracht worden. Die Gerichtsbeamten sind freundlich, wollen aber die Personalausweise der Brautleute sehen ‒ weder Rafi noch Halima besitzen einen Ausweis. In Afghanistan hat fast niemand so etwas. Die Beamten verweisen auf die Beamten der Bezirksverwaltung, die die Dokumente ausstellen könnten. Dort wollen die Beamten sie jedoch nur gegen Bestechung bearbeiten. Ein zweites Mal droht die Hochzeit zu scheitern.

»Machen wir es doch einfach bei uns zu Hause«, schlägt jetzt Rafis Onkel vor. Halimas Onkel stimmt zu, auch die Anwältinnen nicken. »Warum nicht? Eine Nikah«, sagen sie. 34Es ist die althergebrachte Art, in Afghanistan zu heiraten. Dazu braucht es nur den Imam. Drei Suren, die dreimal wiederholte Zustimmung der Brautleute. Eine Sache von zwei Minuten. So war es in Afghanistan schon immer. Die Anwältinnen haben die Ehe aus Angst vor Halimas wankelmütigem Vater offiziell beurkunden lassen wollen, was sich aber jetzt als fast unmöglich erweist. Die beiden Familien wenden sich von den Institutionen des neuen Staates ab, von all seinen Paragrafen und Klauseln, den aktenüberladenen Büros und zahllosen Stempeln, die für sie letztlich völlig nutzlos sind.

Im Taxi des Onkels fährt Halima in die Freiheit. Der Wind weht durch das offene Fenster. Er lässt Halimas Kopftuch an den Rändern flattern. Er streicht ihr über das Gesicht, sie legt den Kopf auf die Schulter ihrer Tante.

Rafi sitzt vorne, er lacht über das ganze Gesicht. Für einen Moment sind die Morddrohungen des Vaters vergessen. Der Wagen ist an den Flanken verrostet, die Reifen sind ohne Profil. Der gelbe Lack ist in breiten Streifen abgeplatzt, doch für Halima und Rafi könnte es kein schöneres Hochzeitsauto geben.

Rafi will sich eine Arbeit als Lastwagenfahrer suchen, wie sein Bruder, trotz der Gefahr durch die Taliban. Die Schulden müssen zurückgezahlt werden. Halima möchte an der Universität in Herat Computerwissenschaft studieren, vielleicht. Sie ist nun auch das einzige Mitglied in Rafis Familie, die schreiben kann. Die nächsten Wochen wird das Paar nicht aus dem Haus gehen, aus Angst vor Halimas Vater.

Der Imam hebt die Arme, Rafi tut es ihm nach, während Halima nebenan im Zimmer der Frauen sitzt. Sie hört durch die Wand das Rezitieren der Koransuren und beginnt zu weinen. Halimas Onkel geht vom Zimmer des Bräutigams in das der Braut und fragt sie, ob er in ihrem Namen zustimmen könne. Sie sagt: »Ja.« Er zählt das Brautgeld, das ihm 35Rafis Onkel überreicht hat. Ein Vertrag wird aufgesetzt, auf der Seite eines Schulheftes, und der Erhalt des Geldes bestätigt. Sie unterschreiben mit ihren Fingerabdrücken, die Fingerabdrücke beider Onkel und die von Rafi und Halima. Das wichtigste Dokument ihres Lebens. Vier blaue Flecken, dicht im Kern, an den Rändern auslaufend, schön wie Sternennebel.

Anschließend sitzen sie endlich nebeneinander, zum ersten Mal seit ihrer Flucht, für das Hochzeitsfoto. Fast können sie sich mit den Knien berühren. Rafis Familie macht sich Sorgen, die beiden könnten sich bald entzweien. Sie fragen sich, ob Halima zu den Frauen des Hauses passt. Hoffentlich, sagen sie, ist das nicht bloß eine Verrücktheit zweier Kinder, sondern tiefe Liebe, hoffentlich ist nicht alles längst vorbei. Rafi starrt in die Kamera. Halima schaut beim ersten Foto zu Boden. Beim zweiten Foto hebt sie den Kopf ein bisschen, bei der dritten Aufnahme lächelt sie.

Dann lächeln sie zusammen.